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Das Buch: 16 Geschichten mitten aus dem Leben gegriffen. Die fein gesponnenen Erzählungen sind komisch, skurril, manchmal ergreifend. Judith Frege erzählt von Menschen vor und hinter dem Bühnenvorhang, die – getrieben von unerfüllter Sehnsucht –, mit ihren vollkommen unterschiedlichen Schicksalen und Lebenssituationen an irgendeinem Punkt mit der berühmten Oper „Aida“ von Guiseppe Verdi in Berührung kommen.

Die Autorin: Judith Frege ist mit fünf Geschwistern als Tochter einer englischen Mutter und eines deutschen Vaters aufgewachsen. Sie studierte an der Folkwang-Hochschule in Essen Tanz und machte eine langjährige Bühnenkarriere als Balletttänzerin beim Hamburger Ballett, Stuttgarter Ballett und an der Deutschen Oper Berlin. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Berlin und arbeitet als Diplomtanzpädagogin, Choreografin und Autorin.

Freges langjährige Tanzerfahrung sowie ihren Insiderblick für die menschlichen Stärken und Schwächen ihrer „Zunft“ hat Sie bereits in ihrem im Tanz- und Ballettmillieu spielenden Liebesroman „Ist denn nicht zufällig Sonntag?“ (SOLIBRO-Verlag, 2002) verarbeitet.

Bibliografie: Neben dem vorliegenden Erzählband ist von Judith Frege bislang der im Ballettmilieu spielende Liebesroman „Ist denn nicht zufällig Sonntag?“ (Solibro, 2002) sowie der Ratgeber „Let’s Go Wellness“ (Meyer&Meyer, 2002) erschienen, gefolgt von ihrem Fachbuch „Kreativer Kindertanz“ (Henschel-Verlag, 2005).

Die Autorin bedankt sich bei ihren Geschwistern Lizzie und Andreas für die großartige Unterstützung und Hilfe. Außerdem dankt sie ihrer Lektorin Barbara Orthbandt.

Judith Frege

Aida

in Bahrendorf. Storys

solibro

Informationen über unser Programm erhalten Sie unter:

www.solibro.de

Titelfotos:
© Depositphotos.com/points (Pyramiden)
© Jörg Reimold (Kuh)

Umschlaggestaltung:
Wolfgang Neumann

Verlag:
SOLIBRO® Verlag, 48143 Münster

1. Auflage 2015

Alle Namen, Charaktere, Dialoge und Begebenheiten entstammen der Fantasie der Autorin. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes – auch auszugsweise – ist ohne schriftliche Genehmigung des Verlages unzulässig.

© SOLIBRO®-VERLAG MÜNSTER 2015

ISBN 3-932927-06-5
eISBN 978-3-932927-07-2

Inhalt

Die Telemanns

F.

Das Kostüm

Der Komponist

Warten auf Aida

Suche Karte

Gussy Baumann

Das Mädchen

Der Auftrag

Die Tänzerin

Der Statist

Aida in Bahrendorf

Der Musiker

Der Kritiker

Die Regieassistenz

Der Intendant

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Die Telemanns

Schön hatte er es.

Sein Blick glitt über den Perserteppich zur Ledercouch, auf der mit Tigerfellimitat bezogene Kissen lagen, blieb einen Moment an einer Graphik von Picasso hängen, streifte den Kristallkronleuchter, bevor er über das mit ungelesenen Gesamtausgaben gefüllte Designerregal zur Fensterfront und hinaus über den vorbildlich gepflegten Garten schweifte. Er stand angelehnt am Kamin aus italienischem Sandstein, in einer Hand hielt er ein Glas Prosecco, an dem er ab und zu nippte, die andere steckte leger in der Hosentasche.

„Was will man mehr?“, sagte Guido Telemann. Und als sei der Raum voller Leute, wiederholte er, jede Silbe betonend: „W a s  w i l l  m a n  m e h r?“

Guido Telemann wollte mehr. Er war ein vom Ehrgeiz Getriebener, der sich ungern zufrieden gab, was aber nicht hieß, dass er unzufrieden war. Er hatte ja auch guten Grund, mehr als zufrieden zu sein. Er hatte es zu etwas gebracht, seine Mutter war stolz auf ihn, die Geschäfte liefen gut, in der Partei gewann er zunehmend an Einfluss und, last but not least, er hatte eine attraktive Frau.

Er nahm einen Schluck des prickelnden Getränks und ließ es genussvoll die Kehle herabrinnen. Als er an seiner makellosen Hose hinabsah, entdeckte er einen Fleck auf seinem Schuh. Mit angefeuchtetem Zeigefinger wischte er ihn weg, dabei spannte die Hose unangenehm. Er hätte Joggen gehen sollen, dachte der Fünfundvierzigjährige, der abgesehen davon, dass er sich alle Mühe gab, ein sportlicher Mensch zu sein, vor allen Dingen Wert auf Kultur legte. Zumindest wollte Guido Telemann den Eindruck vermitteln und aus diesem Grund hatte er heute Abend vor, in Begleitung seiner Gattin in die Oper zu gehen. Ungelenk richtete er sich wieder auf, sah auf seine goldene Armbanduhr, verglich die Uhrzeit mit der digitalen Anzeige am Fernseher und ging in den Hausflur. Im Garderobenspiegel begutachtete er seine verblichene Sommerbräune und während er den schnurgeraden Seitenscheitel mit einem kleinen Kamm, den er stets bei sich trug, nachzog, nahm er sich vor, ein Sonnenstudio zu besuchen.

„Tina, Engelchen! Es wird Zeit. Wir sollten uns unter keinen Umständen verspäten!“, rief er ins obere Stockwerk hinauf.

„Bin gleich so weit! Hast du die Karten?“

Er griff in seine Jackentasche und zog mit den Eintrittskarten ein Reclamheft hervor, das er extra für den heutigen Anlass besorgt hatte. Aida von Giuseppe Verdi, Einführung und Kommentar. Während er sich wieder seinem Prosecco widmete, blätterte er in der Broschüre. Wen interessierte schon, dass Aida die Drittletzte von Verdis 26 Opern war, dachte er, ein wenig verstimmt über das Geld, die ihn diese Information gekostet hatte. Er sah nochmals auf die Uhr und wurde unruhig. Seine Frau ließ sich wieder viel Zeit. Zu viel Zeit, wie er nach einem weiteren Blick auf die Uhr feststellte.

„Tina!“

„Gleich!“

Guido Telemann legte Wert auf Pünktlichkeit. Er verlangte sie von Angestellten, von Geschäftspartnern, von öffentlichen Verkehrsbetrieben und, verdammt noch mal, schoss es ihm durch den Kopf, er erwartete Pünktlichkeit von der eigenen Frau. Ihre Unpünktlichkeit, die treibt mich noch in den Wahnsinn, dachte er und rechnete nach, wie viele Gegenmaßnahmen er im Laufe der Zeit ergriffen hatte, um ihr dieses, seiner Meinung nach asoziale Verhalten auszutreiben. Nichts hatte gefruchtet.

„Tiinaaa!“

Er klapperte nervös mit den Autoschlüsseln und kaute an dem Ärger, der in ihm aufkam.

„Hol schon mal das Auto aus der Garage!“

Ein sanfter Abendwind wehte ihm entgegen, als er den Kiesweg zur Garage einschlug und sein Missmut verflog augenblicklich, nachdem er auf die Fernbedienung seines Schlüssels gedrückt, das Garagentor sich geräuschlos geöffnet und der polierte Daimler zum Vorschein kam. Er schaltete den Motor ein und das satte Surren der Maschine erfüllte ihn mit Stolz.

„Mit Spannung wird die neue Opernpremiere erwartet“, kommentierte der Sprecher aus dem Autoradio, „die gesamte Highsociety der Stadt wird zugegen sein …“

Telemann blickte voller Ungeduld zur Haustür, die sich partout nicht öffnete. Er ließ das Seitenfenster hinunter und war im Begriff, nach seiner Frau zu rufen. Da er aber den Nachbarn, die gerade vorbeigingen, keine Kostprobe seiner Ungeduld liefern wollte, beherrschte er sich, sprang aus dem Wagen, nickte dem Paar auf dem Bürgersteig zu und eilte ins Haus.

„Tina!“, rief er, mit einer Hand am Geländer, den Oberkörper weit vorgelehnt, um besser in die obere Etage sehen zu können. „Tina! Herr Gott, was machst du denn die ganze Zeit? Wir kommen zu spät!“

Angespannt horchte er in die Weite seines Hauses. Stille. Er blickte auf die Uhr. Es war zum Verzweifeln. Was sie nur trieb? Konnte sich wahrscheinlich nicht von ihrem Spiegelbild trennen. „Weiber“, murmelte er resigniert, trommelte mit den Fingern auf das Geländer und zählte bis zehn.

Er hörte Wasser rauschen – dann wieder absolute Stille.

„Tiinaaa! Wenn du nicht sofort runter kommst, fahre ich ohne dich!“

„Schrei nicht so, die ganze Nachbarschaft hört dich. Ich bin gleich so weit, Schatz, nur noch eine Sekunde.“

Die Arglosigkeit ihrer Stimme machte ihn wütend, er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu explodieren. Im selben Augenblick erschien seine Gattin. Auf lächerlich hohen Stilettos stakste sie die Treppe herunter. Sie trug ein aufreizend ausgeschnittenes Paillettenkleid, das ihre beachtliche Oberweite betonte. Ihr Haar, nach dem neuesten Look ordentlich unordentlich frisiert, schimmerte einen Tick zu blond. Ihr Gesicht mit den auffallend vollen Lippen, vom letzten Aufspritzen noch ein wenig geschwollen, war ein Gesicht ohne Alter, gesäubert von Spuren, die das Leben hineingezeichnet hatte und dennoch gezeichnet durch die vielen Eingriffe des Schönheitschirurgen.

Guido Telemann wusste nicht mehr, was an ihr echt, was hinzu- beziehungsweise wegoperiert worden war und versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie ausgesehen hatte, als er sie kennen lernte. Wo waren eigentlich ihre ganz eigenen Merkmale geblieben, diese unverwechselbaren Gesichtzüge und kleinen Unebenheiten, die so entzückend zu seiner Tina gepasst hatten?

„Beeil dich gefälligst! Hat dein Wunderdoktor auch noch alles Hirn in deinem Kopf durch Stroh ersetzt?“, erregte sich Telemann, der jetzt endgültig die Geduld verlor.

„Reg dich nicht auf, Schatz, das macht unnötig Falten“, erwiderte sie, während sie mit ihren rot lackierten Fingernägeln eine Haarsträhne zurechtzupfte, sich in aller Ruhe eine Pelzstola um die Schultern legte und nach dem Lacktäschchen griff, auf dem in großen Lettern ein bekannter Modename prangte.

„Halt! Ich habe das Opernglas vergessen“, rief Tina Telemann, als ihr Mann gerade losfahren wollte.

„Was brauchst du jetzt ein Opernglas, wir können uns eins ausleihen.“

„Nein – ohne mein Glas gehe ich nicht.“

Während seine Frau umständlich aus dem Wagen kletterte und zur Haustür trippelte, beobachtete Telemann den Sekundenzeiger seiner Uhr, der unerbittlich die Minuten wegfraß. Er wurde philosophisch, dachte über Zeit nach, warum er nie welche hatte und warum sie sich in Momenten des Wartens so unerträglich dehnte. Er dachte an seine gesellschaftlichen Verpflichtungen. Was sollte er machen? Wenn man Karriere machen wollte – und er wollte unbedingt Karriere machen – dann musste man … Er dachte an die heutige Opernpremiere, ein Ereignis, bei dem er auf keinen Fall fehlen durfte, zumal er vor kurzem in den Kulturausschuss gewählt worden war. Und ausgerechnet er kam zu spät. Peinlich. Er stellte sich vor, wie sie sich durch die Reihe schoben, vorbei an pünktlichen Opernbesuchern, die murrend aufstehen mussten, um sie durch zu lassen. Das reinste Spießrutenlaufen würde es werden und er spürte die missbilligenden Blicke im Rücken.

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis er das Zuschlagen der Haustür hörte.

„Tina!“, brüllte er.

‚Plop‘ …

Er stutzte.

Hastig griff er sich an den Hals, fingerte am Hemd herum und tastete forschend unter dem Krawattenknoten nach dem abgeplatzten Knopf.

„Nein!“

„Was ist denn, Schatz, ist dir nicht gut?“, Seine Frau öffnete die Wagentür und sah ihn mit leeren Augen an.

„Mach, dass du reinkommst“, schnauzte er und startete den Motor.

Was der nur wieder hat?, dachte Tina Telemann und sah demonstrativ aus dem Fenster. Immer war er gestresst. Dabei sei Stress der ärgste Feind der Schönheit, hatte sie in einem Frauenmagazin gelesen. Und wozu der ganze Stress? Wozu mussten sie überhaupt in die Oper gehen? Oper – war doch vollkommen out. Und dann auch noch Aida. Sie wäre viel lieber in die Filmpremiere gegangen, von der alle Welt redete. Aber nein, es musste die Oper sein. Das sei wichtig fürs Image, hatte er erklärt und wie ein Pfarrer die gesamte Litanei der guten Gründe heruntergebetet.

Typisch, nicht einmal eine Entschuldigung bringt sie zu Stande, ärgerte sich Guido Telemann und raste bei Gelb über die Kreuzung. Wahrscheinlich war es ihr völlig gleichgültig, dass sie die Ouvertüre und den ersten Akt verpassten. Für sie war nur wichtig, dass ihr Gummibusen beim Pausenauftritt im Foyer gut zur Geltung kam. Glatte 9000 Euro hatten ihn die Dinger gekostet und dann durfte er sie nicht mal anfassen. „Vorsicht, das Silikon!“, kreischte sie jedes Mal. Da sollte man dann noch können, dachte er und drückte wütend aufs Gaspedal. Im selben Moment erhellte gleißendes Licht den Wagen.

„Geblitzt!“, sagte sie spitz.

„Deine Schuld!“, erwiderte er und erschrak als er auf den Tacho sah.

„Wieso meine Schuld, Schatz? Sitze ich am Steuer?“

„Das gibt ein fettes Bußgeld und das zahlst du! Bedanken kannst du dich bei deiner Trödelei, die mir jetzt schon den Abend versaut hat!“

Mit quietschenden Reifen bog er um eine Ecke.

„Vorsicht!“

Telemann stieg auf die Bremsen und wich um Haaresbreite einem Radfahrer aus, dem er die Vorfahrt genommen hatte.

„Volltrottel!“, fluchte er und gab Gas.

„Du kannst an der nächsten Ecke anhalten und mich rauslassen. Ich möchte nämlich noch ein wenig weiterleben, wenn du nichts dagegen hast“, sagte Tina Telemann.

„So!“

Mehr fiel ihm dazu nicht ein als dieses kleine so, das sich anhörte wie das Zischen einer Schlange.

„So, Madame möchte aussteigen?“, fuhr er fort, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte, „Das könnte dir so passen. Erst vermasselst du mir den Abend und dann willst du dich aus dem Staub machen!“, fügte er hinzu, während er am klemmenden Schiebedach zerrte, um sich Luft zu verschaffen Ein merkwürdiges Geräusch ließ ihn aufhorchen.

„Das war dein Hemd.“

„Wieso mein Hemd? Was ist mit meinem Hemd?“

„Es ist gerissen, Schatz“, sagte seine Frau in einem Tonfall, der seinen Blutdruck in die Höhe schnellen ließ. „Du hast zugenommen, es ist dir zu eng und nun ist es gerissen. Vielleicht solltest du einen Termin zum Fettabsaugen vereinbaren“, fügte sie spöttisch hinzu.

Das hatte gesessen. Sie kann von Glück reden, dass ich bei dem Tempo mit beiden Händen das Steuer festhalten muss, dachte er, ansonsten hätte ich … Nicht provozieren lassen, hatte ihm sein Therapeut ans Herz gelegt. Ruhig bleiben und die brenzlige Situation vorübergehen lassen. Der hatte leicht reden.

„Hast du Nadel und Faden dabei?“, fragte er.

„Nadel und Faden? Ich glaube kaum.“

„Nicht einmal das!“, fuhr er sie an. „Jede anständige Frau hat Nadel und Faden dabei. Wozu schleppt ihr Weiber denn diese blödsinnigen Taschen durch die Gegend!“

Sie warf ihm einen Gott-warum-hast-du-mich-mit-diesem-Idioten-gestraft-Blick zu.

„Guck gefälligst nach!“

Zögernd öffnete sie ihr Lacktäschchen und begann zu kramen. Plötzlich stieß sie einen spitzen Schrei aus. Guido Telemann sah seine Frau kurz von der Seite an. Nachdem er registriert hatte, dass sie noch lebte, heftete er seinen Blick wieder auf die Straße.

„Jetzt ist es passiert!“

Ihre Stimme ging ihm durch Mark und Bein.

„Was ist passiert?“

„Mein Fingernagel! Ich habe ihn eingerissen, weil du mich gezwungen hast, nach Nadel und Faden zu suchen. Dabei weiß ich ganz genau, dass ich weder Nadel noch Faden dabeihabe.“

„Und …? Wen interessiert schon dein Nagel, viel wichtiger ist mein Hemd.“

„Typisch, du denkst immer nur an dich. Dein Hemd kann doch kein Mensch sehen, du trägst ein Jackett darüber. Aber wie sehe ich jetzt aus?“

Sie begutachtete ihren mit viel Mühe in eine perfekte Form gefeilten Nagel. Er sah schrecklich aus und stand zur Hälfte vom Finger ab. Wie eine Trophäe hielt sie ihm den betroffenen Nagel unter die Nase.

„Nimm die Pfoten weg, ich kann nichts mehr sehen!“

Er wird noch gewalttätig, dachte Tina Telemann. Die Mama hatte sie immer gewarnt. Er neige zu Brutalität, hatte sie gesagt, das erkenne man am kräftigen Nacken. Ihr Schatz und brutal? Die Vorstellung schien absurd und sie hatte die Mutter für verrückt erklärt. Allerdings – in letzter Zeit war er auffällig reizbar.

Wenn die mich weiter so reizt, dann drehe ich ihr heute Abend noch den Hals um, dachte Guido Telemann und spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Er drückte aufs Gas, um über die Kreuzung zu kommen, bevor die Ampel auf Rot umschlug. Dabei umkurvte er mit riskantem Manöver einen Fußgänger, der in aller Ruhe die Straße überquerte.

„Das war Rot!“, belehrte sie ihn, während sie weiter an ihrem Nagel herumdokterte.

„Halt endlich deine Klappe!“, sagte er und sagte noch viel mehr, was er lieber nicht hätte sagen sollen. Er fand zunehmend Gefallen an beleidigenden Ausdrücken, die er wie Giftpfeile einsetzte, bis er erschrocken innehielt. Er war auf dem besten Weg, seine kultivierten Umgangsformen zu verlieren, auf die er so großen Wert legte.

„Bist du vollkommen wahnsinnig geworden? Wie ein Irrer rast du durch die Stadt und gefährdest unschuldige Menschen. Du bist ja nicht mehr zurechnungsfähig! Mit was für einem Kerl bin ich bloß verheiratet?“, herrschte seine Frau ihn an und fügte in schulmeisterlichem Ton hinzu: „Wenn du die Leute umfährst, die Grün haben, während du eindeutig Rot hattest, dann droht dir dafür Gefängnis!“

„Halte lieber nach einem Parkplatz Ausschau, anstatt mir Fahrunterricht zu erteilen. Vielleicht schaffen wir es noch, bevor der Vorhang hoch geht.“

Er wusste, er war zu weit gegangen und bemühte sich um einen versöhnlichen Ton, denn ob sie wollten oder nicht, sie mussten sich heute Abend der Öffentlichkeit als glückliches Ehepaar präsentieren.

Er stieg auf die Bremsen.

„Da passt du niemals rein.“ Ihre Stimme klang herausfordernd.

„Und ob ich da reinpasse …“

Er kurbelte, fluchte, kurbelte und fluchte. Mit einem Ruck glitt das Auto in die Parklücke. Noch ein kleines Stück zurück … Ein durchdringendes Geräusch ließ sie zusammenzucken.

„Scheiße!“ Er riss die Fahrertür auf und sah die hässliche Narbe im Lack seines Autos. „Was für ein verfluchter …“

Den Rest des Satzes schluckte er hinunter, sprang mit erstaunlicher Gelenkigkeit aus dem Wagen und knallte die Tür zu, ohne den Schaden eines weiteren Blicks zu würdigen. In weit ausholenden Schritten eilte Guido Telemann in Richtung Opernhaus, während seine Frau hinter ihm herstöckelte und sich die zynischen Kommentare verbiss, die ihr auf der Zunge lagen. Als er sich zu ihr umwandte, um sie zu noch mehr Eile anzutreiben, trat er in eine Pfütze, so dass es nach allen Seiten hin spritzte. Und während er den Schuh aus dem trüben schlammigen Nass herauszog, verlor sie die Beherrschung und hielt sich prustend vor Lachen an einem Laternenpfahl fest. Mit einem Schrei wich sie ihm aus, als er drohend auf sie zukam, begann zu laufen, soweit das mit ihren Stöckelschuhen möglich war, stolperte und blieb mit einem Absatz im Gully stecken. Grinsend sah er zu, wie sie sich abmühte, ihren 248 Euro teuren Schuh aus dem verhängnisvollen Loch zu befreien. Tina Telemann wusste nicht, ob sie schreien oder lachen sollte, als der Absatz brach. Sie hätte sich am liebsten auf den Gehweg in den Schmutz gelegt und geweint über die kaputten Schuhe, den kaputten Abend und ihre kaputte Ehe.

„Los, weiter!“, kommandierte Guido Telemann.

„Was? Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich in diesem Aufzug noch irgendwohin gehe!“

„Und ob ich das glaube.“ Der eiskalte Klang seiner Stimme ließ sie erschauern.

Nichts, aber auch gar nichts würde ihn von seinem Vorhaben abbringen, heute Abend in Begleitung seiner Frau in diese gottverdammte Aida zu gehen. Am liebsten würde er sich an ihr rächen und, in aller Öffentlichkeit mit dem Finger auf sie zeigend, ausrufen: „So sieht jemand aus, der zu spät kommt!“ Ohne Schuhe, mit aufgelöstem Haar und zerknirschtem Blick, um Gnade flehend, sah er sie vor sich und das Bild erfüllte ihn mit Schadenfreude. Die schlimmste Lektion ihres Lebens hätte er ihr erteilt. Nie wieder hätte sie es gewagt, zu spät zu kommen.

Tina Telemann lief, nein, sie hoppelte – hoch – tief – hoch – tief – bis es ihr zu bunt wurde und sie beide Schuhe abstreifte, um barfuß hinter ihrem Mann herzuhetzen.

„Da brennt nicht ein Licht im Opernhaus!“

„In diesem Moment geht ja auch der Vorhang hoch und du, mein Engelchen, wirst dich im Dunkeln durch die voll besetzte Reihe quetschen, während du nach allen Seiten hin lächelnd „Entschuldigung“ hauchst, bis du erschöpft auf deinen Platz sinkst.“ Unmittelbar vor dem Eingang blieb sie stehen, hustete, rang nach Luft und presste eine Hand gegen das Brustbein.

„Ich lasse mich scheiden.“

Entgeistert blickte er sie an.

Dieser knappe, trotz Atemlosigkeit sachlich ausgesprochene Satz ergoss sich über ihn wie eine kalte Dusche. Ihre Entschlusskraft verblüffte ihn. So kannte er seine Tina nicht. Sein Engelchen. Woher nahm sie den Mut zu einer solchen Ungeheuerlichkeit? Und dann noch in einem Ton, als hätte sie gesagt – ich gehe zur Toilette oder ich gehe zur Post. Ich lasse mich scheiden, hatte sie gesagt. Mit einer Stimme, die keinerlei Emotion verriet, hatte sie das Unsagbare gesagt. Weder Wut noch Hass, weder Trauer noch Angst waren da herauszuhören. Ich lasse mich scheiden – einfach so.