Legal Love – An deiner Seite
Legal love – Mir dir allein
Shannon Cramer lebt für ihren Job. Den Männern hat die junge Anwältin abgeschworen, nachdem sie einige äußerst schlechte Erfahrungen mit ihrem Exmann gemacht hat. Doch ausgerechnet er ist der Grund, warum sie einen neuen Job bei der jungen Kanzlei »Padget, Knight, Woods & Collins« anfängt. Dort erwartet sie mit ihrem ersten Mandat eine große Herausforderung: Shannon soll Seite an Seite mit dem australischen Partner Steven Knight zusammenarbeiten. So weit so gut – wäre er nicht der Prince Charming der Kanzlei, dessen Annäherungsversuchen sie kaum widerstehen kann ...
J.T. Sheridan ist das Pseudonym der Autorin Jessica Bernett. Sie wurde 1978 als Enkelin eines Buchdruckers in Wiesbaden geboren. Umgeben von Büchern und Geschichten entdeckte sie schon früh ihre Begeisterung für das Schreiben. Der Liebe wegen wechselte sie die Rheinseite und lebt heute mit ihrem Mann und ihren Kindern in Mainz. Sheridan hat eine Schwäche für Schokolade, Whisky und die britischen Inseln, die sie besonders in ihren Büchern auslebt.
Legal Love – Nie wieder ohne dich
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anne Pias
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer
Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © Roman Samborskyi/shutterstock, © PHOTOCREO Michal Bednarek/shutterstock, © G-Stock Studio/shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-9548-8
be-ebooks.de
lesejury.de
Für Dez
- Schwestern über alle Ozeane -
Die Zahlen ergaben nun endlich Sinn, und ich lehnte mich zufrieden in meinem Bürostuhl zurück, die Beine weit ausgestreckt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
Wie viele Stunden hatte ich an dieser verdammten Excel-Tabelle gesessen? Wenn ich mir die Statistik zum Dokument ansah, würde ich es erfahren. Aber gelinde gesagt, war es mir schnurz. Nicht ganz. Das Mandat wurde pro Stunde abgerechnet, was bedeutete, dass ich der Sekretärin die Arbeitsstunden bei Gelegenheit mitteilen würde. Jeden Pence davon hatten wir uns verdient. Diese Telefonfirma gehörte zu unseren lukrativsten und zugleich anstrengendsten Mandanten.
Ich fuhr mir durchs Haar, lockerte die Nackenmuskulatur und griff nach meinem Handy. Die Uhrzeit leuchtete grell auf dem Display. Zehn nach zehn. Wow, andere hatten längst Feierabend, tranken Cocktails oder chillten auf der Couch. Aber andere waren auch keine Anwälte in einer aufstrebenden Londoner Kanzlei.
Seufzend speicherte ich die Datei sicherheitshalber nochmals auf einem USB-Stick ab und fuhr den Computer runter.
Als ich das Licht in meinem Büro ausschaltete, erkannte ich, dass ich nicht der letzte Mitarbeiter im Büro war. Klar, unser Abendsekretär war noch da. Ich nickte ihm freundlich zu, während ich über den Gang zu Davids Büro schlenderte.
»Kumpel, hast du kein Zuhause?«, scherzte ich und lehnte mich in den Türrahmen.
Mein dunkelhaariger Freund grinste schief und deutete auf seinen Bildschirm. »Gerade fertig geworden. Ein Anspruchsschreiben für Meghans Firma.«
»Lass uns was trinken gehen«, schlug ich vor, da ich nach einem Arbeitsmarathon meist nicht zur Ruhe kam.
Dave sah auf sein Handy. »Hm, Nora ist mit Meghan unterwegs. Also, klar, warum nicht.«
Der Pub war gut gefüllt, obwohl es ein Wochentag war. Die Londoner liebten ihr Feierabendbier.
Dave und ich fanden einen Platz in einer hinteren Ecke, an einem Fass als Tisch. Wir hatten unser Bier direkt an der Bar mitgenommen. Nun zog mein Freund das Jackett aus, lockerte seine Krawatte und prostete mir mit seinem Guinness zu.
Nach dem erfrischenden ersten Schluck setzte ich mein Glas ab, stützte die Ellbogen auf dem Fass ab und sah David forschend an. »Du siehst gestresst aus«, stellte ich fest.
»Ist viel zu tun.«
»Wem sagst du das«, pflichtete ich bei und nahm einen weiteren Schluck vom kühlen Bier. »Wir müssen neue Leute einstellen.«
David nickte nachdenklich und sah in sein Bierglas.
»Mels Arbeitskraft fehlt uns in London«, fuhr ich fort. »Wir brauchen Ersatz für sie. Und keine Ahnung, wie lange die englischen Behörden noch mit meiner Zulassung für die Insel brauchen.«
»Hm«, murmelte mein Kumpel.
»Okay, raus mit der Sprache.« Ich erhob ein wenig meine Stimme, sodass Dave überrascht aufsah. »Wo bist du mit deinen Gedanken? Denn hier bei mir sind so höchstens zehn Prozent davon.«
Er grinste entschuldigend. »Wie lange kennen wir uns schon? Zehn Jahre?«
»Länger. Erstes Semester, Einführung ins Wirtschaftsrecht. Du kamst zu spät zur ersten Vorlesung, und der Prof hätte dich fast wieder rausgeschmissen.«
David lachte leise. »Stimmt. Und der einzige freie Platz war neben dir. Einem Typen mit Nerdbrille und einer Frisur, als habe ihn seine Mum gekämmt. In der ersten Reihe.«
Jetzt war es an mir, zu grinsen. »Tja, so ein Glück für dich.«
»Jedenfalls kennst du mich besser, als mir lieb ist.« Er atmete tief durch. »Wir überlegen, nach Melbourne zu ziehen.«
Überrascht hob ich die Brauen. »Wir« waren natürlich Nora und er, Zweifünftel der Partner von Padget, Knight, Woods & Collins. Mit Noras Mutter Helena und mir hier in London waren wir zu viert, während unser Partner Jeremy Woods derzeit allein das Melbourner Büro leitete. Wenn beide nach Melbourne gingen, hieße das für mich, dass ich zusammen mit Helena das Londoner Büro leiten würde … vorausgesetzt, ich wäre überhaupt dazu bereit, in England zu bleiben.
Darauf brauchte ich etwas Stärkeres als Bier. Ich winkte die Kellnerin herbei, die gerade zwei Tische weiter bedient hatte.
Lächelnd kam sie zu uns, bereit, die Bestellung aufzunehmen. Mir entging nicht der interessierte Blick, den sie über Davids durchtrainierte Figur wandern ließ. Okay, sie stand wohl auf «groß und dunkelhaarig«.
Ich lenkte ihre Aufmerksamkeit von meinem verheirateten Freund ab: »Zwei Whisky, bitte.«
Sie nickte und tippte auf ihr Tablet. »Single Malt Scotch? Bourbon?«
Verwirrt, aber doch freundlich grinste ich sie an.
Sie bemerkte mein Zögern und sah auf. Ihr Lächeln wandelte sich von »freundlich« zu »interessiert«. Allerdings konnte ich in diesem Moment nicht mit besonderer Whisky-Kenntnis glänzen. »Kannst du etwas empfehlen?«
Kein Problem für die hübsche Kellnerin. »Also … wir haben eine ziemlich große Auswahl. Lieber rauchig oder malzig?«
Ich schürzte die Lippen. »Mild.«
»Schottisch? Irisch? Amerikanisch?«
Ich kratzte mich am Dreitagebart. »Keine Ahnung, was wäre dir lieber?«
Ihre Wangen röteten sich leicht. »Ich würde einen Scotch wählen.«
David sprang ein: »Aberfeldy. Bring uns den Zwölfjährigen, danke.« Er sagte es freundlich, jedoch in einem Ton, der ziemlich deutlich machte, dass er keine Lust hatte, uns weiter zuzuhören.
Bedauernd hob ich die Schultern. »Also gut, das, was er sagt.«
Sie nickte, tippte die Bestellung in ihr Tablet und drängte sich durch die Menge.
Meinem Kumpel warf ich einen vorwurfsvollen Blick zu. »Das war nicht nett.«
»Sie kommt ja gleich wieder, dann kannst du sie immer noch nach ihrer Telefonnummer fragen.«
Die Situation erinnerte mich ein wenig an frühere Zeiten, als wir noch Studenten waren und Melbournes Kneipen unsicher machten. Unsere Freundschaft hatte uns beiden gutgetan. Und zusammen mit Jerry hatten wir mehr Mist gebaut, als gut für uns gewesen waren. Glücklicherweise hatten wir das Ruder noch rumreißen können.
»Melbourne also«, sagte ich und seufzte.
David sah mich forschend an. »Nora und ich haben lange nachgedacht. In Australien lebt der australische Teil meiner Familie. Und wenn wir eines Tages …« Er sprach den Satz nicht weiter.
Brauchte er auch nicht. Sie wollten ihre eigene Familie gründen, das war doch wohl mehr als verständlich. So konnten sie ihre Kinder in der Nähe von Davids Familie aufziehen. Noch dazu sah es nicht so aus, als würde Melissa Carter, Noras beste Freundin, aus Melbourne zurückkehren, nachdem sie sich mit Patrick Finnley, dem australischen Ex-Tennisprofi, eingelassen hatte.
Die Kellnerin kam mit zwei Whiskygläsern zurück, die sie vor uns abstellte. Sie kassierte sogleich. Sie lächelte mir zu und ließ sich Zeit, bevor sie zum nächsten Tisch ging. Sie war wirklich hübsch, und früher hätte ich nicht lange gefackelt, sie nach ihrer Nummer und ihrem Namen zu fragen. Heute aber verspürte ich nicht den Drang dazu, überhaupt jemand Neues kennenzulernen.
«Danke dir«, sagte ich deshalb nur mit bedauerndem Lächeln.
Mit einem leicht enttäuschten Gesichtsausdruck begab sie sich zum nächsten Tisch.
»Warum hast du sie gehen lassen?«, wollte Dave amüsiert wissen und musterte mich, als würde irgendetwas mit mir nicht stimmen.
Ich hob die Schultern und ergriff mein Glas. »Keine Ahnung. Irgendwie steht mir nicht der Sinn nach einem schnellen Abenteuer.«
Er hob die Brauen. »Vielleicht wäre es etwas Ernstes geworden.«
Diesmal war ich derjenige, der in sein Glas starrte. »Glaube ich nicht.«
»Doch nicht etwa, weil sie eine Kellnerin ist und du Anwalt bist? Meinst du, weil ihr euch in verschiedenen Welten bewegt?«
»Unsinn.« Ich winkte ab. »Es ist eher …« Ich seufzte und wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Aber Dave war mein Freund, mein Partner. Wir hatten so viel miteinander erlebt, dass wir fast wie Brüder waren, denn das alles hatte uns noch enger zusammengeschweißt. »Es liegt an mir«, offenbarte ich nun.
Er runzelte die Stirn. »Klar. Der attraktive Australier, Anwalt, auf dem Weg zur ersten Million, ist keine gute Partie.«
»Haha, sehr witzig. Du weißt genau, was ich meine.« Ich hob mein Glas. »Und von der ersten Million sind wir Meilen entfernt. Das müsstest du doch wissen.«
Er prostete mir zu und grinste. »Lass uns trinken. Sláinte, Kumpel.«
»Bottoms up«, erwiderte ich und erinnerte mich noch rechtzeitig daran, dass man Whisky nicht wie Schnaps runterkippte, sondern genüsslich daran nippte.
Die Wärme des Getränks erfüllte meinen Mund. Zum Glück war der gute Tropfen nicht besonders scharf, sondern erstaunlich mild. Dave hatte ein gutes Gespür für Whisky. Etwas, was er vermutlich von seinem Großvater geerbt hatte, der ebenfalls Anwalt gewesen war.
»Wann soll es losgehen? Nach Melbourne, meine ich«, wollte ich wissen, nachdem der erste Schluck meine Kehle hinuntergelaufen war.
»Wissen wir noch nicht genau. Erst einmal wollen wir regeln, dass London läuft. Wir haben hier mehr Mandate als in Melbourne. Deswegen benötigen wir neue Anwälte. Eine Assistentin oder ein Assistent mehr würde auch nicht schaden.«
»Jupp«, pflichtete ich bei.
»Schon was gehört von der Anwaltskammer?«
»Nope.« Ich nahm einen weiteren Schluck vom Whisky, dessen Name ich mir nicht hatte merken können. Bier war eher mein Ding – oder Wein, wenn es sein musste. »Aber London gefällt mir echt gut. Ich könnte es hier eine Weile aushalten.«
Dave nickte. Wir hatten schon öfter darüber gesprochen. Klar vermisste ich manchmal die strahlende Sonne Australiens, den Wellengang, der zu Surftrips einlud oder die Lockerheit der Menschen. Außerdem lebte meine Mutter noch immer in Australien. Dennoch hatte London etwas, was mich reizte. Das geschäftige Treiben in den Straßen, der Regen, der jeden Sonnenstrahl zu etwas ganz Besonderem machte, der Nebel, durch den die Natur um die Stadt herum aussah, als sei man in eine Märchenwelt geraten. Und Surfen konnte ich auch in Cornwall. Die Brandung war an manchen Orten genial gut. David und Nora hatten dort ein Anwesen, und wir hatten schon einige Wochenenden dort verbracht.
»Steve«, meinte mein Kumpel nun, und ich blickte fragend auf. »Es liegt nicht an dir.«
Stirnrunzelnd sah ich ihn an, weil ich nicht so recht kapierte, was er meinte.
»Es liegt an den Frauen«, erläuterte er seine Worte. »Sie muss echt etwas Besonderes sein, wenn sie das Herz von Prinz Charming persönlich erobern will.«
Ich schüttelte amüsiert den Kopf. »Rede nicht so schwülstig, sonst wird mir noch schlecht.«
David lachte laut auf und winkte die Kellnerin herbei. »Darauf noch einen Whisky. Und diesmal einen, der dir die Kehle wegbrennt.«
Die Zahlen verschwammen zu dunkelgrauen Klecksen.
Der Bildschirm flimmerte vor meinen Augen.
Mein Hals war eng, wie abgeschnürt von einem unnachgiebigen Band.
Das Band der Vergangenheit.
Meiner Vergangenheit.
Ich hatte geglaubt, sie hinter mir gelassen zu haben. Nun schlug sie mir höhnisch lachend ins Gesicht. Ich würde ihr niemals entkommen. Nie.
»Ms Sullivan, alles in Ordnung mit Ihnen?« Die besorgte Stimme der Sekretärin erreichte nur gedämpft meinen Verstand.
Wie in Zeitlupe sah ich auf und starrte die junge Frau an. Ich musste mich sehr konzentrieren, um eine halbwegs verständliche Antwort geben zu können. »Ja, es ist nichts, nur ein kurzer Schwindelanfall. Es geht schon wieder.« Tatsächlich brachte ich sogar ein Lächeln zustande.
Die Sekretärin legte ihre Unterschriftenmappe auf meinem Schreibtisch ab und beeilte sich, mein Büro wieder zu verlassen.
Bloß keine Unannehmlichkeiten bereiten. Immer schön die Form wahren. Eine weit verbreitete Unart in unseren Kreisen.
Eine, die mich fast das Leben gekostet hatte.
Um einen klaren Kopf zu bekommen, kippte ich das Fenster hinter meinem Schreibtisch. Mein Blick fiel auf den Park, in dem Menschen gemütlich spazieren gingen.
Die kalte Luft streichelte meine Wange, und ich schloss die Augen, um wieder zur Ruhe zu kommen.
Er konnte mir nichts mehr anhaben. Es gab einen Gerichtsbeschluss.
Einen Beschluss, von dem Mr Harrington keine Ahnung hatte. Warum auch? Mein Privatleben hatte nichts mit meiner Arbeit zu tun. Es hatten zwar damals genügend Personen aus der Kanzlei mitbekommen, was vorgefallen war, aber die meisten arbeiteten nicht mehr bei Harrington & Partner.
Ich dachte, ich hätte alles überstanden. Er hatte mich in Ruhe gelassen. Ich hatte ein neues Leben angefangen. Aber die Ruhe hatte womöglich nur bedeutet, dass er sich einen Plan überlegt hatte, wie er mich weiter quälen konnte.
Mein Ex-Mann war neuer Mandant der Kanzlei Harrington & Partner, und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm entkommen sollte.
Mr Harrington hatte mir zu verstehen gegeben, dass er dieses Mandat höchstpersönlich betreuen würde, ich hätte nichts mit meinem Ex-Mann zu tun, wenn ich es nicht selbst wünschte.
Aber … das reichte mir nicht. Schon allein die Vorstellung, dass er sich im selben Gebäude mit mir aufhielt, ließ mich in Schweiß ausbrechen. Ich hatte Angst. Große Angst.
Mr Harrington hatte mir außerdem zu verstehen gegeben, dass er einen lukrativen Mandanten wie Roger Cramer nicht abweisen konnte. Er brachte der Kanzlei einen Betrag im mindestens fünfstelligen, wenn nicht gar sechsstelligen Bereich. Und wie mir schmerzlich bewusst war, konnte diese Kanzlei jeden Cent gebrauchen.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und versuchte erneut, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Es gelang mir nicht. Noch eine Stunde quälte ich mich mit den Zahlen, verschob die Tabellenformeln, sah nur noch Fehlermeldungen. Es wäre wohl besser gewesen, sich krank zu melden, denn ich brachte ohnehin nichts mehr zustande. Aber auch das schaffte ich nicht. Es hätte bedeutet, mir einzugestehen, dass ich schwach war. Und das … das hatte ich mir selbst geschworen, würde ich nie wieder sein.
Wie in Trance begab ich mich in die Teeküche, nahm mir einen frischen Kaffee, hörte zu, was zwei Kolleginnen vom neuesten Klatsch und Tratsch der Anwaltswelt zu berichten hatten. Eine Freundin hatte einer Bekannten in der Mittagspause erzählt und so weiter …: David Padget suche Verstärkung für seine Kanzlei.
David war einer der wenigen, die von meiner schrecklichen Trennung wussten. Er hatte mir geholfen, meinen Mann zu verlassen. Genauso wie Helena Collins, die mir bei der Scheidung beigestanden hatte. Ob sie … nein, ich wagte gar nicht, darüber nachzudenken.
Keine Ahnung, wie ich es schaffte, den restlichen Arbeitstag zu überstehen. Irgendwann war es endlich siebzehn Uhr, und für mich ungewohnt pünktlich fuhr ich den Computer herunter und schaltete das Licht in meinem Büro aus. Ich brachte sogar ein Lächeln zustande, als ich die Kanzlei verließ und mich von Kollegen verabschiedete.
Es war kalt draußen, der November hatte einen eisigen Wind mitgebracht, der nun durch Londons Straßen fegte und mir eine Haarsträhne ins Gesicht wehte. Ich strich sie mir aus der Stirn und sah mich nach einem Taxi um. Für gewöhnlich fuhr ich mit der Tube. Von Kensington nach Notting Hill war das der schnellste Weg durch die Stadt.
Doch an diesem Abend wollte ich allein sein. Die Anwesenheit der anderen Pendler hätte ich nicht ertragen. Die Fassung zu wahren, wäre mir nicht gelungen. So konnte ich mich in den Rücksitz des Taxis fallen lassen. Ich nannte dem Taxifahrer meine Adresse. Ich starrte aus dem Fenster, ließ den Londoner Verkehr an mir vorüberziehen, ohne genau wahrzunehmen, welche Straßen es waren.
Der Taxifahrer setzte mich vor unserem türkisfarbenen Haus ab, ich zahlte und stolperte in mein Zuhause. Ein klägliches Maunzen begrüßte mich, ein kleiner warmer Körper, der sich an meine Beine drückte.
»Cap«, seufzte ich, und mein Herz wurde etwas leichter.
Ich hob das Fellbündel hoch und drückte ihm einen Kuss auf den Kopf. Es dankte es mir mit einem weiteren kläglichen Maunzen. Zwei Pfoten drückten sich protestierend gegen meine Brust.
»Ist ja schon gut.« Ich schmunzelte und ließ den Kater wieder hinunter.
Erstaunlich, wie schwer er geworden war. Als ich ihn vor einem Jahr gefunden hatte, war er nicht mehr als ein dürres, verletztes Häufchen Elend gewesen. Halb verhungert und von einem Auto angefahren lag er auf der Straße. Die Tierärztin, zu der ich ihn damals brachte, sagte mir, ich solle mir nicht zu viele Hoffnungen machen. Der Kater war dem Tod näher gewesen als dem Leben. Aber ich blieb die ganze Nacht bei ihm, streichelte ihn, sprach ihm Mut zu. Er sollte in seinen letzten Stunden nicht allein sein. Mit Infusionen und dem Versorgen der Wunden schaffte er es trotzdem über die Nacht, und sodann ging es ihm jeden Tag ein bisschen besser. Die Tierärztin schüttelte selbst den Kopf über so viel Glück.
Aber Cap war nun einmal eine Glückskatze, und heute glänzte sein seidenweiches Fell. Vermutlich steckte auch eine Perserkatze unter seinen Vorfahren, was ebenso sein fülliges Gewicht erklären würde. Mit nur einem Auge würde er jedoch nie draußen überleben können. Außerdem war auch sein Schwanz nur noch halb so lang, da die Tierärztin ihn nach den schlimmen Verletzungen hatte amputieren müssen.
Ich fand, er sah aus wie ein verwegener Piratenkapitän, und deswegen taufte ich ihn »Captain«. Niemand schien ihn zu vermissen. Er musste irgendwann in einem Zuhause bei lieben Menschen gelebt haben, denn er war sehr zutraulich und nicht so scheu wie andere Straßenkatzen. Wir hatten Wochen gewartet, dass sich sein Besitzer meldete. Dann nahm ich ihn zu mir, und seither waren wir unzertrennlich.
Nachdem ich meine Tasche, meine Schlüssel und meinen Mantel im Flur abgelegt hatte, geleitete mich mein Cap in die Küche, die sich im Erdgeschoss befand. Ich gab ihm sein Futter, füllte frisches Wasser in seine Schale und warf dann einen Blick in den Kühlschrank. Großen Hunger hatte ich nicht. Aber ich musste etwas essen.
Nach der Trennung von meinem Ex hatte ich sehr viel abgenommen, ungesund viel. Mein Gewicht hatte sich wieder normalisiert. Aber ich musste besonders darauf achten, mich in Stresssituationen gesund zu ernähren. Und das war mal wieder so eine Situation. Also schmierte ich etwas Butter auf zwei Scheiben Toast und belegte sie mit Salat, Schinken und Cheddar.
Wenn Carolin hier gewesen wäre, hätte sie sicher mit mir geschimpft, weil das in ihren Augen unmöglich mein Abendessen sein konnte. Dann hätte ich mich bei meiner Mitbewohnerin damit gerechtfertigt, dass ich mittags bereits ein Curry aus dem indischen Restaurant in der Nähe der Kanzlei gegessen hatte.
Carolin befand sich derzeit aber auf einer Forschungsreise in Italien. Seit über einem Jahr teilten wir uns dieses niedliche kleine Haus in Notting Hill. Wir waren mehr als Mitbewohnerinnen, wir waren Freundinnen geworden. Und obwohl die Archäologin eigentlich genauso alt war wie ich, kümmerte sie sich um mich, als wäre sie meine große Schwester … oder meine Mutter.
Bei dem Gedanken lächelte ich und begab mich mit meinem Sandwich und einem Glas Wasser ins Wohnzimmer, das zugleich auch unser Esszimmer war. Wenn ich allein war, schaltete ich manchmal auch beim Essen den Fernseher ein. Heute aber war mir nicht danach. Ich brauchte Ruhe zum Nachdenken. Also ließ ich eine Playlist auf meinem Handy ablaufen, das sich mit den Bluetooth-Lautsprechern im Wohnzimmer verband. Begleitet von Ed Sheeran genoss ich mein Sandwich. Allerdings sang er von seiner glücklichen Liebe, was mich ein wenig angewidert das Gesicht verziehen ließ.
Von Männern hatte ich die Nase voll, nach dem, was ich mit meinem Ex-Mann erlebt hatte. Schon allein die Tatsache, dass er mich noch heute aus der Fassung bringen konnte, machte mich wütend. Kein Mann hatte das Recht, eine Frau so zu behandeln, wie er mich behandelt hatte.
Und ich würde nicht zulassen, dass er weiterhin mein Leben beeinflusste. Ich war eine sehr gute Anwältin. Auch wenn er es geschafft hatte, mein Selbstbewusstsein über Jahre hinweg zu attackieren, war ich in meinem Job immer gut gewesen. Weil ich dort ich selbst hatte sein dürfen. Weil ich dort war, wer ich wirklich war.
Das würde ich mir nicht von ihm nehmen lassen.
Ich würde mir eine andere Kanzlei suchen. Und sollte er auf die Idee kommen, auch in dieser Kanzlei aufzutauchen, würde ich einen weiteren Gerichtsbeschluss gegen ihn erwirken.
Cap schnurrte um meine Beine, und ich nahm ihn auf meinen Schoß, da ich mit dem Essen fertig war. »Hey, Cap, ich suche mir einen neuen Job. Aber keine Sorge, wir bleiben in London.« Mein Kater schnurrte genüsslich, als ich ihn unter dem Kinn kraulte. »Und ich weiß schon genau, wo ich mich bewerben werde.«
Am Morgen des Vorstellungsgesprächs war ich aufgeregter, als ich vermutet hätte. Eigentlich gab es dazu keinen Grund. Einen Großteil der Anwälte von Padget, Knight, Woods & Collins waren meine ehemaligen Kollegen von der früheren Kanzlei Padget & Harrington.
David Padget, Nora Padget geborene Collins, Helena Collins, Melissa Carter – wir hatten lange Seite an Seite gearbeitet. Es war ein angenehmes Arbeiten gewesen. Meistens zumindest. Denn genau sie waren es, die wussten, wie unangenehm meine Scheidung gewesen war.
David war es gewesen, der mir geholfen hatte, meine Sachen aus der Wohnung zu holen, und der dafür gesorgt hatte, dass ich sicher untergekommen war. Was zu einer kleinen Unstimmigkeit mit Nora geführt hatte, deren Beziehung mit David sich damals erst anbahnte. Ihre Mutter, Helena Collins, hatte mich bei der Scheidung vor Gericht vertreten, und sie hatte einen fantastischen Job gemacht. Mit Melissa hatte ich nur beruflich zu tun gehabt, sie war damals noch Studentin gewesen, war aber aufgeweckt und schlagfertig, was mir irgendwie immer imponiert hatte.
Nun, vermutlich war es genau das, was mich so nervös machte. Was, wenn sie mich gar nicht in der Kanzlei wollten, weil sie von mir als dem schwachen Mädchen dachten, das von ihrem Mann unterdrückt worden war? Ich stand in Canary Wharf vor dem modernisierten Gebäude mitten in den Docks. In den Fenstern spiegelten sich die grauen Wolken. Ich atmete tief durch und straffte die Schultern. Nein, so dachten sie ganz gewiss nicht von mir, es waren nur meine eigenen Zweifel, die ich da vernahm. Sonst hätte mich David doch wohl nicht sofort nach Eingang meiner Bewerbung angerufen und einen Termin vereinbart.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und betrat das moderne Gebäude, das sich sehr von dem altehrwürdigen viktorianischen Gebäude der Kanzlei Harrington & Partner unterschied.
Die Büros waren hell und modern eingerichtet, wie ich schon bei Verlassen des Fahrstuhls und dem Blick durch eine Glastür feststellen konnte.
Eine freundliche junge Dame lächelte mir entgegen. »Guten Morgen«, begrüßte sie mich. »Sie müssen Ms Sullivan sein.«
»Guten Morgen«, entgegnete ich genauso freundlich. »Ja, das bin ich.«
Die Empfangsdame erhob sich von ihrem Stuhl, kam um den Tresen herum und war mir mit meinem Mantel behilflich.
»Mein Name ist übrigens Jenna«, erwähnte sie, nachdem sie meinen Mantel an der Garderobe aufgehängt hatte, die sich hinter einem deckenhohen Spiegel verbarg.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Jenna«, sagte ich aufrichtig.
Rechts vom Eingangsbereich öffnete sich ein langer Flur, über den ich nun gedämpfte Schritte wahrnahm. Als ich in diese Richtung sah, erwartete ich eigentlich, dass David mich begrüßen würde. Es hatte sich am Telefon so angehört, als würde er das Vorstellungsgespräch selbst führen.
Aber es war Nora Collins … Padget, berichtigte ich mich, die elanvoll in meine Richtung kam. Ihre schlanke Figur steckte in einem schwarzen Bleistiftrock sowie einer weißen Bluse. Ihre Beine wurden von schwarzen Pumps betont. Sie mochte diesen klassischen Look, das war mir schon früher an ihr aufgefallen. Ihre braunen Locken hatte sie zu einem Dutt gebunden. Durch ihre schwarz umrandete Brille sah sie so etwas streng aus, doch ihr Lächeln war warmherzig.
»Shannon, meine Güte, es kommt mir vor wie Ewigkeiten.«
Zu meiner Überraschung schloss sie mich kurz in ihre Arme. So gut waren wir bisher eigentlich nicht miteinander bekannt gewesen. Das war wohl der frische australische Wind, der durch die Kanzleiräume fegte und die englische Kühle etwas erwärmte.
»Du siehst toll aus«, bemerkte sie außerdem, als sie mich von oben bis unten musterte. »Die neue Frisur steht dir gut.«
»Danke«, antwortete ich etwas verlegen und strich den Stoff meines dunkelbraunen Hosenanzuges glatt. Mein Haar trug ich mittlerweile als kurzen Bob mit langem Pony, von dem ich nun eine blonde Strähne aus dem Gesicht strich. »Du siehst ebenfalls gut aus.«
»Komm, ich bringe dich in unseren Besprechungsraum. Er ist zwar nicht so luxuriös ausgestattet wie in der alten Kanzlei, aber die Aussicht ist einfach fantastisch.«
Ich folgte ihr durch den Flur, der durch seine helle Gestaltung breiter wirkte, als er war. Der Konferenzraum war ebenfalls hell gehalten, und Nora hatte in puncto Aussicht nicht übertrieben. Man konnte fast bis zur Tower Bridge sehen, wenn der Dunst über der Themse nicht gewesen wäre.
Hier traf ich nun auf David Padget, der sich von seinem Stuhl am anderen Ende des Tisches erhob und herzlich lächelnd auf mich zukam. »Shannon! Es ist uns eine Freude, dich bei uns begrüßen zu dürfen.«
Schon befand ich mich erneut in einer ungewohnten Umarmung, die ich etwas steif erwiderte. »David, vielen Dank für die Einladung.«
»Keinen Dank für etwas, was wir uns erhofft haben.« Er lachte und warf seiner Ehefrau einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Setz dich doch«, bat diese und deutete auf den Platz neben David. »Darf ich dir einen Kaffee anbieten oder einen Tee?«
»Tee, bitte.« Ich nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz und schlug automatisch die Beine über Kreuz. Von meiner Position aus hatte ich die wundervolle Aussicht im Blick. Da nahm ich es auch in Kauf, dass mir die Tür im Rücken lag.
»Bin gleich wieder da«, sagte Nora gut gelaunt, während David sich an meine Seite setzte.
Das würde ein ungewöhnliches Vorstellungsgespräch werden, so viel war mir jetzt schon klar.
»Wir hatten nicht damit gerechnet, dass du dich bei uns bewerben würdest«, begann nun David im Plauderton. »Du schienst bei unserem letzten Gespräch sehr zufrieden bei Harrington zu sein.«
Ich gab einen nicht so zufriedenen Laut von mir. »Diverse Umstände haben dazu geführt, dass ich mich dort nicht mehr wohlfühle.« Ich wagte es kaum, aufzusehen.
Natürlich hatte ich in meiner Mail an ihn nicht erwähnt, weshalb ich von Harrington fortwollte. Doch es war vielleicht besser, mit offenen Karten zu spielen. Und wenn jemand wusste, was es für mich bedeutete, dass mein Ex in der Kanzlei aufgetaucht war, dann David. Also atmete ich tief durch und sah vorsichtig auf. »Roger ist neuer Mandant bei Harrington & Partner geworden.«
Davids blaue Augen verfinsterten sich. »Das ist übel.«
Ich nickte. »Harrington weiß zwar, dass Roger und ich geschieden sind, aber er kennt nicht die genauen Umstände.«
»Du hättest mir erlauben sollen, Harrington davon zu erzählen, dann wäre es vielleicht nicht so weit gekommen.«
Ich schüttelte rasch den Kopf. »Mir war es schon unangenehm genug, dass du, Nora und Helena davon wussten.«
Er nickte verständnisvoll, da kam bereits Nora mit einem Tablett zurück, auf dem drei Tassen standen. Sie stellte eine vor mir ab, ebenso eine vor David. Zucker und Milch standen auf dem Tablett bereit, das sie in die Mitte des Tisches schob. Nora setzte sich an den Kopf des Tisches auf Davids andere Seite.
»Habe ich etwas verpasst?«, erkundigte sie sich gut gelaunt.
Ich warf David einen vorsichtigen Blick zu, der die Schultern hob. Er schien es mir zu überlassen, ob ich auch Nora den wirklichen Grund meiner Jobsuche erzählen wollte.
Ich räusperte mich und wiederholte das, was ich bereits ihm gesagt hatte.
»So ein Mistkerl!«, entfuhr es Nora. »Wie kann Roger Cramer es wagen! Wir sollten Harrington davon erzählen. Er wird ihn als Mandanten doch sofort ablehnen.«
Rasch schüttelte ich den Kopf. »Bitte nicht. Eigentlich möchte ich mit dem Thema einfach nur abschließen.« Ich nippte an meinem Pfefferminztee. Faszinierend, dass Nora noch immer wusste, welchen Tee ich am liebsten mochte. Uns hatte eher eine höfliche Bekanntschaft verbunden, ich hatte nie zu ihrem engsten Kreis gehört.
David räusperte sich und wechselte das Thema, indem er die Mappe aufschlug, die vor ihm lag. »Okay, also wann könntest du anfangen?«
»Ich habe noch Resturlaub«, dachte ich laut nach. Natürlich hatte ich mich auf dieses Gespräch vorbereitet und überlegt, wie schnell ich Harrington verlassen konnte. »In einem Monat könnte ich hier eintreten.«
David schob mir die Unterlagen zu. »Das ist der Vertrag. Lies ihn in Ruhe durch.«
Ich sah zweifelnd von ihm zu Nora. Sie gaben mir direkt einen Vertragsentwurf? Ohne Wenn und Aber?
Nora beugte sich etwas vor und lächelte. »Wir würden dich sehr gern schon früher hier begrüßen. Wäre es dir denn recht, wenn wir mit Harrington reden und einen Deal mit ihm aushandeln?«
»Wie früh?«, wollte ich verwirrt wissen.
Sie legte den Kopf schief. »Wie wäre es mit sofort?«
»Oh«, entfuhr es mir.
»Wir haben dieses neue Mandat«, erklärte David nun. »Und wir glauben, dass du genau die richtige Anwältin dafür bist.«
»Natürlich können wir dir erst mehr davon erzählen, wenn du den Arbeitsvertrag und die Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet hast«, wandte Nora ein.
Das machte Sinn und war in unserer Branche selbstverständlich.
In meinem Rücken öffnete sich die Tür.
Nora sah auf und lächelte. »Guten Morgen, schön, dass du uns auch noch beehrst.«
Ich vernahm eine mir unbekannte männliche Stimme: »Sorry, das Meeting hat länger gedauert.«
Ich wandte mich halb um, damit ich erkennen konnte, wer der Mann war. Mir stockte kurz der Atem. Natürlich erkannte ich ihn, denn ich hatte mich auf der Homepage über die anderen Partner von Padget, Knight, Woods & Collins informiert. Außer David, Nora und Helena gehörten auch die Australier Steven Knight und Jeremy Woods zu den Namenspartnern. Das Foto von Steven Knight auf der Homepage war schon sehr ansprechend gewesen, aber im echten Leben sah der Mann noch viel besser aus.
Er grinste, als er mich erblickte, und sein Lächeln strahlte mit seinen blauen Augen um die Wette. Mit einem Mal schien die Sonne über London zu erstrahlen.
»Hi, Sie müssen Shannon Sullivan sein«, sprach er mit seiner angenehm warmen Stimme und hielt mir die Hand zur Begrüßung entgegen.
»Mr Knight, wie schön, Sie persönlich kennenzulernen«, sagte ich selbstsicher, und nichts verriet, dass ich für einen kurzen Moment aus der Fassung geriet. Der Moment war schon wieder vorüber, als ich die dargebotene Hand ergriff und seinen festen Händedruck erwiderte.
Er nickte anerkennend und begab sich auf die andere Seite des Tisches, sodass er gegenüber von mir Platz nehmen konnte.
Steven Knight war groß, sportlich, und sein Tein verriet, dass er viel Zeit an der Sonne verbrachte, was das strahlende Blau seiner Augen noch betonte. Sein blondes Haar trug er kurz, die Ponyparty leicht hochgestylt. Ein gepflegter Dreitagebart umspielte sein Kinn. In der Tat hätte dieser Mann mit seinem Aussehen auch Schauspieler oder Model sein können. Aber er war Anwalt und – wenn ich mich dazu entschied – mein neuer Boss.
»Wie weit sind wir?«, wollte Mr Knight von David und Nora wissen.
»Wir verhandeln gerade, wann Shannon bei uns eintritt«, erklärte David.
Steven musterte mich erneut und zwinkerte mir zu, was nichts Anzügliches oder Derbes an sich hatte. Es war einfach eine aufmunternde Geste, die mich unwillkürlich zum Lächeln brachte.
Wenn ich für Steven Knight arbeiten wollte, musste ich dieses Lächeln geflissentlich ignorieren.
David hatte mit mir über Shannons Bewerbung gesprochen. Die Unterlagen sprachen für sich. Ms Sullivan stammte aus Irland, hatte in Dublin studiert und während des Studiums Praktika in Londoner Wirtschaftskanzleien absolviert. Bei Padget & Harrington hatte sie ihre Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt. Sie hatte früh geheiratet, war vor etwa einem Jahr geschieden worden und trug jetzt wieder ihren Mädchennamen.
So viel zu den Fakten. Der Anwalt in mir hatte den Unterlagen ein anerkennendes Nicken geschenkt und wollte ihr eine Chance geben.
Der Mann in mir ging beinahe in die Knie, als ich Ms Sullivan zum ersten Mal persönlich begegnete. Sie war groß, schlank und hatte sehr feine Gesichtszüge, die durch den kurzen Haarschnitt ihres goldblonden Haares noch betont wurden. Am bezauberndsten waren ihre Augen: grüngelb, wie die einer Katze.
Niemals war ich einer Frau begegnet, die mich sofort verzaubert hatte. Ich war eher kritisch, was das hübsche Äußere von Menschen betraf, denn es sagte niemals etwas über die inneren Werte aus. Über diese erfuhr man nur etwas, wenn man sich länger kannte und entsprechende Gespräche führte. Okay, manchmal wusste man auch schon nach fünf Minuten, dass man mit dem Gesprächspartner nicht unbedingt auf einer Wellenlänge lag.
Ich wünschte mir sehr, dass Shannon anders war. Und dieser Wunsch überraschte mich.
Während des Meetings musste ich mich darauf konzentrieren, Shannon nicht andauernd anzustarren. Zu gern hätte ich mehr über sie gewusst als das, was auf dem Papier stand. Mochte sie Kinofilme oder lieber Theater? Welche Musik hörte sie?
Wann immer sich unsere Blicke begegneten, musste ich lächeln, ich konnte gar nicht anders. Und auch wenn ab und zu eine zarte Linie des Zweifels zwischen ihren hübsch geschwungenen Brauen lag, erwiderte sie doch mein Lächeln. In diesen Momenten wünschte ich, wir wären allein im Raum gewesen …
Zum Abschied reichte ich ihr erneut die Hand und hätte sie am liebsten nicht mehr losgelassen. Natürlich achtete ich darauf, sie nicht zu lange festzuhalten, ich wollte nicht wie ein aufdringlicher Trottel dastehen.
Erst als Shannon die Kanzleiräume verlassen hatte, packte ich David am Arm. «Dein Büro. Jetzt.«
»Okay.« Er prustete belustigt, folgte meiner Bitte jedoch.
»Wir sehen uns zum Lunch«, rief Nora uns noch nach.
Nachdem ich die Tür von Davids Büro hinter uns geschlossen hatte, verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah meinen Kumpel vorwurfsvoll an. »Shannon kann hier nicht arbeiten«, erklärte ich unumwunden.
David ließ sich in seinen Bürostuhl fallen und schüttelte amüsiert den Kopf. »Was ist los? Gefällt sie dir nicht?«
Ich hob vielsagend eine Braue und ließ mich im Stuhl ihm gegenüber nieder.
»Oh, verstehe, sie gefällt dir zu gut.« Er lachte leise. »Hey, hast du mir nicht noch vor wenigen Tagen erzählt, die Frau, die dir den Kopf verdreht, gäbe es auf dieser Welt gar nicht?«
»So was in der Art«, murmelte ich.
»Und jetzt wirft dich die erste neue Kollegin so aus der Bahn?«
»Sie ist …« Ich fuhr mir durchs Haar und suchte nach den richtigen Worten.
»Intelligent, gut aussehend, eine hervorragende Anwältin … Wo ist das Problem?«
»Eben all das zusammen.« Ich seufzte. »Verstehe mich nicht falsch. Sie würde hier prima reinpassen. Aber ich kann nicht Seite an Seite mit ihr zusammenarbeiten.«
Er runzelte die Stirn. »Soll ich ihr wieder absagen? Mit welcher Begründung? Dass sie zu sexy für dich ist?«
»Verdammt«, knurrte ich. »Du weißt doch, was ich meine. Sie … sie bringt mich aus der Fassung.«
»Jetzt schon? Ihr habt nur eine Handvoll Worte miteinander gewechselt.«
Erneut raufte ich mir die Haare. »Dave! Sie ist zauberhaft! Und das … das geht nicht. Ich würde sie die ganze Zeit nur anstarren und könnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.«
»Komisch, irgendwie habe ich gerade ein Déjà-vu«, meinte David und grinste, sodass seine Grübchen zu sehen waren.
»Was meinst du?«
»Du erinnerst mich gerade an Pat, als er mir erklärte, dass Mel nicht seine Anwältin sein kann.« Seine Augen leuchteten auf. »Und auch ein wenig an mich selbst, als ich Nora wieder begegnet bin, und ich dachte: ›Scheiße, wie soll ich ihr Boss sein?‘»
Ich stand auf und ging ruhelos durchs Zimmer. »Das ist mir in meinen ganzen achtunddreißig Jahren noch nicht passiert.«
»Willkommen im Leben.« David lachte und lehnte sich zufrieden grinsend in seinem Bürosessel zurück.
»Was soll ich jetzt nur tun?«, wollte ich verzweifelt wissen.
»Nichts«, war Davids Antwort. »Alles wird so kommen, wie es sein soll, glaube mir.«
»Das ist nicht hilfreich«, brummte ich.
»Also gut.« Mein Kumpel stützte sich mit den Ellbogen auf dem Schreibtisch ab und sah mich eindringlich an. »Du solltest wirklich gar nichts tun. Ja, sie ist sehr hübsch, und ja, ich kann mir vorstellen, wie sie auf dich wirkt. Aber wenn sie dich jetzt schon so aus der Fassung bringt, solltest du dich im Sinne der Kanzlei um eine angemessen höfliche Beziehung zu ihr bemühen. Sie ist echt eine tolle Anwältin, und es wäre schade, wenn wir auf sie verzichten müssten, weil du auf einmal romantische Gefühle bekommst wie ein liebeskranker Kater.«
Ich verzog das Gesicht, weil er leider recht hatte. Mir war mein eigenes Verhalten nicht geheuer. »Das wird nicht einfach«, murmelte ich.
»Versuche es«, bat David und senkte kurz den Blick, um offenbar über etwas nachzudenken. »Eigentlich sollte es außen vor bleiben, aber du solltest wissen, dass Shannon eine verdammt schwere Zeit hinter sich hat.«
Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme alarmierte mich. »In welcher Art?«
»Sie ist seit einem Jahr geschieden von einem Mann, der sie … nicht gut behandelt hat.«
Sein Blick sagte alles, und ein bitterer Geschmack stieg mir in der Kehle auf. Was war Shannon angetan worden? Was hatte sie durchleben müssen?
Dave lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte. »Es könnte also durchaus sein, dass Shannon überhaupt kein Interesse daran hat, sich in eine neue Beziehung zu stürzen.«
Ich nickte langsam. Das änderte alles.
Viele Stunden später, als ich allein in meinem Appartement war und mich dafür entschied, lieber etwas aus meinem Kühlschrank zu essen, statt auszugehen, dachte ich noch an Shannon.
Dave hatte natürlich nicht genauer erzählt, was ihr passiert war, und ich hatte nicht weiter gefragt. Shannons Privatleben hatte nichts mit unserem Job zu tun.
Und doch beschäftigte es mich. Männer, die Frauen schlugen, oder Schlimmeres … jede Art der häuslichen Gewalt … war mir zutiefst zuwider, und ein Mann, der solches einer Frau antat, war in meinen Augen kein Mann, sondern ein gestörtes Monster. Gleiches galt für psychische Grausamkeit.
Die Vorstellung, dass irgendjemand Shannon Gewalt angetan haben könnte, ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Auch nicht, als ich schon im Bett lag und mich von einer Seite auf die andere warf.
Seltsam, ich war ihr nur einmal in meinem Leben begegnet … und doch hatte ich das Bedürfnis, sie zu beschützen.
Shannon Sullivan war eine besondere Frau, so viel war mir jetzt schon klar.
Mein erster Arbeitstag bei Padget, Knight, Woods & Collins fand nur anderthalb Wochen nach dem Vorstellungsgespräch statt. Ich weiß nicht genau, wie David und Nora Mr Harrington überredet hatten, aber er ließ mich gehen.
Wir schlossen einen Aufhebungsvertrag ab, und er äußerte nochmals sein Bedauern über meinen Weggang, konnte jedoch verstehen, dass eine junge Anwältin wie ich auch weitere Erfahrungen sammeln wollte – gerade in einer frischen, aufstrebenden Kanzlei. Er wünschte mir viel Glück für die Zukunft.
Es war nicht mein erster Arbeitsplatzwechsel, aber selten war ich so erleichtert gewesen.
Und selten hatte ich ein solches Kribbeln in der Magengegend verspürt wie an meinem ersten Montagmorgen, als ich die neue Kanzlei betrat.
Jenna begrüßte mich mit ihrem sonnigen Lächeln und gab Nora Bescheid, dass ich da war. Diese brachte mich in mein neues Büro.
«Ich hoffe, es gefällt dir. Es war Mels Büro, bevor sie nach Australien gegangen ist.«
»Oh, wie geht es ihr dort?«, erkundigte ich mich und sah mich neugierig um. Das Zimmer bot einen Blick auf die Straße hinunter und war hell eingerichtet, wie scheinbar alle Räume in der Kanzlei.
»Sehr gut«, meinte Nora mit warmherzigem Lächeln. »Sie bemüht sich nun auch um eine Zulassung in Australien.«
Ich stellte meine Handtasche auf dem Stuhl ab. »Dann scheint sie länger bleiben zu wollen.«
»In der Tat«, bestätigte Nora. »Lust auf Tee?«
»Ja, sehr gerne.«
Nora zeigte mir die Küche und begann anschließend mit mir einen Rundgang durch die Kanzleiräumlichkeiten, bei dem sie mich jeder einzelnen Mitarbeiterin und jedem einzelnen Mitarbeiter persönlich vorstellte. Ich versuchte, mir die Namen zu merken, und war positiv überrascht, wie freundschaftlich der Umgang miteinander war. Dass man sich gegenseitig beim Vornamen ansprach, daran musste ich mich definitiv noch gewöhnen.
»Wir gehen übrigens freitags abends gerne alle etwas zusammen trinken, sofern es die Arbeit erlaubt«, verkündete Nora, als wir fast alle Räume gesehen hatten. »Also, falls du Freitag diese Woche noch nichts vorhast …« Sie sah mich forschend an.
Bestimmt erinnerte sie sich daran, dass ich früher nie oder selten bei solchen Abenden dabei gewesen war. Mit Bitterkeit dachte ich daran zurück. Es war nicht unbedingt meine eigene Entscheidung gewesen.
»Sehr gerne«, beeilte ich mich zu sagen und brachte ebenfalls ein Lächeln zustande. »Geht ihr immer noch in den Pub in Bloomsbury?«
Sie schüttelte den Kopf und brachte mich zur nächsten Tür. »Leider nicht mehr so oft. Ich bin aus Bloomsbury weggezogen. Aber hier in der Nähe gibt es einen urigen Pub mit Blick auf die Themse. Dort sind wir öfter.« Sie klopfte an die Tür und trat ein. »Steve? Ich bringe dir unsere neue Anwältin.«
Mein Herz raste plötzlich, was mich überraschte. Ich war Steven Knight doch bereits begegnet. Kein Grund, aufgeregt zu sein. Nora lächelte mir aufmunternd zu, und ich trat an ihr vorbei in den Raum.
Der blonde Australier hatte sich bereits erhoben und kam um seinen Schreibtisch herum. Erneut fiel mir auf, wie groß und sportlich er war. Das war unfair. Anwälte sollten so nicht aussehen.
Sein Lächeln erhellte den Raum, und sein Händedruck war warm und fest.
»Willkommen bei uns, Shannon«, sprach er mit seiner angenehmen Stimme.
Zögerlich erwiderte ich den Händedruck. »Danke, Mr Knight.«
»Steven«, berichtigte er mich mit diesem charmanten Lächeln.
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