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Aufwachen

Christian Meyer

Aufwachen

Der Weg der inneren Erfahrung

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Christian Meyer: Aufwachen
Projektleitung:

Marianne Nentwig

© J.Kamphausen Mediengruppe GmbH,

Bielefeld 2009

info@j-kamphausen.de

Lektorat: Svenja Lutterbeck

Umschlag-Gestaltung,

Typografie und Satz:

Wilfried Klei

www.weltinnenraum.de

6. Auflage 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Print 978-3-89901-174-6

ISBN E-Book 978-3-95883-049-3

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

VORWORT

Das vorliegende Buch beinhaltet eine chronologische Auswahl der Gespräche und Prozesse, die während des Sommer-Retreats 2005 mit Christian Meyer stattfanden.

Das Sommer-Retreat 2005 fand in Moryn/Polen statt, eine Seminarstätte in wunderschöner Natur an einem See gelegen – beste Voraussetzung für Stille und Einkehr. Täglich fanden drei Treffen für jeweils zwei Stunden mit dem Lehrer Christian Meyer statt, morgens, nachmittags und abends. Dabei wechselten sich Fragen und Antworten ab mit Übungen und geleiteten Meditationen, auch vielen Übungen zu zweit, woran sich in aller Regel ein Erfahrungsaustausch in der gesamten Gruppe anschloss. Für die verbleibende Zeit galt das Angebot, mit sich selbst in Stille zu sein. Morgens gab es eine Stunde Yoga, sooft es das Wetter erlaubte, draußen auf einer grünen Wiese mit weitem Blick über den See. Eine kontinuierliche, liebevolle Kinderbetreuung ermöglichte auch Müttern und Vätern eine Teilnahme am Retreat.

Die Texte wurden so ausgewählt, dass sie den Verlauf und die stattgefundenen persönlichen Prozesse für die Leserin und den Leser nachvollziehbar wiedergeben. Die Überschriften sollen ein gezieltes Lesen und auch Wiederfinden bestimmter Textstellen erleichtern. Der Enneagramm-Tag konnte nur auszugsweise wiedergegeben werden, als eine weitere wertvolle Vertiefung der Arbeit mit dem Enneagramm verweise ich deshalb auf das Buch von Eli Jaxon-Bear „Das spirituelle Enneagramm“ (Goldmann Taschenbuch 2003).

Das Buch hat den Untertitel: „Der Weg der inneren Erfahrung“. Das Besondere an der Arbeit besteht darin, dass sie vollkommen auf das Aufwachen fokussiert ist, alles zielt darauf ab. Der Weg besteht in der Reise nach Innen. Nicht die Gedanken, nicht die inneren Bilder, nicht die Körperempfindungen, sondern die Gefühle und die inneren Erfahrungen stellen die Tür für den sich weitenden Raum der Unendlichkeit dar. Dies entspricht der uralten Weisheit der Mystiker: Beginne die innere Reise dort, wo du alle Gedanken, Bilder und alle sinnlichen Erfahrungen hinter dir gelassen hast. Der Weg geht durch die innere Dunkelheit hindurch, dieser „Aufstieg in den Abgrund“, wie es die Mystiker nannten. Meditation bedeutet praktisch immer eine Trennung, eine Dissoziation von den Gefühlen, der Meditierende ist nur der Beobachter. In der westlichen Psychotherapie dagegen werden Gefühle ausgedrückt, erklärt, bearbeitet und mit Geschichten verknüpft. Beides führt nicht wirklich zur Befreiung, zum Aufwachen. Der „Weg der inneren Erfahrung“ bedeutet: weder Dissoziieren und beiseite schieben, noch Ausagieren und in die Gedanken und Bilderwelt zurückgehen, sondern im Gefühl bleiben und radikal anhalten. Der Weg der inneren Erfahrung bedeutet, sich dem Prozess auszusetzen, ja sogar auszuliefern, der von alleine geschieht, wenn ich mich diesem inneren Prozess wirklich öffne. Dadurch wird das Aufwachen greifbarer und zu einer realen unmittelbaren Chance.

Ich empfehle, sich beim Lesen dieses Buches viel Ruhe zu nehmen. Der Inhalt jedes Abschnittes braucht Zeit um zu wirken – jedes Kapitel überrascht mit kleinen und großen Schätzen!

Es ist so wohltuend, dass keine neuen Verhaltensregeln aufgestellt werden – ganz im Gegenteil – immer wieder heißt es: Traue keiner Regel, folge keiner Vorschrift, finde es selbst heraus.

Mit unendlicher Geduld und Liebe nimmt Christian Meyer die Menschen an die Hand, holt sie da ab, wo sie stehen. Es gibt keine dummen Fragen – keine Frage, die dem Aufwachen dient, bleibt unbeantwortet.

Die Lehre des aufgewachten Seins, die Christian Meyer vermittelt, ist einfach und klar, und das strahlt auch seine gesamte Persönlichkeit aus: Einfachheit, Klarheit – aber auch Kompromisslosigkeit – eingebettet in Stille, Frieden und Liebe.

Auf seinen Wunsch und seine Anregung hin ist dieses Buch entstanden. Ich möchte mich in dieser Form bei meinem Lehrer Christian Meyer bedanken.

Dank sage ich auch allen, die an der Fertigstellung dieses Buches mitgewirkt haben.

H.K., im März 2007

EINFÜHRUNG

Dieses Buch handelt vom Glücklichsein. Nicht von dem flüchtigen und brüchigen Glück, das von den äußeren Umständen abhängt, sondern davon, wie das Glück durch die Reise nach Innen gefunden wird. Das Glück, welches nicht kommt und nicht geht. Seit Jahrtausenden sind Menschen auf der Suche nach diesem inneren Glück, nach dem Einswerden und der heiteren Gelassenheit, die daraus resultiert.

Seit nahezu zwei Jahrzehnten wird dieser uralte Menschheitstraum ganz offensichtlich immer häufiger Realität. Es ist egal, ob man es Erleuchtung, Selbst-Verwirklichung, Aufwachen oder das Einswerden mit Gott nennt, es gibt immer mehr Menschen, die diese radikale innere Transformation realisieren, immer mehr aufgewachte Menschen. Schon in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es ein ungeheures Interesse an buddhistischen Strömungen, am Yoga oder auch der Lehre Krishnamurtis. In den zwanziger Jahren nahmen an Krishnamurtis vierzehntägigen Sommerseminaren 5000 Menschen teil! Viele Menschen interessierten sich für Spiritualität und die Möglichkeit der inneren Befreiung, aber die tatsächliche Transformation, das tatsächliche Aufwachen blieb eine Seltenheit. In den siebziger und achtziger Jahren zogen Hunderttausende Menschen in das indische Poona, um Bhagwan, der sich später Osho nannte, zuzuhören. Aber erst seit Beginn der neunziger Jahre verbreitet sich das Aufwachen als real stattfindende Transformation einzelner Menschen in einer zuvor nicht für möglich gehaltenen Anzahl. Das macht Hoffnung. Das führt auch dazu, dass immer mehr Bücher von spirituellen, aufgewachten Lehrern erscheinen.

Das vorliegende Buch ist die – nur wenig überarbeitete und an manchen Stellen gekürzte – Wiedergabe eines zweiwöchigen Retreats. „Retreat“ steht für einen Rückzug für eine gewisse Zeit, die in der Regel gemeinsam mit anderen Menschen und einem spirituellen Lehrer verbracht wird.

Das Retreat im Sommer 2005 war außerordentlich intensiv und spannend. Vielleicht lag es auch daran, dass relativ viele neue, unerfahrene Menschen teilnahmen, die viele grundlegende und grundsätzliche Fragen stellten und ihre Antworten fanden. Gleichzeitig entstand ein intensiver Prozess der Gruppe und der einzelnen Teilnehmer, der nicht geplant war und gar nicht geplant werden konnte, sondern sich aus dem Einlassen und der Entwicklung der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer und der gesamten Gruppe entfaltete. Damit der Leser die Entwicklung und die innere „Logik“ dieses Prozesses der vierzehntägigen Gruppe nachvollziehen und erspüren kann, haben wir uns entschieden, dieses Retreat als Buch zu veröffentlichen. H.K. entdeckte während dieses Retreats ihre wahre Natur und wachte auf. Es ist sehr schön zu sehen, wie sich seitdem dieses Aufwachen bei ihr immer weiter vertieft.

Es gibt inzwischen umfangreiche Literatur über das Aufwachen, in der eine zentrale Frage jedoch zu wenig behandelt wird: Die Frage nämlich, worin der konkrete Weg zum Aufwachen besteht. Ein Weg, der kein Weg ist. Was kann der Einzelne dafür tun, das Aufwachen möglich werden zu lassen? Das Aufwachen oder die Erleuchtung ist etwas, das geschieht und nicht gemacht werden kann. Das Aufwachen besteht ja in der Erkenntnis, dass da gar kein Ich ist, dass etwas tun könnte. Dies aber verurteilt die Suchende oder den Sucher nicht dazu, nur abzuwarten, genauso wenig wie es sie oder ihn dazu zwingt, im Leben alles so weiterlaufen zu lassen, verhältnismäßig befriedigend und manchmal ganz und gar unbefriedigend. Der Einzelne kann sehr viel tun, um das Aufwachen wahrscheinlicher werden zu lassen. Jedoch ist das, was sie oder er tun kann kein Einüben von etwas, sondern ein radikales Anhalten und ein tiefes Entdecken, wer ich wirklich bin.

Die Frage: „Was kann ich als Suchender tun?“, vielleicht sogar: „Was sollte ich als Suchende tun?“, steht immer wieder im Zentrum der Fragen wie auch der Antworten auf den folgenden Seiten.

Wenn du das Buch in einer offenen Haltung liest, kann es dich verändern. Du kannst die Übungen, die immer wieder auftauchen, selber ausführen und nachvollziehen und einer geleiteten Trance-Reise folgen.

Ich danke meinem Lehrer Eli Jaxon-Bear, den zu treffen ich 1998 das Glück hatte. Ohne diese Begegnung hätte das Buch natürlich nie entstehen können. Ich danke allen, die bei der Erstellung des Buches mitgeholfen haben, vor allem Helga Knocke, Angelika Winklhofer, Sabine de Günther, Rainer Griesheimer, Ingeborg Cramer, die große Teile des Manuskriptes getippt hat, und vielen anderen. Nicht zuletzt danke ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Retreats, Menschen, die diese Herausforderung des Lebens angenommen und sich auf den Weg gemacht haben, die innere Wahrheit zu entdecken.

Ich wünsche der Leserin und dem Leser viel Freude mit dem Buch. Es möge helfen, das Aufwachen weiter zu verbreiten.

29. Mai 2007
Christian Meyer

ERSTER TAG

Trance

(Anregung für die Leserin/den Leser: Lass dir die Trance vorlesen oder sprich sie dir auf Band, setze dich bequem hin.)

Schließ deine Augen. Geh mit deiner Aufmerksamkeit durch deinen Körper, indem du bei den Füßen beginnst und langsam aufwärts wanderst, durch die Beine, durch das Becken. Und jetzt kannst du wahrnehmen, wie tief der Atem den Oberkörper bewegt, den Bauch und den Rücken, kannst diesen ganz bestimmten Rhythmus, den der Atem in diesem Augenblick hat, wahrnehmen. Du kannst den Mund öffnen und beobachten, was sich verändert, wenn der Atem leichter durch den geöffneten Mund fließen kann.

Während der ganzen Zeit kannst du die Erfahrung machen, wie es ist, alles Mögliche im Körper wahrzunehmen, ohne etwas zu tun, ohne irgendetwas tun zu müssen.

Wandere weiter mit deiner Aufmerksamkeit durch die Brust und den Nacken. Es kann interessant sein zu bemerken, dass Anspannung abfallen kann, ohne dass du etwas tust. Gehe weiter durch die Arme und die Hände.

Nun kannst du deinem Gesicht Aufmerksamkeit schenken, dem Kiefer, den Wangen, dem Mund und deinen Augen. Jetzt kannst du einen kleinen Schritt zurücktreten und den Körper als Ganzes wahrnehmen, wahrnehmen, wo Energie leicht fließt, wahrnehmen, wo der Körper entspannt ist. Du kannst dir erlauben, dass der Atem noch mehr, noch leichter den Körper in eine ganz bestimmte Bewegung versetzt, indem du loslässt. Wenn es Geräusche von außen gibt, brauchst du ihnen keine Beachtung zu schenken, du brauchst dich nicht zu involvieren, weder hinzugehen noch dagegen anzugehen, noch nicht einmal davon wegzugehen.

Jetzt kannst du mit deiner Aufmerksamkeit dort im Körper verweilen, wo du eine Anspannung spürst. Ohne dass du etwas tust, kann diese Anspannung wegschmelzen. Du kannst zu einem anderen Punkt in deinem Körper wandern, wo du jetzt eine Anspannung wahrnimmst. Verweile dort, ohne dich zu involvieren, ohne etwas zu tun.

Jetzt kannst du dir bewusst sein, dass du den gesamten Körper, jede innere und äußere Bewegung wahrnehmen kannst und dir dessen bewusst bist. Stell die Frage: „Wer ist dieses Bewusstsein? Wer ist diese Wahrnehmende?“

Du kannst mit deiner Aufmerksamkeit bei dem bleiben, was du gerade wahrnimmst und dich in diese Wahrnehmung tiefer hinein sinken lassen. Und wenn du jetzt die Augen öffnest, brauchst du von dem, was du im Augenblick wahrnimmst, nicht wegzugehen. Du kannst die Augen öffnen und weiter in dieser inneren Wahrnehmung verweilen.

Während dieser nächsten zwei Wochen ist es am besten, wenn du möglichst still bist, wenn du dich möglichst wenig ablenkst von dem, was innerlich geschieht. Wenn du einen inneren Impuls wahrnimmst, Ablenkung zu suchen, folge diesem inneren Impuls nicht und schau was geschieht, wenn du nichts tust. Wenn du auch für Stille in den Pausen sorgst, dann hast du die Chance, dass ein innerer Prozess entsteht, während du immer stiller wirst. Dann kannst du herausfinden, was wirklich übrig bleibt, wenn der Lärm aufhört.

Lass deine Geschichte los. Die Geschichte ist nur ein Gespinst von Gedanken in deinem Kopf. Sie ist nicht wirklich, sie hat noch nicht einmal etwas mit dir zu tun. Wenn du die Geschichte beendest, hast du die Chance, in diesem Augenblick anzukommen, und diese Chance ist das Wichtigste. Wenn du in diesem Augenblick ankommst, dann merkst du, dass es keine Geschichte gibt, dass es tatsächlich keine Geschichte gibt.

Du kannst dich fragen: „Was bleibt übrig, wer bist du, wenn du deine Geschichte loslässt?“ Dann bleibt nur noch diese augenblickliche Erfahrung übrig und es geht darum, wie du dieser augenblicklichen Erfahrung begegnest, wie mutig, wie offen. Diese Begegnung ist ein wirkliches Abeuteuer.

Gefühle verbrennen – Stille ist das Ergebnis

F: Ich würde gerne wissen, wie ich mit Gefühlen umgehe, die auftauchen.

C: Was geschieht, wenn du in der Mitte des Gefühls bist?

F: Das Gefühl vergeht nach einer Zeit, es bleibt still.

C: Während das Gefühl vergeht, was passiert dabei mit dir?

F: Ich bin stärker zentriert, es intensiviert sich.

C: Was geschieht jetzt, während du das Gefühl fühlst?

F: Immer wieder dasselbe. Das Gefühl vergeht und es taucht ein anderes auf, immer wieder neue Gefühle.

C: Ja, nachdem es vergangen ist, taucht ein anderes Gefühl auf. Was macht das Gefühl mit dir?

F: Ich weiß es nicht, eigentlich nichts.

C: Genau, und du brauchst nichts zu machen. Du bist in der Mitte des Gefühls und du brauchst nichts zu tun. Dann geschieht etwas mit dir. Das Gefühl zerreißt dich, es quält dich, es brennt in dir, es lässt dich nach Luft ringen, es lässt Tränen auftauchen, alles Mögliche geschieht dabei.

F: Ja.

C: Und was ist die Folge davon?

F: Ich verliere die Beziehung zu diesem Gefühl.

C: Ja, während es verbrennt, hört die Beziehung auf. Es ist von vorne herein keine persönliche Beziehung. Das, was du eben schon sagtest, stimmt. Wenn du auf diese Weise das Gefühl verbrennen lässt und in der Mitte des Gefühls bist als derjenige, der dieses Gefühl fühlt und erfährt, dann kommst du tiefer, wirst du stiller, dann wirst du zentrierter. Dann wirst du auch lebendiger und klarer. So wie die Luft nach dem Gewitter plötzlich klar ist. Alles Schwüle und Bedrückende hat sich aufgelöst. Du bleibst bei dem Gefühl und lässt dich tiefer in dieses Gefühl hineinfallen. Die Stille brauchst du nicht zu suchen, sie ist das Ergebnis, das, was von alleine auftaucht. Bleibe dabei, diese Fähigkeit zu entwickeln, dich in das Gefühl hinein sinken zu lassen.

F: In die Stille?

C: Nicht in die Stille, sondern in das, was du gerade erfährst. Die Stille sorgt für sich selbst. Wenn du etwas tust, um in die Stille zu kommen, dann schiebst du immer Gefühle beiseite. Zentriere dich auf das, was im Augenblick geschieht, als ein Geschenk. Jede Stille, die man gesucht hat – sei es durch autogenes Training oder durch andere innere Methoden – bleibt sehr fade, sehr unlebendig und sehr wenig tief. Deswegen ist es deine Aufgabe, das zu suchen, was gerade an Erfahrung da ist, was als Gefühl gerade präsent ist und damit eins zu werden, da hinein zu sinken.

Partnerübung

(Diese Form von Partnerarbeit ist ein fester Bestandteil von Christian Meyers Arbeit.)

Einer der beiden Partner übernimmt die Rolle des spirituellen Freundes. Um jemanden bei der Partnerarbeit wirkungsvoll begleiten zu können, ist es notwendig, die drei Qualitäten der spirituellen Freundin zu verwirklichen. Um zwei musst du dich kümmern.

Einmal um die Leere des Verstandes. Das bedeutet, dass du innerlich still bist, dass du nichts weißt. Du hast keine eigene Geschichte, keine eigene Meinung, keine Vorurteile und erst recht keine Ratschläge. Du vergleichst nicht, stellst keine Relationen her, nimmst nichts persönlich und denkst dir auch sonst nichts über das Gehörte aus. Du gibst alles Wissen auf. Der Verstand ist leer und still.

Die zweite Qualität der spirituellen Freundin ist das Gewahrsein (awareness). Du bist gegenwärtig und mit allen deinen Sinnen anwesend und aufmerksam. Dann bist du bewusst.

Sind diese beiden Merkmale beim spirituellen Freund verwirklicht, so wird sich eine dritte Qualität auf natürliche Weise einstellen: Wenn du gegenwärtig bist und dein Verstand still ist, kann sich die Liebe deines Herzens ungestört zeigen und ausstrahlen. Als spirituelle Freundin bist du reines Bewusstsein, Leere und wahre Liebe. Die Liebe, die alles annimmt, was ist.

Du stellst deinem Partner immer wieder die gleiche Frage. Wenn du als Partnerin immer wieder die gleiche Frage hörst, kannst du immer neue Antworten auftauchen lassen. Am besten, du lässt dich von deinen eigenen Antworten überraschen. Nach der Antwort antwortet die spirituelle Freundin, die Begleiterin, mit „Danke“ und wiederholt die Frage. Die Frage lautet:

„Wer bist du, wenn du jetzt deine Geschichte vollständig loslässt?“

C: Was habt ihr entdeckt?

F: Eine sehr schöne Übung, sich so etwas vorzustellen. Es entsteht eine Weite, und gleichzeitig kann ich meine körperlichen Grenzen spüren.

C: Nur so lange du denkst, dass du dieser Körper bist. Der Körper hat Wunden, seelische Verletzungen, körperliche Verletzungen. Der Körper hat eine Begrenztheit, aber du bist nicht dieser Körper, du hast keine Begrenzung. Der Körper hat eine Geschichte, und diese Geschichte führt irgendwann zu einem Ende. Aber du nicht. Du bist nicht der Körper, du bist Bewusstsein. Du kannst diesen Körper wahrnehmen als einen kleinen Teil dessen, was du wahrnimmst. Alle Form hat Begrenzung, dieses Städtchen hat eine Begrenzung und eine Stadtmauer, der Wald, der See, die Erde, mit der es in ungefähr fünfhundert Millionen Jahren vorbei sein wird. Aber du hast keine Begrenzung. Wer ist dieses du? Woraus besteht es?

F: Ich kann das schon verstehen und doch meldet sich dieser Körper und es passiert etwas.

C: Ja und? Das macht doch nichts. Der Körper meldet sich und es passiert etwas – und? Das bist nicht du. Du kannst daraus, dass der Körper sich meldet, eine Geschichte machen, indem du da involviert bist und plötzlich reagierst: „Oh, ich muss etwas tun. Wo kommt das her? Das darf nicht sein, dass der Körper sich jetzt auf diese Weise meldet. Ich muss unbedingt irgendetwas tun.“ Wenn du es einfach geschehen lässt, dann geht es vorbei wie ein Windhauch. Aus allem eine Geschichte zu machen, das ist die Ursache von Leid.

F: Ich hatte plötzlich eine Art von Energiebild im Kopf, viele einzelne Negative.

C: Ja. Und was hast du dabei erfahren?

F: Dass das ganz alte Energie ist.

C: Das ist ein Gedanke.

F: Also wie ein Urbrei – und dass der ganz lange schon in mir strömt und mich immer mitgetragen hat. Zustände, wie ich sie auch schon von früher kenne, vor allem, als ich einmal in der Wüste war. Da waren dann auch gar keine Fragen mehr, es war alles ganz ruhig.

C: Ja. Und diese Ruhe zu erfahren, wie ist das?

F: So leicht, so ohne Bewertung. Es war einfach.

C: Ja. Und was erfährst du jetzt in diesem Augenblick?

F: Dass ich das viel zu häufig unterbreche.

C: Das ist nicht, was du jetzt erfährst, sondern das, was du dazu denkst.

Was erfährst du jetzt?

F: Dass ich davon mehr haben möchte.

C: Das ist ein Wunsch, und der Wunsch ist ein Gedanke. Was erfährst du jetzt?

F: Dass ich eigentlich gar nichts brauche.

C: Selbst das ist noch ein Gedanke. In diesem nichts brauchen, wie fühlt sich das an? Was für ein Gefühl ist damit verbunden?

F: Etwas Getragenes. Wie so ein kleiner Stern. Der muss sich nicht darum kümmern, ob er am Himmel bleibt oder nicht.

C: Ja, du brauchst dich um nichts zu kümmern und dann kannst du auch diesen Gedanken loslassen.

F: Mit der Geschichte meines Armbruchs habe ich sehr intensive Erfahrungen in den letzten Wochen gemacht.

C: Das sieht man. Aber sie ist nicht existent. Das Gute ist, dass du die Fähigkeit entwickelt hast, zu unterscheiden: Wo ist die Geschichte und wo bin ich? Dann entdeckst du, wo du nach der Geschichte greifst. Wenn du das merkst, dann kannst du zurücktreten. Das ist meine Einladung an euch, genau das in diesen Tagen zu tun. Seid aufmerksam dafür: Wo überlasse ich mich meiner Geschichte, diesen inneren Bildern und den Gedanken darüber, was war oder was sein könnte, und wo bleibe ich in der Erfahrung dessen, was jetzt ist. Diese Erfahrung kann zunächst sehr einfach sein. Du kannst mehr und mehr entdecken, dass du die Fähigkeit hast, das zu unterscheiden. Wenn du es zu unterscheiden lernst, dann kannst du mehr und mehr entdecken, wo du wählen kannst.

Erfahrung ist immer Gegenwart, Hier und Jetzt. Dagegen sind Vergangenheit und Zukunft nur in Gedanken da, sonst nicht. Die gegenwärtige Erfahrung ist das Leben, das pulsiert und jetzt geschieht. Wenn du Gedanken an die Vergangenheit hast, dann kann sich das sehr intensiv anfühlen, wenn du die Gefühle wieder aufkochst, die damit verbunden waren. Aber es sind trotzdem fade Gefühle. Es sind ausgedachte Gefühle von gestern, es ist abgestanden, es ist nicht das Leben. Du kannst diese Gedanken, die dich mit Vergangenem oder Zukünftigem beschäftigen, unterscheiden von der augenblicklichen Erfahrung. Lerne zuerst, es zu unterscheiden und lerne dann zu wählen. Gedanken sind fade. Es ist so, wie wenn du einen Urlaubsprospekt lesen würdest. Das ist nicht der Urlaub. Ebenso sind die Gedanken über das Gestern und das Morgen nicht das Leben. Das Leben findet nur jetzt in diesem Augenblick statt. Sonst nie.

F: In dem Moment, in dem ich Gefühle bezüglich der Vergangenheit habe, möchte ich auch in diesem Gefühl bleiben und es nicht wegschieben. Sonst habe ich das Gefühl, ich betrüge mich selbst.

C: Gefühle, die auftauchen, sollst du vollständig fühlen, jedes Gefühl.

F: Dann lebe ich vielleicht auch in der Vergangenheit?

C: Du erfährst das Gefühl, das in Verbindung mit der Vergangenheit steht. Das Gefühl ist gegenwärtig, nur die Geschichten sind Gedanken und Vergangenheit. Du brauchst von dem Gefühl aus nicht in die Geschichte zurück zu gehen.

Wenn das Gefühl bezüglich der Vergangenheit auftaucht, vielleicht Freude oder Schmerz, dann fühlst du Freude oder Schmerz. Wenn du danach greifen würdest, dann würde das so aussehen: Du würdest den Schmerz kommentieren. Du würdest dich fragen, ob er gerechtfertigt ist. Du würdest dich fragen, ob du ihn haben wolltest, ob es hätte anders sein müssen, ob es hätte anders sein sollen, ob du es verdient hast, oder nicht verdient hast und vor allem, was du jetzt noch damit tun solltest. So machst du aus dem Gefühl eine Geschichte, deine Geschichte.

Wenn das Gefühl auftaucht, wenn du innerlich offener wirst gegenüber dem, was da ist, dann werden alle möglichen Gefühle aus der Vergangenheit auftauchen. Die sind in diesem Augenblick dein inneres Leben. Du kannst dich diesem Gefühl hingeben, dieses Gefühl fühlen und dieses Gefühl verbrennen. Dieses Verbrennen ist gleichzeitig ein Aussöhnen, und du brauchst nicht danach zu greifen und eine Geschichte daraus zu machen. Es ist nicht persönlich. Dann ist es sehr heilsam, wenn die Gefühle hochkommen und du sie auf diese Weise verbrennst. Dann bist du nicht mehr drin in dieser Geschichte. Dann bist du bereit, das Gefühl zu ertragen und es kann verbrennen. Du kannst sogar gleichzeitig alle anderen Gefühle einladen und sie auch verbrennen. Dann wirst du immer wieder die Entdeckung machen, dass Stille zurückbleibt. Es ist sehr einfach.

F: Ich kam bei der Übung vorhin eher zu der Vorstellung, als zu der echten Wahrnehmung, dass ich der leere Raum bin, in dem die Wahrnehmung stattfindet. Jetzt habe ich die Frage, ob es sich lohnt, bei dieser Vorstellung zu bleiben?

C: Nein, es lohnt sich nicht. Es ist, als ob du denkst: „Wenn ich mich wirklich ganz intensiv in diesen Reiseprospekt hineinversetze, dann werde ich genau so erholt sein, als wenn ich auf Hawaii gewesen sei. Es ist, als ob du im Restaurant die Menükarte ganz intensiv liest und davon satt werden willst.

Die Gefahr liegt darin, dass du in dem Moment, in dem du dich der Vorstellung hingibst, das wegschiebst, was gerade wirklich stattfindet. Man nennt diesen Vorgang Dissoziation: Man trennt sich von der Erfahrung, und diese Trennung steht der wirklichen Leere und dem wirklichen Frieden im Wege.

F: Ich nehme meine Gefühle wahr wie unter einer Käseglocke – ich komme nicht wirklich an sie heran.

C: Frage dich: „Bin ich wirklich offen dafür, dass dieses Gefühl auftaucht?“ Bist du?

F: Ja.

C: Ohne Einschränkung?

F: Hm.

C: Es gibt eine Einschränkung – welche?

F: Die, dass ich nicht weiß, was das für eine Käseglocke ist.

C: Wenn die Käseglocke weg ist, was soll dir das geben?

F: Dann kann das Gefühl darunter verbrennen.

C: Also, du willst es weg haben. Das ist, wie wenn du eine Tante einlädst und sagst: „Komm schon am Sonntag, damit du schnell wieder weg bist.“ Wird die Tante kommen? „Komm doch schon morgens, damit ich es schnell hinter mir habe.“ Da wird die Tante sagen: „Nein.“

F: Ja, damit kann ich etwas anfangen.

C: Du musst dich dem Gefühl öffnen, ohne irgendeine Bedingung; um des Lebens willen, um der Wahrheit willen und um der Lebendigkeit willen.

F: Also, keine Angst davor haben.

C: Wenn Angst da ist, dann solltest du trotzdem still bleiben. Angst ist kein Problem. Wenn das Gefühl hochkommt und du Angst hast, dann ist die Angst kein Problem. Vor allem kannst du mit der Angst auch gar nichts machen.

F: Doch die Käseglocke.

C: Ja, die Käseglocke entsteht, wenn du der Angst ausweichen willst. Wenn da Angst vor dem Gefühl ist und du dich vor der Angst drückst. Die Angst ist kein Problem, sondern dein Versuch, dich davor zu drücken. Das Zurückweichen vor der Angst, das ist das Problem. Es gilt, das Gefühl einzuladen. Egal wie lange es bleibt, egal was es mit dir macht. Es gilt es einfach da sein zu lassen.

Ramana – Sei still

In Indien im Jahr 1886 war Ramana ein normaler 16-jähriger Schuljunge. Er spielte besonders gerne Fußball, interessierte sich überhaupt mehr für Sport als für Religion oder andere Dinge.

Eines Nachmittags hatte er mit einem Mal die innere Gewissheit, sterben zu müssen. Nachdem er die Angst über den Tod zugelassen hatte, sagte er sich: „Gut, wenn ich jetzt sterben muss, dann will ich genau mitbekommen, was stirbt“. So hat er sich hingelegt. Das Sterben-Müssen war für ihn in diesem Augenblick eine solche Tatsache, dass er innerlich mit dem Leben abschloss und darüber hinaus alles losließ, was loszulassen war.

In dem Augenblick, in dem du weißt, dass du stirbst, gibst du alle Pläne für die Zukunft auf. Das ist ein sehr bemerkenswerter Umstand. Du gibst jeden Plan, auch jeden Wunsch für die Zukunft auf! Bis dahin lebst du mit dem festen Vorsatz und dem festen Gedanken, die Vergangenheit noch umzukehren. Die Vergangenheit darf noch nicht ruhen, weil du Pläne für die Zukunft hast, in der du alles noch korrigieren willst. In dem Moment, in dem du bereit bist zu sterben, gibst du die Zukunft auf und damit söhnst du dich mit der Vergangenheit aus. In dem Moment, in dem du keinen Plan mehr hast, in dem du bereit bist anzunehmen, dass es keine Zukunft geben wird, wirst du gleichzeitig bereit sein, dasselbe auch zur Vergangenheit zu sagen: „Es war so, wie es gewesen ist“.

In dem Moment, in dem du keinen Plan mehr hast, keinen eigenen Willen, keinen eigenen Wunsch, kann der Körper endlich richtig loslassen, sich wirklich auf einer viel fundamentaleren Ebene entspannen, als du normalerweise Entspannung kennst. In dem Augenblick, in dem der Geist, die Seele und der Körper so vollständig loslassen – und das ist das, was Ramana erfahren hat –, fällst du in die Unendlichkeit.

Weil Ramana auf diese grundlegende Weise merkte, dass auf einmal alles anders war und er in Glückseligkeit schwebte und verweilte, verlor er das Interesse an der Schule, sodass sein älterer Bruder ihn fragte: „Warum gehst du eigentlich noch zur Schule? Du hast ja gar kein Interesse mehr daran!“ Diesen neckenden Satz nahm er ernst und antwortete: „Ja, der Bruder hat recht, also höre ich mit der Schule auf.“

Er hatte vom heiligen Berg Arunachala gehört und verspürte den Wunsch, dorthin zu fahren. Er borgte sich etwas Geld und fuhr mit dem Zug nach Tiruvannamalai, am Fuße des Arunachala. Er setzte sich dort dann für zwei Jahre in den kleinen Tempel und spürte in dieser Glückseligkeit, in der er verweilte, gar keinen Impuls und kein Interesse, aufzustehen. Zum Glück gab es Menschen, die ihm immer etwas Essen vor die Füße stellten. Nach einiger Zeit kam jemand und las ihm heilige Texte vor. Das soll das erste Mal gewesen sein, dass Ramana mit den heiligen überlieferten Texten wirklich in Berührung gekommen ist. Mit der Zeit kamen Menschen zu ihm, einfach, weil es heilsam war, in seiner Gegenwart zu sitzen. Dann fingen sie an, ihm Fragen zu stellen und nach und nach begann er, diese Fragen auch zu beantworten.

Dieses Ereignis ist ein ungeheueres Glück für uns und die Welt. Ramana erfuhr das Aufwachen ohne irgendeinen Hintergrund von Tradition, ohne dass er irgendwelche Übungsrituale praktiziert hätte, einfach durch diesen simplen Akt: Er war bereit, zu sterben, war bereit, sich hinzugeben und sich dem zu überlassen, was geschieht, ohne am eigenen Willen festzuhalten. Er erfuhr das Aufwachen durch diesen inneren Entscheidungsakt, der auf dem Verlangen basierte, zu entdecken, was während des Sterbens geschehen würde und ob es etwas gäbe, was das Sterben überleben würde. Er wollte die Wahrheit entdecken über das, was geschieht. Weil er auf diese Weise das Aufwachen erfuhr ohne jeden Hintergrund von Tradition, Ritualen, kirchlichen Gesängen und anderem, war er später in der Lage, das Aufwachen und den Prozess des Aufwachens klar und einfach zu vermitteln und zu lehren. Das hatte weiterhin zur Folge, dass er sehr viele erwachte Schüler hatte, die das Aufwachen weitertrugen in der Lehre der Nichtlehre, in dem Wissen, dass man nichts tun kann, außer anzuhalten.

Ramana sagte: „Meine ganze Methode lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Sei still!“

Denen, die fragten: „Was ist mit den Übungen, dem Mantra-Singen und mit dem anderen, was wir jetzt seit Jahrtausenden tun?“, sagte er: „Hör auf, frag dich, wer ist derjenige, der das Mantra singt? Wer ist derjenige, der die Übung macht? Finde heraus, wer das ist, finde heraus, worin deine wahre Natur besteht!“ Das ist kein intellektueller Weg, kein Weg des Nachdenkens und Grübelns, sondern ein Weg der inneren Erfahrung.

Seitdem verbreitet sich das Aufwachen wie ein Flächenbrand immer mehr über die ganze Welt. Ohne Ramana wären wir hier nicht zusammengekommen

Was also ist nötig, um aufzuwachen? Natürlich das Bewusstsein, dass man es nicht selber tun kann, wie man ein Haus bauen, ein Brot backen oder eine Sprache lernen kann, sondern dass es ein Geschenk ist, eine Gnade. Aber ein Geschenk, eine Gnade, auf die ich nicht einfach, die Hände in den Schoß legend, warten kann, sondern eine Gnade, für die ich mich öffnen kann und für die ich mich so unwiderstehlich machen kann, dass sie gar nicht anders kann, als mich zu erfassen. Dies geschieht, indem ich „anhalte“.

Wenn du nach Innen gehst und du dir dein Leben und deine jetzige Situation anschaust, dann siehst du: Da sind Tausende von Impulsen aus der eigenen Vergangenheit, der Vergangenheit der Familie und der Ahnen, der Gesellschaft und der Geschichte, ebenso aus der Charakterfixierung. All diese Impulse sind in der jetzigen Situation wach und treiben dich dazu, etwas zu tun. Das ist das, was im Osten das Karma genannt wird: Dieses Getriebensein, etwas zu tun, etwas zu wollen, nach etwas zu verlangen und nach etwas zu streben.

Deine Aufgabe ist, anzuhalten! Anzuhalten und zu schauen, was ist. Anzuhalten und zu fühlen, was ist. Anzuhalten! Wie Ramana sagt: „Meine Methode lässt sich in dem einen Satz zusammenfassen: Sei still, halte an!“

Es würde reichen, wenn ich hier sitzen und auf jede Frage und auf alles, was kommt, sagen würde: „Aha, – halte an! Sei still! Beweg dich nicht mehr und schau, was geschieht!“

Das ist alles. Dann kommen die Gefühle hoch, die Schmerzen, die Sehnsucht, die Freude, die Angst, die Verzweiflung – und dann ist die Stille da, die Leere und die Unendlichkeit. Alles kommt hoch, aber du hältst an und bist still.

Diese vielen Impulse der ganzen Menschheitsgeschichte, die sich in dir kristallisiert und manifestiert haben, basieren auf der Grundhaltung: Ich brauche!

Ich brauche andere Menschen, ich brauche Anerkennung und Sicherheit. Der Körper auf der organischen Ebene braucht Nahrung in bestimmten Umfang, Sauerstoff, Licht, bestimmte Wärme und das ist in Ordnung. Wenn sich das Ich und der Geist dieses „ich brauche“ auch zu eigen machen wie: Ich brauche Liebe, ich brauche Anerkennung, ich brauche von der oder dem eine Entschuldigung, ich brauche unbedingt, dass der Vater stolz auf mich ist, dann ist das eine Verrücktheit.

Wenn du gegenüber allen Impulsen still bist und anhältst, dann entdeckst du, dass du vollkommen erfüllt bist, dass du mehr als erfüllt bist, dass du selber die Liebe bist, nach der du suchst. Du entdeckst, dass du einer Fata Morgana gefolgt bist. Das Anhalten, das Still-Sein, basiert auf einer inneren Entschlossenheit und Entschiedenheit, selbst wenn es weh tut.

Die ganzen Gefühle schreien danach, etwas zu tun, um Anerkennung, Liebe, Sicherheit, Lob und Beachtung zu bekommen. Wenn du anhältst, hört das natürlich zunächst nicht auf, es hat ja über hunderttausend Jahre funktioniert und dich angetrieben. Im Gegenteil, wenn du anhältst, hörst du dieses Schreien deutlicher. Bisher hast du viel davon kanalisiert durch oberflächliche Kontakte und Beziehungen, durch Sprechen, Erzählen, Tun und Ablenken. Alles ist diffus und verdeckt. Es tut nur in bestimmten Momenten weh, dann, wenn es dich aus der Bahn wirft. Wenn du jetzt wirklich anhältst, merkst du, wie dieser Gefühlsorganismus, dieser Körper „haben will“. Du sagst: „Aha!“ und bleibst still. Die Entdeckung, so erfüllt zu sein, dass du gar nichts brauchst, dass alles Brauchen nur eine fixe Idee war, kommt erst ein bisschen später. Das ist ein Teil des Spiels. Der Organismus ist darauf aus, sofort etwas zu bekommen, sofort mehr Eiscreme oder Lob. Hier ist es so: Du musst erst anhalten und später entdeckst du: Oh, das Erfüllt-Sein ist ja schon da.

Wirklich anhalten, wirklich still werden! Wenn da der Gedanke ist: Das Aufwachen ist eine Gnade, ist ein Geschenk, ich kann und brauche gar nichts zu tun, ist das natürlich eine Falle. Wenn du nichts machst, öffnest du den unzähligen Impulsen, die bisher dein ganzes Leben und Verhalten bestimmt und regiert haben, wieder Tür und Tor, denn sie wirken ja weiter. Wenn du nichts machst, wird es noch die nächsten zweihundertfünfzigtausend Jahre so weiter gehen. Du musst erst einmal dafür sorgen, dass du nichts tust. Das bedeutet, anzuhalten und still zu sein, dich tatsächlich nicht zu bewegen.

Ein Freund von mir segelt mit seinem Segelboot quer über den Atlantik. „Was machst du eigentlich, wenn du auf dem Meer bist und plötzlich ein Sturm kommt?“ fragte ich ihn. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, wie er auf dem kleinen Schiff überleben könnte. Er sagte: „Ich nehme die Segel runter und binde mich am Mast fest.“ Die Antwort verblüffte mich, leuchtete aber sofort ein, denn was sollte vernünftiger sein, als sich am Mast festzubinden? Das ist ein gutes Bild für deine Situation: Wenn du anhalten willst, dann tauchen alle Impulse auf wie ein Sturm. Wie gesagt, erst wenn du anhältst, merkst du sie deutlicher. Du bleibst stehen! Aber bedauerlicherweise hast du nicht die Möglichkeit, dich anzubinden, dann wäre es leichter. Du musst am Mast stehen bleiben, so, als wenn du angebunden wärst, mit der Energie deines Herzens und der Kraft deiner Entschlossenheit. Das ist es, worauf es ankommt. Dann kommen die Impulse hoch, dann kommt plötzlich alles hoch, was da ist und hat die Chance, verbrannt zu werden. Indem du still bist hat es einfach die Chance, verbrannt zu werden. SEI STILL.

Still sein bedeutet, sich nicht zu bewegen. Es bedeutet, sich gegenüber dem Lärm, der da hochkommt, still zu verhalten, sich dem Sturm völlig auszusetzen und still zu bleiben; weder dagegen anzurennen noch davor wegzurennen, noch irgendwohin zu rennen, einfach still zu sein. Dann merkst du plötzlich, dass Gefühle hochkommen und dass die Gefühle verbrennen, dann merkst du, dass dein Herz größer ist als die Gefühle, die da hochkommen, dass dein Herz viel, viel größer ist, als du vorher dachtest. Wenn auf diese Weise alle Impulse, die auftauchen, verbrennen, dann verbrennt das Ich, denn das Ich ist nichts anderes, als diese fixe Idee: „Ich brauche.“ Ohne diese fixe Idee „Ich brauche“ fällt das Ich zusammen wie ein Kartenhaus.