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John Grisham

Touchdown

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Karsten Singelmann

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
ANMERKUNG DES AUTORS
ANHANG

ANHANG

Ausgewählte Footballbegriffe

Audible

Kommando des Quarterback an seine Angriffsreihe, mit dem der ursprünglich geplante Spielzug noch einmal geändert wird.

Blitz

Überraschungsangriff der Verteidigung auf den Quarterback, um ihn entweder vor dem Wurf zu Boden zu reißen oder ihn beim Abspiel zu behindern.

Bootleg

Der Quarterback versteckt den Ball hinter seinen Beinen, um die Verteidigung mit einer vermeintlichen Ballübergabe zu täuschen. Dadurch gewinnt er Zeit für einen Passwurf, oder er läuft selbst mit dem Ball.

Catch

Fang eines Passes.

Conference

Im Basketball und Eishockey Begriffe für die Gruppenaufteilung der Mannschaften nach regionalen Kriterien, im Football gleichzeitig die Reminiszenz an die Zeit vor der Fusion der American Football League und der National Football League unter dem Banner der NFL (American and National Conference). In allen drei Sportarten spielen Teams im Lauf der regulären Saison nach unterschiedlichen Schemata gegen Vertreter der anderen Conference, müssen jedoch zusätzlich Begegnungen gegen Mannschaften der eigenen Conference austragen, mit denen zusammen sie eine Tabelle bei der Vergabe der Play-off-Plätze bilden.

Cornerback

Schnellster Spieler der Verteidigungsreihe. Neben der Aufgabe, den Wide Receiver zu decken, soll er bei den Standardsituationen Kick und Punt den Ball so weit wie möglich wieder zurücktragen.

Dive

Laufspielzug, bei dem der Ballträger durch eine frei geblockte Lücke in der Reihe des Gegners in der Feldmitte hindurchtaucht.

Down

Angriffsversuch. Eine Mannschaft hat vier Versuche, um jeweils mindestens zehn Yards vorzurücken. Üblicherweise wird, wenn es zum vierten Down kommt, gekickt. Entweder probiert die Mannschaft, die sich in Ballbesitz befindet, ein Field Goal, wenn sie weniger als fünfzig Yards von den Torstangen entfernt postiert ist. Andernfalls wird ein Spezialist aufs Feld gebracht, der den Punt ausführt, einen Schuss, der wie ein Torwartabschlag aussieht. Von dem Punkt aus, an dem der Ball gestoppt wird, greift die gegnerische Mannschaft an.

Dreipunktstand

Aufstellung an der Anspiellinie mit einer Hand am Boden.

Drive

Angriffsspielzug, der mit Erhalt des Ballbesitzrechts beginnt und mit Punkterfolg bzw. Ballverlust endet.

Field Goal

Drei-Punkte-Kick.

Fumble

Fallenlassen des Balls, meistens Ursache für den Turnover, den Verlust des Angriffsrechts.

Goalline

Die Torlinie, die Endzone und Spielfeld trennt. Ein Touchdown ist erzielt, wenn zumindest ein Teil des Balls unter der Kontrolle eines Spielers die Höhe der Goalline erreicht hat.

Hand-off

Ballübergabe an einen anderen Spieler. Meist übergibt der Quarterback an einen Runningback.

Hashmarks

Spielfeldmarkierungen, die das Spielfeld der Länge nach dritteln.

Hit

Gezielter, aggressiver Körperkontakt.

Huddle

Das Gedränge der Spieler vor einem Angriff, bei dem der Quarterback das Code-Wort für das im Training einstudierte Lauf-Pattern ausgibt.

Interception

Abfangen des Balls aus der Luft. Gibt der verteidigenden Mannschaft das Angriffsrecht.

Linebacker

Verteidiger, der den gegnerischen Quarterback attackiert, solange dieser in Ballbesitz ist, und ihn mit einem Sack zu Boden reißt.

Line of Scrimmage

Anspiellinie. Die gedachte Grenzlinie, an der sich die Mannschaften aufbauen. Die Yard-Markierungen dienen bei der Bestimmung der Linie als optische Hilfe.

Onside Kick

Versuch der kickenden Mannschaft, den Ball, der normalerweise bei einem möglichst weiten und hohen Schuss nach vorn dem Gegner überlassen wird, mithilfe eines kurzen, flachen und diagonalen Schusses selbst wieder einzufangen, um nach einem Touchdown in Ballbesitz zu bleiben. Wird in der Regel nur angewendet, wenn sich das Team im Rückstand befindet.

Pass Rush

Versuch der Verteidigung, den Quarterback bei einem Passversuch unter Druck zu setzen oder zu fassen.

Passroute

Festgelegte Laufwege der Passempfänger (Streak/Go/Fly: geradeaus, Post: geradeaus, dann nach innen zum Torpfosten, Corner: geradeaus, dann nach außen zur Spielfeldecke, Slant: geradeaus, dann mit einem Kick von circa sechzig Grad nach innen, In/Out: geradeaus, dann im rechten Winkel nach innen/außen, Curl/Hook: geradeaus, dann eine Drehung um circa hundertachtzig Grad).

Pitch

Der Quarterback wirft dem Runningback den Ball über eine größere Distanz zu.

Quarterback

Spielgestalter im Football, der den Ball vom Center durch die Beine zugereicht bekommt. Quarterbacks werfen den Ball ihren Mitspielern nicht einer spontanen Eingebung folgend zu, sondern führen vorausgeplante Spielzüge aus, die mit Code-Namen verschlüsselt und beim Training einstudiert werden. Viele dieser Patterns enthalten allerdings zwei bis drei Varianten, die dem Quarterback Entscheidungsspielräume gewähren, ob er den Ball einem Runningback zu einem sogenannten Rush aushändigt oder ihn mit einem Pass über die gegnerische Verteidigungsreihe einem Wide Receiver zuwirft.

Quarterbacks werden von Offensive Linemen vor dem Ansturm der gegnerischen Verteidigung geschützt und haben dadurch einige Sekunden Zeit, vor dem Wurf die sich entwickelnde Angriffssituation zu analysieren. Wird der Schutzring, genannt Pocket, überrannt, ist ein Quarterback gezwungen, selbst mit dem Ball zu laufen.

Quarterback-Sneak

Spielzug, bei dem der Quarterback, um einen Raumgewinn zu erzielen, nach der Ballübergabe selbst nach vorn läuft.

Return

Zurücktragen des Balls nach einem Punt oder einem Kick-off.

Runningback (auch Halfback oder Fullback)

Spieler mit der Aufgabe, den Ball durch die Verteidigungsreihe hindurchzutragen. Die Position wird von kräftigen, aber kleinen Spielern besetzt, die wendig genug sind, um zwischen den riesigen Linebackern und Defensive Tackles wie durch Slalomstangen zu laufen.

Sack

Erfolgreiche Attacke der Verteidigung (oft als sogenannter Blitz) auf den Quarterback, der dabei mit dem Ball im Arm zu Boden gerissen wird.

Safety

Footballbegriff mit unterschiedlichen Bedeutungen:

1. Wird ein Spieler in seiner eigenen Endzone zu Boden gebracht und gestoppt, so bekommt die gegnerische Mannschaft zwei Punkte gutgeschrieben.

2. Position des letzten Mannes in der Verteidigungsformation (je nach Aufgabe Free Safety oder Strong Safety genannt).

Scramble

Versuch des Quarterback, die von den eigenen Linemen geschützte Zone (Pocket) zu verlassen und aus einer anderen Position den Ball nach vorn zu passen oder selbst mit einem Run Raum zu gewinnen.

Screen Pass

Pass, der parallel zur Line of Scrimmage geworfen wird.

Secondary

Rückraum. Der Raum bzw. die Spieler hinter der Angriffslinie.

Shotgun

Eine Angriffsformation, bei der der Quarterback einige Meter hinter dem Center steht, um eine bessere Ausgangsposition für einen Passwurf zu erhalten.

Snap

Ballübergabe des Centers durch die Beine an den hinter ihm postierten Quarterback.

Spielfeld

© Heinrich Hofer, Wien

Strong Side

Seite der Angriffsformation, auf der der Tight End steht. Die andere Seite ist dementsprechend die Weak Side.

Super Bowl

Das Endspiel der National Football League um die Vince Lombardi Trophy. Bowl ist ein traditioneller Footballbegriff. Stadien heißen Bowl (zum Beipiel Yale Bowl in New Haven/Connecticut). Endspiele heißen Bowl (zum Beispiel Rose Bowl, Cotton Bowl, Citrus Bowl im College-Football). Ursprünglich entstand der Super Bowl nach dem Vorbild der World Series im Baseball als Versuch, die Meister zweier rivalisierender Ligen in einer Finalbegegnung gegeneinander antreten zu lassen. Nach der Fusion der National Football League und der American Football League blieb die Idee bestehen. Nun treffen jedes Jahr im Januar unter dem Dach der NFL die Vertreter der American und der National Conference aufeinander.

Sweep

Laufspielzug, bei dem der Ballträger versucht, außen um die Verteidigungsreihe herum nach vorn zu laufen.

Third and twelve

Vollständig: Third down and twelve yards to go. Der dritte Versuch, den Ball zehn Yards nach vorn zu bewegen, aber da bei einem der beiden vorigen Versuche ein Raumverlust erlitten wurde, bleiben noch zwölf Yards bis zu einem neuen First Down zu überbrücken. Third and Goal: Der Ball liegt kurz vor der Goalline. Das nächste First Down wäre automatisch ein Touchdown. Third and long: Beim dritten Versuch muss der Ball noch weit nach vorn getragen werden, vermutlich mehr als zehn Yards. (Andere Zahlenvarianten erklären sich entsprechend.)

Tight End

Spieler der Angriffsmannschaft, der zum Blocken oder als Passempfänger eingesetzt wird.

Touchdown

Spielziel eines Angriffs, das erreicht wird, sobald der Ball in die Endzone getragen wird (der Ball muss nicht den Boden berühren). Der Touchdown zählt sechs Punkte und gestattet dem Angriffsteam einen Kick von der Zwanzig-Yard-Linie für einen Extrapunkt (Point After).

Wide Receiver

Der schnellste Spieler auf dem Platz, dessen Aufgabe es ist, weite Pässe des Quarterback zu fangen und anschließend mit dem Ball davonzusprinten. Ein solches Angriffsmanöver sieht spektakulär aus und bringt effektiven Raumgewinn, birgt aber ein hohes Risiko, da der Ball von einem Verteidiger abgefangen werden (Interception) oder dem Wide Receiver aus den Händen gleiten kann (Fumble).

 

 

Wer mehr über das Spiel und seine Regeln erfahren möchte, dem sei ein Besuch bei

www.home.pages.at/dragon85/index.html

empfohlen.

ANMERKUNG DES AUTORS

Als ich vor einigen Jahren Recherchen für ein anderes Buch unternahm, stolperte ich über den American Football in Italien. Es gibt dort eine richtige NFL, mit richtigen Mannschaften, richtigen Spielern und sogar einem Super Bowl. Daher ist der Handlungsrahmen dieses Buches der Wirklichkeit durchaus getreu nachgezeichnet, obgleich ich, wie üblich, nicht gezögert habe, mir die eine oder andere Freiheit zu nehmen, wenn dadurch zusätzliche Recherchen vermieden werden konnten.

Die Panthers Parma sind sehr real. Ich war dabei, als sie im Stadio Lanfranchi bei strömendem Regen gegen die Ancona Dolphins spielten. Ihr Coach ist Andrew Papoccia (Illinois State), und seine Unterstützung war von unschätzbarem Wert. Ihr Quarterback Mike Souza (Illinois State), Wide Receiver Craig McIntyre (Eastern Washington) und Defense Coordinator Dan Milsten (University of Washington) waren mir ebenfalls eine große Hilfe. Soweit es um Football ging, haben diese Amerikaner alle meine Fragen beantwortet. Soweit es um Essen und Wein ging, waren sie sogar mit noch größerer Begeisterung bei der Sache.

Besitzer der Panthers ist Ivano Tira, ein warmherziger Mensch, der dafür sorgte, dass ich meinen kurzen Aufenthalt in Parma in vollen Zügen genießen konnte. David Montaresi hat mich in dieser reizenden Stadt herumgeführt. Paolo Borchini und Ugo Bonvicini, zwei ehemalige Spieler, sind an der Organisation des Spielbetriebs beteiligt. Die Panthers sind ein Haufen von zähen Italienern, die den Sport aus Freude an der Sache betreiben – und für die Pizza danach. Eines Abends luden sie mich nach dem Training ins Polipo ein, und ich habe gelacht, bis mir Tränen in den Augen standen.

Alle Figuren, die in diesem Buch auftauchen, sind jedoch erfunden. Ich habe große Anstrengungen unternommen, mich von wirklichen Personen fernzuhalten. Etwaige Ähnlichkeiten sind rein zufällig.

Mein Dank gilt auch Bea Zambelloni, Luca Patouelli, Ed Pricolo, Llana Young Smith und Bryce Miller. Ein besonderer Dank geht an Bürgermeister Elvio Ubaldi für die Opernkarten. Ich war Ehrengast in seiner Loge und durfte tatsächlich den Othello am Teatro Regio erleben.

 

John Grisham
27. Juni 2007

1

Es war ein Krankenhausbett, so viel schien klar, wenn auch Gewissheiten momentan etwas Flüchtiges an sich hatten. Es war schmal und hart, und an den Seiten, als würden sie Wache halten, gab es glänzende Metallgeländer, die ein Entkommen unmöglich machten. Die Laken waren schlicht und sehr weiß. Hygienisch einwandfrei. Der Raum war abgedunkelt, doch das Sonnenlicht versuchte, durch die Jalousien zu schlüpfen, die vor dem Fenster hingen.

Er machte die Augen wieder zu, selbst das war schon schmerzhaft. Dann öffnete er sie erneut, und es gelang ihm, die Lider für eine Weile offen zu halten und sich auf seine stille, in einem leichten Nebel liegende kleine Welt zu konzentrieren. Er lag auf dem Rücken, von stramm unter die Matratze gestopften Laken niedergehalten. Zur Linken bemerkte er einen Schlauch, der zu seiner Hand führte und danach irgendwo hinter ihm verschwand. Von fern, wohl aus dem Flur, hörte er eine Stimme. Dann machte er den Fehler, sich bewegen zu wollen, nur den Kopf ein bisschen anders zu betten, doch es ging nicht. Stechender, heißer Schmerz schoss ihm durch Schädel und Nacken, und er stöhnte laut auf.

»Rick. Bist du wach?«

Die Stimme klang vertraut, gleich danach erschien ein Gesicht. Arnie atmete auf ihn herab.

»Arnie?«, sagte er mit schwacher, krächzender Stimme, dann schluckte er.

»Ich bin’s, Rick, Gott sei Dank, du bist wach.«

Arnie, der Agent, in entscheidenden Momenten immer zur Stelle.

»Wo bin ich, Arnie?«

»Du bist im Krankenhaus, Rick.«

»Das hab ich kapiert. Aber wieso?«

»Wann bist du aufgewacht?« Arnie fand einen Schalter, und eine Lampe neben dem Bett leuchtete auf.

»Ich weiß nicht. Vor ein paar Minuten.«

»Wie fühlst du dich?«

»Als hätte mir jemand den Schädel zertrümmert.«

»Nahe dran. Wird schon wieder, vertrau mir.«

Vertrau mir, vertrau mir. Wie oft hatte er Arnie schon um Vertrauen bitten gehört? Tatsache war, dass er Arnie noch nie ganz vertraut hatte, und es gab keinen plausiblen Grund, ausgerechnet jetzt damit anzufangen. Was wusste Arnie über traumatische Kopfverletzungen oder andere tödliche Wunden, die einer abbekommen hatte?

Rick machte die Augen wieder zu und atmete tief durch. »Was ist passiert?«, fragte er leise.

Arnie zögerte und strich mit der flachen Hand über seinen haarlosen Kopf. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Vier Uhr nachmittags, sein Schützling war also fast vierundzwanzig Stunden bewusstlos gewesen. Nicht lang genug, dachte er, leider.

»Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«, fragte Arnie, indem er beide Ellbogen auf das Bettgeländer stützte und sich vorbeugte.

Nach einigem Nachdenken brachte Rick heraus: »Ich erinnere mich, wie Bannister auf mich zustürzt.«

Arnie schmatzte mit den Lippen. »Nein, Rick. Das war die zweite Gehirnerschütterung, vor zwei Jahren in Dallas, als du bei den Cowboys warst.« Rick stöhnte auf, und auch für Arnie war es keine angenehme Erinnerung, weil sein Schützling damals an der Seitenlinie gehockt und ein Cheerleader-Girl beäugt hatte, als sich das Spielgeschehen urplötzlich zu ihm hin verlagerte und er, ohne Helm, von mindestens einer Tonne fliegender Körper begraben wurde.

Dallas entließ ihn zwei Wochen später und verpflichtete einen anderen dritten Quarterback.

»Letztes Jahr warst du in Seattle, Rick, und jetzt bist du in Cleveland, bei den Browns, erinnerst du dich?«

Rick erinnerte sich und stöhnte noch ein bisschen lauter. »Was für ein Tag ist heute?«, fragte er, die Augen wieder geöffnet.

»Montag. Das Spiel war gestern. Hast du noch irgendeine Erinnerung dran?« Wenn du Glück hast, nicht, hätte Arnie gern ergänzt. »Ich hol mal eine Krankenschwester. Die haben schon gewartet.«

»Noch nicht, Arnie. Red mit mir. Was ist passiert?«

»Du hast einen Pass geworfen, dann wurdest du in die Zange genommen. Purcell ist einen Weak Side Blitz gelaufen und hat dir den Kopf abgerissen. Du hast ihn überhaupt nicht kommen sehen.«

»Warum war ich im Spiel?«

Das war nun in der Tat eine ausgezeichnete Frage, eine, die voller Erbitterung in jeder Sportsendung in Cleveland und dem oberen Mittelwesten gestellt wurde. Warum war er im Spiel? Warum gehörte er zum Team? Wo zum Teufel kam er überhaupt her?

»Lass uns später drüber reden«, sagte Arnie, und Rick war zu schwach, um zu widersprechen. Zögernd, widerwillig fing sein verwundetes Gehirn an, sich vorsichtig wieder zu regen, sich aus dem Koma zu schütteln, die Arbeit aufzunehmen.

Die Browns. Das Browns Stadium, an einem sehr kalten Sonntagnachmittag vor einer Rekordzuschauermenge. Die Play-offs, nein, mehr noch – das Endspiel um die AFC-Meisterschaft.

Der Boden war gefroren, hart wie Beton und ebenso kalt.

Eine Krankenschwester war im Zimmer, und Arnie verkündete: »Ich glaube, er hat sich berappelt.«

»Großartig«, sagte die Schwester ohne Begeisterung. »Ich hol dann mal einen Arzt.« Mit noch weniger Enthusiasmus.

Rick blickte ihr nach, ohne den Kopf zu bewegen. Arnie ließ die Fingerknöchel knacken, er saß irgendwie auf Kohlen. »Hör mal, Rick, ich muss los.«

»Klar, Arnie. Danke.«

»Kein Problem. Hör zu, es gibt keine nette Art, es dir beizubringen, also bin ich ganz offen. Heute Morgen haben die Browns angerufen – das heißt, Wacker hat angerufen –, und, na ja, dein Vertrag wird nicht verlängert.« Es war schon fast ein alljährlich wiederkehrendes Ritual, diese Entlassungen zum Ende der Saison.

»Tut mir leid«, sagte Arnie, aber nur, weil er es sagen musste.

»Ruf die anderen Teams an«, sagte Rick, und das weiß Gott nicht zum ersten Mal.

»Muss ich offensichtlich gar nicht. Die rufen schon bei mir an.«

»Das ist doch toll.«

»Kann man so nicht sagen. Sie rufen an, um mich zu warnen, ich soll bloß nicht sie anrufen. Ich fürchte, das könnte das Ende der Fahnenstange sein, mein Junge.«

Kein Zweifel, dass dies das Ende der Fahnenstange war, aber Arnie fand einfach nicht den Mut zur Deutlichkeit. Vielleicht morgen. Acht Teams in sechs Jahren. Einzig die Toronto Argonauts hatten sich getraut, ihn für eine zweite Saison zu verpflichten. Jedes Team brauchte einen Ersatzmann für seinen Ersatzquarterback, und Rick war genau der Richtige für diese Rolle. Die Probleme freilich begannen, wenn er sich aufs Spielfeld begab.

»Muss mich sputen«, sagte Arnie mit erneutem Blick auf seine Uhr. »Und hör mal, in deinem eigenen Interesse, lass den Fernseher aus. Es ist brutal, vor allem bei ESPN.« Er tätschelte Ricks Knie und eilte aus dem Zimmer. Vor der Tür saßen auf Klappstühlen zwei massige Wachleute, die sich mühsam wach zu halten versuchten.

Arnie blieb am Schwesternzimmer stehen und sprach mit dem Arzt, der sich schließlich auf den Weg machte, durch den Flur, an den Sicherheitsleuten vorbei in Ricks Zimmer. Seinem Umgang mit dem Kranken fehlte jede Wärme – eine rasche Überprüfung der Grundfunktionen ohne viel Unterhaltung. Neurologische Untersuchungen würden folgen. Eine stinknormale Gehirnerschütterung eben, war das nicht schon die dritte?

»Glaub ja«, sagte Rick.

»Schon mal dran gedacht, sich einen anderen Job zu suchen?«, fragte der Arzt.

»Nein.«

Solltest du aber vielleicht, dachte der Arzt, und zwar nicht nur wegen des angeschlagenen Gehirns. Drei Interceptions in elf Minuten sollten eine klare Ansage sein, dass Football nicht deine Bestimmung ist. Zwei Krankenschwestern erschienen, um bei den Untersuchungen zu assistieren. Keine von beiden sagte auch nur ein Wort zu dem Patienten, obwohl der ein unverheirateter Profi-Sportler von bemerkenswert gutem Aussehen und mit durchtrainiertem Körper war. Doch das war ihnen vollkommen egal, ausgerechnet jetzt, wo er ihren Zuspruch gut hätte gebrauchen können.

Sobald er wieder allein war, begann Rick, mit aller Vorsicht, nach der Fernbedienung zu suchen. In der Zimmerecke hing ein großer Fernseher an der Wand. Rick hatte vor, direkt auf ESPN zu schalten und es hinter sich zu bringen. Jede Bewegung tat weh, und zwar nicht nur an Kopf und Nacken. Im unteren Rückenbereich plagte ihn etwas, das sich wie eine frische Stichwunde anfühlte. In seinem linken Ellbogen, also dem, den er nicht zum Werfen benötigte, tobte ein pochender Schmerz.

In die Zange genommen? Er fühlte sich wie unter einen Zementlaster geraten.

Eine der Krankenschwestern war wieder da, in den Händen ein Tablett mit Medikamenten. »Wo ist die Fernbedienung?« , fragte Rick.

»Äh, der Fernseher ist kaputt.«

»Arnie hat den Stecker rausgezogen, stimmt’s?«

»Welchen Stecker?«

»Vom Fernseher.«

»Wer ist Arnie?«, fragte sie, während sie mit einer nicht ganz kleinen Nadel hantierte.

»Was ist das?«, fragte Rick und vergaß kurzfristig Arnie.

»Vicodin. Davon können Sie gut schlafen.«

»Ich hab genug vom Schlafen.«

»Ärztliche Anweisung, okay? Sie brauchen Ruhe, sehr viel Ruhe.« Sie leitete das Vicodin in seinen Tropf und beobachtete eine Weile die klare Flüssigkeit.

»Sind Sie Browns-Fan?«, fragte Rick.

»Mein Mann ist einer.«

»War er gestern beim Spiel?«

»Ja.«

»Wie schlimm war es denn?«

»Das wollen Sie sicher nicht wissen.«

Als er aufwachte, war Arnie wieder da, saß in einem Sessel neben dem Bett und las die Cleveland Post. Unten auf der Titelseite konnte Rick gerade noch die Schlagzeile »Fans stürmen Krankenhaus« entziffern.

»Was!«, sagte Rick so kraftvoll wie möglich.

Arnie riss die Zeitung nach unten und sprang auf. »Alles in Ordnung, mein Junge?«

»Wunderbar, Arnie. Was für ein Tag ist heute?«

»Dienstag, früher Dienstagmorgen. Wie fühlst du dich, Junge?«

»Gib mir die Zeitung.«

»Warum?«

»Was läuft da, Arnie?«

»Was genau willst du wissen?«

»Alles.«

»Hast du Fernsehen geguckt?«

»Nein. Du hast ja den Stecker rausgezogen. Red mit mir, Arnie.«

Arnie ließ seine Fingerknöchel wieder knacken, dann ging er langsam zum Fenster, wo er die Jalousie ein bisschen hochzog. Er spähte hindurch, als lauere Unheil auf der anderen Seite. »Gestern sind hier ein paar Hooligans aufgetaucht und haben eine Szene gemacht. Die Cops sind aber gut mit ihnen fertiggeworden, haben ungefähr ein Dutzend von ihnen festgenommen. War nur ein kleiner Haufen Schläger. Browns-Fans.«

»Wie viele?«

»In der Zeitung steht, ungefähr zwanzig. Waren eben betrunken.«

»Und warum sind sie hergekommen, Arnie? Wir sind unter uns – nur du und ich, Agent und Spieler. Die Tür ist zu. Bitte, füll meine Lücken auf.«

»Sie hatten rausgefunden, dass du hier bist. Eine Menge Leute würden dich derzeit gern aufs Korn nehmen. Es gab hundert Morddrohungen. Die Leute sind sauer. Sie bedrohen sogar mich.« Arnie lehnte sich gegen die Wand, nicht ohne einen Hauch von Selbstgefälligkeit, dass sein Leben nun immerhin wert war, bedroht zu werden. »Du kannst dich immer noch nicht erinnern?«, fragte er.

»Nein.«

»Die Browns liegen elf Minuten vor Schluss mit siebzehn zu null gegen die Broncos in Führung. Und die Null beschreibt nicht mal annähernd, was für ein Gemetzel da läuft. Nach drei Vierteln haben die Broncos insgesamt einundachtzig Yards Raumgewinn erzielt, dabei drei, ja, sage und schreibe drei First Downs gehabt. Na, kommt es langsam?«

»Nein.«

»Ben Marroon spielt Quarterback, weil Nagel sich im ersten Viertel eine schwere Oberschenkelzerrung geholt hat.«

»Daran erinnere ich mich jetzt.«

»Elf Minuten vor Schluss wird Marroon von den Füßen geholt, als der Ball schon weg ist. Er wird vom Platz getragen. Niemand macht sich Sorgen, denn die Defense der Browns könnte an diesem Tag sogar General Patton und seine Panzer aufhalten. Du kommst aufs Feld, beim Third and twelve, du wirfst einen wunderbaren Pass auf Sweeney, der aber leider für die Broncos spielt, und vierzig Yards später ist er in der Endzone. Daran irgendeine Erinnerung?«

Rick schloss langsam die Augen und sagte: »Nein.«

»Überanstreng dich nicht.«

»Beide Teams punten, dann verlieren die Broncos den Ball. Sechs Minuten noch, Third and eight, du änderst den angesagten Spielzug und willst auf Bryce werfen, der einen Hook läuft, doch dein Pass kommt zu hoch und landet bei jemandem im weißen Trikot, mir fällt der Name nicht ein, aber rennen kann er jedenfalls, bis ganz ins Ziel. Siebzehn zu vierzehn. Langsam ist eine gewisse Anspannung zu spüren bei den mehr als Achtzigtausend. Vor ein paar Minuten haben sie schon gefeiert. Die erste Super-Bowl-Teilnahme überhaupt und so weiter. Die Broncos machen den Kick-off, die Browns tragen den Ball dreimal, weil Cooley jetzt kein Passspiel mehr ansagt, und also punten sie beim vierten Versuch. Beziehungsweise versuchen sie es. Der Ball geht verloren, die Broncos erobern ihn auf der Vierunddreißig -Yard-Linie der Browns, was aber kein Problem darstellt, weil die Defense der Browns, die zu diesem Zeitpunkt stinksauer ist, den Gegner innerhalb von drei Spielzügen um fünfzehn Yards zurückdrängt, aus Field-Goal-Entfernung heraus. Die Broncos punten, du übernimmst auf der eigenen Sechs-Yard-Linie und schaffst es, den Ball vier Minuten lang immer in die Mitte der Verteidigungslinie zu stopfen. Der Vormarsch kommt an der Mittellinie ins Stocken, Third and ten, noch vierzig Sekunden zu spielen. Die Browns haben Angst zu passen und noch mehr Angst zu punten. Ich weiß nicht, was für eine Ansage Cooley macht, aber du änderst wieder den Plan und feuerst eine Rakete zur rechten Seitenlinie, wo Bryce völlig frei steht. Ein präziser Pass.«

Rick versuchte sich aufzusetzen und vergaß für einen Moment seine Schmerzen. »Ich kann mich immer noch nicht erinnern.«

»Ein präziser Pass, aber viel zu hart. Der Ball prallt von Bryce’ Brust ab, Goodson schnappt ihn sich und galoppiert ab ins gelobte Land. Die Browns verlieren einundzwanzig zu siebzehn. Du liegst am Boden, wie in zwei Teile zersägt. Sie legen dich auf eine Bahre, und während sie dich vom Feld rollen, buht die eine Hälfte der Zuschauer und die andere Hälfte jubelt wild. Ganz schöner Lärm, so was hab ich noch nie gehört. Ein paar Betrunkene springen von den Rängen und stürmen auf die Bahre zu – sie hätten dich umgebracht – , aber die Ordner gehen dazwischen. Es folgt eine nette kleine Schlägerei, auch von der ist in sämtlichen Talkshows die Rede.«

Rick lag in sich zusammengesackt ganz tief im Bett, tiefer als je zuvor, hatte die Augen geschlossen und atmete ziemlich angestrengt. Das Kopfweh war wieder da, ebenso die stechenden Schmerzen im Nacken und an der Wirbelsäule entlang. Wo waren die Medikamente?

»Tut mir leid, mein Junge«, sagte Arnie. Das Zimmer wirkte im Dunkeln netter, also machte Arnie die Jalousie wieder ganz runter und ging zu seinem Sessel und seiner Zeitung zurück. Sein Schützling war allem Anschein nach tot.

Die Ärzte wollten ihn entlassen, doch Arnie hatte mit Entschiedenheit dargelegt, dass der Patient noch ein paar weitere Tage der Ruhe und des Schutzes benötige. Die Browns zahlten die Wachleute, und offenbar waren sie darüber nicht sehr glücklich. Das Team übernahm auch die ärztlichen Kosten, und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie sich deswegen beschwerten.

Auch Arnie hatte langsam genug. Ricks Karriere, wenn man sie denn so nennen konnte, war vorbei. Arnie bekam fünf Prozent, und fünf Prozent von Ricks Gehalt reichten nicht mal, um die Kosten zu decken. »Bist du wach, Rick?«

»Ja«, sagte der mit geschlossenen Augen.

»Hör mir mal zu, okay?«

»Ich hör zu.«

»Das Schwerste in meinem Job ist, einem Spieler zu sagen, dass es Zeit ist, aufzuhören. Du hast dein ganzes Leben Football gespielt, es ist alles, was du kennst, alles, wovon du träumst. Niemand hört gern auf. Aber Rick, alter Freund, es ist wirklich Zeit, Schluss zu machen. Es gibt keine Alternative.«

»Ich bin achtundzwanzig, Arnie«, sagte Rick mit geöffneten Augen. Sehr traurigen Augen. »Was soll ich deiner Meinung nach machen?«

»Viele von den Jungs werden Trainer. Oder Makler. Du warst ein helles Köpfchen – hast deinen Abschluss gemacht.«

»Meinen Abschluss hab ich in Sport, Arnie. Das heißt, ich könnte einen Job kriegen, wo ich Sechstklässlern für Vierzigtausend im Jahr Volleyballspielen beibringe. Da hab ich keinen Bock drauf.«

Arnie erhob sich und ging, wie tief in Gedanken versunken, um das Ende des Betts. »Fahr doch erst mal nach Hause, ruh dich ein bisschen aus und denk drüber nach.«

»Nach Hause? Wo soll das sein? Ich hab an so vielen verschiedenen Orten gewohnt.«

»Zu Hause ist Iowa, Rick. Dort lieben sie dich noch immer.« Und wirklich lieben tun sie dich in Denver, überlegte Arnie, behielt den Gedanken aber klugerweise für sich.

Die Vorstellung, auf den Straßen von Davenport in Iowa gesehen zu werden, jagte Rick einen Schrecken ein, er gab ein leises Stöhnen von sich. Die Stadt war vermutlich tief gedemütigt ob der Leistung ihres Sohnes. Aua. Er dachte an seine armen Eltern und schloss die Augen wieder.

Arnie sah auf seine Uhr, dann bemerkte er – warum auch immer erst jetzt –, dass sich keine Karten mit Genesungswünschen und keine Blumen im Zimmer befanden. Die Schwestern hatten ihm erzählt, dass keine Freunde zu Besuch gekommen seien, niemand aus der Familie, keine Mannschaftskameraden, niemand, der auch nur entfernt etwas mit den Cleveland Browns zu tun hatte. »Ich muss mich beeilen, mein Junge. Ich schau morgen noch mal vorbei.«

Im Hinausgehen warf er beiläufig die Zeitung auf Ricks Bett. Sobald die Tür hinter ihm zuging, schnappte sich Rick das Blatt und wünschte sich bald, er hätte es nicht getan. Nach Polizeischätzung hatte eine Menge von fünfzig Personen vor dem Krankenhaus eine wüste Demonstration veranstaltet. Richtig unerfreulich wurde die Angelegenheit, als ein Fernsehteam aufkreuzte und zu filmen begann. Ein Fenster wurde eingeworfen, und einige der stärker betrunkenen Fans stürmten den Empfang der Notaufnahme, vermutlich auf der Suche nach Rick Dockery. Acht Verhaftungen gab es. Ein großes Foto – Titelseite unterhalb der Falte – zeigte die Menge unmittelbar vor den Festnahmen. Zwei derb gemalte Plakate waren deutlich zu lesen: »Zieht jetzt die Konsequenzen!« und »Legalisiert Euthanasie«.

Es wurde noch schlimmer. Die Post beschäftigte einen berüchtigten Sportjournalisten namens Charles Cray, einen fiesen Schreiberling, dessen Spezialität im Frontalangriff lag. Da er immerhin raffiniert genug vorging, um glaubhaft zu wirken, wurde Cray von vielen gelesen, denn er widmete sich den Fehltritten und Schwächen von Profi-Sportlern, die Millionen verdienten, aber durchaus nicht perfekt waren, mit Wonne. Er war Experte für alles und ließ sich keine Gelegenheit entgehen, eine Attacke zu reiten, und sei sie noch so billig. Seine Dienstagskolummne – auf der ersten Seite des Sportteils – begann mit der Schlagzeile »Kann Dockery die Rangliste der größten Esel aller Zeiten toppen?« .

Wer Cray kannte, hatte keine Zweifel, dass Rick Dockery diese Rangliste toppen würde.

Die Kolumne, wie immer gut recherchiert und in beißendem Stil geschrieben, rekapitulierte die nach Crays Meinung größten individuellen Schnitzer, Missgeschicke und Pleiten in der Geschichte des Sports. Da war Bill Buckners fataler Fehlgriff während der Baseball World Series 1986, Jackie Smiths fallen gelassener Touchdown-Pass im dreizehnten Super Bowl und so weiter und so fort.

All dies aber, so rief, ja schrie Cray seinen Lesern zu, waren lediglich Einzelaktionen gewesen.

Mr. Dockery dagegen schaffte drei – sage und schreibe drei! – verheerende Pässe in nur elf Minuten.

Daher sei Rick Dockery ganz klar der unumstritten größte Esel in der Geschichte des Profi-Sports. Das Urteil war eindeutig, und wer daran etwas auszusetzen habe, solle sich bei Cray melden.

Rick warf die Zeitung gegen die Wand und rief nach neuen Tabletten. Im Dunkeln, allein, bei geschlossener Tür, wartete er darauf, dass das Medikament seine wundersame Wirkung entfaltete, ihn in Bewusstlosigkeit fallen ließ und dann hoffentlich für immer fortholte.

Er sank tief ins Bett zurück, zog sich die Decke über den Kopf und fing an zu weinen.

2

Es schneite, und Arnie hatte die Nase voll von Cleveland. Er war am Flughafen, wartete auf einen Flug nach Las Vegas, seinem Zuhause, und verkürzte sich die Wartezeit, indem er wider besseres Wissen einen eher untergeordneten Vizepräsidenten der Arizona Cardinals anrief.

Rick Dockery nicht mitgezählt, vertrat Arnie momentan sieben Spieler in der NFL und vier in Kanada. Er war, wie er sich mitunter gezwungen sah einzugestehen, ein Agent der mittleren Preisklasse, doch natürlich stand ihm der Sinn nach Höherem. Telefongespräche für Rick Dockery zu führen war seinen Ambitionen nicht unbedingt förderlich. Zwar war Rick zu diesem trostlosen Zeitpunkt vermutlich der Spieler im Land, über den am meisten geredet wurde, doch es war eben nicht das Gerede, das Arnie gebrauchen konnte. Der Vizepräsident war höflich, aber kurz angebunden und konnte es gar nicht erwarten, den Hörer wieder aufzulegen.

Arnie ging zu einer Bar, holte sich etwas zu trinken und suchte sich einen Platz weit weg von allen Fernsehapparaten, denn das einzige Thema, das Cleveland nach wie vor in Atem hielt, waren die drei Interceptions gegen einen Quarterback, von dem niemand gewusst hatte, dass er überhaupt zum Team gehörte. Die Browns waren mit einer eher schwankenden Offense, aber einer knallharten Defense durch die Saison gezogen, einer Defense, die alle Rekorde brach, weil sie so wenig Raumgewinn und Punkte für den Gegner zuließ. Sie verloren nur ein Spiel, und mit jedem Sieg wuchs die Begeisterung der seit Langem nach dem Super Bowl hungernden Stadt für ihre einstmals liebenswerten Verlierer. Plötzlich, innerhalb einer kurzen Spielzeit, waren die Browns keine Verlierer mehr, sondern Schlächter.

Hätten sie das Spiel am Sonntag gewonnen, wären die Minnesota Vikings der Gegner im Super Bowl gewesen, ein Team, das sie erst im November vernichtend geschlagen hatten.

Die ganze Stadt hatte bereits den süßen Geschmack der Meisterschaft auf der Zunge.

Aber dann war alles in elf schrecklichen Minuten zunichte.

Arnie bestellte noch einen Drink. Zwei Geschäftsleute am Tisch nebenan gaben sich die Kante und feierten den Untergang der Browns. Sie kamen aus Detroit.

Die heißeste Story des Tages war die Entlassung von Clyde Wacker, dem geschäftsführenden Direktor, der noch am letzten Samstag als Genie gefeiert worden war, nun aber den perfekten Sündenbock abgab. Irgendjemand musste gefeuert werden, und Rick Dockery reichte nicht. Als sich schließlich herausstellte, dass es Wacker war, der Dockery im letzten Oktober als einen anderswo auf die Verkaufsliste gesetzten Spieler verpflichtet hatte, entließ ihn der Eigentümer. Es war eine öffentliche Hinrichtung  – große Pressekonferenz, jede Menge Stirnrunzeln und die Versicherung, man werde in Zukunft ein strengeres Regiment führen etc. Die Browns würden wiederkommen!

Arnie hatte Rick während dessen Abschlussjahr in Iowa kennengelernt, am Ende einer Saison, die vielversprechend begonnen hatte, dann aber vergleichsweise kläglich in einem drittklassigen Bowl Game versandete. In den letzten beiden Spielzeiten seiner College-Zeit war Rick Stammquarterback und er schien der richtige Mann zu sein für eine offene, flexible Form des Angriffsspiels, wie man es im College-Football so selten sieht. Mitunter war er brillant – konnte die Verteidigungsformationen lesen, improvisierte kaltblütig, warf den Ball mit unglaublicher Geschwindigkeit. Sein Wurfarm war erstaunlich, zweifellos der beste von allen Spielern, die in den anstehenden Draft gingen. Er konnte weit und hart werfen, blitzschnell verließ der Ball die Hand. Aber er war zu unberechenbar, nicht wirklich verlässlich, und als Buffalo ihn erst in der letzten Runde verpflichtete, hätte das ein deutliches Zeichen sein sollen, lieber einen Master oder eine Börsenmaklerlizenz anzustreben.

Stattdessen ging er nach Toronto, um dort zwei elende Spielzeiten zu bestreiten, danach begann er sein unstetes Wanderleben durch die NFL. Trotz seines tollen Arms schaffte es Rick kaum, in einen Profi-Kader zu kommen. Allerdings braucht nun mal jedes Team einen dritten Quarterback. Beim Probetraining, und davon hatte er zahllose absolviert, konnte er die Trainer oft mit seinen Würfen blenden. Arnie hatte mal in Kansas City zugesehen, wie Rick den Football achtzig Yards weit feuerte und wenige Minuten später mit einem Wurf von fast hundertfünfzig Stundenkilometern gemessen wurde.

Aber Arnie wusste etwas, das die meisten Coachs inzwischen immerhin ahnten. Für einen Footballprofi hatte Rick relativ große Angst vor körperlichen Zusammenstößen. Nicht vor dem beiläufigen Kontakt, dem schnellen und harmlosen Tackle im Gedränge. Rick fürchtete, mit gutem Grund, den Ansturm und die von hinten oder seitlich mit voller Wucht angesetzten Tackles der Linebacker.

In jedem Spiel gibt es ein oder zwei Momente, wo der Quarterback den Passempfänger frei stehen sieht und einen Sekundenbruchteil Zeit hat, den Ball zu werfen, während sich ein nicht geblockter Hundertfünfzig-Kilo-Mann mit Gebrüll auf ihn stürzt. Der Quarterback hat die Wahl. Er kann die Zähne zusammenbeißen, sich und seinen Körper opfern, das Team an die erste Stelle setzen, den verdammten Ball werfen, den Spielzug abschließen und über den Haufen gerannt werden, oder aber er kann sich den Ball unter den Arm klemmen, loslaufen und beten, dass er die Aktion überlebt. Solange Arnie ihn hatte spielen sehen, hatte Rick nie, kein einziges Mal, das Team an die erste Stelle gesetzt. Sobald sich die Gefahr eines »Sack« auch nur andeutete, zog Rick den Schwanz ein und rannte verzweifelt auf die Seitenlinie zu.

Angesichts seiner Neigung zu Gehirnerschütterungen konnte ihm Arnie das eigentlich nicht mal verübeln.

Er rief einen Neffen des Besitzers der Rams an, der sich mit einem eisigen »Ich will doch schwer hoffen, dass es nicht um Dockery geht«, meldete.

»Nun ja, doch, genau darum«, brachte Arnie heraus.

»Die Antwort lautet Nein, verdammt noch mal.«

Seit Sonntag hatte Arnie mit ungefähr der Hälfte der NFL – Teams gesprochen. Die Reaktion der Rams war ziemlich typisch. Rick hatte überhaupt keine Vorstellung, wie endgültig seine trübe kleine Karriere zu Ende war.

Ein Blick auf einen der Monitore an der Wand verriet Arnie, dass sein Flug Verspätung haben würde. Einen Anruf noch, gelobte er sich. Einen Versuch noch, einen Job für Rick zu finden, dann würde er sich seinen anderen Spielern widmen.

Die Kunden kamen aus Portland, und obwohl er mit Nachnamen Webb hieß und sie so blass war wie eine Schwedin, behaupteten beide, italienischer Abstammung zu sein, und waren ganz scharf darauf, das Land ihrer Ahnen zu sehen, wo alles angefangen hatte. Beide beherrschten ungefähr sechs Wörter der Landessprache, mit grauenhaftem Akzent. Sam vermutete, dass sie sich am Flughafen noch schnell einen Reiseführer gekauft und über dem Atlantik ein paar Brocken des Grundwortschatzes auswendig gelernt hatten. Bei ihrer letzten Italienreise war ihr Fahrer/Fremdenführer ein Einheimischer mit »fürchterlichem« Englisch gewesen, daher legten sie diesmal Wert auf einen Amerikaner, einen ordentlichen Yankee, der die richtigen Restaurants kannte und ihnen alle möglichen Tickets organisieren konnte. Nach zwei gemeinsam verbrachten Tagen hatte Sam gute Lust, sie ins nächste Flugzeug zurück nach Portland zu setzen.

Sam war weder Fahrer noch Führer. Andererseits war er ein ziemlich waschechter Amerikaner, und da sein Hauptjob wenig einbrachte, ergriff er hin und wieder die Gelegenheit zum Nebenerwerb, wenn Landsleute auf der Durchreise waren und jemanden zum Händchenhalten brauchten.

Er wartete draußen im Auto, während die Webbs ein sehr ausgedehntes Abendessen im Lazzaro bestritten, einer alten Trattoria im Stadtzentrum. Es war kalt und schneite sogar ein bisschen, und während er seinen heißen und starken Kaffee schlürfte, richteten sich seine Gedanken wieder einmal, wie eigentlich fast immer, auf seinen Spielerkader. Das Klingeln seines Handys ließ ihn auffahren. Der Anruf kam aus den USA.

»Hallo?«

»Sam Russo, bitte«, tönte es kurz und knapp.

»Am Apparat.«

»Coach Russo?«

»Ja, der bin ich.«

Der Anrufer stellte sich als ein Arnie Soundso vor, sagte, er sei Agent, und behauptete, 1988 Manager des Footballteams von Bucknell gewesen zu sein, wenige Jahre nachdem Sam dort gespielt hatte. Da sie also offenbar beide im selben College gewirkt hatten, fanden sie rasch Gemeinsamkeiten, und nach wenigen Minuten à la Kennen-Sie-den-und-den standen sie auf freundschaftlichem Fuße. Sam fand es nett, mit jemandem aus seinem alten College zu plaudern, auch wenn es ein völlig Fremder war.

Und es kam sehr selten vor, dass er Anrufe von Agenten erhielt.

Arnie kam schließlich zur Sache.

»Klar hab ich mir die Play-offs angeguckt«, sagte Sam.

»Tja, also, ich vertrete Rick Dockery, und, nun ja, die Browns lassen ihn ziehen«, sagte Arnie.

Keine Überraschung so weit, dachte Sam, hörte aber weiter zu. »Und er ist dabei, sich umzuschauen, seine Optionen zu prüfen. Ich habe gerüchteweise gehört, Sie suchen einen Quarterback.«

Sam hätte beinahe das Telefon fallen lassen. Ein echter NFL-Quarterback, der in Parma spielt? »Das ist kein Gerücht«, sagte er. »Mein Quarterback hat sich letzte Woche verabschiedet, um irgendwo oben im Staat New York als Trainer anzufangen ... Wir würden Dockery sehr gern nehmen. Ist alles in Ordnung mit ihm? Körperlich, meine ich.«

»Klar, nur ein bisschen durchgeschüttelt, aber voll einsatzbereit.«

»Und er möchte in Italien spielen?«

»Vielleicht. Wir haben noch nicht drüber gesprochen, wissen Sie, er ist ja noch im Krankenhaus, aber wir gehen eben alle Möglichkeiten durch. Offen gestanden könnte er einen Tapetenwechsel gebrauchen.«

»Kennen Sie den Football hier drüben?«, fragte Sam nervös. »Es ist guter Football, aber nicht zu vergleichen mit der NFL oder den Top-College-Mannschaften. Ich meine, die Jungs hier sind keine Profis im eigentlichen Sinne.«

»Wo liegt das Niveau?«

»Ich weiß nicht. Schwer zu sagen. Schon mal von einem College namens Washington and Lee gehört, unten in Virginia? Nettes College, guter Football. Dritte Division.«

»Ja, klar.«

»Die sind letztes Jahr während der Frühjahrsferien hier rübergekommen und ein paarmal gegen uns angetreten. War’ne ziemlich ausgeglichene Angelegenheit.«

»Dritte Division, hm?« Arnies Stimme hatte ein bisschen an Feuer eingebüßt.

Aber andererseits brauchte Rick ein weniger hartes Spiel. Eine weitere Gehirnerschütterung, und er würde vielleicht wirklich den Schaden davontragen, über den sie so oft Witze gemacht hatten. Ehrlich gesagt war es Arnie ziemlich egal. Noch einen oder zwei Telefonanrufe, und Rick Dockery wäre vergessen.

»Hören Sie, Arnie«, begann Sam ernsthaft. Zeit, reinen Wein einzuschenken. »Es ist doch mehr oder weniger ein Freizeitsport hier drüben, vielleicht ein klein bisschen mehr. Jedes Team in der Serie A darf drei amerikanische Spieler einsetzen, die bekommen meistens Geld für die Mahlzeiten und vielleicht für die Miete. Die Quarterbacks sind in aller Regel Amerikaner, und die kriegen auch ein kleines Gehalt. Der übrige Kader besteht aus einem Haufen robuster Italiener, die spielen, weil sie den American Football lieben. Wenn sie Glück haben und der Besitzer in Spendierlaune ist, kriegen sie nach dem Spiel vielleicht eine Pizza und ein Bier ausgegeben. Wir machen acht Spiele pro Serie, mit Play-offs hinterher und der Möglichkeit, den italienischen Super Bowl zu erreichen. Unser Stadion ist alt, aber gut erhalten, ungefähr dreitausend Sitzplätze und bei großen Spielen kriegen wir sie manchmal sogar voll. Wir haben große Firmen als Sponsoren, coole Spielkleidung, aber keinen Fernsehvertrag und auch keinen nennenswerten Etat. Wir befinden uns mitten in der Welt des Soccers, des europäischen Fußballs, und unser Football ist eher Kult als ein populärer Sport.«

»Wie hat es Sie denn dorthin verschlagen?«

»Ich liebe Italien. Meine Großeltern sind aus dieser Region ausgewandert, haben sich in Baltimore niedergelassen, wo ich aufgewachsen bin. Aber ich habe jede Menge Cousins und Cousinen hier in der Gegend. Meine Frau ist Italienerin und so weiter. Es ist ein wundervoller Ort zum Leben. Man kann zwar nicht richtig Geld verdienen als Trainer für American Football, aber wir haben viel Spaß.«

»Dann werden die Trainer also bezahlt?«

»Ja, könnte man so sagen.«

»Gibt’s noch andere aus der NFL ausgesonderte Spieler?«

»Ab und an zieht mal einer durch, irgendeine verlorene Seele, die noch immer vom Super-Bowl-Ring träumt. Aber für gewöhnlich sind die Amerikaner Spieler von kleinen Colleges, die den Sport lieben und einen gewissen Abenteuersinn mitbringen.«

»Wie viel können Sie meinem Spieler bezahlen?«

»Lassen Sie mich das mit dem Besitzer besprechen.«

»Tun Sie das, ich spreche inzwischen mit meinem Schützling.«

Nach einer weiteren alten Bucknell-Anekdote verabschiedeten sie sich, und Sam widmete sich wieder seinem Kaffee. Ein NFL-Quarterback, der in Italien Football spielt? Es war schwer vorstellbar, wenn auch durchaus schon mal da gewesen. Die Warriors Bologna hatten zwei Jahre zuvor den italienischen Super Bowl mit einem vierzigjährigen Quarterback erreicht, der mal kurz für Oakland gespielt hatte. Nach zwei Spielzeiten hörte er auf und ging nach Kanada.

Sam schaltete die Autoheizung eine Stufe runter und ließ die letzten Minuten des Spiels Browns gegen Broncos noch einmal ablaufen. Noch nie, so weit seine Erinnerung reichte, hatte er erlebt, wie ein einzelner Spieler dermaßen im Alleingang eine Niederlage verursachte und ein Spiel verlor, das schon so eindeutig gewonnen war. Fast hätte er selbst gejubelt, als Dockery vom Platz getragen wurde.

Dennoch, die Vorstellung, ihn in Parma zu trainieren, war interessant.