Von James Dashner ebenfalls erschienen:
Die Auserwählten – Im Labyrinth (Teil 1)
Die Auserwählten – ln der Todeszone (Teil 3)

Ein Chicken House-Buch im Carlsen Verlag
© der deutschen Erstausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2012
© der amerikanischen Originalausgabe by Delacorte Press, an imprint of Random House Children’s Books, a division of Random House, Inc., New York, 2010
In Great Britian published 2011 by The Chicken House,
2 Palmer Street, Frome, Somerset, BA11 1DS
Text © James Dashner, 2010
The author has asserted his moral rights. All rights reserved.
Originaltitel: The Scorch Trials
Umschlagbild: Getty Images / James Porto
Umschlaggestaltung: Henry’s Lodge, Vivien Heinz
Kapitelvignette: Shutterstock / williampark
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger
Lektorat: Anja Kemmerzell
Layout und Herstellung: Tobias Hametner
Lithografie: Margit Dittes Media, Hamburg
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92327-8

www.chickenhouse.de

James Dashner wuchs in einer Kleinstadt in Georgia, USA, auf. Der dichte Wald in dieser Gegend lieferte ihm bereits als Kind viele Ideen für seine späteren Geschichten. Nach seinem Studium arbeitete James zunächst in der Wirtschaft. Doch schon bald fühlte er sich als "kreativer Mensch im Körper eines Buchhalters" gefangen und wandte sich dem Schreiben zu. Seitdem ist er Autor zahlreicher Bücher. Seine Trilogie "Die Auserwählten" eroberte in den USA auf Anhieb die Bestsellerlisten und zieht die Fans nun auch im Kino in ihren Bann: Der erste Band wurde von 20th Century Fox verfilmt, unter anderem mit Dylan O’Brien und Thomas Brodie-Sangster in den Hauptrollen. James Dashner lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern inmitten der Rocky Mountains, behauptet er zumindest. Weitere Informationen unter: www.jamesdashner.com

Anke Caroline Burger, geboren 1964 in Darmstadt, studierte Amerikanistik, Germanistik und Publizistik in Berlin und Texas. Sie übersetzt seit 1992 aus dem Englischen, vor allem Literatur aus Indien, den USA und Kanada. Nach über sieben Jahren in San Francisco lebt und arbeitet sie jetzt in Berlin-Kreuzberg und Montreal, Kanada.

Leseprobe:






Kapitel 2  Alice Hicks sieht sogar gut aus, wenn sie auf dem Boden liegt und heult. Wenn ich heule – was zugegebenermaßen alle fünfzig Jahre mal vorkommt –, sehe ich total fertig aus. Knallrotes Gesicht. Winzig kleine Schweinsäuglein und Schnoddernase. Schön auszusehen, während man ein Trauma erlebt, ist wirklich eine Himmelsgabe. Wenn das hier also Ernst ist, dann bin ich nicht bloß geschockt, dann bin ich beeindruckt.

»Tot?«, frage ich. »Was redest du da?«

»Deine Freundinnen sind tot?« Smitty lehnt sich lässig im Fahrersitz zurück. »Das fällt dir erst jetzt auf?«

»Es stimmt!« Ihre Stimme ist ganz zittrig vom Schluchzen. »Im Café. Geht’s euch doch ansehen, wenn ihr mir nicht glaubt!«

»Alles klar.« Smitty springt vom Sitz auf.

»Nein!« Alice drückt sich hoch und sieht ihn an. »Ihr dürft da nicht raus!« Ihre Beine geben nach und sie bricht wieder auf den Stufen zusammen.

»Wieso nicht?« Smitty ist wenig beeindruckt.

»Bleib hier!«, kreischt sie.

Smitty hält sich die Ohren zu und macht eine schmerzerfüllte Grimasse.

Bloß, wie Alice da in ihrer zitronengelben Jogginghose auf den Stufen liegt – den schmutzigen, nassen Stufen … Das ist keine Show, sie glaubt wirklich daran.

Ich schiebe Smitty beiseite und halte ihr eine Hand hin. »Komm, setz dich hierher. Hast du dir wehgetan?«

»Lass ihn bloß nicht an die Tür ran!«, schluchzt Alice und macht sich auf den Stufen breit. Erstaunlich, trotz ihrer Tränen und der babyblauen Skijacke macht sie den Eindruck, als ob man nur schwer an ihr vorbeikommt.

»Okay, dann setzt er sich da drüben hin.« Ich zeige auf einen Sitz ein paar Reihen weiter hinten und sehe Smitty an.

»Ach ja, tu ich das?«, fragt er.

»Ja. Tust du.« Ich beiße die Zähne aufeinander wie jemand, mit dem wirklich nicht zu spaßen ist. Smitty verzieht das Gesicht, fügt sich aber zu meinem Erstaunen. Und noch mehr staune ich, als Alice zulässt, dass ich ihr in einen Sitz helfe. »Und jetzt hol mal tief Luft.« Ich atme selber tief durch. »Und erzähl uns, was du gesehen hast.«

»Ich sag doch, sie sind alle tot.« Sie mahlt mit den Zähnen. »Ich war im Café und bin auf die Toilette gegangen – ja, sogar ich muss da mal hin, Smitty«, knurrt sie, bevor er etwas sagen kann. »Und als ich wieder rausgekommen bin, haben alle irgendwie so quer über den Tischen gelegen … als ob sie eingeschlafen wären. Zuerst dachte ich, das soll irgendein lahmer Witz sein.« Ihre braunen Augen blitzen verächtlich. »Ich meine, hallo, très peinlich, aber dann bin ich rüber zu Libby und Em und Shanika gegangen und hab Em geschüttelt und sie ist runter auf den Boden gefallen.« Ihr Gesicht verzieht sich und dann kommen neue Tränen. »Sie hat nicht geatmet. Niemand hat geatmet!«

»Weißt du das genau?« Ich muss das einfach fragen.

»Und ob ich das genau weiß!«

»Was ist passiert?« Ich kauere mich neben sie. Das kommt so rüber, als ob ich mitfühlend wäre, aber in Wirklichkeit geben meine Knie nach. »Sind sie krank geworden oder so?«

»Woher soll ich das wissen?«, schreit Alice. »Sie haben da alle einfach nur gelegen, die ganze Klasse!«

»Und die anderen alle? Die Kellner, die anderen Leute im Café?«

»Alle tot.« Ein Zittern durchläuft sie. »Auf dem Boden, auf den Stühlen, hinter den Tresen.«

»Mr Taylor und Ms Fawcett?« Ich sehe Smitty an, als wäre er plötzlich der Vernünftige hier. »Wir müssen sie finden.«

»Nein!«, kreischt Alice. »Mr Taylor war auch dort im Laden. Ich hab ihn gesehen, als er bei den Sandwiches stand.«

Puh. Die Weltordnung ist wiederhergestellt. »Hat er Hilfe holen wollen?«

Alice schüttelt den Kopf. »Ich bin zu ihm gelaufen. Er hat sich umgedreht … sein Gesicht sah voll eklig aus. Er hatte ganz komische Augen, total rot …«

»Der hat doch gerade Männergrippe«, sagt Smitty verächtlich.

»Viel schlimmer!« Sie macht eine effektvolle Pause. »Er war auch tot.«

»Was?«, frage ich.

»Er hat mich packen wollen«, sagt Alice. »Ich bin weggelaufen … nach draußen … er hat versucht mich zu kriegen.«

Für Wesley, Bryson, Kayla und Dallin.
Die besten Kinder der Welt.

Bevor die Welt zusammenbrach, hörte Thomas etwas.

Hey, schläfst du noch?

Er drehte sich im Bett um und spürte eine Dunkelheit, die schwer auf ihm lastete. Bei der Vorstellung, er wäre vielleicht wieder in der Box gelandet, geriet er in Panik. Die Box – der schreckliche, kalte Metallkasten, in dem er damals auf der Lichtung inmitten des Labyrinths angekommen war. Seine Augen gingen mit einem Ruck auf; es gab ein wenig Licht, und in dem Riesenraum wurden undeutlich Umrisse und Schatten sichtbar. Stockbetten. Schränke. Das leise Atmen und gurgelnde Geschnarche tief schlafender Jungs.

Erleichterung überkam ihn. Er war jetzt in Sicherheit; er war gerettet und in diese Herberge gebracht worden. Keine Sorgen mehr. Keine Griewer mehr. Kein Tod mehr.

Tom?

Eine Stimme in seinem Kopf. Eine Mädchenstimme. Das Mädchen war nicht zu hören oder zu sehen. Aber er hörte sie trotzdem, telepathisch, auch wenn er niemandem hätte erklären können, wie es funktionierte.

Er atmete tief aus, ließ sich zurück ins Kissen sinken und wartete darauf, dass sich seine von diesem kurzen Moment des Grauens bis zum Zerreißen angespannten Nerven wieder beruhigten. Er antwortete ihr lautlos im Kopf.

Teresa? Wie spät ist es?

Keine Ahnung, gab sie zurück. Ich kann nicht schlafen. Ich habe wahrscheinlich eine Stunde oder so gedöst. Vielleicht auch länger. Ich habe gehofft, dass du wach bist und mir ein bisschen Gesellschaft leisten kannst.

Thomas versuchte, nicht zu lächeln. Sie konnte das zwar nicht sehen, aber peinlich war es trotzdem. Na toll. Eine Wahl hast du mir ja nicht wirklich gelassen, was? Es schläft sich nicht so gut, wenn man eine Stimme im Kopf hat, die einen zutextet.

Waa, waa. Dann leg dich wieder aufs Ohr, du Schlafmütze.

Nein, schon in Ordnung. Er starrte die Unterseite des im Dunkeln kaum erkennbaren Stockbetts über sich an, in dem Minho lag und Geräusche von sich gab, als hätte er unglaubliche Mengen von Rotz in der Kehle. Woran denkst du gerade?

Was glaubst denn du? Irgendwie schaffte sie es, die lautlosen Worte zynisch klingen zu lassen. Ich sehe ständig Griewer. Diese widerlich schleimige Haut und die glibberigen Körper und die ganzen Greifarme und Metallspikes. Weißt du noch, wie wir um ein Haar draufgegangen sind? Wie sollen wir diese schrecklichen Erinnerungen je wieder loswerden?

Thomas wusste, wovon sie sprach. Die Bilder würden sie nie vergessen – die fürchterlichen Dinge, die den Lichtern im Labyrinth zugestoßen waren, würden sie ihr Leben lang verfolgen. Lichter – so hatten sich die 50 Jungs, die das grauenvolle Experiment im Labyrinth über sich ergehen lassen mussten, selbst genannt. Vermutlich würden die meisten oder alle von ihnen psychische Probleme bekommen. Vielleicht sogar total abdrehen.

Doch eine Erinnerung hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt wie ein glühend heißes Brenneisen: Sein Freund Chuck, mit dem Messer in der Brust, als er in Thomas’ Armen verblutete.

Thomas wusste, dass er das nie vergessen würde. Trotzdem sagte er zu Teresa: Das geht schon irgendwann vorbei. Es braucht einfach seine Zeit, aber dann ist alles wieder gut.

Du bist so eine Labertüte, erwiderte sie.

Ich weiß. Es war irgendwie seltsam, dass er sich total freute, wenn sie so etwas zu ihm sagte. Wenn sie Witze machte, fühlte es sich gut an. Du bist ein Idiot, schalt er sich selbst und hoffte, dass sie den Gedanken nicht mitgehört hatte.

Ich finde es echt schlimm, dass ich von euch getrennt worden bin, sagte sie.

Das konnte Thomas allerdings nachvollziehen. Sie war das einzige Mädchen, alle anderen Lichter waren Jungs im Teenageralter – eine Truppe Strünke, denen man vermutlich nicht traute. Die wollten dich wahrscheinlich beschützen.

Ja. Kann sein. Traurigkeit lag in Teresas Worten und überschwemmte sein Gehirn mit Melancholie. Aber es ist echt Klonk allein zu sein, nach allem, was wir durchgemacht haben.

Wo bist du denn überhaupt? Sie klang so traurig, dass er am liebsten aufgestanden und sie suchen gegangen wäre, aber er wusste, das ging nicht.

Auf der anderen Seite von dem großen Gemeinschaftsraum, in dem wir gestern Abend gegessen haben. Ich bin in einem kleinen Zimmer mit ein paar leeren Stockbetten. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass sie die Tür abgeschlossen haben, als sie gegangen sind.

Ich hab’s dir doch gesagt. Die wollen dich beschützen. Dann fügte Thomas schnell hinzu: Nicht, dass man dich beschützen müsste. Gegen die Hälfte von den Strünken würde ich mein Geld auf dich setzen.

Nur die Hälfte?

Na gut, drei Viertel. Mich eingeschlossen.

Obwohl ein langes Schweigen folgte, konnte Thomas ihre Gegenwart immer noch fühlen. Er spürte Teresa. Es war fast wie mit Minho: Er konnte seinen Freund zwar nicht sehen, wusste aber, dass er nur zwei Meter über ihm lag. Nicht nur wegen des Schnarchens. Man spürt einfach, wenn einem jemand nah ist.

Trotz allem, was in den letzten paar Wochen geschehen war, überwältigte der Schlaf Thomas bald von neuem. Seine Welt versank im Dunklen, doch Teresa war da und in gewisser Weise bei und neben ihm. Fast so, als ob er sie berühren könnte.

Jedes Zeitgefühl ging in diesem Zustand verloren. Halb schlief er, halb genoss er das Gefühl ihrer Nähe und den Gedanken, dass sie die Flucht aus ihrem schrecklichen Gefängnis geschafft hatten. Dass sie in Sicherheit waren und Teresa und er sich endlich richtig kennenlernen konnten. Dass ein richtiges Leben auf sie wartete.

Wunderbarer Schlaf. Wohlige Wärme. Dunkelheit. Als ob er innerlich leuchten, fast schweben würde.

Alles wurde herrlich gefühllos und die Dunkelheit tröstlich. Er fing an zu träumen.

Er ist noch klein. Vielleicht vier oder fünf Jahre alt? Er liegt im Bett und hat die Bettdecke bis unters Kinn hochgezogen.

Neben ihm sitzt eine Frau, die Hände im Schoß gefaltet. Sie hat lange braune Haare und ein Gesicht, dem allererste Spuren des Alterns anzusehen sind. Ihre Augen blicken ihn traurig an. Das weiß er, obwohl sie es hinter einem Lächeln zu verbergen versucht.

Er will etwas sagen, ihr eine Frage stellen. Aber er kann nicht. Thomas ist nicht wirklich da. Er beobachtet das Geschehen von einer Perspektive aus, die er nicht richtig versteht. Sie fängt an zu reden, und es klingt sehr lieb und zugleich so zornig, dass es ihn aufwühlt.

»Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet dich auserwählt haben. Aber eins weiß ich genau. Du bist ein besonderes Kind. Vergiss das nie. Und vergiss nie, wie sehr« – ihre Stimme versagt und Tränen laufen ihr das Gesicht herunter – »wie sehr ich dich liebe.«

Der Junge antwortet, aber es ist nicht wirklich Thomas, der da spricht. Nichts ergibt einen Sinn. »Wirst du jetzt auch so verrückt wie die Leute im Fernsehen, Mami? So verrückt wie … Daddy?«

Die Frau streicht ihm mit der Hand über die Haare. Frau? Nein, so kann er sie nicht nennen. Das ist seine Mutter. Seine … Mami.

»Mach dir deswegen keine Sorgen, mein Schatz«, antwortet sie. »Du wirst es nicht mehr erleben müssen.«

Ihr Lächeln ist plötzlich verschwunden.

Zu schnell wich der Traum völliger Dunkelheit und ließ Thomas in einem schwarzen Loch zurück, allein mit seinen Gedanken. War das eine weitere Erinnerung, die dem Gedächtnisverlust entkommen war? Hatte er eben wirklich seine Mutter gesehen? Und was hatte das zu bedeuten: Sein Dad war verrückt geworden? Eine tiefe Sehnsucht nagte in ihm, und er versuchte, wieder richtig einzuschlafen und alles zu vergessen.

Später – wie viel später, wusste er nicht – sprach Teresa wieder telepathisch mit ihm.

Tom, hier stimmt was nicht.

Damit fing das Grauen an. Er hörte Teresa, aber ihre Worte klangen wie von ganz weit weg, als ob das Mädchen am Ende eines langen Tunnels stände. Sein Schlaf war zu einem klebrigen, zähflüssigen Saft geronnen. Er spürte seinen Körper, aber er war wie begraben unter seiner Erschöpfung. Er konnte einfach nicht aufwachen.

Thomas!

Es war ein Schrei. Von Teresa. Ein markerschütterndes Kreischen in seinem Kopf. Furcht tröpfelte langsam wie Gift in sein Bewusstsein, aber er konnte einfach nicht richtig wach werden. Und sie waren ja jetzt in Sicherheit, man brauchte sich also um nichts mehr Sorgen zu machen. Genau, es musste ein Albtraum gewesen sein. Teresa ging es gut, es ging allen gut. Er versank wieder in tiefem Schlummer.

Bald schlichen sich andere Geräusche in sein Bewusstsein. Dumpfe Schläge. Das Klirren von Metall auf Metall. Etwas zerbarst. Jungengeschrei. Eher wie das Echo von Schreien, ganz weit weg, sehr gedämpft. Plötzlich wurde es zum Geheul. Unmenschliche Schreie der Angst und Qual. Aber immer noch weit weg, als ob Thomas in einem dicken Kokon aus schwarzem Samt eingewickelt wäre.

Endlich störte doch etwas seinen Schlaf. Das konnte nicht richtig sein! Teresa hatte nach ihm gerufen, weil etwas nicht stimmte. Er kämpfte gegen den tiefen Schlaf an, der ihn überwältigt hatte, und versuchte das schwere Gewicht abzuschütteln.

Wach auf!, brüllte er sich selbst an. Wach endlich auf!

Dann verschwand etwas aus seinem Inneren. Einen Augenblick war es noch da, im nächsten weg. Es fühlte sich an, als ob ihm ein wichtiges Organ aus dem Körper gerissen worden wäre.

Sie war es. Sie war weg.

Teresa!, schrie er im Kopf. Teresa! Bist du da? Bitte sag doch was.

Doch es kam keine Antwort, und das beruhigende Gefühl ihrer Nähe war auch verschwunden. Wieder rief er ihren Namen, dann noch einmal, während er weiter gegen den dunklen Sog des Schlafs ankämpfte.

Endlich war die Benommenheit weg. Voller Grauen riss Thomas die Augen auf und schoss im Bett hoch, trat um sich, bis er die Füße auf dem Boden hatte, und sprang auf. Blickte um sich.

Die ganze Welt war verrückt geworden.

Die anderen Lichter rannten laut schreiend im Schlafsaal umher. Schreckliche, fürchterliche, nicht auszuhaltende Töne füllten den Raum, wie das verzweifelte Jaulen von Tieren, die zu Tode gefoltert wurden. Da war Bratpfanne, der mit bleichem Gesicht auf ein Fenster zeigte. Newt und Minho rannten auf die Tür zu. Winston hielt sich die Hände vor das verängstigte, aknegeplagte Gesicht, als hätte er gerade einen menschenfressenden Zombie gesehen. Andere stolperten übereinander, um zu den verschiedenen Fenstern zu gelangen, hielten sich aber von den Scheiben entfernt. Voller Bedauern merkte Thomas, dass er von vielen, die das Labyrinth überlebt hatten, noch nicht mal die Namen wusste; seltsam, dass ihm das inmitten dieses unglaublichen Chaos einfiel.

Er sah etwas aus dem Augenwinkel und drehte sich in Richtung der Wand. Was er dort sah, machte augenblicklich jedes Gefühl der Sicherheit zunichte, das er in der vergangenen Nacht beim Gespräch mit Teresa empfunden hatte. Es ließ ihn daran zweifeln, dass solche Gefühlsregungen überhaupt in derselben Welt, in der er sich jetzt befand, existieren konnten.

Einen Meter von seinem Bett entfernt war, eingerahmt von einem bunten Vorhang, ein Fenster, durch das blendend grelles Licht hereinkam. Die Scheibe war zersplittert, spitze Glasscherben berührten die Gitterstäbe vor dem Fenster. Dahinter stand ein Mann, der die Gitterstäbe mit blutigen Händen umklammert hielt. Er hatte die Augen weit aufgerissen. Sie waren blutunterlaufen und voller Wahnsinn. Sein hageres, sonnenverbranntes Gesicht war übersät von offenen Wunden und Narben. Er hatte keine Haare, sondern nur noch Flecken auf dem Kopf, auf denen etwas wucherte, das wie grünliches Moos aussah. Quer über die rechte Wange zog sich ein fürchterlicher Schlitz, und durch die offene, eiternde Wunde konnte man seine Zähne sehen. Rosa Speichel hing ihm in Fäden vom Kinn.

»Ich bin ein Crank!«, schrie das Monster. »Ich bin krank! Krank! Krank!«

Und dann fing er an, dieselben Worte wieder und immer wieder so laut zu schreien, dass bei jedem Schrei der Speichel flog.

»Bringt mich um! Bringt mich um! Bringt mich um! …«

Eine Hand landete von hinten auf Thomas’ Schulter. Er schrie auf. Als er herumwirbelte, sah er zum Glück nur Minho vor sich, der an ihm vorbei auf den Wahnsinnigen starrte, der zum Fenster hereinschrie.

»Sie sind überall«, sagte Minho. Seine Stimme klang genau so verzweifelt, wie Thomas sich fühlte. Es schien, als ob alles, was sie sich in der vergangenen Nacht erhofft hatten, verschwunden wäre. »Von den Strünken, die uns gerettet haben, gibt es keine Spur«, fügte er hinzu.

Thomas hatte die letzten Wochen in Angst und Schrecken verbracht, aber diese neue Katastrophe ging über seine Kräfte. Sich endlich in Sicherheit zu wähnen, und dann wurde einem auch das wieder unter den Füßen weggezogen. Doch er war erstaunt, wie schnell er den kleinen Teil in sich zum Schweigen brachte, der zurück unter die Decke kriechen und Rotz und Wasser heulen wollte. Er verdrängte die Traurigkeit, die ihm noch in den Knochen saß, weil er sich an seine Mom und daran, dass sein Dad und andere Leute verrückt geworden waren, erinnerte. Thomas wusste, dass irgendjemand den anderen sagen musste, was zu tun war – wenn sie das hier überleben wollten, brauchten sie einen Plan.

»Ist einer von denen schon eingedrungen?«, fragte er seltsam ruhig. »Sind alle Fenster vergittert?«

Minho nickte in Richtung der vielen Fenster, die über die Wände des langen, rechteckigen Raums verteilt waren. »Ja. Letzte Nacht war es so dunkel, dass wir sie nicht bemerkt haben, außerdem hängen ja diese blöden Blümchenvorhänge davor. Aber jetzt bin ich froh, dass da Gitter dran sind.«

Thomas sah sich nach den anderen Lichtern um; manche rannten von einem Fenster zum nächsten, um zu sehen, was draußen los war, andere hatten sich zu zitternden kleinen Gruppen zusammengerottet. Alle sahen halb ungläubig, halb verängstigt aus. »Wo ist Newt?«

»Hier bin ich.«

Thomas drehte sich nach dem ein wenig älteren Jungen um und wusste nicht, warum er ihn bisher nicht bemerkt hatte. »Was ist da los?«

»Glaubst du, ich hab irgendeine Ahnung? So wie’s aussieht, ein Haufen Spinner, die uns zum Frühstück verspeisen wollen. Wir müssen uns einen anderen Raum suchen und eine Versammlung abhalten. Von diesem verdammten Gekreisch platzt mir noch der Schädel.«

Thomas nickte geistesabwesend. Mit dem Plan war er einverstanden, hoffte aber, dass Newt und Minho sich darum kümmern würden. Er musste unbedingt versuchen, mit Teresa Kontakt aufzunehmen – er hoffte, dass ihre Warnung nur Teil eines Traums gewesen war, vielleicht nur eine Halluzination, die aus den tiefsten Tiefen der Erschöpfung entsprungen war. Und dann war da noch diese Vision von seiner Mutter …

Seine beiden Freunde gingen los, schwenkten die Arme und trommelten die Lichter zusammen. Thomas warf dem blutenden Wahnsinnigen am Fenster einen schnellen, furchtsamen Blick zu, sah dann aber sofort wieder weg und wünschte, er hätte das Blut und zerfetzte Fleisch, die verrückten Augen und den hysterisch aufgerissenen Mund nicht gesehen.

Bringt mich um! Bringt mich um! Bringt mich um!

Thomas stolperte zur gegenüberliegenden Wand und lehnte sich schwer atmend dagegen.

Teresa, rief er im Geist immer wieder. Teresa. Hörst du mich?

Konzentriert wartete er mit geschlossenen Augen. Streckte unsichtbare Hände nach ihr aus und versuchte, irgendeinen Gedankenfetzen von ihr zu fassen zu bekommen. Doch da war nichts. Nicht mal ein vorbeihuschender Schatten oder die Andeutung eines Gefühls und erst recht keine Antwort.

Teresa, sagte er noch eindringlicher und biss die Zähne vor Konzentration zusammen. Wo bist du? Was ist passiert?

Nichts. Sein Herzschlag schien sich zu verlangsamen, bis er fast stillstand, und Thomas fühlte sich, als hätte er einen großen, haarigen Watteklumpen verschluckt. Irgendetwas musste ihr zugestoßen sein.

Er machte die Augen auf und sah, dass sich die Lichter vor der grün lackierten Tür versammelt hatten. Sie befand sich hinter dem Gemeinschaftsraum, in dem sie am Vorabend Pizza gegessen hatten. Ergebnislos rüttelte Minho an dem runden Messingknauf. Abgeschlossen.

Die einzige andere Tür führte zu einem relativ großen Duschraum, aus dem es keinen Ausgang gab. Das waren alle Türen, aber es gab noch die Fenster, jedes mit Eisengittern versehen. Zum Glück. Hinter allen wüteten kreischende Wahnsinnige.

Obwohl die Sorgen wie Säure an ihm fraßen, gab Thomas den Versuch, Teresa zu kontaktieren, fürs Erste auf und ging zu den anderen Lichtern. Jetzt probierte Newt sein Glück an der Tür, mit demselben Ergebnis: sinnlos.

»Abgeschlossen«, brummte Newt, als er schließlich aufgab und die Arme kraftlos fallen ließ.

»Ach nee, Superhirn«, sagte Minho, der Exläufer, der die muskulösen Arme, an denen überall die Adern hervortraten, vor der Brust verschränkt hatte. Einen Sekundenbruchteil lang meinte Thomas, er könne sogar das hindurchströmende Blut sehen. »Kein Wunder, dass du nach Isaac Newton benannt worden bist – das war sozusagen eine echt geniale Erkenntnis.«

Newt war jetzt nicht in Stimmung, darauf einzugehen. Oder vielleicht hatte er schon vor langer Zeit gelernt, Minho mit seinen sarkastischen Bemerkungen nicht allzu ernst zu nehmen. »Wir brechen den Griff einfach ab.« Er sah sich um, als erwarte er, dass ihm jemand einen Vorschlaghammer reichte.

»Wenn bloß diese Scheiß… Cranks die Klappe halten würden!«, schrie Minho und stierte den Nächststehenden aufgebracht an: eine Frau, die noch fürchterlicher aussah als der Mann, den Thomas erblickt hatte. Quer über ihr Gesicht zog sich eine blutende Wunde, die bis seitlich am Kopf reichte.

»Cranks?«, wiederholte Bratpfanne. Der behaarte Koch hatte bisher geschwiegen und sich im Hintergrund gehalten. Er sah aus, als hätte er jetzt noch größere Angst als beim blutigen Kampf gegen die Griewer, bevor sie aus dem Labyrinth entkommen waren. Und vielleicht war die Situation, in der sie jetzt steckten, ja auch wirklich schlimmer. Als sie sich gestern Nacht ins Bett gelegt hatten, schien alles gut zu sein. Ja, vielleicht war das hier tatsächlich schlimmer, weil ihnen dieses herrliche Gefühl der Sicherheit wieder weggenommen worden war.

Minho zeigte auf die schreiende, blutende Frau. »So nennen die sich. Hast du’s nicht gehört?«

»Von mir aus nenn sie Miezekätzchen«, fuhr Newt ihn an. »Besorg mir was, damit ich die Nepptür einschlagen kann!«

»Hier«, sagte ein kleinerer Jugendlicher und brachte ihm einen schlanken, aber soliden Feuerlöscher, den er von der Wand gerissen hatte. Wieder tat es Thomas leid, dass er noch nicht mal wusste, wie der Junge hieß.

Newt packte den roten Zylinder, um ihn von oben gegen den Türgriff zu rammen. Thomas stellte sich so dicht daneben, wie es ging, weil er unbedingt sofort sehen wollte, was hinter der Tür war. Auch wenn er das unangenehme Gefühl hatte, dass es ihm nicht gefallen würde.

Newt hob den Feuerlöscher hoch und ließ ihn mit höllischer Wucht auf den Messinggriff krachen. Das laute Donnern wurde von einem tieferen Knirschen begleitet, und es waren nur noch drei weitere Schläge notwendig, bevor das gesamte Schloss mitsamt einem Haufen verknoteter Metallteile zu Boden fiel. Die Tür ging einen Spaltbreit auf, gerade weit genug, dass auf der anderen Seite Dunkelheit sichtbar wurde.

Newt stand sprachlos da und starrte die lange schwarze Spalte an, als erwarte er, dass Dämonen aus der Unterwelt herausgeflogen kämen. Geistesabwesend reichte er den Feuerlöscher zurück an den Jungen, der ihn gefunden hatte. »Los geht’s«, sagte er. Thomas meinte, einen leicht zittrigen Unterton in seiner Stimme zu hören.

»Halt«, rief Bratpfanne dazwischen. »Wollen wir wirklich da rausgehen? Vielleicht gab es ja einen guten Grund, warum die Tür abgeschlossen war.«

Thomas musste ihm zustimmen; irgendetwas an der Sache machte ihn ebenfalls misstrauisch.

Minho trat vor, direkt neben Newt; er sah Bratpfanne an, dann Thomas. »Und was sollen wir sonst tun? Rumsitzen und warten, bis die Bekloppten reinkommen? Gehen wir.«

»Diese Monstertypen schaffen es niemals, die Fenstergitter rauszureißen«, gab Bratpfanne zurück. »Lasst uns einfach gründlich über die Sache nachdenken.«

»Jetzt wird nicht lang gefackelt«, antwortete Minho. Er trat die Tür ganz auf. Die Dunkelheit auf der anderen Seite schien sich nur noch zu verdichten. »Außerdem hättest du ja was sagen können, bevor wir das Schloss geschreddert haben. Jetzt ist es zu spät.«

»Wie ich es hasse, wenn du Recht hast«, nuschelte Bratpfanne.

Thomas konnte den Blick nicht von der offenen Tür und dem tintenschwarzen Meer aus Dunkelheit abwenden. Eine ihm mittlerweile viel zu vertraute düstere Vorahnung packte ihn, weil er genau wusste, dass etwas nicht stimmte. Sonst wären die Leute, die sie gerettet hatten, ihnen schon lange zu Hilfe gekommen. Aber Minho und Newt hatten Recht – sie mussten raus und Antworten finden.

»Klonk drauf«, sagte Minho. »Ich geh als Erster, es passiert schon nichts.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er durch die Tür und verschwand fast augenblicklich in der Finsternis. Newt warf Thomas einen zögerlichen Blick zu, dann folgte er ihm. Thomas fand, er sollte als Nächster gehen, und folgte ihnen ebenfalls.

Man konnte kaum etwas erkennen, und er hätte sich genauso gut mit geschlossenen Augen vorwärtsbewegen können. Zudem stank es in dem Raum. Ganz fürchterlich sogar.

Vor ihm stieß Minho einen grellen Schrei aus, dann rief er: »Passt bloß auf! Irgendwas … Ekliges hängt von der Decke.«

Thomas hörte ein leises Quieken oder Stöhnen, als etwas knarrte. Als ob Minho gegen einen niedrig hängenden Leuchter gerannt wäre, der jetzt hin und her schaukelte. Auf ein Ächzen von Newt irgendwo rechts folgte das Quietschen eines Metalltischs, der über den Boden schabte.

»Tisch«, sagte Newt. »Passt auf, die stehen überall rum.«

Bratpfanne fragte hinter Thomas: »Weiß noch jemand, wo die Lichtschalter sind?«

»Bin auf dem Weg«, antwortete Newt. »Ich weiß genau, dass ich gestern hier irgendwo welche gesehen habe.«

Blind tappte Thomas weiter vorwärts. Seine Augen hatten sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt. Was vorher wie eine schwarze Wand ausgesehen hatte, ließ sich mittlerweile als Umrisse von Schatten auf Schatten unterscheiden. Doch irgendetwas stimmte nicht. Thomas war noch immer leicht desorientiert, aber es wirkte auf jeden Fall so, als ob die Dinge an Stellen standen, an die sie nicht gehörten. Es war fast, als ob –

»Iiieh-hi-hiiie«, stöhnte Minho mit einem Schauder des Ekels, als wäre er gerade in einen Riesenhaufen Klonk getreten. Ein weiteres Knarren ließ alle erstarren.

Bevor Thomas fragen konnte, was los war, stieß er selbst gegen etwas. Hart. Unregelmäßig geformt. Es fühlte sich an wie Stoff.

»Gefunden!«, rief Newt triumphierend.

Es klickte einige Male, dann flutete Neonlicht den Raum und blendete alle. Thomas stolperte weg von dem, wogegen er gestoßen war, rieb sich die Augen und stieß gegen die nächste steife Gestalt, die von ihm wegschwang.

»Achtung!«, schrie Minho.

Thomas kniff die Augen zusammen und konnte jetzt deutlich sehen. Er zwang sich, die Szene des Grauens anzuschauen.

Überall in dem großen Raum hingen Menschen von der Decke – mindestens ein Dutzend. Sie waren allesamt erhängt worden; die Seile gruben sich in die lila angelaufenen, aufgedunsenen Hälse. Die steifen Leichname schwangen ein wenig hin und her, blassrosa Zungen hingen aus weißen Mündern. Alle hatten die Augen offen, die jedoch vom Tod bereits stumpf geworden waren. Dem Anschein nach hingen sie schon seit vielen Stunden so da. Die Kleidung und einige der Gesichter kamen Thomas bekannt vor.

Er ließ sich auf die Knie fallen.

Er kannte diese Toten.

Es waren die Leute, von denen die Lichter gerettet worden waren. Erst am Tag zuvor.

Als er sich aufrappelte, versuchte Thomas, keinen der Toten anzusehen. Halb ging, halb stolperte er hinüber zu Newt, der immer noch an den Lichtschaltern stand und entsetzt von einem baumelnden Leichnam zum nächsten blickte.

Leise vor sich hin fluchend trat auch Minho zu ihnen. Andere Lichter tauchten erst jetzt aus dem Schlafsaal auf und schrien, als ihnen klar wurde, was sie da vor sich sahen. Thomas hörte, wie mehrere von ihnen würgten, spuckten und sich übergaben. Ihm war ebenfalls hundeelend, aber er kämpfte gegen den Brechreiz an. Was war bloß geschehen? Wie war es möglich, dass ihnen alles so schnell wieder weggenommen worden war? Sein Magen zog sich zusammen, und er meinte, vor Verzweiflung zusammenklappen zu müssen.

Dann fiel ihm Teresa wieder ein.

Teresa!, rief er in Gedanken. Teresa! Immer und immer wieder schrie er es in seinem Kopf, mit geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen. Wo bist du?

»Tommy«, sagte Newt ruhig und drückte ihm die Schulter. »Was ist’n los mit dir?«

Als Thomas die Augen öffnete, merkte er, dass er zusammengekrümmt dastand und sich den Bauch hielt. Langsam richtete er sich auf und versuchte die Panik zu unterdrücken, die ihn von innen aufzufressen drohte. »Was … was glaubst du denn? Guck dich doch mal um.«

»Schon, aber du hast ausgesehen, als ob du Bauchschmerzen hättest oder so was.«

»Es geht schon – ich versuche nur, Teresa im Geist zu erreichen. Aber da ist nichts.« Er hasste es, wenn er die anderen daran erinnerte, dass er und Teresa sich telepathisch verständigen konnten. Und dass die Leute hier alle tot waren … »Wir müssen herausfinden, wohin sie gebracht worden ist«, platzte er heraus, weil er unbedingt etwas tun wollte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ohne die Leichen dabei anzusehen, ließ er den Blick auf der Suche nach einer Tür und Teresas Zimmer durch den Raum schweifen. Sie hatte gesagt, es befinde sich auf der anderen Seite des Gemeinschaftsraums, gegenüber vom Schlafsaal der Jungen.

Da. Eine gelbe Tür mit einem Messinggriff.

»Er hat Recht«, meinte Minho an die Gruppe gewandt. »Verteilt euch, findet sie!«

»Ich glaube, ich weiß, wo sie ist.« Thomas, erstaunt darüber, wie schnell er sein Denkvermögen zurückerlangt hatte, war schon unterwegs. Er rannte zu der gelben Tür, wobei er den Tischen und Toten auswich. Da musste sie drin sein, in Sicherheit, wie auch die Jungen es gewesen waren. Die Tür war zu, das war ein gutes Zeichen. Wahrscheinlich abgeschlossen. Vielleicht war sie in dieselbe Art von Tiefschlaf gefallen wie er und hatte ihm deswegen nicht geantwortet.

Er war fast an der Tür, als ihm einfiel, dass sie vielleicht ebenfalls gewaltsam geöffnet werden musste. »Holt noch mal den Feuerlöscher!«, schrie er über die Schulter. Der Geruch im Aufenthaltsraum war fürchterlich; als er ein wenig tiefer einatmete, wurde ihm beinah übel.

»Los, Winston«, befahl Minho hinter ihm.

Thomas war als Erster an der Tür und rüttelte an der Klinke. Sie war fest verschlossen und rührte sich nicht. Dann bemerkte er an der Wand rechts neben der Tür ein quadratisches, zirka fünfzehn Zentimeter großes Schild an der Wand. Unter dem Plexiglas steckte ein Stück Papier, auf dem ein paar Worte standen.

Teresa Agnes. Gruppe A, Proband A-1.

Die Verräterin.

Was Thomas am meisten ins Auge stach, war seltsamerweise Teresas Nachname. Oder was wie ihr Nachname aussah. Agnes. Er wusste nicht, warum, aber er erstaunte ihn. Teresa Agnes. In seinem nach wie vor sehr bruchstückhaften Gedächtnis fiel ihm niemand aus der Geschichte mit diesem Namen ein. Er selbst war nach Thomas Edison, dem großen Erfinder der elektrischen Beleuchtung, benannt worden. Aber Teresa Agnes? Von dieser historischen Persönlichkeit hatte er noch nie gehört.

Natürlich waren ihre Namen allesamt im Grunde ein Witz; wahrscheinlich wollten die Schöpfer – die Leute von ANGST oder wer ihnen das alles angetan hatte – sich damit auf schrecklich gefühllose Art und Weise von den Kindern distanzieren, die sie ihren Müttern und Vätern weggenommen hatten. Thomas konnte den Tag kaum erwarten, an dem er endlich erfahren würde, mit welchem Namen er auf die Welt gekommen war, mit welchem Namen seine Eltern seitdem an ihn dachten, wo immer sie auch sein mochten. Wer sie auch sein mochten.

Die verschwommenen Erinnerungen, die nach der Verwandlung zurückgekommen waren, hatten bei ihm den Eindruck hinterlassen, dass er keine Eltern hatte, die ihn liebten. Dass sie ihn gar nicht gewollt hatten. Dass er aus schrecklichen Lebensumständen weggeholt worden war. Aber jetzt konnte er das nicht mehr glauben, besonders nach dem Traum von seiner Mom in dieser Nacht.

Minho schnipste vor Thomas’ Augen mit den Fingern. »Hallo? Erde an Thomas? Heb dir das Träumen für später auf. Hier hängen haufenweise Leichen rum, die stinken, wie’s bei Bratpfanne unterm Arm riecht. Wach auf.«

Thomas sah ihn an. »Tut mir leid. Ich find’s nur komisch, dass Teresa mit Nachnamen Agnes heißt.«

Minho schnalzte mit der Zunge. »Ist doch klonkegal. Aber was soll der Mist von wegen ›Die Verräterin‹?«

»Und was heißt ›Gruppe A, Proband A-1‹?« Das war Newt, der Thomas den Feuerlöscher in die Hand drückte. »Na, jedenfalls bist du jetzt dran mit Schlosszertrümmern.«

Thomas packte den roten Metallzylinder und ärgerte sich auf einmal über sich selbst, dass er wertvolle Sekunden mit dem Nachdenken über das blöde Türschild verschwendet hatte. Teresa war da drin und brauchte ihre Hilfe. Er versuchte, sich nicht von dem Wort »Verräterin« stören zu lassen, hob den Löscher und ließ ihn auf den Messingknauf knallen. Der Stoß ging ihm durch alle Knochen, als das Klirren von Metall auf Metall erdröhnte. Er fühlte den Knauf ein wenig nachgeben, und zwei Schläge später fiel er zu Boden, und die Tür ging ein Stückchen auf.

Thomas warf den Feuerlöscher beiseite, fasste nach der Tür und stieß sie ganz auf. Rasende Ungeduld mischte sich mit Grauen vor dem, was sie finden würden. Er betrat das erleuchtete Zimmer als Erster.

Es sah aus wie eine Kleinausgabe des Jungenschlafsaals, in dem allerdings nur vier Stockbetten, zwei Kommoden und eine geschlossene Tür waren, die vermutlich ins Bad führte. Alle Betten waren ordentlich gemacht, mit Ausnahme von einem, bei dem die Decke zur Seite geschoben, das Bettlaken zerwühlt war und das Kissen halb herunterhing. Doch von Teresa keine Spur.

»Teresa!«, schrie Thomas mit panischer Stimme.

Das wirbelnde Gurgeln einer Toilettenspülung erklang hinter der geschlossenen Tür, und Erleichterung überkam ihn. Das Gefühl war so stark, dass er sich beinah hinsetzen musste. Sie war da und in Sicherheit. Er ging auf das Bad zu, aber Newt streckte den Arm vor ihm wie eine Schranke aus und hielt ihn zurück.

»Ich glaube, du bist zu sehr an das Leben mit Jungs gewöhnt, mein Freund«, sagte Newt. »Es ist nicht gerade höflich, einfach ins Frauenklo reinzulatschen. Wart einfach, bis sie rauskommt.«

»Die anderen sollen auch hier reinkommen, damit wir eine Versammlung abhalten können«, fügte Minho hinzu. »Hier drin stinkt’s nicht, und es gibt auch keine Fenster, hinter denen die Cranks rumkrakeelen können.«

Bis zu diesem Augenblick hatte Thomas das Fehlen von Fenstern noch nicht bemerkt, auch wenn das eigentlich, gemessen am Chaos in ihrem Schlafsaal, am auffälligsten hätte sein müssen. Die Cranks. Er hatte sie fast vergessen.

»Kann sie nicht ein bisschen schneller machen?«, murmelte er.

»Ich trommle schnell die anderen zusammen«, sagte Minho und ging in den Aufenthaltsraum zurück.

Thomas starrte die Badezimmertür an. Bratpfanne und ein paar andere Lichter kamen ins Zimmer und setzten sich auf die Betten, alle in derselben Haltung: vornübergebeugt, Ellbogen auf die Knie gestützt, sich geistesabwesend die Hände reibend. Die Angst und Beklommenheit waren ihnen deutlich anzumerken.

Teresa?, sagte Thomas im Geist. Kannst du mich hören? Wir warten hier draußen auf dich.

Keine Antwort. Und er fühlte immer noch diese Leere in sich, als ob ihre Anwesenheit für immer verschwunden wäre.

Ein Klicken. Der Türknauf an der Badezimmertür drehte sich. Dann öffnete sich die Tür. Thomas trat einen Schritt vor, um Teresa fest zu umarmen – es war ihm egal, ob die andern es sahen. Aber es war nicht Teresa, die aus dem Bad kam. Thomas blieb so abrupt stehen, dass er beinahe gestolpert wäre. Alles in ihm schien zu zerbrechen.

Es war ein Junge.

Er hatte dieselben Sachen an, die Teresa am Vorabend bekommen hatte – einen sauberen hellblauen Schlafanzug mit Flanellhosen und durchgeknöpftem Oberteil. Olivbraune Haut und überraschend kurz geschorene Haare. Allein der unschuldige Ausdruck der Überraschung auf seinem Gesicht hielt Thomas davon ab, den Strunk am Kragen zu packen und zu schütteln, bis er erklärte, was das zu bedeuten hatte.

»Wer bist du?«, fragte Thomas barsch.

»Wer ich bin?«, gab der Junge leicht sarkastisch zurück. »Und wer seid ihr

Newt war aufgesprungen und baute sich vor dem Neuen auf. »Jetzt mach mal schön halblang, Alter. Wir sind ein paar mehr als du. Also sag uns verdammt noch mal sofort, wer du bist!«

Der Junge verschränkte die Arme und sagte trotzig: »Von mir aus. Ich heiße Aris. Wollt ihr sonst noch was wissen?«

Thomas hätte dem Typ am liebsten eine reingehauen. Er machte so einen Wirbel um seinen dämlichen Namen, dabei war Teresa verschwunden. »Wie bist du hierhergekommen? Wo ist das Mädchen, das letzte Nacht hier geschlafen hat?«

»Mädchen? Was für ein Mädchen? Hier ist niemand, nur ich, und so war es auch, als sie mich gestern Abend hier untergebracht haben.«

Thomas zeigte auf die Tür zum Gemeinschaftsraum. »Da draußen ist ein Schild, auf dem steht, dass das hier ihr Zimmer ist. Teresa … Agnes. Von einem Aris steht da nichts.«

Etwas an seinem Ton musste dem Jungen klargemacht haben, dass es sich nicht um einen Witz handelte. Er machte eine versöhnliche Geste mit den Händen. »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest, Mann, echt wahr. Sie haben mich gestern Nacht in dieses Zimmer hier gebracht, und ich habe in dem Bett da geschlafen« – er zeigte auf das zerwühlte Bettzeug –, »und vor ungefähr fünf Minuten bin ich aufgewacht und pinkeln gegangen. Von Teresa Agnes habe ich noch nie etwas gehört. Tut mir leid.«

Die kurze Erleichterung, die Thomas verspürt hatte, als die Toilettenspülung zu hören gewesen war, war verflogen. Er wechselte einen Blick mit Newt, weil er nicht wusste, was er als Nächstes fragen sollte.

Newt zuckte mit den Achseln, dann wandte er sich wieder an Aris. »Und wer hat dich gestern Abend in das Zimmer gebracht?«

Aris warf die Arme hoch und ließ sie wieder herunterfallen. »Was weiß ich, Mann. Leute mit Gewehren haben uns gerettet und uns gesagt, jetzt wären wir in Sicherheit.«

»Wovor haben die euch gerettet?«, fragte Thomas. Es wurde allmählich seltsam. Sehr, sehr seltsam.

Aris blickte zu Boden, seine Schultern fielen ein. Er sah aus, als ob ihn schreckliche Erinnerungen überrollen würden. Er seufzte, dann blickte er schließlich wieder auf und antwortete.

»Aus dem Labyrinth, Mann. Aus dem verdammten Labyrinth.«