Sally wächst in Australien in einer herrlich schrägen Familie auf. Religion wird zur Geheimwaffe, Hühner sind Luxus und Ochsenfrösche muss man ausgraben. Mit fünfzehn merkt Sally, das in ihrer Familie noch etwas anders ist: Ihre Oma ist schwarz. Als Sally die Geschichte ihrer Familie hinterfragt, wird ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Sally Morgan (*1951), ausgebildete Psychologin und Bibliothekarin, Malerin und Lithografin, gilt als die wichtigste Vertreterin der Aborigines-Literatur. Sie wuchs in der weißen Gesellschaft Australiens auf und machte sich erst spät auf die Suche nach ihrer wahren Identität.
Zur Webseite von Sally Morgan.
Gabriele Yin übersetzt australische Literatur ins Deutsche. Sie ist Herausgeberin einer Anthologie von Erzählungen und Gedichten von Aborigines und arbeitet bei einer Galerie für Kunst der Aborigines.
Zur Webseite von Gabriele Yin.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Ich hörte den Vogel rufen
Roman
Aus dem Englischen von Gabriele Yin
E-Book-Ausgabe
Orlanda @ Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book des Orlanda-Verlags erscheint in Zusammenarbeit mit dem Unionsverlag.
Die Originalausgabe erschien 1987 bei Fremantle Arts Centre Press, Fremantle, Western Australia. Die deutsche Erstausgabe erschien 1991 im Orlanda Frauenverlag, Berlin.
Originaltitel: My Place (1987)
© by Sally Morgan 1987 Diese Ausgabe erscheint mit freundlicher Genehmigung des Orlanda Frauenverlags, Berlin
© by Orlanda Verlag, Berlin 2021
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Dorling Kindersley Ltd. (Alamy Stock Foto)
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-30701-8
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 05.01.2021, 12:18h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
https://www.orlanda-buchverlag.de
mail@orlanda-buchverlag.de
E-Book Service: ebook@unionsverlag.ch
www.unionsverlag.com
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Für meine Familie
Wie arm wären wir gewesen,
wenn wir die Dinge so belassen hätten, wie sie waren.
Wir hätten überlebt, aber nicht als ganze Menschen.
Wir hätten nie unseren Ort gekannt.
Ich danke dem Aboriginal Arts Board of the Australian Council und dem Australian Institute of Aboriginal Studies für die finanzielle Unterstützung beim Schreiben dieses Buches.
Einige Personennamen in diesem Buch wurden geändert. Teilweise wurden nur Vornamen genannt, um die Persönlichkeitsrechte der Betreffenden zu wahren.
Wieder im Krankenhaus. Das Echo meiner widerstrebenden Schritte in langen, leeren Fluren. Ich hasste Krankenhäuser und Krankenhausgerüche. Ich hasste die nackten Bohlen, die frisch poliert schimmerten, die staubfreien Fenstersimse und das Aufblitzen des glänzenden Chroms, das nach meiner verzerrten Gestalt schnappte, wenn wir vorübereilten. Ich war eine schmuddelige Fünfjährige in einer fremdartigen Umgebung.
Manchmal hasste ich Dad für sein Kranksein und Mum, weil sie mich zu diesen Besuchen mitnahm. Nur ab und zu nahm Mum Jill und Bill, meine jüngeren Geschwister, mit. Immer war ich diejenige, welche. Meine Anwesenheit gewährleistete, dass es keinen Streit gab. Mum hatte die Nase voll vom Streiten, gestrichen voll.
Ich seufzte schon im Voraus, als wir das Ende des letzten Flurs erreichten. Wieder warteten diese Türen auf mich. Große, klotzige Türen mit dicken Glasscheiben in der oberen Hälfte. Sie schwangen in schweren Messingscharnieren, und wenn ich sie nach innen drückte, kam es mir vor, als drückten sie nach außen. Wenn nicht zusätzlich Mums beachtliches Gewicht geholfen hätte, wäre ich jedes Mal der Länge nach hingefallen. Die Türen waren mit grünem Linoleum bezogen. Auf dem Linoleum waren weiße Kringel, und das Muster erinnerte mich an einen von Mums speziellen Kuchen, den Regenbogenkuchen. Sie gab ihm einen cremefarbenen Überzug mit rosa und schokoladenbraunen Kringeln. Ich fand sie wundervoll. Hinter den Türen gab es keine Wunder. Ich wusste, was dahinter war. Ab und zu hüpfte ich unbeholfen hoch und versuchte, durch das Glas in die Station zu gucken. Doch obwohl ich groß war für mein Alter, wollte es mir nie ganz gelingen. Alles, was mir gelang, waren blaue Flecken an meinen Knubbelknien und verschmierte Fingerabdrücke am unteren Rand des Glases.
Manchmal tat ich so, als wäre Dad gar nicht richtig krank. Ich stellte mir vor, dass ich durch die Türen ginge und er mich anlächelte. »Natürlich bin ich nicht krank«, würde er sagen. »Komm und setz dich auf meinen Schoß und unterhalte dich mit mir.« Und Mum wäre da, lachend, und wir wären alle glücklich. Deshalb sprang ich hoch und versuchte, durch das Glas zu schauen. Ich hoffte immer, dass die Szenerie sich wie durch ein Wunder veränderte.
Unsere Ankunft in der Station war immer ein größeres Ereignis. Die Männer dort bekamen wenig Besuch. Wir waren genauso wichtig wie die Frau vom Roten Kreuz, die Süßigkeiten und Zeitschriften verkaufte. »Na, seht mal, wer da kommt!«, riefen sie. »Ich glaube, sie ist größer geworden. Was meinst du, Tom?« »Na so was, dass wir dich wiedersehen, kleines Mädel.« Ich wusste, dass sie nicht wirklich überrascht waren, mich zu sehen; es war nur ein Spiel, das sie spielten.
Nach solch einem begeisterten Empfang versuchte Mum immer, mich zum Reden zu bewegen. »Sag guten Tag, Liebes«, ermutigte sie mich und gab mir rasch einen Stoß in den Rücken. Mein Schweigen war Mum peinlich. Meistens versuchte sie, mich zu entschuldigen, indem sie jedem erzählte, dass ich schüchtern sei. Dabei war ich eigentlich eher ängstlich als schüchtern. Ich hatte das Gefühl, als würde ich auseinanderbrechen, wenn ich überhaupt irgendetwas sagte. Da läge ich dann in Stücken auf dem Fußboden. Ich war voller geheimer Ängste.
Die Männer auf der Station gaben nicht so leicht auf. Sie setzten ihr Geplänkel fort in der Hoffnung, mich herumzukriegen. »Komm, Süße, komm her und sprich mit mir«, versuchte mich ein alter Mann zu überreden, indem er mir ein Sahnebonbon entgegenhielt. Meine Füße waren wie festgewachsen. Ich hätte mich nicht rühren können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Dieser Mann sah aus wie ein Geist. Sein gestutztes Haar stand hoch wie die kurzen weißen Borsten einer Zahnbürste. Sein rechtes Bein unterhalb des Knies fehlte, und seine schlaffe Haut erinnerte mich an ein gerupftes Hühnchen. Er versuchte mich heranzulocken, indem er sich vorbeugte und mir zwei Bonbons hinhielt. Ich rechnete damit, dass er aus dem Bett fiele; ich war sicher, das würde er, wenn er sich noch weiter herauslehnte.
Ich sagte mir immer wieder, dass er nicht wirklich ein Geist sei, sondern nur ein alter Soldat. Mum hatte mir anvertraut, dass alle diese Männer alte Soldaten waren. Als sie es mir erzählte, hatte sie ihre Stimme gesenkt, als sei es wichtig. Sie hegte eine Vorliebe für sie, die ich nicht verstand. Ich fragte mich oft, warum alte Soldaten etwas Besonderes waren. Allen diesen Männern fehlte ein Arm oder ein Bein. Dad war als Einziger hier noch ganz.
Ich versuchte, keinen von ihnen direkt anzuschauen; ich wusste, es gehörte sich nicht, Leute anzustarren. Einmal saß ich ewig lange rätselnd vor einem Paar Holzkrücken, und Mum wurde ärgerlich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, so schief zu sein. Könnte ich mit nur einem meiner Affenarme oder -beine zurechtkommen? So nannte ich sie; sie waren nicht haarig, aber sie waren lang und dünn, und ich mochte sie nicht. Ich fand es schwierig, mir vorzustellen, dass einem so viele Teile fehlten und man dennoch leben konnte.
Der alte Soldat lehnte sich in sein Kissen zurück, und ich warf einen schnellen Blick auf Dad. Er stand auf seinem üblichen Platz neben seinem Bett. Er kam nie nach vorn, um uns zu begrüßen, oder rief uns zu wie die anderen Männer, und doch gehörten wir zu ihm. Sein Bademantel hing so locker um seinen schlaksigen Körper, dass er mich an die Drahtkleiderbügel erinnerte, die Mum im Garderobenschrank hängen hatte. Dad war nur ein Gerippe. Das Herz hatte ihn vor Jahren schon verlassen.
Sobald Mum ihr kleines Gespräch und ihre Scherze mit den Männern beendet hatte, gingen wir zu Dads Bett und dann hinaus auf die Veranda. Das war der schönste Platz, sich hinzusetzen. Es gab Tische und Stühle, und wir konnten in den Garten schauen. Leider wurden die Stühle schon nach wenigen Minuten unbequem. Sie bestanden aus einem Eisenrahmen, auf den als Sitz und Lehne einzelne Holzlatten in allen Regenbogenfarben genagelt waren. Wenn mir richtig langweilig wurde, beschäftigte ich mich damit, in Gedanken die Farben so zusammenzustellen, dass sie zueinander passten.
Während Mum und Dad sich unterhielten, schnupperte ich die Luft. Es war ein klarer Frühlingstag mit blauem Himmel. Ich konnte das feuchte Gras riechen und die Kühle einer Brise fühlen. Es war so ein schöner Tag voller Zuversicht, dass mir zum Weinen zumute war. Der Frühling war immer ein bewegendes Erlebnis für mich. Oma ging es genauso. Gestern erst hatte sie mich früh geweckt, damit ich ihre neueste Entdeckung anschaute. Ich hatte tief geschlafen, aber irgendwie war ihre Stimme in meine Träume eingedrungen.
»Sally, wach auf!«
Sogar in meinem Traum fragte ich mich, woher diese Stimme kam. Sie war schwach, aber hartnäckig, wie der Schein einer Taschenlampe an einem nebligen Abend. Ich wollte nicht aufwachen. Ich vergrub mich tiefer unter die Schichten aus Mänteln und Decken, die auf mir aufgetürmt waren. In meinen Träumen waren sie schwer, aber nicht warm. Ich umfasste meine Füße mit den Händen, um sie zu wärmen. Manchmal glaubte ich, dass Kaltsein und Dünnsein zusammengehörten, denn ich war beides.
Jeden Abend rief ich: »Mum, mir ist kalt!« Und dann, um sie anzutreiben: »Mum, ich erfriere!«
»Sally, dir kann unmöglich kalt sein!« Oft kam sie dreimal an mein Bett. Sie hob den Mantel hoch, den ich über den Kopf gezogen hatte, und sagte: »Wenn ich noch mehr auf dich packe, erstickst du. Und die anderen wollen nicht die ganzen Mäntel auf sich liegen haben.« Ich teilte das Bett mit Billy und meiner Schwester Jill. Ihnen war nie kalt.
Ich wand meinen Hals aus dem haarigen Fuchskragen heraus, mit dem ein Mantel besetzt war, und erwiderte scharf: »Ich ersticke lieber, als dass ich erfriere!« Oma brauchte nur hinzuzufügen: »Es ist furchtbar, wenn einem kalt ist, Glad«, und Mum fügte sich und holte die alten, schwereren Mäntel, die im Garderobenschrank hingen.
Während ich so auf der Krankenhausveranda saß, lächelte ich, als ich mich daran erinnerte, wie Oma meinen verschlafenen Körper hin und her geschaukelt hatte, um mich aufzuwecken. Es dauerte einige Minuten, aber schließlich kam ich hervor, um Luft zu schnappen, und murmelte schläfrig: »Was ist los? Es ist so früh, Oma, musst du mich denn so früh wecken?«
»Pst, sei still, du weckst die anderen auf. Weißt du denn nicht mehr, dass ich dich früh wecken wollte, damit du wieder den Ochsenfrosch und den Vogel hören kannst?«
Der Ochsenfrosch und der Vogel, wie konnte ich die vergessen! In der ganzen Woche, seit Dad im Krankenhaus war, sprach sie von nichts anderem. Oma ermunterte mich, indem sie die obersten Mantelschichten von mir schälte. Zeitweise lag ich da wie eine feste, eingerollte Kugel. Unter mir war es warm, aber oben wurde mir nun, da die Mäntel und Decken weggenommen waren, schnell kälter. In einem plötzlichen Entschluss sprang ich aus dem Bett und zog fröstelnd einen alten, roten Pullover an. Dann folgte ich Oma barfuß hinaus auf die hintere Veranda.
»Setz dich leise auf die Stufen«, sagte sie zu mir. »Und sei ganz still!« Ich war solche Warnungen gewohnt. Ich wusste, dass wir nie etwas Besonderes zu hören bekamen, wenn wir nicht ganz still waren. Ich rieb meine Füße aneinander, um sie zu wärmen, und versuchte den Rest meines Körpers in dem unförmigen roten Pullover unterzubringen. Ich zog die Ärmel über meine Hände, schlang meine Arme um die Beine und wartete.
Der frühe Morgen war Omas Lieblingszeit, in der sie immer neue Entdeckungen im Garten machte. Eine dicke Stummelschwanzechse, Schlangenspuren, Grashüpfer mit ungewöhnlichen Fühlern, unzählige Kreaturen, die sich aus ihren eigenen, einzigartigen Gründen ausgerechnet unseren Garten zum Wohnraum auserkoren hatten. Ich wünschte, dass der Frühling für immer andauerte, aber das geschah nie. Bald würde der Sommer da sein, und das Gras würde gelb und hart; sogar der sorgsam gepflegte Rasen am Krankenhaus würde nicht mehr so grün aussehen. Und die riesigen Kapuzinerkressen, die an unserem seitlichen Zaun und unter dem Zitronenbaum wucherten, würden verschwinden. Ich wäre nicht mehr auf der Jagd nach Wundern, und Oma weckte mich nicht mehr so früh und so oft auf.
Ich hatte den Ochsenfrosch gestern gehört, er war eines von Omas Lieblingstieren. Sie grub auch noch einen kleineren, braun gescheckten Frosch aus, der unter der Erde lebte. Nachdem ich ihn mir angeschaut hatte, vergrub sie ihn wieder sicher an seinem Platz. Ich fröstelte, als eine frühe Morgenbrise plötzlich um meine nackten Beine wehte. Ich erwartete, dass der Ochsenfrosch an diesem Morgen wiederkam. Ich starrte auf den Flecken dunkler Erde, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Er wird jede Minute herauskommen, dachte ich. Ich war aufgeregt, aber nicht bei dem Gedanken an den Ochsenfrosch. An diesem Morgen wartete ich auf den Vogel. Oma nannte ihn ihren speziellen Vogel, niemand außer ihr hatte ihn gehört. An diesem Morgen würde auch ich ihn hören.
»Quaak, quaak!« Das Geräusch schreckte mich auf. Ich lächelte. Das war der alte Ochsenfrosch, der uns wieder seinen Quark erzählte. Ich schaute in den Himmel. Es war ein kühler, diesiger Morgen mit der Aussicht auf einen warmen Tag.
Immer noch kein Vogel. Ich rutschte ungeduldig hin und her. Oma stocherte mit ihrem Stock in der Erde und sagte: »Er wird bald hier sein.« Sie sprach mit Gewissheit.
Plötzlich war der Garten von einem hohen, trillernden Ton erfüllt. Meine Augen suchten die Bäume ab. Ich konnte den Vogel nicht sehen, aber sein Rufen war da. Das Lied endete so plötzlich, wie es begonnen hatte. Oma lächelte mich an. »Hast du ihn gehört? Hast du den Vogel rufen hören?«
»Ich hab ihn gehört, Oma«, flüsterte ich ehrfürchtig.
Was für ein wundervoller Moment war das gewesen. Ich seufzte. Jetzt war ich bei Dad; es war kein Platz für Wunder in Krankenhäusern. Ich biss die Zähne zusammen, drückte mein Kinn auf die Brust und schielte zu Mum und Dad. Sie schienen beide nervös zu sein. Ich fragte mich, wie lange ich meinen Tagträumen nachgehangen hatte. Mum reichte hinüber und tätschelte Dads Arm. »Wie geht es dir, Lieber?« Sie war immer daran interessiert, wie es ihm ging. »Wie solls mir schon gehen!« Die Frage war dumm, es ging ihm nie besser.
Pelikanschultern, dachte ich, als ich beobachtete, wie er sich in seinem Stuhl vorbeugte. Die Spitzen seiner Schultern stachen hervor wie die eines Pelikans. Ich fragte mich, ob ich wohl auch solche Schultern hatte. Ich drehte meinen Kopf hin und her, um nachzusehen. Ja. Ziemlich dieselben, und meine Ellbogen waren auch spitz. Dad und ich hatten eine Menge gemeinsam.
Dads Finger umklammerten in regelmäßigen Abständen die Armlehnen seines Stuhls. Er hatte schlanke Hände für einen Mann. Ich erinnerte mich, wie jemand einmal gesagt hatte: »Dein Vater ist ein geschickter Bursche.« Hatte ich mein Zeichentalent von ihm? Ich hatte Dad nie zeichnen oder malen sehen, aber einmal sah ich einen Brief, den er geschrieben hatte, und der war wunderschön. Ich wusste, er hätte jetzt Schwierigkeiten, überhaupt irgendetwas zu schreiben. Seine Hände hörten nie auf zu zittern. Manchmal musste ich sogar die Zigarette für ihn anzünden.
Mein Blick wanderte von seinen Händen die Arme hinauf zu seinem Gesicht. Mir dämmerte, dass er noch mehr abgenommen hatte, und diese Erkenntnis machte mir Herzklopfen. Dad fing meinen Blick auf; er war blasser, und seine Wangen waren deutlicher eingefallen. Nur die vertrauten haselnussbraunen Augen waren noch dieselben, verwirrt und feucht, und sie beobachteten mich. »Ich bastle etwas für dich«, sagte er nervös. »Ich gehe es holen.« Er verschwand in der Station und kehrte wenig später mit einer kleinen, blauen, ledernen Schultertasche zurück. Sie hatte kastanienbraune Lederbändchen rundherum, bis auf den letzten Teil des Riemens, der noch nicht ganz fertig war. Als er sie wortlos in meinen Schoß legte, sagte Mum fröhlich: »Ist das nicht geschickt von Dad, dir so etwas zu basteln?« Ich starrte auf die Tasche. Mum unterbrach meine Gedanken: »Gefällt sie dir nicht?« Ich saß in der Falle. Ich murmelte ein widerstrebendes Doch und ließ meinen Blick von der Tasche auf die große Rasenfläche gleiten. Ich wollte wegrennen und mich ins Gras werfen. Ich wollte mein Gesicht vergraben, sodass Dad es nicht sehen könnte. Ich wollte rufen: »Nein, ich finde nicht, dass Daddy geschickt ist. Jeder hätte diese Tasche machen können. Und er findet es auch nicht geschickt!« Als ich mich wieder umwandte, schauten Mum und Dad beide in die Ferne.
»Können wir jetzt gehen, Mum?«, begann ich schuldbewusst. Hatte ich das wirklich gesagt? Meine Augen weiteten sich, als ich auf ihre Reaktion wartete. Dann bemerkte ich, dass sie gar nicht mich anschauten, sie starrten beide aufs Gras. Ich atmete mit einem tiefen und unauffälligen Seufzer befreit auf. Als ich das letzte Mal diese Frage laut gestellt hatte, war Mum böse und verlegen gewesen, und Dad hatte geschwiegen. Er schwieg auch jetzt. Diese traurigen Augen.
Die Besucherglocke klingelte unerwartet. Ich wollte hochspringen. Stattdessen zwang ich mich, stillzusitzen. Ich wusste, dass Mum es nicht mochte, wenn ich zu eifrig erschien. Endlich stand Mum auf, und während sie Dad fröhlich auf Wiedersehen sagte, wand ich mich langsam aus meinem Stuhl. Meine Beine müssen von hinten wie ein Zebrastreifen ausgesehen haben. Ich konnte die Abdrücke, die die harten Latten auf meiner Haut hinterlassen hatten, fühlen.
Als wir in die Station zurückkehrten, riefen die Männer: »Was? Geht ihr schon?« »Du warst nicht lange hier, kleines Mädel!« Der alte Soldat mit den Sahnebonbons lächelte. Er hielt die Süßigkeiten immer noch in der Hand. Sie machten alle eine große Schau und winkten zum Abschied, und gerade als wir durch die Türen in den leeren Flur gingen, rief eine Stimme: »Wir warten auf dich, kleines Mädel, bis zum nächsten Mal!«
Kräftiger, kühler Wind blies auf unserem Heimweg durch die Busfenster. Ich fragte mich immer wieder, ob ein Mensch denn innerlich verknittert sein könnte. Ich hatte Erwachsene nie über so etwas reden hören, aber ich fühlte mich, als ob ich von innen gebügelt werden müsste. Ich streckte mein Gesicht in den Wind und fühlte ihn durch meine Nasenlöcher und den Hals herabwüten. Mit kalter Schonungslosigkeit suchte er und fand meine widerspenstigen inneren Falten und warf sie hinaus auf die vorbeiziehende Straße. Ich schloss die Augen, entspannte mich und atmete aus. Und dann sah ich, wie eine kurze Erscheinung, Dads Gesicht vor mir. Diese traurigen, stillen Augen. Ich hatte ihn nicht getäuscht. Er hatte gewusst, was ich dachte.
Nach einigen Wochen kam Dad für eine Weile nach Hause, und bald darauf, im Januar 1957, erschien Mum mit einem neuen Baby in der Haustür. Ihr viertes. Ich war wirklich böse auf sie. Sie zeigte mir das weiße Bündel und sagte: »Ist das nicht ein wundervolles Geburtstagsgeschenk, Sally, dass du nun einen kleinen Bruder hast, der am gleichen Tag wie du geboren ist?« Ich war empört. So etwas zum Geburtstag! Und Dads Haltung konnte ich überhaupt nicht verstehen. Er schien sich tatsächlich zu freuen, dass David nun da war!
Mum plapperte fröhlich, als sie mich den Asphaltweg hinunter durch den Haupteingang zu den grauen Holz- und Asbestbauten führte. Ein Blick genügte, und ich war überzeugt, dass all dies hier – genau wie das Krankenhaus – dazu da war, die Lebensgeister auszutreiben.
Nach einem Rundgang zu den Toiletten setzten wir uns auf die unterste Stufe der Veranda. Ich war mir sicher, dass Mum mich nie an einem so furchtbaren Ort zurücklassen würde. Also saß ich geduldig da und wartete darauf, dass sie mich mit nach Hause nehmen würde.
»Hast du dein Butterbrot?«, fragte sie nervös, als ihr auffiel, dass ich sie anstarrte.
»Ja.«
»Und ein sauberes Taschentuch?«
Ich nickte.
»Was ist mit deinem Kulturbeutel?«
»Hab ich.«
»Hm«, Mum zögerte. Dann schaute sie in die Ferne und sagte munter: »Ich bin sicher, dass es dir hier gefallen wird.«
Alarmglocken. Ich kannte diesen Ton, den bekam ihre Stimme immer, wenn sie darüber sprach, dass es Dad bald bessergehen würde. Ich wusste dann, dass es keine Hoffnung gab.
»Du willst mich hierlassen, stimmts?«
Mum lächelte schuldbewusst. »Dir wird es hier bestimmt gefallen. Sieh mal, all die anderen Kinder in deinem Alter. Du wirst Freunde finden. Alle Kinder müssen eines Tages in die Schule gehen. Du wirst doch älter.«
»Na und?«
»Na, du musst zur Schule gehen, wenn du sechs bist; das ist Gesetz. Ich könnte dich nicht zu Hause behalten, selbst wenn ich wollte. Jetzt sei nicht albern, Sally, ich bleibe bei dir, bis es klingelt.«
»Wieso klingelt?«
»Nun, sie klingeln, wenn es Zeit ist, sich aufzustellen und in den Unterricht zu gehen. Und später klingeln sie, wenn ihr nach Hause gehen dürft.«
»Dann soll ich also den ganzen Tag lang auf irgendwelches Geklingel hören?«
»Sally«, erwiderte Mum wütend, »sei nicht so blöd. Du wirst hier etwas lernen. Sie bringen dir Rechnen bei. Und du magst doch Geschichten, oder? Sie werden dir Geschichten erzählen.«
In diesem Augenblick kam eine große Frau mittleren Alters mit Haaren in Farbe und Form von Makkaroni aus dem ersten Klassenzimmer des Blocks. »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, sagte sie laut. Alle hörten sofort auf zu reden. »Mein Name ist Miss Glazberg.«
Aus meiner günstigen Perspektive auf der unteren Stufe schaute ich langsam an ihren langen, dicken Beinen hinauf und unter ihren weiten Rock. Mum tippte mir auf die Schulter, und ich musste mich umdrehen. Sie fand mich bei Weitem zu neugierig.
»Es wird gleich klingeln«, informierte die große Frau die Mütter, »und wenn das geschieht, möchte ich, dass Sie die Kinder anweisen, sich in einer geraden Reihe auf dem Schulhof aufzustellen. Ich hoffe, ihr habt das auch gehört, Kinder, ich werde überprüfen, wer am geradesten steht. Und ich sähe es gern, wenn die Mütter zügig und leise fortgingen, sobald die Kinder aufgestellt sind. Auf diese Art habe ich genug Zeit, sie zur Ruhe zu bringen und kennenzulernen.«
Ich starrte Mum an.
»Ich komme mit dir zur Aufstellung«, flüsterte sie.
Es klingelte plötzlich, laut und erschreckend. Ich umklammerte Mums Arm. Langsam führte sie mich zu der Stelle, wo die anderen Kinder sich zu sammeln begannen. Sie nahm meine Hände von ihrem Arm, aber ich griff ihren Rock. Schon gingen einige andere Mütter fort und winkten. Ein kleiner Junge vor mir fing an zu weinen. Plötzlich war mir auch nach Weinen zumute.
»Komm jetzt, das geht hier nicht«, sagte Miss Glazberg, als sie Mums Kleid aus meiner Umklammerung befreite. Ich hielt die Augen gesenkt und schnappte nach einem anderen Teil von Mum.
»Ich muss jetzt gehen, Liebes«, sagte Mum verzweifelt.
Miss Glazberg wand meine Finger von Mums Oberschenkel und sagte: »Sag deiner Mutter auf Wiedersehen!« Es war zu spät, Mum hatte sich umgedreht und war in die Sicherheit der Veranda geflohen.
»Mum«, rief ich, als sie die letzte Stufe erklomm. »Mum!«
Sie drehte sich rasch um und winkte und fiel dabei hart auf die oberste Stufe. Ich hatte kein Mitleid mit ihrem verwundeten Knöchel oder den Tränen in ihren Augen.
»Mum!«, schrie ich, als sie davonhumpelte. »Komm zurück!«
Entgegen Miss Glazbergs eindringlichen Aufforderungen, den anderen Kindern hineinzufolgen, stand ich wie angewurzelt auf dem Schulhof, schrie und umklammerte sicherheitshalber meinen getüpfelten Plastikkulturbeutel und mein Pausenbrot.
Als das zweite Trimester begann, hatte ich lesen gelernt und war die beste Vorleserin in meiner Klasse. Lesen eröffnete mir neue Horizonte, aber es schaffte auch ein Verlangen, das die Schule nicht stillen konnte. Miss Glazberg sah keinen Grund, mir ein neues Buch zu geben, solange die anderen Kinder meiner Klasse noch mit dem alten kämpften. Jeden Tag musste ich dieselben Abenteuer von Nip und Fluff durchstehen, und jeden Tag wurden meine Augen vom hinteren Teil des Klassenraums angezogen, wo eine kleine Bücherei untergebracht war.
Ich nervte Mum so lange mit meinem Lesen, bis sie schließlich ihren Mut zusammennahm und die Lehrerin nach einem neuen Buch für mich fragte. Es war sehr mutig von ihr. Ich war ganz stolz, denn ich wusste, dass sie es hasste, die Lehrerin wegen irgendetwas anzusprechen.
»Es tut mir leid, Liebes«, sagte Mum an jenem Abend, »deine Lehrerin sagte, dass ihr erst in der zweiten Klasse ein neues Buch bekommt.«
Bei uns zu Hause gab es zwar nicht viele Bücher, aber reichlich alte Zeitungen, und so versuchte ich diese zu lesen. Eines Tages fand ich Dads Klempnerhandbücher in einer Kiste in der Waschküche. Ich konnte mir einiges von den Bildern zusammenreimen, aber die Wörter waren zu schwierig.
Gegen Ende des zweiten Trimesters gab Miss Glazberg bekannt, dass alle Eltern an einem Abend in die Schule kommen und sich unsere Arbeiten anschauen würden. Dann teilte sie anstelle des üblichen Packpapiers saubere, weiße Rechtecke aus, die stumpf auf der einen und glänzend auf der anderen Seite waren. Ich starrte ehrfurchtsvoll auf mein Papier; es war wunderschön und rief geradezu nach einem schönen Bild.
»So, Kinder, ich möchte, dass ihr alle euer Bestes gebt. Ihr sollt ein Bild von eurer Mutter und eurem Vater malen, und nur die besten werden am Elternabend ausgestellt.«
Ich hatte keinen Zweifel daran, dass meines zu den wenigen auserwählten gehören würde. Mit großer Konzentration und Entschlossenheit saß ich über meinem Blatt und zeichnete meine Eltern. Ich hielt den Arm über mein Werk, sodass es niemand abmalen konnte. Plötzlich tippte eine Hand auf meine Schulter, und Miss Glazberg sagte: »Lass mich deines mal sehen, Sally.« Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück.
»Du meine Güte!«, murmelte sie und griff sich ans Herz. »Ach du meine Güte! O nein, meine Liebe, so nicht! Bestimmt nicht!«
Bevor ich sie davon abhalten konnte, nahm sie mein Blatt und eilte zu ihrem Pult. Ich beobachtete bestürzt, wie meine großbusige, brustwarzige Mutter und mein gut ausgestatteter Vater raschelnd in ihrem Papierkorb verschwanden. Ich war verletzt und beschämt, und die Kinder um mich herum kicherten. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, dass wir unsere Eltern angezogen zeichnen sollten.
Bei Beginn des dritten Trimesters hatte ich ein aktives Missfallen an der Schule entwickelt. Ich war gelangweilt und einsam. Wenn die anderen Kinder mit mir sprachen, fand ich es schwierig zu antworten.
Dad schien sich auch nicht sehr für meine Schule zu interessieren. Er fragte mich nie, wie es mir erginge oder ob ich irgendwelche Probleme hätte. Der direkteste Kontakt, den Dad mit meiner Bildung hatte, war ein brutales Zusammentreffen mit meinem schwarzen Schreibstift.
Ich saß auf unserem alten Samtsofa und spitzte den Stift für die Schule. Gerade als ich beschloss, mit der rasierklingenscharfen Spitze zufrieden zu sein, kam Dad herein und machte Anstalten, sich auf meine Lehne zu setzen. Ohne nachzudenken, stellte ich meinen Stift mit der Spitze nach oben auf und beobachtete, wie sich der blaue Hintern senkte. Bei der Berührung sprang Dad schmerzerfüllt hoch und fluchte lauthals. Als er herumfuhr, erwartete ich, dass er mich schlagen würde. Zu meiner völligen Überraschung konnte er nur hervorstoßen: »Geh in dein Zimmer!«
»Warum, um alles in der Welt, hast du das getan, Sally?«, fragte Mum, als sie mich den Flur hinuntergeleitete, der vom Wohnzimmer in das Zimmer führte, das ich mit Jill und Billy teilte. Ich wusste es wirklich nicht. Neugierde über Ursache und Wirkung, nehme ich an.
Mir wurden gewisse Privilegien zugestanden, da ich nun in der Schule war. Das beste war, dass ich länger als die anderen aufbleiben und mit Dad zu Abend essen durfte. Er liebte Meeresfrüchte aller Art. Er hatte einen Kumpel mit einem Boot, und wenn es einen guten Fang gab, bekamen wir Langusten. Fleischige, weiße Langusten und Tomaten in Essig waren Dads Lieblingsessen. Zuerst konnte ich den Geschmack von Essig nicht ausstehen, aber nach und nach gewöhnte ich mich daran. Ich passte aber auf, dass ich nicht zu viel aß, denn ich wusste, wie sehr Dad Langusten mochte. Es war eine glückliche Zeit, Langusten und Tomaten, Dad und ich.
Ich wusste, dass einige von Dads Vorlieben eine Hinterlassenschaft des Krieges waren. Diese hier stammte aus der Zeit, als italienische Partisanen ihn vor den Deutschen beschützten. Ich wusste alles über den Krieg. Dad hatte mir von seinen Freunden Giuseppe und Maria und ihrer Tochter Edmea erzählt. Er hatte mir die Internationale auf Italienisch beigebracht. Ich fand mich sehr klug, dass ich in einer anderen Sprache singen konnte.
Wir hatten eine schöne Zeit. An manchen Abenden versteckte Dad Schokolade in den tiefen Taschen seines Overalls, und wir durften sie herausangeln. Manchmal lachte und scherzte er, und wenn er fluchte, wussten wir, dass er es gar nicht so meinte.
Dad schlitterte herein und heraus aus unserem Leben. Er war oft für einige Tage bis zu einem Monat im Krankenhaus. Die längste Zeit, die er ohne Unterbrechung zu Hause verbrachte, waren drei Monate; meist blieb er viel kürzer. Wenn er aus dem Krankenhaus zurückkam, war er zunächst so mit Medikamenten vollgepumpt, dass er uns kaum um sich haben mochte. Dann schien es ihm für eine Weile ganz gut zu gehen, aber bald verschlechterte sich sein Zustand rapide. Er blieb in seinem Zimmer, trank viel und konnte kaum mit uns reden. Und bald kam er wieder ins Krankenhaus.
Dad war Klempner von Beruf, aber oft hatte er keine Arbeit. Jedes Mal wenn er aus dem Krankenhaus kam, musste er versuchen, einen neuen Job zu finden. Mum hatte das einzige regelmäßige Einkommen mit ihren Halbtagsjobs, meist als Putzfrau.
Wenn Dad glücklich war, wünschte ich mir, dass er sich nie veränderte. Er sollte für immer so bleiben, aber davor stand immer der Krieg. Gerade wenn alles einmal ganz gut aussah, kam der Krieg dazwischen und überwältigte uns. Der Krieg hatte nie geendet für Dad. Er lebte Tag und Nacht mit ihm. Merkwürdig, denn er hatte mir erklärt, wie wichtig es war, frei zu sein, und ich wusste, dass Australien ein freies Land war, aber Dad war nicht frei. Es gab etwas in seinem Kopf, das einfach nicht wegging. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er, wenn er hätte aufstehen und vor sich selbst davonlaufen können, genau das getan hätte.
Einer der Gründe, warum ich so unglücklich in der Schule war, lag wahrscheinlich darin, dass ich mir Sorgen machte, was zu Hause passierte. Manchmal war ich so müde, dass ich nur noch den Kopf auf das Pult legen und schlafen wollte. Nachts schlief ich nur gut, wenn Dad im Krankenhaus war. Dann gab es keinen Streit.
Ich hielt Wache, wenn Mum und Dad sich stritten, ebenso wie Oma. Ich schloss ein geheimes Abkommen mit mir. Blieb ich wach, war ich meiner Eltern Schutzengel; schlief ich aber ein, so verlor ich meine Macht. Ich machte mir Sorgen, dass eines Nachts etwas Furchtbares geschehen könnte und ich nicht wach wäre, um es zu verhindern. Ich war davon überzeugt, dass nur ich zwischen ihnen stand, ich und ein schrecklicher Abgrund.
Während einiger Nächte versuchte ich herauszufinden, worüber sie stritten, aber nach einer Weile wurden ihre Stimmen ununterscheidbar und verschmolzen in ungezügelter Wut. Dann nahm ich Zuflucht zu meinem Kopfkissen. Ich zog es mir fest über den Kopf und versuchte, den Lärm zum Verstummen zu bringen.
Ich war dankbar, dass Dad Mum nicht verprügelte. An einem Abend jedoch stieß er sie so, dass sie hinfiel. Ich hatte lange aufbleiben dürfen und hockte auf dem Küchenboden und guckte um den Türpfosten, um zu sehen, was passiert war. Mum lag da wie ein Häufchen Elend. Ich fragte mich, warum sie nicht aufstand. Ich schaute zu Dad hoch; er war so groß, er schien gar kein Ende zu haben. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, blickte auf mich hinab und stöhnte. Unterdrückt fluchend drängte er sich grob an Oma vorbei und torkelte in sein Zimmer an der hinteren Veranda. Er tat mir leid. Er hasste sich selbst.
Oma eilte in die Diele und beugte sich zu Mum hinunter. Als sie ihr aufhalf, gab sie teilnahmsvolle Laute von sich. Keine Worte, nur Laute. Ich glaube, so erinnere ich mich an Oma in diesen frühen Jahren – lauernd, in der Erwartung, dass etwas passiert.
Ich saß noch eine Zeit lang auf dem Küchenboden, dann schlich ich leise in Mums Zimmer. Ich presste meinen Rücken gegen den kalten Putz der Wand und sah zu, wie Oma Mum mit großem Aufwand in ihre Decken einpackte. Omas Augen blickten ängstlich, und ihre volle Unterlippe war vorgeschoben. Das sah ich oft. Ansonsten zeigte sie nie viel Gefühl.
Ich versuchte mir Worte auszudenken, die alles wiedergutmachen würden, aber meine Lippen waren wie zusammengeklebt. Schließlich sagte Oma: »Wenn du nichts zu sagen hast, geh ins Bett!«, und ich flüchtete.