Birgit Lutz
Grenzerfahrung
Grönland
Mein Expeditionsthriller
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Copyright © 2014 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Vorsatzkarte: Peter Palm
Nachsatzkarte: Astrid Fischer-Leitl
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-12491-5
V002
www.btb-verlag.de
»Nun sollten wir wieder zu Menschen und Luxus zurückkehren. Hier verbrachten wir den letzten dieser wundervollen Abende unter freiem Himmel. Als wir dort unter den Sternen auf der Felseninsel saßen, empfanden wir die Stunden wie einen Abschied von der Natur und von diesem Leben, an das wir uns so sehr gewöhnt hatten. Unsere Reise neigte sich dem Ende zu; manches Missgeschick und unerwartetes Hindernis hatten uns den Weg versperrt, waren aber glücklich überwunden worden … Oft hatten wir uns bis zur Erschöpfung schinden müssen, aber nun war die Tat vollbracht. Seltsamerweise hatten wir gar keine Eile mehr, ans Ziel zu kommen. Wie so oft verleiht wohl nicht der Erfolg dem Leben seinen größten Wert, sondern der Kampf an sich für ein bestimmtes Ziel.«
Fridtjof Nansen
Auf Skiern durch Grönland
Für alle,
die verstehen, warum.
Eiszeit
20. Mai 2013, Tag 15
Distanz: 22,3 km, Gesamtstrecke: 251,7 km,
Höhe: 2325 m,
noch vor uns: 308,4 km
The weather will improve. It always does.
Just wait patiently.
Sprichwort der Inuit
Geduld. Wie viel Geduld muss man haben auf diesem verdammten Eis, das nicht endet, in dem wir gefangen, eingeschlossen sind, nicht vorankommen, Eis, Eis, Eis. Nichts als Weiß, ich halte es nicht mehr aus. Ich will es nicht mehr sehen, ich will endlich nicht mehr sehen, dass ich nichts sehe. Herr, lass einen Sturm kommen. Lass es neblig werden, verbirg diese Welt vor mir, ich will sie nicht mehr sehen, ich will nicht sehen, wo ich bin!
Fange ich wirklich an zu beten?
Weiter, weiter, Schritt, Stock, Schritt, Stock. Atem ein, Atem aus. Ein Meter. Noch ein Meter. Noch ein Meter. Du. Bleibst. Nicht. Stehen. Die Sonne lacht. Wer hat sich das ausgedacht? Die Sonne lacht nicht. Sie knallt. Sie prallt. Sie schleudert ihre Strahlen auf uns, verachtend, vernichtend. Sie ist mir zu hell. Sie ist hämisch. Sie triumphiert. Schau, sagt sie, schau dir an, wo du bist, du kleiner Inuk, du kleines, unwichtiges, ohnmächtiges Menschlein, da stehst du nun und heulst. Im großen Eis. Schau es dir an, das Eis! Schau es an! Stunde um Stunde um Stunde zeig ich es dir, ich gehe nicht weg, ich bleibe hier! Du sollst sehen, wo du bist, wo deine Hybris, dein Stolz, deine lächerliche Abenteuerlust dich hingebracht haben. Wo du dachtest, du seiest zuhause. Hier bist du also zuhause? Warum heulst du dann? Komm, sag es mir, weinender Wicht!
Ich heule nicht!
Ich beiße die Zähne zusammen.
Verdammte Sonne. Du verdammte, verhasste, zerstörende Sonne. Hau doch endlich ab! Hau ab und lass mich, lass uns in Frieden! Wir brauchen dich nicht. Wir finden den Weg auch ohne dich. Auch deine Wärme brauchen wir nicht, wir sind warm genug, und am allerwenigsten brauchen wir dein Licht. Das Licht, das uns immer nur das Gleiche zeigt, das Immergleiche, das Immerimmerimmergleiche, Weiß, dieses Weiß, es bohrt sich in die Augen und ins Herz, es füllt das Hirn mit dieser einen Farbe aus, als würde sich ein zäher Kleber ausbreiten im Kopf, lass es doch endlich einmal verschwinden! Geh weg, geh unter! Wir wollen dich nicht. Ich will, dass es dunkel ist!
Doch ich kann dich aussperren, ich kann meine eigene Nacht machen. Dunkel. Nacht. Wie sehne ich mich nach einer Nacht! Ich schließe die Augen. Einen Schritt, zwei Schritte. Dann strauchele ich und muss mich mit dem Stock stützen. Augen wieder auf.
Die Sonne kreischt.
Schrill. Sie schreit vor Häme, da bist du ja wieder, Menschlein, Wicht, du kleiner, armer Tropf! Und er ist immer noch da, immer noch da, schau ihn dir an, den Horizont! Dem du nachläufst wie ein Äffchen. Du erreichst ihn nicht! Nie wirst du ihn erreichen, schau ihn dir an. Mit jedem Schritt, den du machst, rückt er einen Schritt weiter weg. Du kriegst ihn nicht! Das ist das Gesetz, das Gesetz des Weißes. Das hast du nicht gewusst? Das hast du nicht bedacht? Dann bist du ein dummes, dummes Menschlein.
Im Weiß, weit entfernt, ein roter Punkt, so groß wie eine Stecknadel. Thomas.
Ich will diese Stimme nicht mehr hören, halt den Mund, du verdammte Sonne! Halt endlich den Mund!
Da schweigt die Sonne beleidigt.
Doch nicht für lang. Leise fängt sie wieder an zu reden, nicht mehr hämisch, nicht mehr schreiend. Bohrend. Hinterrücks. Alle Zweifel, die es gibt, die ich an mir habe, fädelt sie an einer langen, leichten Schnur auf und wedelt damit vor mir herum; im grenzenlos scheinenden Weiß lässt sie dieses Band endloser Zerfleischungen perfide vor mir herflattern und senkt ihre kreischende Stimme zu einem gemeinen, fiesen Flüstern.
Dir fehlt alles. Du hast nichts, gar nichts von alldem, was man braucht, um durch das Weiß zu gehen, nackt stehst du da, hilfloser als ein Robbenjunges. Siehst du nicht, dass du ein Nichts bist? Was nützt er dir nun, der ganze Tand, den du mit dir schleppst, wenn dir doch das Wichtigste fehlt, kleines Menschlein, wenn du doch noch nicht einmal den Anblick aushältst, den Anblick dessen, was dich umgibt?
Was ist das Wichtigste? Was ist das, was mir fehlt, was muss ich haben, hier?
Geduld, kleines Menschlein. Geduld.
Bitte, sag es mir doch!
Dummes Inuk! Nicht einmal, wenn ich es dir sage, hörst du zu, hast es zu eilig, willst nur weiter. Willst nur ein weiteres Werkzeug von mir, irgendetwas, das du auf deinen Schlitten legen und hinter dir herziehen kannst, und alles ist gut? Du Närrin!
Ich werde verrückt. Ich starre auf meine Skispitzen, die sich abwechselnd nach vorne schieben, links, rechts, links, rechts, eigentlich sind es doch große Schritte, und ich denke, ich werde jetzt – hier – auf – diesem – Eis – verrückt, jetzt hakt mein Hirn aus. Ich kann mein Hirn fühlen, auf einmal, und es ist, als würden seine Ränder in Flammen stehen.
Wer ist das, mit dem ich da rede? Es ist, als würde ich kurz auftauchen aus einem Eisschlamm. Mein Inneres ist auf einmal zweigeteilt, da bin ich, und da ist noch etwas andres, da ist ein andres Ich, das sich mit der Sonne unterhält? Kurz staune ich darüber, doch dann sinke ich wieder hinab, irgendetwas zieht mich hinein in das Innere meines Kopfes, in dem diese Stimme spricht, und ich höre wieder auf zu fürchten, wahnsinnig zu werden, denn wer schon irre ist, der fürchtet es nicht mehr.
Schweigen.
Meine Gedanken werden jetzt geordneter. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es die Sonne ist, die da zu mir spricht, oder ob ich anfange, mit mir selbst zu reden.
Du hast das Eis nicht verstanden, seine Größe nicht begriffen. Schau es dir doch an! Schau dir an, was ich seit Tagen versuche, dir zu verstehen zu geben, mit meinem Licht, mit dem Tag, den ich nicht enden lasse. Du starrst auf den Horizont und begreifst nicht, was das Eis dir sagen will, du armseliges Menschlein. Dass es Geduld ist, die dir fehlt. Nicht jene Geduld, die dich deine künstliche Welt lehrt. Sondern die Geduld, die dich diese Welt hier lehrt. Die Welt ohne Menschen. Wie kannst du mit deinen Maßstäben hierherkommen? Die Natur, das Eis, ist so viel älter, so viel größer als alles in deiner Welt. Alles unterliegt hier anderen Maßstäben, anderen Gesetzen. Wie kannst du glauben, du könntest hier überleben, einfach so?
Warum sollte ich nicht, frage ich? Warum? Ich hab doch so viel gelesen!
Gelesen! Das Wort wird mir zurückgeschleudert. Die Gesetze, die hier gelten, kannst du dir nicht erlesen. Lesen gehört zu deiner Welt. Zu dieser gehört nur erleben. Du musst erleben, dass die Zeit hier langsamer vergeht, und das darf dich nicht ängstigen, weil auch deine Zeit langsamer vergeht. Du musst ruhig werden. Du musst akzeptieren, dass du die Größe des Eises nicht erfassen kannst und auch nicht sein Alter, denn das ist mit Menschenzeit nicht zu messen. Hier ist Eiszeit.
Eiszeit.
Wie viele Schritte sage ich dieses Wort vor mir her, Eis – Zeit –Eis – Zeit – Eis – Zeit. Rechter Fuß Eis. Linker Fuß Zeit. Hundert. Tausend. Eis – Zeit.
Einmal wurde ein Inuitboot von Nuuk zum Ameralikfjord geschickt, Fridtjof Nansen hat diese Geschichte aufgeschrieben. Gras sollte geholt werden, für die Ziegen des dänischen Vorstehers. Das Boot blieb lange aus. So lange, dass man schon dachte, den Inuit sei etwas zugestoßen. Tage, Wochen. Als das Boot endlich zurückkam, waren aber alle wohlbehalten. Auch das gewünschte Gras war an Bord. Warum sie so lange fortgeblieben waren, fragte sie der Vorsteher. Da erzählten die Inuit, dass das Gras noch ganz kurz war, als sie im Ameralikfjord angekommen waren. Also hätten sie gewartet, bis es lang genug gewachsen war. Nansen beendet die Geschichte mit den Worten: Es ist ein geduldiges Volk.
An diese Geschichte erinnere ich mich jetzt.
Ist es das, was du meinst?, frage ich. Muss ich diese Geduld erlangen? Muss ich alles hinter mir lassen, alle Maßstäbe, alle Regeln, alle Rahmen meiner Welt? Muss ich nur noch sehen, was ich sehe, und lernen, das zu akzeptieren? So, wie die Inuit nicht aufbrechen und an anderer Stelle nach Gras suchen. Nicht zurückfahren und viele andere Dinge erledigen in der Zwischenzeit? So, wie wir es selbstverständlich tun würden. Wer hat sich je hingesetzt, um dem Gras beim Wachsen zuzusehen? Muss ich heraustreten aus meiner Welt und ihrer Zeit, ihrer Geschwindigkeit?
War es tatsächlich vermessen zu denken, man könne hierherreisen, am nächsten Tag losgehen, mit Zeitdruck voranziehen? Schon auf dem Eis zu stehen, wenn die Seele noch nicht einmal in Kangerlussuaq angekommen war? Hat hier schon die Hybris begonnen, eine Expedition über jahrtausendealtes Eis mit moderner Zeitrechnung zu planen? War hier nicht etwas ganz anderes nötig? War das nicht unglaublich respektlos gewesen?
Nansen, Rasmussen, Amundsen. Bevor sie sich aufs Eis wagten, lebten sie lange mit den Inuit. Monate, Jahre. Lernten von ihnen. Vielleicht lernten sie von ihnen, und das begreife ich in diesem Moment, nicht nur die Techniken, sie lernten nicht nur, wie sie Robben jagen, Zelte bauen und heizen oder Schlitten ziehen mussten. Und deshalb reicht es auch nicht, einfach ihre Bücher zu lesen, in einem Bruchteil der Zeit, in der sie geschrieben wurden, in einem Bruchteil der Zeit, in der das Niedergeschriebene erlebt und gesammelt wurde. Wir denken, wir wüssten dadurch das Gleiche. Und seien sogar noch besser vorbereitet, ist doch unsere Ausrüstung viel moderner. Das sind wir nicht.
Wir haben nicht alles, was wir brauchen. Das Wichtigste kann man nicht auf einen Schlitten laden, man kann es nicht kaufen oder basteln. Es ist eine ganz andere Begegnung mit der Welt, als die, die wir erlernt haben, als die, die wir gewohnt sind. Es ist eine andere Zeitrechnung. Eine andere Geduld. Eine Ergebenheit in die Gegebenheiten der Natur, die wir nicht mehr kennen, wir, die wir uns die Natur ständig zurechtbiegen, Untertan machen wollen. Wenn ein Inuit auf Robbenjagd geht, stellt er sich an ein Agloo, das Atemloch, in dem die Robbe irgendwann wieder auftauchen muss, um Luft zu holen. Er stellt sich auf ein Stück Karibufell, damit auch wirklich kein Geräusch seiner Füße durch das Eis nach unten dringt und das nahende Tier warnen könnte. Dann beugt er seinen Oberkörper über das Loch und hält seinen Speer bereit. In dieser Stellung kann ein Inuit stundenlang, ja einen ganzen Tag und mehrere Tage hintereinander verharren. Denn er weiß: Irgendwann kommt sie, die Robbe. Und wenn er sie dann, nach Stunden des Ausharrens in dieser einen Position, verfehlt – dann versucht er es einfach weiter.
Wenn du so geduldig sein kannst, dass du stundenlang regungslos auf das Auftauchen einer Robbe und wochenlang auf wachsendes Gras warten kannst, sagt die Stimme, dann macht dir auch die Sonne nichts mehr aus, die dir immer nur das Gleiche zeigt. Denn dann hast du gelernt, dass es irgendwann auch wieder anders sein wird. Irgendwann wird eine Änderung eintreten. Weil es immer so ist.
Du wirst außerdem gelernt haben, dass den Zeitpunkt dafür nicht du bestimmen kannst. Du kannst es nicht ändern. So, wie du den Weg, den das Eis die Berge hinab nimmt, nicht ändern kannst, liegt es nicht in deiner Hand, was auf dieser Welt passiert, du kannst nicht beeinflussen, wann die Krabbentaucher zurückkehren oder die Wale. Du kannst nur auf sie warten, und sie dann jagen, wenn sie da sind. Das Einzige, was du bestimmen kannst, ist, wie du selbst die Welt siehst.
Das heißt, ich kann nichts tun, nichts ändern, es ist vollkommen gleich, was ich tue?, frage ich. Dann kann ich mich doch ebenso hinsetzen und gleich aufgeben.
Du hast noch einen weiten Weg vor dir, sagt die Stimme. Aber wenn du all das verstanden hast, wirst du dich selbst nicht mehr als machtlos empfinden. Denn du wirst dich als den Teil des großen Ganzen erkennen, der du bist. Und vor allem wirst du warten können.
See you on the other side!
6. Mai 2013
Kangerlussuaq
Ankunft in Westgrönland
Respect elders.
They may add more years to your life.
Sprichwort der Inuit
Hej, my friend! Die Stimme kenne ich. Ich drehe mich um, und vor mir steht Bengt. Bengt, mein norwegischer Freund und Polfahrer, ein wilder Kerl, mit dem ich 2011 am Nordpol war.
Hannes und ich sind soeben aus dem Flugzeug gestiegen, das uns von Kopenhagen nach Kangerlussuaq gebracht hat, wo Thomas schon auf uns gewartet hat. Es herrscht ein irres Gewusel in der Ankunftshalle; Menschen mit riesigen Pelzkragenkapuzen wuchten noch größere Expeditionstaschen und Skisäcke durch die Gegend, und mitten in diesem Gewirr steht nun also Bengt.
Bengt!, rufe ich überrascht, und es folgt eine Polarfreunde-Umarmung, viel Rückenklopfen, viel Freuen.
So schön, dich zu sehen, sage ich zu ihm, und ziehe ihn zu meinem Team, zu Hannes und Thomas, um ihn vorzustellen. Sie wissen, wer Bengt ist. Er hat uns bei der Vorbereitung wichtige Hilfen gegeben, sein Name ist oft gefallen. Wir wussten, dass wir Bengt in Kangerlussuaq treffen würden, denn er führt eine kommerzielle Expedition quer über Grönland. Dass wir ihn schon am Flughafen treffen, ist eine schöne Überraschung. Er wird zwei Tage nach uns starten, fünf Kunden haben seine Tour gebucht.
Die Hände in den Taschen seiner Kapuzenjacke steht er wie eine Insel der Ruhe in dem Gewusel um uns herum. Bengt ist einer jener Menschen, die weithin ausstrahlen, wie sehr sie in sich ruhen. Ich habe ihn 2011 in Spitzbergen kennen gelernt, bei meiner zweiten Nordpoltour mit meinem Polarfreund Thomy, dem Schweizer Abenteurer und Polfahrer Thomas Ulrich. Bengt sollte auf dieser Tour den gefrorenen arktischen Ozean kennen lernen, um künftig selbst Touren zum Nordpol zu führen. Es wurde eine großartige Tour, kalt, aber sonnig, und vor allem: mit einer Superstimmung. Wenn man mit Bengt und Thomy gleichzeitig unterwegs ist, trainiert man neben allem anderen vor allem die Lachmuskeln. Es war eine Freude, zusammen unterwegs zu sein.
Dabei sind beide, Bengt und Thomy, sehr ernsthafte Polfahrer. Auf Skiern hat Bengt die Nordwestpassage durchquert, dreieinhalb Monate lang und 2500 Kilometer weit, ist auf 1900 Kilometern durch Alaska marschiert und über 1120 Kilometer zum Südpol. Grönland quert er als Guide nun zum vierten Mal. Viele, viele Tage seines Lebens hat er auf dem Eis verbracht. Er hat mir viel geholfen bei der Vorbereitung, hunderte Fragen beantwortet, mir Tipps gegeben, Innenschuhe für meine Expeditionsstiefel geschickt und vieles mehr.
Und obwohl wir unsere Grönland-Termine nie verabredet haben, treffen wir nun schon am Flughafen aufeinander und werden am Ende in Isortoq auch im selben Hubschrauber sitzen.
Wir verabreden uns zum Abendessen, dann geht Bengt Einkäufe für seine Gruppe erledigen, und wir schleppen unser Gepäck in die Polar Lodge neben dem Flughafen.
Und so sitzen wir am Abend schließlich zu später, aber polartäglich heller Stunde gemeinsam bei Moschusochsengeschnetzeltem mit Kartoffeln.
Habt ihr doppelte Zeltstangen dabei?, fragt Bengt.
Nein, sagen wir, haben wir nicht.
Mist, sagt er, das habe ich ganz vergessen, dir zu sagen. Wegen des starken Windes ist es hier nicht schlecht, doppelte Zeltstangen zu verwenden. Er überlegt kurz.
Ich glaube, ich habe noch eine übrig, sagt er dann. Die kann ich euch morgen vorbeibringen, dann könnt ihr wenigstens die mittlere Stange doppelt nehmen.
Wieder einmal, einfach so, Hilfe, Unterstützung. Das ist es, was ich an meinen Polarkumpanen so mag. Wenn sie helfen können, helfen sie. Das lernt man wohl, wenn man so oft so weit draußen unterwegs ist: dass alles einfacher ist, wenn man sich gegenseitig hilft. Gäbe es doch mehr Menschen in der Welt, die so sind.
Es ist schön zu wissen, dass Bengt hinter uns sein wird, auf diesem weiten Weg. 560 Kilometer haben wir vor uns, auf unserer Überquerung der größten Insel der Welt. Der Anfang wird dabei am härtesten sein. Weil wir einerseits über den Gletscher bergauf gehen und andererseits unsere Schlitten dann noch am schwersten sein werden. Weil noch das ganze Essen darin sein wird, mehr als 30 Kilo pro Person. Nach einigen Tagen wird die Steigung abnehmen, die letzten Berge verschwunden sein – dann sind wir auf der Eiskappe und haben nichts anderes zu tun, als zu gehen. In einer deutlich weniger spürbaren Steigung als am Anfang bis hinauf auf 2500 Meter Höhe. Und dann geht es wieder hinunter, an die Ostküste nach Isortoq.
Von Bengt haben wir noch etwas anderes, sehr Wertvolles bekommen: die GPS-Wegpunkte seiner letzten Querung durch den Gletscher. Denn natürlich gibt es dort, wo wir hingehen, keinen Weg, keine Straße, es gibt nicht einmal Berge oder landschaftliche Ausformungen, an denen man sich orientieren könnte. Es gibt nur Eis. Bengt hat auf seinen Grönlandtouren in seinem GPS-Gerät immer wieder diese Wegpunkte gesetzt. Das sind schlicht Markierungen einer Strecke; das Gerät speichert Koordinaten und Höhe, und man kann den jeweiligen Punkten auch Namen geben. Bengt hat uns seine aufgezeichnete Route gegeben, und wir haben sie uns zuhause schon auf unsere Geräte geladen.
Das ist ein ziemlich guter Weg, sagt Bengt jetzt über die Punkte. Bei jeder Querung habe ich ihn noch mal ein bisschen verfeinert. Wenn ihr euch vor allem am Anfang an den Markierungen orientiert, dann kommt ihr gut voran.
Anfangs hat mich das skeptisch gestimmt, Wegpunkten in einem Gletscher zu folgen. Aber die Gletscher hier bewegen sich sehr langsam. Das ist nicht überall so in Grönland, aber hier kann man diese Wegpunkte wahrscheinlich mehrere Jahre verwenden, so langsam gehen die Veränderungen voran – abgesehen von der Schmelze. Diese Wegpunkte sind Gold wert, denn natürlich gibt es bessere und schlechtere Routen über das Eis bergauf. Es gibt auch Stellen, Schmelzwasserschluchten, an denen überhaupt kein Weiterkommen möglich wäre, oder Regionen, in denen der Gletscher sehr steil wird. Durch die Punkte haben wir mehr Sicherheit, einen möglichst kräftesparenden Weg zu finden.
Super, dass wir die Punkte haben, sagt Hannes zu Bengt. Und zeigt ihm die Koordinaten, die wir von Robert Peroni bekommen haben, einem in Grönland lebenden Südtiroler. Robert Peroni hat Grönland 1983 als Erster auf dem längsten Weg durchquert, zusammen mit Wolfgang Thomaseth und Pepi Schrott. 1400 Kilometer in 88 Tagen, ohne Unterstützung. Eine unvorstellbare Leistung. Heute betreibt er in Tassilaq das Red House, eine Unterkunft für Touristen, in der er vorwiegend Inuit beschäftigt. Hannes hat Peroni vor unserer Abreise mehrmals angeschrieben, und er hat uns bereitwillig sehr viele Informationen geschickt, unter anderem eben auch die Koordinaten dieses Abstiegspunkts.
Von dort wollen wir nach Isortoq abfahren, sagt Hannes zu Bengt und deutet auf den Punkt an der Ostküste. Bengt schaut sich die Koordinaten auf der Karte an, befindet unseren Plan für gut.
Am wichtigsten ist, sagt Bengt, dass ihr euch am Anfang nicht nervös machen lasst. Ihr müsst langsam gehen, eure Kräfte gut einteilen. Kümmert euch nicht darum, dass ihr nur sehr kleine Distanzen schafft, das ist normal. Das wird später alles anders.
Wir nicken.
In den ersten Tagen könnt ihr euch so verausgaben, fährt er fort, dass ihr es dann gar nicht mehr weiter schafft. Glaubt mir, man kann sich völlig zerstören auf diesem Eis. Das passiert jedes Jahr mindestens einer Gruppe. Weil sie zu schnell gehen. Nervös werden.
Wie weit kommst du im Eisbruch pro Tag, frage ich Bengt.
Das kann man schwer sagen, antwortet er. Aber am Anfang nicht weiter als ein paar Kilometer. Erst wenn es abflacht und man nicht mehr so viel nach dem Weg suchen muss, wird es deutlich mehr.
Wie lange brauchst du normalerweise bis zur DYE-2, frage ich weiter. Die DYE-2 ist im Grunde der einzige Fixpunkt auf dem Weg, eine verlassene Radarstation des US-Militärs, 180 Kilometer von der Westküste entfernt.
Elf oder zwölf Tage, sagt Bengt, je nach Schnee. Aber wenn es einen richtigen Sturm gibt, können es auch dreizehn werden. Das darf einen nicht kümmern. Ihr habt ja genügend zu essen dabei, oder?
Für 27 Tage, sage ich.
Das ist gut, sagt er. 27 Rationen kannst du locker auf 30 strecken, wenn es am Ende doch länger dauert. Du isst ja nicht immer alles auf.
Der Abend endet früh, wir sind alle müde – und morgen schon werden Thomas, Hannes und ich auf dem Eis sein. Besser, wir versuchen, noch so viel Schlaf wie möglich zu bekommen.
Am nächsten Vormittag gehen Hannes, Thomas und ich in den Supermarkt von Kangerlussuaq, um ein paar letzte Sachen einzukaufen. Und auch einfach, um zu sehen, was es in einem grönländischen Supermarkt so gibt. Es gibt ein bisschen alles und ein bisschen nichts, viele Konserven und wenig Frisches, eine Unmenge Süßigkeiten, daneben Gummistiefel und Harpunen. Der Markt ist gleichzeitig die Apotheke, hinter der Kasse stapeln sich die Medikamente. Am größten ist kurioserweise das Sortiment an Rauchentwöhnungsmitteln. Nicht Sonnencreme oder Mittel gegen Erfrierungen. Sondern eine komplette Regalreihe, gefüllt mit Nikotinpflastern und -kaugummis und dergleichen. Wir kaufen ein paar Energieriegel.
Als wir zurück zur Polar Lodge laufen, sage ich, hoffentlich haben wir Bengt jetzt nicht verpasst. Der wollte ja noch kommen. Und schaue auf meine Uhr. Und da kommt von Thomas einer der ersten Sätze, die mich stutzen lassen; er sagt, ja, hat er gesagt. Für mich steht dadurch in Klammern dahinter: Und das will ja nichts heißen. Aber bevor ich noch etwas darauf antworten kann, sind wir an der Polar Lodge angekommen, und neben unseren dort aufgestapelten Schlitten steht: Bengt. Die Zeltstange in der Hand. Natürlich, denke ich mir. Wenn er sagt, er kommt, kommt er auch.
Hier, sagt er, wenigstens eine habt ihr jetzt doppelt. Und drückt mir die Stange in die Hand.
Der Wind zerrt an uns. Dann müssen wir jetzt wohl Auf Wiedersehen sagen, sagt er.
Ja, müssen wir wohl, sage ich.
Vergesst nicht, sagt Bengt, ihr dürft nicht zu schnell gehen. Lasst euch nicht nervös machen.
Er klopft Hannes und Thomas auf die Schultern.
Und urplötzlich muss ich fast mit den Tränen kämpfen. Auf einmal merke ich, wie sehr mir Bengt fehlen wird. Bengt ist wie ein Bindeglied zu den Expeditionen, die ich schon gemacht habe, eine Verbindung zu Thomy nach Spitzbergen, nach Russland, zu allem, was ich bisher im Eis kenne. Diese Verbindung kappe ich jetzt; und damit ist alles anders. Ich gehe nun mit neuen Partnern, die ich weniger kenne, in einem Land, in dem ich noch nie gewesen bin. Bin allein verantwortlich. Ohne einen Guide. In diesem Moment fühlt sich das überhaupt nicht gut an.
It’s good to know you behind us, sage ich zu Bengt, es ist gut zu wissen, dass du hinter uns sein wirst.
Es ist gut, euch vor uns zu wissen, sagt Bengt. Du kannst in Isortoq schon mal das Bier kalt stellen!
Da muss ich lachen, aber es ist nur ein halbes Lachen. Hoffentlich kommen wir dort an, denke ich mir. Thomas, Hannes und ich. Hannes kenne ich aus Spitzbergen, ich habe ihn 2010 dort getroffen, 2010 im April – dem Monat, in dem der isländische Vulkan Eyafjallajökull ausbrach. Just an dem Tag, als ich von meiner ersten Skitour zum Nordpol nach Spitzbergen zurückkehrte. Hannes und ich saßen also in Spitzbergen fest, so wie in diesen Tagen sehr viele Menschen irgendwo festsaßen. Als nach ein paar Tagen ein erstes Flugzeug abheben sollte, sagte die Flughafenmitarbeiterin zu uns: Wir wissen aber nicht, wohin. Also verzichteten wir lieber.
Als wir schließlich nach Tromsö fliegen konnten, ging es von dort wieder nicht weiter, und Hannes und ich stiegen um auf die Nordlys, ein Hurtigruten-Schiff. Fuhren damit langsam Richtung Süden. Schauten auf die Küste. Die beste aller Möglichkeiten, in dem Chaos dieser Tage zu reisen. Acht Tage später als geplant kamen wir nach Deutschland zurück. Auf diesem Schiff war der erste Plan entstanden. An der Reling der Nordlys stehend sagte ich zu Hannes: Was hältst du eigentlich von Grönland?
Grönland, antwortete er damals, Grönland ist groß.
Und jetzt waren wir hier.
Thomas war erst viel später zu uns gestoßen. Ich hatte irgendwann in einem Radiointerview gesagt, dass ich Grönland durchqueren wollte. Thomas schrieb mir darauf, ob er mitkommen könnte. Wir trafen uns also, erzählten uns vom Eis, unseren Touren, schauten Bilder an, die Stunden flogen nur so dahin. Dann trafen wir uns mehrmals zu dritt, und dann beschlossen wir: Wir machen das.
In der Folge aber verliefen unsere Vorbereitungen nicht so, wie es gut gewesen wäre. Wir hatten alle drei zu viel zu tun, unsere Terminpläne unter einen Hut zu bringen war schier unmöglich. Thomas erledigte die ganzen bürokratischen Schritte mit den grönländischen Behörden, hätte er das nicht getan, wären wir wahrscheinlich erst ein Jahr später aufgebrochen, weil ich einfach keine Zeit dafür fand. Was aber der größte Mangel an unserer Vorbereitung war, den ich aber immer zu verdrängen versuchte: Wir hatten kein einziges Mal gemeinsam etwas unternommen, keine einzige Skitour. Ein einziger, fest geplanter Termin, auf den wir uns hatten einigen können, war wegen mir geplatzt, weil ich es nicht geschafft hatte.
Unsere Ausgangssituation ist also nicht die beste. Wir sind ein Dreierteam, was generell kritisch ist. Und wir sind eigentlich noch gar kein Team. All diese Faktoren führen jetzt, wo ich mich von Bengt verabschieden muss, von Bengt, von dem ich weiß, dass wir uns blind im Schneesturm verstehen, dazu, dass es mir die Kehle zuschnürt.
Bengt umarmt mich fest.
It’s a long way, sagt er. Promise, you don’t destroy yourself in the beginning! Mach dich nicht kaputt am Anfang!
Promised, sage ich.
Er klopft ein letztes Mal auf meine Schulter, dann geht er sein Team vom Flughafen abholen. Nach ein paar Metern dreht er sich noch einmal um und ruft: See you on the other side!
Don’t make a mess
7. Mai 2013
Kangerlussuaq, Westgrönland
Vor dem Start
Perhaps they are not stars, but openings in the sky
where the love of our lost ones pours through
to let us know they are happy.
Sprichwort der Inuit
Der Inuit fasst nach meinem Arm, aber er sieht mir nicht in die Augen. Er ist ein paar Zentimeter kleiner als ich. Riecht nach Alkohol. Er schaut irgendwohin in diesem Flur, in dem es nichts zu sehen gibt.
Don’t make a mess, sagt er.
Er sagt es ruhig, langsam, mit viel Nachdruck. Er sagt es, nachdem er die Essensbeutel angeschaut hat, die sauber aufgereiht in der Polar Lodge in Kangerlussuaq auf dem Boden liegen und die ich gerade befülle. 28 Stück, einer für jeden Tag. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich weiß nicht, was er meint.
You go over the icecap, stellt er mehr fest, als er fragt.
Ja, sage ich. Morgen.
Was ist das für ein Essen, fragt er weiter, und ich sage ihm, es sei gutes Expeditionsessen, ein Kilo etwa für jeden Tag, 5000 Kalorien, alles gut.
Mehr Kohlenhydrate, fügt Thomas noch hinzu, der mit im Flur steht, aber unsere Antworten scheinen den Inuit nicht weiter zu interessieren. Er will etwas loswerden.
Wo kommt ihr her, fragt er.
Aus Deutschland, sage ich. Und du?
Nuuk.
Noch immer hält er meinen Arm fest. Ich fühle mich langsam unbehaglich.
Das Eis ist groß, sagt er. Sehr groß.
Das wissen wir, sage ich. Mach dir keine Sorgen.
Zu jenem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass ich nicht einmal den Hauch einer Ahnung habe, wie groß und mächtig das Eis wirklich ist. Anders als ich, anders als wir, weiß dieser Mann um unsere Ahnungslosigkeit. Weil die, die da aus dem Süden kommen, das große Eis zu queren, immer ahnungslos sind. Weil es immer schon so war mit diesen frohen Helden mit ihren vielen Gerätschaften, die des Eises wegen auf die Insel kamen – dabei kannten sie das Eis doch gar nicht. Und sie gaben sich auch keine Mühe, es kennen zu lernen, bevor sie es forsch betraten. Das Eis mochte das nicht.
Der Inuit drückt meinen Arm noch fester und wiederholt:
Don’t make a mess.
Ich bewege mich nicht.
Like the Brits, fügt er hinzu.
Mir stellen sich alle Haare im Nacken auf. Der Mann wankt, dann nickt er ruckartig. Als habe er kurz über seinen Satz nachgedacht und ihn nachträglich noch immer für gut befunden. Dann fällt seine Hand erschlaffend von meinem Arm. Unsicheren Schritts geht er an meinen Essensbeuteln vorbei zu seiner Zimmertür. Er braucht lange, bis sein Schlüssel sich im Schloss bewegt, dann verschwindet er in dem Zimmer. Durch die Tür kann ich hören, wie er auf sein Bett fällt. Dann ist es still. Am nächsten Morgen, wenn die Zimmermädchen kommen, wird es lange dauern, bis er wach ist, und dann werden sie viele leere Flaschen aus seinem Zimmer in den Müll werfen.
Ich stehe regungslos da, in der Hand einen Essensbeutel. Like the Brits. Es ist, als greife eine kalte Hand nach meinem Herzen. Ich weiß jetzt, wovon der Inuit gesprochen hat. Von einer Expedition, die nur zehn Tage vor uns gestartet war. Und bereits zu Ende ist.
Am 25. April 2013 waren drei Briten aufgebrochen zu einer Grönland-Durchquerung von Osten nach Westen, also in der entgegengesetzten Richtung zu uns. Drei junge Männer.
Einer von ihnen hatte einen sehr besonderen Grund, diese Expedition anzutreten, obwohl er noch nie eine derartige Unternehmung gemacht hatte. Er hatte keine Erfahrung im Eis. Aber Philip Goodeve-Docker, 31 Jahre alt, hatte nach dem Tod seines Großvaters im April 2011 ein Foto geerbt. Das Foto eines Gletschers in der Antarktis. Dieser Gletscher, der Gordon-Gletscher, war nach seinem Großvater benannt worden, nach Patrick Pirie-Gordon. Pirie-Gordon war ein hochdekorierter schottischer Adliger, der sich auf vielfältige Weise für wohltätige Zwecke engagiert hatte. Außerdem war er einst der Vizepräsident der ehrwürdigen Royal Geographic Society und zudem ein großzügiger finanzieller Unterstützer von Expeditionen in die Arktis und Antarktis.
Pirie-Gordon also war für seinen Enkel ein Held. Und wie es scheint, wuchs für den 31-Jährigen die Bedeutung des polaren Engagements seines Großvaters nach dessen Tod immer mehr. Er rahmte das Bild ein, hängte es in seiner Wohnung auf. Jeder, der ihn besuchen kam, musste sich das Bild ansehen und die Geschichte seines Großvaters anhören. Und irgendwann wollte es ein Zufall, dass ihn ein Freund fragte, was er davon halten würde, Grönland zu durchqueren. Grönland.
Und Goodeve-Docker sagte Ja; er sagte Ja, weil er irgendetwas tun wollte, was irgendwie mit seinem Großvater zu tun hatte. Und damit die Verbindung noch enger werden würde, beschloss er, mit seiner Expedition Spenden für eines der Institute zu sammeln, die schon sein Großvater unterstützt hatte: das Queen’s Nursing Institute.
Die Dreiergruppe begann ihren Aufstieg auf die grönländische Eiskappe am 26. April. Sie stiegen durch das trichterförmige Gebiet oberhalb von Isortoq auf, in dem es immer wieder zu Piteraqs kommt, den heimtückischen Fallwinden, mit denen die kalte Luft auf dem Inlandeis hinunter Richtung Küste donnert. Piteraqs können alles niederwalzen; sie sind gefährlich und zerstörerisch. Am 27. April geriet die Gruppe in einen solchen Piteraq. Ihr Zelt wurde fortgeweht. Sie setzten einen Notruf ab, aber wegen des anhaltenden Sturms konnte ihnen niemand zu Hilfe kommen. Erst am nächsten Tag erreichte eine Rettungsmannschaft die drei Männer. Da war Philip Goodeve-Docker bereits tot; seine Teamkameraden hatten schwere Erfrierungen. Irgendwann in der Nacht sei Philip gestorben, sagten sie.
In Grönland und in der ganzen Expeditionsszene hat dieser Vorfall immense Bestürzung verursacht. Dass Teams vom Eis geholt werden müssen, kommt jedes Jahr vor. Dass dabei jemand stirbt, nicht. Es ist eine jener brutalen Erinnerungen daran, dass es nicht nur Spaß ist, was wir tun.
In einer Gedenkschrift für Philip schreibt sein Bruder, die Expedition hätte seinem Bruder viel mehr bedeutet als nur das verrückte Abenteuer, als das er es auf seiner Internetseite beschrieb. Es sei seine Art gewesen, seinen Großvater ein letztes Mal zu ehren.
An dem Tag, an dem unsere Zeltstangen im Wind brechen werden, wird Philip Goodeve-Docker in der Nähe von London begraben.
Nur ein Schlitten
Februar 2013
Huberspitz-Ostwand, Rosenheim, Schliersee
Drei Monate vor dem Aufbruch
If you wear the same clothes that you use in town
to go hunting, they will be very cold
Sprichwort der Inuit
Hanna schreit, Birgit, hopp jetzt, Schuss! Pizzastück!
Ich muss so lachen, dass ich kaum noch Skifahren kann. Hanna liegt in meinem Schlitten, ihre Beine baumeln über den Schlittenrand. In der Hand hält sie eine Kamera, mit der sie mich filmt. Insgesamt eine recht bequeme Position, in der sie sich da befindet, eine gesicherte Position, aus der man ganz famose Anweisungen geben kann.
Meine Position ist weniger gesichert, denn es geht bergab, und ich habe sehr weiche Expeditionsstiefel an, die in einer Langlaufbindung auf schmalen Expeditionsskiern stecken – nicht gerade eine stabile alpine Skikombination. Und an zwei Karabinern an meinen Hüften hängt an 2,5 Meter langen Seilen außerdem eben der Schlitten samt Hanna. Entsprechend eiernd bin ich unterwegs, und entsprechend oft zieht es mir die Ski unter den Füßen weg, wenn zum Beispiel der Schlitten stehen bleibt, ich aber nicht. Genau deswegen sind wir hier.
Hanna ist meine Freundin aus Hausham. Sie hilft mir bei meinen Grönland-Vorbereitungen mit vollem Körpereinsatz. Sie rennt nicht nur bei jedem Wetter mit mir auf Berge, sie hat nun auch noch beschlossen, mein Gepäck zu simulieren. Denn Hanna hat meinen ersten Versuch beobachtet, als ich den – mit Kartoffeln beladenen – Schlitten einen Berg hinunter steuern wollte. Als ich endlich bei ihr ankam, stellte sie fest: Auweh, des muasst no üben.
Also übt sie nun mit mir. Dafür kann ihre Familie dann drei Wochen lang Kartoffelsalat essen, aus meiner ursprünglichen Schlittenladung.
Üben ist wichtig, wenn man sich vorgenommen hat, Grönland zu durchqueren. Am Ende der Strecke werden wir aus etwa 2500 Metern Höhe über einen Gletscher bis hinunter ans Meer abfahren. Das Abfahren mit diesen fragilen Faktoren – weiche Schuhe, Langlaufbindung, schmale Ski und Schlitten – will ich unbedingt vorher lernen. Denn will man die Entscheidung, wo es langgehen soll, nicht seinem Schlitten überlassen, muss man üben, wie man ihm das beibringt.
Als Übungsgelände haben wir den Weg auf die Huberspitz ausgewählt. Die Huberspitz ist ein Hubbel westlich von Hausham und von Hannas Haustür erreichbar. Er hat den Vorteil, dass hier wenige Menschen unterwegs sind und die Steigung der breiten Forststraße eher mäßig ist. Der Weg hinauf ist unproblematisch. Dann fahren wir ab.
Nach dem dritten Crash, bei dem der Schlitten samt Hanna in meine Hacken schlittert und ich entweder auf Hanna oder neben ihr im Schnee lande, habe ich kapiert, dass ich die Zugseile der Pulka nicht nur kurz, sondern so kurz wie nur möglich in die Hand nehmen muss – nämlich genau so kurz, dass sie senkrecht zur Befestigung verlaufen, der Schlitten also neben mir fährt. Wie ein Hund, den man lehren will, bei Fuß zu gehen ungefähr. Sobald die Seile nicht mehr senkrecht oder auch nur ein bisschen lockerer hängen, schlägt der Schlitten überraschende Kurven ein. Und fährt mir dabei entweder über die Ski oder so abrupt von mir fort, dass ich ebenso abrupt abgebremst werde. Ich halte also beide Stöcke in der linken und die Zugseile an den extra dafür eingeflochtenen Knoten in der rechten Hand, und so schleudern wir die Huberspitz-Ostwand hinunter. Hannas Vertrauen in meine Fähigkeiten beeindruckt mich, vor allem angesichts des dichten Baumbestands um uns und des teilweise doch recht steilen Abhangs gleich neben dem Weg.
Obacht, schreit Hanna, da kommt eine Baustelle. Tatsächlich wird der Weg hier ausgebessert, oder er wurde es vor dem Wintereinbruch, und am Rand stehen rot-weiße Baustellenwarnschilder, die ich noch knapp verfehle, danach aber doch im Graben ende. Auch oder vielleicht gerade weil Hanna nicht aufhört zu lachen und ich des Abfahrens nur noch begrenzt mächtig bin. Lenken muss ich, so lerne ich dadurch aber, in einem geschickten Zusammenspiel meines rechten Unterschenkels mit dem linken Bein. Der rechte Unterschenkel muss immer in Kontakt mit der Pulka bleiben. Wenn ich passend zum Gefälle dann mit dem linken Fuß einen Pflug oder, wie es heute heißt, ein Pizzastück! bilde, dann fahren wir so sicher, als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Und wir werden schnell! Was Hanna schließlich zu dem begeisterten Ausruf verleitet: Wahnsinn, Birgit, so wird des was mit Grönland!
Dieses Schlittentraining wiederhole ich noch einige Male, mit Hanna oder mit Sandsäcken, wenn Hanna keine Zeit hat. Denn ich habe einen ziemlich straffen Trainingsplan zu erfüllen. Einen Plan, den mein Sportsfreund Hauke aufgestellt hat, der von meiner Fitness nicht so recht überzeugt ist. Dieser Trainingsplan ist eine Exceltabelle mit sehr vielen Farben und Spalten. Auf Anraten Haukes habe ich mir diese Tabelle im Bad neben den Spiegel gepappt. Damit ich mindestens zweimal täglich beim Zähneputzen ein schlechtes Gewissen habe, sollte ich die Angaben im Plan nicht erfüllen. Das hilft tatsächlich. Diese stumm anklagende Tabelle bringt mich sehr oft dazu, die Ski doch noch anzuschnallen und samt Schlitten irgendwo hochzustapfen.
Und natürlich treffe ich dabei auch auf andere Menschen. Bei jeder dieser Begegnungen bin ich froh, dass ich keine Autoreifen mehr hinter mir herziehe, wie ich das beim Nordpoltraining gemacht habe. Ein Schlitten wirkt nicht ganz so seltsam. Kommentarlos geht dennoch kaum jemand vorbei. Die häufigste – oft auch ernst gemeinte – Frage, die mir gestellt wird, ist: Bist du von der Bergwacht und hast jemanden gerettet? Dazu muss man sagen: Die Pulka ist ganze 1,56 Meter lang. Verunglückten ist schon ein etwas längeres Gefährt für den Transport zu wünschen. Andere fragen, was ich mit einem Boot auf dem Berg mache, lassen also ebenfalls Defizite in der Deutung meines Tuns erkennen. Kinder, die ich überhole, wollen sich hineinsetzen, vor allem bergauf. Alle Männer wollen helfen, vor allem bergab. Hunde schnüffeln, bellen den Schlitten an oder wedeln mit dem Schwanz; einer wollte ihn sogar markieren, was ich gerade noch verhindern konnte. Es ist insgesamt ein sehr kontaktförderndes Erlebnis, mit einem Polarschlitten unterwegs zu sein.
Bei all diesen Touren vertieft sich mein persönliches Verhältnis zu meiner Pulka. Ein Polarschlitten ist mehr als nur ein Gegenstand. Wenn er sich gut verhält, leicht über Eis, Schnee und Hindernisse gleitet, nicht umkippt und nicht hängen bleibt, dann liebst du ihn. Manchmal verfluchst du ihn trotzdem, weil er so schwer ist und nicht aufhört, dich zu bremsen. Eine Pulka wird dir zum treuen Freund, zum Begleiter, denn sie trägt all deine Lasten, schützt sie vor dem Wetter, bringt sie dir nach. Du bist mit ihr verbunden; sie hängt an dir, jeden Tag, wochenlang. Irgendwann weißt du nicht mehr, wie sich Skifahren ohne sie anfühlt.
Mein Schlitten ist darüber hinaus noch viel mehr für mich. Ich habe ihn nicht einfach irgendwo bestellt oder gekauft, ich war bei seiner Entwicklung dabei und habe das erste Exemplar aus der Maschine kommen sehen. Dieser Schlitten ist das beste Beispiel, wie viel Arbeit, Wissen und Erfahrung hinter Abenteuern steckt.
Denn diesen Schlitten hat Thomas Ulrich konzipiert, mit dem ich zweimal am Nordpol war. Thomy ist einer der größten Polfahrer der heutigen Zeit, er ist zusammen mit dem Norweger Børge Ousland 2007 vom Nordpol über den zugefrorenen Arktischen Ozean nach Franz-Joseph-Land gewandert, 100 Tage lang und mehr als 1000 Kilometer weit, und von dort nach Norwegen gesegelt. Er und Børge waren die Ersten, die das Südliche Patagonische Inlandeis ohne Depots durchquert haben. Menschen wie sie sind die letzten Abenteurer unserer Zeit, weil sie wirklich noch neue Wege gehen.
Thomy hat seine Ausrüstung bei seinen Touren immer weiter perfektioniert; er ist geradezu besessen davon, immer die bestmögliche, den Anforderungen optimal entsprechende Ausrüstung dabeizuhaben, er kann wochenlang herumtüfteln und Zulieferer oder Produzenten rund um den Globus nerven, bis sie ihm maßgeschneiderte Lösungen anfertigen. Thomy ist so gewissenhaft und exakt, wie das nur ein Schweizer sein kann, sage ich oft zu ihm.
2015 will Thomy die Arktis durchqueren, von Russland über den Nordpol nach Kanada, 1800 Kilometer weit. Solo. Ohne Unterstützung von außen. Am Anfang wird er 180 Kilogramm Gepäck bei sich haben. Keinem Menschen ist dies bisher je gelungen. Seit Jahren arbeitet er an diesem Projekt.
Der Schlitten ist ein Teil davon, ein entscheidender. Je energiesparender sich die Pulka verhält, umso besser das Vorankommen. Thomy wandte sich mit seiner Problemstellung also an die Technische Fachhochschule in Bern: Er wollte eine Pulka, die dem Schnee bei möglichst großem Packvolumen möglichst geringen Reibungswiderstand bietet, leicht, kippstabil und sehr strapazierfähig ist und außerdem auch mit einer Temperaturbandbreite von plus 20 bis minus 45 Grad zurechtkommt. Eine ungefähre Form hatte Thomy bereits im Kopf, einen Schlitten, der mehr an ein Kanu denn an eine Pulka erinnert. Die Studenten der FH errechneten also einen Korpus, und mit diesen Plänen wandte sich Thomy an den Kajakproduzenten Prijon in Rosenheim. Prijon, einer der bekanntesten Kajakhersteller der Welt, fertigt Kajaks aus Polyethylen in einer Blastechnik aus einem Stück – dadurch werden Nähte und potenzielle Schwachstellen vermieden. Polyethylen erfüllt zudem die Kriterien, dass es leicht und robust ist und sich mit schwankenden Temperaturen so gut wie nicht verformt. Um den Schlitten produzieren zu können, wurden Formen und Werkzeuge gebaut – mehrere Monate dauerte das.
Im Frühjahr 2013 schließlich ist es so weit: Die ersten Schlitten werden geblasen. Zusammen mit Thomy und Toni Prijon – und dem Schweizer Fernsehen, das eine Dokumentation über Thomy dreht – stehe ich vor der riesigen Maschine, aus der ein orangefarbener Plastikschlauch nach unten gleitet, um den sich dann ein Gerät schließt, das einem Sarkophag nicht unähnlich ist. Über etliche Schläuche wird Luft ins Innere geblasen – und binnen weniger Minuten soll aus dem Schlauch dann eine Pulka werden. Die Pulka. So einfach ist dann aber auch das nicht. Es braucht mehrere Anläufe, viele Justierungen an der Maschine. Immer wieder sind wir enttäuscht, wenn nur ein schlaffes Etwas aus der Maschine kommt.
Aber irgendwann öffnet sich die Maschine, und sichtbar wird ein straffer, starker Korpus. Mit Spannung schauen wir ihm entgegen, als er über unseren Köpfen aus dem Apparat nach unten schwebt. Er sieht großartig aus.
Alle sind aufgeregt, der Ingenieur ebenso wie Toni Prijon, und am allermeisten Thomy. Als der Schlitten vor ihm steht, klopft er auf ihm herum, kann es kaum glauben, begutachtet ihn von allen Seiten, schneidet Plastikreste ab. Dann streicht er andächtig über den Schlittenboden.
Wow, ruft er, es hat funktioniert! Dann läuft er aus der Halle, kommt mit einer Flasche Champagner wieder. Er lässt den Korken in die Halle explodieren und ein paar Tropfen auf den Schlitten fallen, der von nun an Beluga heißt. Toni bringt einen Stift. Alle unterschreiben auf dem Schlittenboden, von ihm selbst bis zum Hilfsarbeiter, einer nach dem anderen, und ich darf auch. Was für ein Moment.