Ich widme dieses Buch all jenen, die, ganz egal ob sie nun studieren oder zur Schule gehen, ob sie Kinder haben oder mitten im Berufsleben stehen, immer noch Tränen in den Augen haben, wenn sie sich »Das letzte Einhorn« anschauen.
All jenen, die nachts von ihrem Traumprinzen träumen, während ihr Partner neben ihnen liegt, oder ein bisschen eifersüchtig werden, wenn ihre Tochter sich als Prinzessin verkleiden darf. All jenen, die nie wirklich erwachsen geworden sind.
»Sinabell« ist eine Geschichte für Junggebliebene, für Fans von Einhörnern, Drachen und Abenteuern, für Disneyfilm-Sammler und Froschküsser. Eben für jene unter uns, die noch an Wunder glauben wollen, an Magie und die einzig wahre Liebe.
Ihre Schritte hallten durch die weiten Arkadengänge. Mit angehobenem Rock und entblößten Knöcheln rannte sie, so schnell ihre Beine sie trugen, durch Hallen und Korridore, vorbei an steif herumstehenden Palastwachen.
In der Hand hielt sie ein Buch, dessen abgewetzten Ledereinband sie fest gegen ihre Brust presste. Der Geruch nach Tinte und Papier umspielte ihre Nase. Sie liebte ihn, diesen Duft nach Abenteuern und Geschichten. Er erinnerte sie an ihre Mutter.
»So wartet doch, Prinzessin!«, rief die Zofe ihr hinterher.
Sinabell warf einen Blick zurück. Die pummelige Frau stützte sich schwer atmend an einer Säule ab. Dabei wippte ihr breiter Reifrock auf und ab und ließ sie, zusammen mit ihrem knallrot angelaufenen Kopf, aussehen wie ein Hofnarr.
Sinabell musste bei diesem Anblick lachen. Sie ließ den hochgerafften Stoff ihres Kleides los, schüttelte die blassblaue Seide über ihre wallenden Unterröcke und lief dann zügig, mit erhobenem Haupt und einem unziemlichen Grinsen auf den Lippen weiter.
Hinter der nächsten Ecke knickste sie auf gestelzte Weise vor einer der Palastwachen, die den lieben langen Tag nichts weiter taten, als Löcher in die Luft zu starren.
Der Mann salutierte vor der jungen Prinzessin und sie ahmte ihn überzogen nach, bevor sie herumwirbelte, in ihr Zimmer lief und die Tür hinter sich schloss.
Sie zog einen Stuhl heran und schob ihn unter den Knauf. Einen Schlüssel hatte sie nicht mehr, seit sie sich vor Jahren zum ersten Mal in ihr Zimmer eingeschlossen hatte, um heimlich Bücher zu lesen.
Seitdem hatte sie sich von einem aufmüpfigen kleinen Kind zu einer ebenso wilden und widerspenstigen jungen Dame entwickelt und tat noch immer nichts lieber, als Bücher aus der Bibliothek ihrer Mutter zu stibitzen und sie aufzusaugen wie ein Keks die Milch.
Mit den Armen umschlang sie ihren neuesten Schatz, atmete den Geruch der fremden Welten ein, die sie zwischen den Zeilen erwarteten, und drehte sich dabei im Kreis, dass ihr Kleid um sie herumwirbelte und tanzte wie Regen und Staub.
Vor Schwindel taumelnd ließ sie sich auf die Kissen ihrer Leseecke fallen und schaute aus dem Fenster. Von hier oben hatte sie einen direkten Blick auf die Schlossgärten. Zwei ihrer vier Schwestern flanierten dort durch das Rosenlabyrinth, während die älteste Reitunterricht auf dem Turnierplatz nahm. Ihre Haltung wirkte steif, jede ihrer Bewegungen tat sie mit Bedacht. Ihr Haar, dunkel, glatt und zu einem strengen Zopf zusammengebunden, war so ziemlich das genaue Gegenteil von Sinabells störrischer brauner Mähne. Das Pferd, auf dem ihre Schwester saß, wurde umschmeichelt von ihrem schwarzen Reitrock, dessen Falten ohne Ausnahme genau so fielen, wie sie beabsichtigt waren.
Eine Weile beobachtete Sinabell das Pferd. Es war eines der schönsten Tiere aus den königlichen Stallungen. Rot, wie der Herbst, mit dunkler, seidener Mähne. So anmutig und edel sah es aus, und so traurig, wenn man ihm in die tiefschwarzen Augen blickte. Sie schüttelte den Kopf, nur ganz zaghaft. In Gedanken war sie bei dem Tier, das ihr zu sehr leidtat, um es noch länger beobachten zu können.
Sie strich über den ledernen Einband des Buches. Er war abgegriffen und die Schrift darauf verblasst. »Die flammenden Schwingen Ethernas« lautete der Titel, dessen Buchstaben sie schon oft betrachtet hatte. Nun endlich wagte sie sich in die Geschichte, die sich dahinter verbarg und die ihre Mutter schon so oft gelesen hatte, einzutauchen.
Sie schlug das Buch an einer Stelle auf, die ihre Mutter mit einem Eselsohr versehen hatte, und strich das Papier glatt. Die Königin war nie sorgsam mit Büchern umgegangen. Überall hatte sie Notizen hinterlassen und Sinabell hatte sie oft dafür verflucht. Mit der Zeit aber hatte Sinabell bei dem Gedanken an ihre Mutter bloß noch das Portrait im Foyer vor Augen und erst jetzt verstand sie, dass jeder Knick in einer Seite, jede Rille in einem Buchdeckel und jeder geschwungene Buchstabe der handschriftlichen Notizen eine Erinnerung an sie war. Es waren Zeitzeugen, Überbleibsel von dem, was sie einst gewesen war und was das Schicksal Sinabell für immer genommen hatte.
Diese Bücher, mit all ihren Macken, waren gelesen worden, hatten gelebt. Sie hatten Tränen aufgesogen, Gesichter zum Lachen gebracht und jede Emotion, die sie ausgelöst hatten, in sich aufgenommen. Dort zwischen den Seiten lag viel mehr verborgen als ein paar Tausend Worte. Dort lagen die Liebe und das Leid, dort fand Sinabell ein Zuhause und einen Ort, an dem sie sich immer wohlfühlen würde – und ihrer Mutter nahe.
Es klopfte an der Tür und Sinabell wurde aus ihren Gedanken gerissen.
»Sina, Schwesterchen, Vater verlangt nach uns!«, rief Malina.
Malina war gerade achtzehn geworden und die Vernünftigste von ihnen. Während Kirali, die älteste der fünf Schwestern, eher kühl und distanziert war und mit ihren jüngeren Geschwistern selten etwas zu tun haben wollte, hatte Malina stets ein Auge auf Firinya und Evalia, die beiden jüngsten im Bunde, gehabt.
»Ich komme gleich!«, antwortete Sinabell und schob das Buch unter die Kissen.
Sie lief zur Tür, zog den Stuhl zur Seite und öffnete sie.
Mit vor dem Körper gefalteten Händen stand Malina da. Ihr nussbraunes Haar, in feine Locken gedreht, umspielte ihren schmalen Hals. Für Sinabell war sie die schönste ihrer Schwestern. An ihr war nichts aufgemalt, nichts gestellt und in ihrem Blick lag immer dieser Funke Ehrlichkeit, den sie bei den meisten Menschen am Hof vermisste.
»So willst du zu Vater gehen?«, fragte Malina skeptisch.
Verwundert sah Sinabell an sich herunter. Sie trug ihr Lieblingskleid. Es war vielleicht schmucklos, aus einfacher Seide, kein Brokat, aber dafür viel bequemer als die anderen mit Fischgräten verstärkten und mit einem halben Dutzend Stoffschichten ausstaffierten Gewänder, die sie besaß.
Malina trug natürlich eines der schönsten Kleider, die ihr Kleiderschrank hergab. Golden war es, mit filigranen Blumenmustern, einem engen Korsett und passendem Kopfschmuck, der in einer aufwendigen Hochsteckfrisur wie eine Krone prunkte.
»Wieso nicht?«, gab Sinabell ihr zur Antwort. »Glaubst du, er enterbt mich meiner Kleidung wegen?«
»Vielleicht deines frechen Mundwerks wegen«, entgegnete Malina im Scherz. »Komm jetzt!«
Malina nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich. Im Vorbeilaufen winkte Sinabell ihrer Zofe zu, die es endlich bis zu ihrem Zimmer geschafft hatte. Der Kopf der Frau war noch immer knallrot angelaufen, nahm aber schlagartig die Farbe von Kreide an, als sie begriff, dass sie den Weg umsonst auf sich genommen hatte.
Vor dem Eingang des Thronsaals angelangt lief ihnen Kirali in die Arme. In ihrer schwarz-weißen Reitkleidung sah sie mindestens fünf Jahre älter aus. Sie war sicherlich pikiert darüber, in dieser Aufmachung vor ihren Vater zitiert worden zu sein, entspannte sich aber sofort, als sie Sinabell in ihrem blauen Kleid sah. Sie belächelte sie sogar abfällig, bevor sie sich von ihr abwandte.
Sinabell knirschte mit den Zähnen. Es störte sie nicht, dass sie nicht die hübscheste der Schwestern war und dass ihre Art, sich zu kleiden, eher auf Bequemlichkeit und weniger auf Schönheit ausgelegt war, aber Kiralis Reaktion ging nicht spurlos an ihr vorbei. Dabei gab es doch wirklich Wichtigeres als schmucke Kleidung und Äußerlichkeiten.
Hinter Kirali kamen die jüngsten beiden angelaufen. Kichernd flüsterten sie sich etwas zu und stellten sich dann neben ihren Schwestern in einer Reihe auf.
Auch wenn Firinya, mit ihrer flachen Brust und ihren hohen Wangenknochen, größer und schmaler war als ihre Zwillingsschwester, sahen sie sich doch sehr ähnlich. Beide waren blond, hatten kleine Stupsnasen und große rehbraune Augen. Firinya stieß Evalia lachend zur Seite, als sie gerade dabei war, ihren Rock zu richten. Evalia stolperte, griff nach ihrer Schwester und erwischte ihren Haarschopf.
»Autsch!«, schrie Firinya und lachte laut.
Kirali räusperte sich, um dem unflätigen Verhalten ihrer jüngsten Schwestern Einhalt zu gebieten, und sah dann wieder nach vorn, wo die Pagen ihnen die Flügeltüren öffneten.
Die fünf Mädchen traten in einer Reihe durch das mächtige Eichentor. Die lichtdurchflutete Halle, die dahinter lag, flößte Sinabell jedes Mal aufs Neue Ehrfurcht ein. Über drei Stockwerke ragten zu beiden Seiten Säulen in die Höhe, trugen mit aufwendigem Stuck verzierte Balkone, hinter denen sich offene Korridore erstreckten. Die hohe Kuppel aus bemaltem Glas in vergoldeten Rahmen ließ den ganzen Saal im Sonnenlicht erstrahlen – alles in ihm, bis auf den Thron selbst.
Samtene Vorhänge lagen schwer über dem prunkvollen Herrschersitz aus weißem Marmor. Sie bildeten ein Dach, warfen dunkle Schatten weit in den Saal, und die fünf Mädchen blieben dort stehen, wo Licht und Schatten eine Grenze zogen.
Der König, ihr Vater, regte sich im Dunkel. Eine Hand legte sich fest um die Armlehne des Throns und sein Haupt erhob sich, so dass ein verlorener Sonnenstrahl von seiner güldenen Krone aufgefangen und reflektiert wurde.
Sinabells Herz schlug schnell. Sie konnte nicht anders, aber immer, wenn sie vor ihren Vater trat, packte sie die Angst.
In einem tiefen Knicks sanken die Prinzessinnen vor dem König zu Boden. Mit gesenktem Blick waren es nur seine Schuhe, die sie sahen, als er sich erhob und die oberste der drei Stufen des Thronpodestes nach unten nahm.
»Meine geliebten Töchter«, begann er in wohlwollendem Ton. Sinabell ahnte, dass es nichts Gutes heißen konnte, ihn so freundlich zu erleben. »Ihr seid die Edelsteine in der Krone meines Reiches. Wunderschön und anmutig. Jede von euch auf ihre Weise ein unbezahlbarer Schatz, mehr wert als aller Reichtum meiner Ländereien.«
Sinabell presste die Lippen zusammen. Was hatte er vor, dass er so sprach? War er krank oder würde er nun endlich offenbaren, dass Kirali von ihm als Thronerbin auserwählt worden war?
»Jeden Tag werdet ihr schöner, jeden Tag stehen mehr Verehrer vor den Pforten meines Palastes. Es wird Zeit, dass ich die Tore öffne und die Edelmänner, die sich im Glanze eurer Schönheit baden wollen, nicht länger abweise.«
»Was?«, rief Sinabell erschrocken und sprang auf.
»Sina!«, ermahnte Malina und zerrte sie am Arm, um sie wieder zu Boden zu ziehen.
Sinabell riss sich von ihr los. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Es war ihr egal, dass es sich nicht gehörte, so frei zu dem König zu sprechen, doch was er von ihnen verlangte, war einfach zu viel.
»Ich will nicht heiraten!«, widersprach sie ihm und das Herz pochte ihr dabei bis in den Hals.
Der König rieb sich seufzend den Nasenrücken und gebot dann mit einer Handbewegung seinen Töchtern, sich zu erheben.
»In deinem Alter, mein lieber Wildfang, war deine Mutter bereits an meiner Seite, trug die Krone auf dem Haupt und deine älteste Schwester in ihrem Arm.«
»Ja, aber …«
»Nichts aber!«, unterbrach er sie herrisch. »Ihr alle seid längst im heiratsfähigen Alter. Du solltest langsam erwachsen werden!«
Sinabell schüttelte den Kopf. Hilfe suchend sah sie sich um, doch von ihren Schwestern konnte sie keinen Beistand erwarten. Noch nie hatten sie sich gegen ihren Vater aufgelehnt. Keine von ihnen wagte es, ihm zu widersprechen, und auch jetzt standen sie bloß da und starrten schweigend zu Boden. »Firinya und Evalia sind doch erst fünfzehn Jahre alt!«
»Und die Grafen und Herzoge meines Landes werden ihnen in Scharen den Hof machen.«
Sinabell verschränkte die Arme vor der Brust. »Ein Haufen alter Säcke und verzogener Tunichtgute«, knurrte sie.
»Hüte deine Zunge«, ermahnte der König sie mit erhobenem Zeigefinger.
»Vater, wenn ich sprechen darf?«, fragte Malina zaghaft.
Der König nickte.
»Ihr sprecht von Herzogen und Grafen, doch wir sind des Königs Töchter. Sollten es nicht Prinzen sein, die um uns werben?«
»Wenn es in meinem Reich Prinzen gäbe, dann ganz gewiss«, antwortete der König.
»In Eurem Reich nicht, werter Vater«, mischte Kirali sich ein, »jedoch in den Nachbarsländern. Und um des Friedens willen …«
»Frieden?«, unterbrach ihr Vater sie verächtlich lachend. »Den Frieden bewahren wir uns mit Waffengewalt. Sollen sie doch wagen, uns mit Krieg zu drohen. Wir werden sie dem Erdboden gleichmachen, noch bevor ihre Armeen zu den Lanzen greifen können. Nein, ganz gewiss wird keiner dieser verlogenen Königssöhne eine meiner Töchter zur Frau bekommen, so dass deren Kinder und Kindeskinder ein Anrecht auf meine Krone und mein Reich haben!
Aber macht euch keine Gedanken, meine geliebten Juwelen. Wenn es so weit kommen sollte, werden die Reiche, die wir uns unterjochen, eure Hochzeitgeschenke sein. Die einstigen Könige und Prinzen werden eure Pagen und die Königinnen und Prinzessinnen eure Zofen werden.«
»Und wenn«, begann Kirali zögerlich, »wenn, Gott bewahre, Ihr nicht mehr seid, mein geliebter Vater, wem steht dann die Krone unseres wunderbaren Königreiches zu?«
Der König nickte zufrieden und zollte damit Kiralis weiser Frage seinen Respekt. Hätte er doch nur halb so viel Verständnis für Sinabells Einwürfe, dann wäre sie jetzt nicht in so großer Angst um ihre Zukunft. »Dann soll ein Duell entscheiden, welcher eurer Angetrauten das Recht auf meinen Thron haben wird.«
»Das ist ein weiser und gerechter Entschluss, Vater«, pflichtete Malina dem König bei und beugte ihr Haupt.
»Du bist damit einverstanden?«, fragte Sinabell ungläubig.
Ihre Schwester antwortete ihr bloß mit einem scharfen Blick durch zusammengekniffene Augen.
»Nun gut, es freut mich, dass ihr meinen Entschluss so freudig aufnehmt«, sprach der König in völliger Ignoranz dessen, was Sinabell gesagt hatte. »Und so wird es euch sicher ebenso freuen, dass ich bereits alle Junggesellen des Landes zu einem feierlichen Tanzball eingeladen habe, der in nunmehr drei Tagen stattfinden wird.«
»In drei Tagen?«, fragte Firinya bestürzt. »Oh Vater, wie sollen wir denn so kurzfristig angemessene Gewänder schneidern lassen?«
»Sind eure Schränke denn nicht zum Bersten gefüllt mit den schönsten Kleidern des Reiches? Sicher werdet ihr etwas Angemessenes finden.«
Das machte ihren Schwestern also Sorge? Welche Kleider sie tragen würden? Sinabell wagte es nicht, ihnen das an den Kopf zu werfen. Nicht, nachdem die vier die Entscheidung des Königs mit solcher Selbstverständlichkeit, ja sogar mit Vorfreude, aufgenommen hatten.
»Mit Eurer Erlaubnis, mein König, lasse ich sogleich nach dem Hofschneider rufen«, bat Kirali und deutete einen knappen Knicks an.
Der König gab ihr mit einer ausholenden Handbewegung sein Einverständnis. »Was immer dir beliebt, mein Täubchen.«
Wieder knickste Kirali, diesmal tiefer und mit gesenktem Haupt, und ihre Schwestern taten es ihr gleich. Nur Sinabell blieb mit vor der Brust verschränkten Armen stehen und fixierte den Boden zwischen sich und ihrem Vater.
»Nun denn, geht und trefft eure Vorbereitungen«, entließ der König sie.
»Wenn Mutter noch …«, begann Sinabell durch zusammengepresste Lippen zu zischen, doch Malina packte sie am Arm und zog sie mit sich.
»Willst du, dass er dich am Ende doch enterbt?«, knurrte sie mit gesenkter Stimme und warf einen flüchtigen Blick zu ihrem Vater, um sicherzugehen, dass er sie auch wirklich nicht mehr hören konnte.
»Lieber das, als einen Fremden ehelichen!«
***
»Und was ist mit diesem hier?«, fragte Malina und hielt Sinabell ein Kleid aus weißer Spitze und Seide in blassem Flieder hin.
»Auch schön«, antwortete sie und sah sich wieder in Malinas Kleiderzimmer um.
Es mussten hunderte oder mehr Gewänder sein, die den Raum füllten. Die schönsten Stoffe und Schnitte in allen Regenbogenfarben hingen hier in Reih und Glied.
Sinabell war mehr von der Ordnung fasziniert als von der Fülle an Gewändern. In ihrem Anziehzimmer lag alles auf verschiedenen Haufen. Suchte sie nach etwas, musste sie sich durch alle hindurchwühlen, und dabei fand sie nicht selten ganz andere verloren geglaubte Schätze wieder. Bücher, Schmuckstücke und auch schon mal ihre Katze, Mimi, die es sich nur zu gerne in Samt und Seide gemütlich machte.
»Du musst es dir schon richtig ansehen!«, beschwerte Malina sich.
»Ich schaue doch! Es ist wirklich schön!«
Dabei hatte sie natürlich nicht wirklich hingeschaut. Sie interessierte sich nicht für dieses Kleid oder die anderen, die Malina für den Tanzball in Betracht zog. Ihre Gedanken drehten sich einzig und allein um die Pläne, die ihr Vater für sie alle hatte. Sie verstand einfach nicht, warum sie sich nicht erst verlieben durfte. Und musste sie sich nicht erst einmal selbst finden, bevor sie den Richtigen fand?
Malina seufzte und schob den Bügel wieder zurück auf die Kleiderstange. »Aber mit Kiralis Ballkleidern kann es nicht mithalten.«
»Nichts kann mit ihren Gewändern mithalten«, antwortete Sinabell.
Enttäuscht sank Malina zu Boden. »Sie werden sie alle umschwirren wie die Motten das Licht und wir bleiben wie die Mauerblümchen am Rande stehen.«
»Und das ist schlimm?«, fragte Sinabell. »Du willst doch nicht wirklich einen von denen heiraten, oder? Das sind doch alles faule und dickbäuchige alte Männer, mit voller Geldkatze und leeren Köpfen!«
»Du weißt doch gar nicht, ob sie wirklich alle so sind!«, widersprach Malina. »Außerdem bleibt uns nichts anderes übrig. Vater hat eine Entscheidung getroffen und wir müssen uns dem fügen.«
»Will er uns etwa zwingen?«, protestierte Sinabell. »Ich werde ganz bestimmt nicht heiraten!«
»Das sagst du jetzt«, lachte Malina, schnappte sich eines ihrer Kleider und begann, sich drehend, einen beschwingten Walzer zu tanzen. Das Kleid wirbelte um sie herum und Sinabell war beinahe, als könne sie das Orchester hören, das ein Lied in Malinas Kopf spielte.
Sinabell liebte es zu tanzen und sie wäre nur zu gerne aufgesprungen, um sich ihrer Schwester anzuschließen. Stattdessen verschränkte sie aber die Arme vor der Brust.
»Wenn die Musik erklingt und die hübschen Junggesellen sich darum reißen, einen Tanz mit dir zu ergattern, werden deine Füße sich von ganz allein bewegen.« Malina griff nach Sinabells Hand und zog sie mit sich.
»Ein Graf wird deine Hand ergreifen,
sein Blick wird deine Seele streifen«, fiedelte sie mit flötender Stimme ein Lied und ihr Lachen erfüllte den Raum.
»Und du wirst wortlos mit ihm gehen.
Du wirst an seinen Lippen hängen,
während er von Liebe spricht,
und schon bist du in seinen Fängen
und auf sein nächstes Wort erpicht.
Und wenn er auf die Knie fällt,
noch immer deine Hand in seiner,
dann denkst du nicht an Rang und Geld,
dann denkst du nur, der Graf ist meiner!«
Sinabell huschte ein Lächeln über die Lippen. Malina gab sich ja alle Mühe sie aufzuheitern und von dem Vorhaben ihres Vaters zu überzeugen. Sie war schon immer die Diplomatischere von ihnen gewesen, war immer um das Wohlergehen ihrer Schwestern besorgt und setzte alles daran, die Mutter zu ersetzen, die sie viel zu früh verloren hatten.
Sie liebte sie dafür, dass Malina stets geduldig mit ihnen war, auch wenn sie es gerade mit ihr sicher nicht immer einfach gehabt hatte. Und auch jetzt konnten ihre lieben Worte Sinabells Herz nur schwerlich erweichen.
Sie wollte es nicht zugeben, aber natürlich träumte sie davon, eben diesem Mann zu begegnen – der eine, der ihr Herz höher schlagen ließ. Doch nicht so, nicht auf diese Weise.
***
Drei Tage später, zur achten Stunde, war der Thronsaal so voller Menschen wie zuletzt zu den Zeiten, als die Königin noch gelebt und regelmäßig zu Bällen geladen hatte.
Sinabell hatte sich von ihrer Schwester überreden lassen, ein Ballkleid zu tragen, wenn auch nur ein schlichtes. Es war aus leichtem Stoff, in der Farbe von Buttergebäck und hatte anstelle eines Reifrocks füllige Unterröcke aus Taft und eine Schleppe, so lang, dass Sinabell sie an ihrem Handgelenk befestigt trug. Es war hübsch und sie mochte es. Im Vergleich zu Kirali sah sie aus wie ein blasses Dienstmädchen, doch es störte sie nicht weiter. Mehr noch war sie froh, nicht aufzufallen.
Während ihre Schwestern tanzten, hielt sie sich im Hintergrund. Die eifrigen Junggesellen rissen sich regelrecht um einen Tanz mit Kirali und auch Malinas Füße standen kaum still. Sinabell schlüpfte durch die Menge hindurch und beobachtete die Gesellschaft auf der Tanzfläche.
Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um etwas sehen zu können, und gerade als Kirali an ihr vorbeiwirbelte, nahm einer der Adligen ihr die Sicht. Zähneknirschend versuchte sie es mit einem Schritt zur Seite, doch der Fremde schien es darauf angelegt zu haben, ihr den Blick zu versperren.
Sie hob an, ihm mit scharfem Ton die Meinung zu sagen, da war er es, der das Wort ergriff.
»Darf ich Euch um diesen Tanz bitten?«, fragte der gut aussehende junge Mann.
Sinabell begutachtete den Jüngling skeptisch. Sie war eine Prinzessin und seine Anrede mehr als plump, zumindest für einen Markgrafen. Einen höheren Stand konnte er, seiner Kleidung nach zu urteilen, kaum innehaben. Andererseits war sie wohl die Letzte, die sich darüber ein Urteil erlauben durfte, wo sie doch selbst nicht viel auf edlen Zwirn gab.
Er sah aus, als wäre er gerade eben vom Pferd gestiegen. Sein Haar, dicht, von dunklem Blond, war zerzaust. Er trug ein einfaches Hemd, ohne Spitze und Zier, darüber einen dunklen Wams mit silbernen Knöpfen bestückt. Sie versuchte das Wappen darauf zu erkennen, doch sein ihr entgegengestreckter Arm nahm ihr die Sicht.
»Wenn Ihr darauf besteht«, gab sie schließlich zur Antwort. Sie verkniff sich ein Seufzen und reichte ihm die Hand.
Warum hätte sie auch ablehnen sollen? Ein Tanz konnte schließlich nicht schaden und es war allemal besser, als den ganzen Abend nur zu beobachten, wie ihre Schwestern sich amüsierten. Sicher wusste der Fremde nicht einmal, dass sie eine der Prinzessinnen war. Andernfalls hätte er wohl den Anstand gehabt, sich vor ihr zu verbeugen und sie mit ihrem Titel anzusprechen. So drohte ihr zumindest nicht die Gefahr, sich einen Bewerber um ihre Hand anzulachen.
Er schmunzelte. »Oh, das tue ich.«
Trotz der Handschuhe, die er trug, konnte sie die Hitze spüren, die in seinen Adern pochte. Sie wusste nicht, was sie plötzlich überkam, als er sie berührte, doch ein Kribbeln zog sich ihr von den Fingerspitzen bis in den Unterleib. Sie verlor sich für einen Moment in seinen tiefblauen Augen, in denen sein verschmitztes Lächeln nachklang.
Kaum merklich schüttelte Sinabell den Kopf, doch sie war noch nicht recht zur Besinnung gekommen, da zog er sie schon dichter an sich heran.
Alles um sie herum verblasste und sie verschmolzen miteinander in dem Tanz, der sie über das Parkett fliegen ließ.
Er war gut gebaut, sehnig, beinahe einen halben Kopf größer als sie und den Walzer beherrschte er, als hätte er sich sein Leben lang nie auf eine andere Weise bewegt.
War das der Moment, von dem ihre Schwester gesprochen hatte? Würde sie jetzt, beim Anblick dieser fein gezeichneten Grübchen, bei seinem dichten Haar und der Leidenschaft im Glanz seiner Augen all ihre Prinzipien über Bord werfen, alles vergessen, was sie war und was sie noch werden wollte, und sich ihm ganz und gar hingeben?
Nein, sie konnte und wollte das nicht. Sie wandte sich von seinem Antlitz ab und konzentrierte sich ganz auf die Schrittfolge. Sie sah sich jetzt schon mit Schürze und Kopftuch den Küchenboden schrubben, während ihr über die Jahre dick und runzlig gewordener Ehemann sich mit den Bauern und Knechten ihrer bescheidenen Markgrafschaft herumschlug.
Ihre Träume von Reisen und Abenteuern lägen dann längst vergraben und ihre Gedanken drehten sich um nichts weiter, als um ihre zwölf Kinder und die Frage, wie sie deren Mäuler stopfen sollte.
Der Walzer endete und sie löste sich von dem Mann, lief von der Tanzfläche, ohne ihn noch einmal anzusehen, und verschwand in der Menge. Sie wagte es nicht zurückzublicken. Zu groß war ihre Angst, er könne ihr folgen. Doch vielleicht fürchtete sich sie auch davor, dass er sich bereits der nächsten jungen Dame widmete, während sie schon über ihrer beider Kinder und Kindeskinder nachgedacht hatte.
Sie atmete tief durch. Was ging bloß in ihrem Kopf vor, dass sie sich so von dem Fremden hatte fesseln lassen? Sie nahm sich fest vor, keinen weiteren Gedanken an ihn zu verschwenden.
Als sie den Saal bereits zur Hälfte durchquert, dabei die Tanzfläche und den fremden Mann weit hinter sich zurückgelassen hatte, stand plötzlich Firinya vor ihr.
»Wer war das?«, fragte sie.
Natürlich war sie nicht allein, auch Evalia und Malina drängten sich ihr auf und wollten unbedingt erfahren, mit wem sie getanzt hatte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Er hat sich mir nicht vorgestellt.«
»Oh, wie geheimnisvoll!«, stieß Firinya aus und die anderen kicherten verhalten.
»Aber schaut euch Kirali an!« Evalia deutete auf ihre älteste Schwester, die mit einem stattlichen Edelmann tanzte. Er war nicht mehr der Jüngste, aber von ansehnlichem Äußeren. Es musste ein Herzog sein oder Großherzog und Kirali schien es zu genießen, von ihm geführt zu werden.
Die Musik verklang und der König erhob sich von seinem Thron. Er applaudierte der Tanzgesellschaft und die hohen Damen und Herren verbeugten sich ehrfürchtig vor ihm.
»Willkommen, willkommen«, grüßte er seine Gäste mit ausgebreiteten Armen.
Dann begann er mit einer von seinen berühmten Reden. Berühmt für ihre Langatmigkeit, wie Sinabell insgeheim dachte. Sie gähnte und legte sich die Hand vor den Mund. Malina warf ihr einen strafenden Blick zu, den sie mit einem Lächeln beantwortete.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals entstand Getuschel. Die Leute flüsterten sich etwas zu und, was es auch war, es verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Schließlich war es der bedauernswerte Herold, dem das Los zufiel, den König in seiner Rede zu unterbrechen.
Sinabell ging auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf die Eingeweihten erhaschen zu können. Vielleicht war eine der Damen in Ohnmacht gefallen? Aber nur deswegen würde man den König nicht behelligen. Und wenn jemand gestorben war? Ermordet womöglich? Die Aufregung in Sinabell wuchs. Nun endlich geschah etwas Spannendes, etwas Unerwartetes und sie konnte es kaum aushalten, nicht zu wissen, was vor sich ging.
Dem Herold war es derweil gelungen, die Aufmerksamkeit des Königs zu gewinnen. Er trat an ihn heran und klärte ihn mit gesenkter Stimme über die Neuigkeiten auf. Sie konnte sehen, wie die Farbe aus dem Gesicht ihres Vaters wich und jede Freude von kochender Wut abgelöst wurde.
»Festnehmen!«, rief er über die Köpfe der versammelten Adelsgesellschaft hinweg.
Ein aufgeregtes Raunen zog sich durch die Menge und die Menschen sahen sich suchend nach dem Unglücklichen um, der die Wut des Königs auf sich gezogen hatte. Die Palastwachen reagierten sofort, verriegelten alle Zugänge und näherten sich mit vorgestreckten Lanzen der Tanzgesellschaft.
Sinabell drängte sich weiter vor. Um nichts in der Welt wollte sie verpassen, was nun geschah. Während einige der Frauen, die Hand vor den Mund gelegt, erstickte Angstschreie ausstießen und andere von den Männern gestützt werden mussten, sich Luft zufächelten oder gar in Ohnmacht fielen, grinste Sinabell breit.
Welchen Verbrecher würden sie nun aus den Reihen ziehen? Einen Dieb? Einen Mörder? Wäre es ein Adliger oder ein Betrüger? Sie schob sich zwischen zwei Baronen durch und blieb wie angewurzelt stehen.
Sie konnte es nicht fassen. Der Mann, den sie aus der Menge zogen, war genau der, mit dem sie zuvor noch getanzt hatte.
Er wehrte sich nicht einmal, als sie ihn nach vorn zerrten. Ganz im Gegenteil lächelte er Sinabell sogar noch fröhlich, ja fast herausfordernd, an, als sie ihn an ihr vorbeiführten. Ihr hingegen war alles andere als zum Lachen zu Mute. Sie sah die Wut ihres Vaters und sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Alles in ihr drängte darauf, nach vorn zu stürzen und sich zwischen den Fremden und ihren Vater zu stellen. Doch sie konnte ihm nicht helfen. Niemand konnte das.
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und sie senkte den Blick, biss sich auf die Lippe, bis es schmerzte, und konnte doch nicht wegsehen, als der Jüngling vor ihren Vater trat.
Vor den Stufen zum Thron ließen die Wachen ihn los und der junge Mann vollführte eine musterreife Verbeugung.
»Hattet Ihr geglaubt, unbemerkt zu bleiben?«, fragte der König.
»Keineswegs, Eure Majestät«, antwortete der Mann ohne Scheu. Nicht einmal seinen Blick senkte er, als er zum König sprach. »Ich folge lediglich Eurer Einladung und möchte um die Hand einer Eurer bezaubernden Töchter anhalten.«
»Wie könnt Ihr es wagen?«, fuhr der König den Fremden an.
Der Mann verbeugte sich erneut vor ihm. »Um des Friedens willen.«
»Frieden?«, wiederholte der König ungehalten. »Zwischen dem Königreich Alldewa und dem verlausten Loch, das Eure Königinmutter Lithea nennt, wird es nie Frieden geben und schon gar nicht auf diese Weise. Sicher werde ich das Recht auf meinen Thron nicht an irgendeinen dahergelaufenen Prinzen abtreten!«
»Wie Ihr meint.« Der Prinz senkte einsichtig den Blick.
Ihr Vater war ein sturer Herrscher, ein Kriegstreiber, wenn man so wollte. Sie fand diesen jungen Edelmann fast bedauernswert, aber nur fast, denn er schien einzig gekommen zu sein, um eine Fremde eines politischen Schachzugs wegen zu ehelichen. Was hatte er sich dabei gedacht, hier ungeladen aufzukreuzen? Er hatte mit ihr getanzt, sich nicht einmal vorgestellt. Wollte er sie erobern und hatte geglaubt, sie würde auf seine Avancen eingehen wie ein dummes, verliebtes Ding? Hatte er sie dafür gehalten? Für dumm? Es geschah ihm recht, nun vor den König zitiert worden zu sein, und Sinabell bereute, dass sie ihn eben noch hatte schützen wollen.
»Ich werde meiner werten Mutter Eure Grüße ausrichten. Zumindest dies gewährt mir bitte«, bat der Prinz.
Sinabell biss sich auf die Unterlippe. Sie kannte ihren Vater und ahnte, wie seine Antwort lauten würde. Doch, nein, sie hatte sich fest vorgenommen, kein Mitleid für den Fremden zu empfinden. Er hatte sich selbst in diese Lage gebracht und musste mit den Folgen gerechnet haben.
»Grüße?«, sprach der König spöttisch. »Königin Ramiria erhält von mir den Kopf ihres Sohnes auf einem Silbertablett! Das soll mein Gruß an sie sein! Abführen!«
Die Palastwachen packten den Prinzen an den Armen und führten ihn fort.
Sinabell sah ihm nach, wie er mit erhobenem Haupt und kühlem Blick den Thronsaal durch einen Seiteneingang verließ. Die Wachen drängten ihn, schneller zu gehen, doch der Stolz des Prinzen und ihre Ehrfurcht vor ihm waren größer, sogar größer als die Wut des Königs. Sie ließen zu, dass er sich losriss und aus freien Stücken den Weg zu den Kerkern antrat.
In Sinabells Brust schnürte sich alles zusammen. Sie lief vor zu ihrem Vater und machte einen schnellen Knicks. Sie hatte es nicht gewollt, hatte versucht, sich einzureden, dass es keinen Grund gab, den Prinzen zu bedauern, doch ihre Füße bewegten sich von ganz allein.
»Mein König, ich bitte Euch, lasst Gnade walten.«
Der König seufzte schwer und sah sie an wie ein Vater, der sein kleines Töchterchen dabei erwischte, die Mäuse im Getreidesilo zu füttern.
»Ist es dein Wunsch, ihn zu ehelichen?«, fragte er, wohl wissend, wie ihre Antwort lauten würde.
»Nein Vater, ich …«
Der König lachte.
»Dann geh und tanze, mein liebes Kind!«, forderte er sie auf und wies den Tanzmeister mit einer Handbewegung an, mit dem Ball fortzufahren.
Der Mann senkte ehrfürchtig sein Haupt vor dem König und wandte sich dem Orchester zu. Mit seinem Tanzstab schlug er den Takt auf den Boden, die Musik ertönte und die Adelsgesellschaft schloss sogleich wieder die leeren Reihen.
Sinabell schnaubte, drehte sich von ihrem Vater weg und suchte sich eine möglichst ruhige Ecke, weit weg vom Trubel. Ihr war die Lust aufs Feiern vergangen. Nein, eigentlich hatte sie nie Lust dazu gehabt. Und während Sinabell die beleidigte Tochter mimte, tanzte Kirali bereits zum dritten Mal mit dem stattlichen Großherzog, der es ihr ganz offensichtlich angetan hatte.
Sinabell gönnte ihrer großen Schwester dieses Glück. Kirali schien nie etwas anderes gewollt zu haben.
Doch für Sinabell war das undenkbar. Sie würde sich niemals auf so einen Mann einlassen. Sie waren alle wie dieser Prinz, glaubten, sie könnten eine Frau erobern wie eine Jagdtrophäe. Doch nicht sie. Selbst, wenn das hieße, als alte Jungfer zu enden, selbst, wenn ihr Vater sie enterben und in ein Kloster schicken würde. So einem ungehobelten Tunichtgut wie diesem fremden Prinzen würde sie niemals ihr Herz schenken.
Firinya ging aufgeregt in Sinabells Zimmer auf und ab. Warum ihre kleine Schwester bei ihr war, wusste sie nicht. Nur, dass Firinya sie vom Lesen abhielt.
»Das ist doch auch nicht verwunderlich, oder?«, fragte Firinya und der unverhohlene Vorwurf klang in ihrer Stimme mit.
Sinabell wusste, worauf sie hinauswollte, fragte aber dennoch nach. »Was ist nicht verwunderlich?«
Sie klappte ihr Buch zu, nun schon zum dritten Mal, seit Firinya zu ihr gekommen war, und legte es zur Seite.
»Na, das mit Kirali und ihrem Zukünftigen«, antwortete sie schnippisch und deutete auf das Fenster in Sinabells Rücken, gleich so, als müsste man dort draußen Kirali sehen, wie sie ihren Liebsten innig küsste.
Eigentlich war das gar nicht so abwegig. Drei Tage lag der Tanzball nun schon zurück und an jedem einzelnen dieser Tage hatte der Großherzog Kirali seine Aufwartung gemacht und sie waren stundenlang durch die Gärten flaniert.
»Sie hat so schöne Kleider! Sie hatte immer die schönsten von allen! Auf dem Ball hat jeder nur Augen für sie gehabt!«
Sinabell seufzte und schlug ihr Buch wieder auf. Sie sah die Wörter, die Zeilen und Absätze und suchte noch einmal Muster darin. Sie gab es nicht gerne zu, doch sie konnte sich nicht auf das konzentrieren, was dort geschrieben stand. Sie wusste nicht, woran es lag, aber seit dem Tanzball konnte sie keine Geschichte mehr in den Bann ziehen. Alles wirkte hohl und leer auf sie und jedes Mal, wenn sie versuchte, sich auf die Abenteuer einzulassen, die sie zwischen den Zeilen erwarten würden, wanderten ihre Gedanken zu dem jungen Prinzen und der Wärme seiner Berührung. Sie hätte sich dafür verfluchen können und schrieb es dem Mitleid zu, das sie für ihn empfand.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, beschwerte Firinya sich.
Sinabell verdrehte die Augen.
»Gönn ihr doch ihr Glück«, sagte sie schließlich und schob ihre Gedanken beiseite. »Vater wird ohnehin nicht ruhen, bis wir alle verlobt sind.«
»Aber bis dahin werden die besten Männer schon vergeben sein!«
Sinabell lachte.
»Ach Schwesterchen, das sind doch keine Schuhe, von denen du da sprichst! Außerdem kannst du sie nicht danach bewerten, auf welche hübschen Ballkleider sie am ehesten anspringen. Kleider, Schmuck, Schuhe. Das ist doch alles nicht wichtig!«
»Doch! Genau das ist es!«, widersprach Firinya. »Es ist das Wichtigste überhaupt! Du bist da anders. Du hast Köpfchen und liest Bücher und dir ist es egal, dass du wie eine Vogelscheuche aussiehst. Aber eine Frau ist dazu da, die Zierde des Hauses zu sein. Es ist unsere Aufgabe, immer hübsch auszusehen und in Schönheit und Anmut zu erstrahlen. Wir müssen sein wie die Rosen in den Gärten: wunderschön und zart, mit lieblichem Duft. Und Kirali ist nun mal die schönste Rose von allen!«
Sinabell schüttelte den Kopf. Was hätte sie dazu noch sagen sollen? Dass sie mehr von Firinya erwartet hätte? Das hatte sie nicht. Sie war genauso wie all die Frauen in diesen quälend langweiligen Liebesgeschichten, von denen sie schon zu viele gelesen hatte. Ihre Schwestern waren alle so. Kirali, weil es ihre Art war, Firinya und Evalia, weil sie noch zu jung waren, um eigene Gedanken zu haben, und Malina – Malina war vielleicht anders, aber dank Vaters Wunsch, sie alle schnellstmöglich zu verheiraten, würde sie wahrscheinlich auch als Rose im Garten irgendeines Grafen enden.
Doch vielleicht urteilte sie auch zu hart über ihre Schwestern. Sie liebte sie