Marcantonio Colonna

Der Diktatorpapst

 

 

 

 

 

Man kann alle Menschen für einige Zeit belügen.
Einige Menschen kann man auch für alle Zeit belügen.
Aber man kann nicht alle Menschen für alle Zeit belügen.

Abraham Lincoln

 

 

 

 

Marcantonio Colonna

DER

DIKTATOR

PAPST

Aus dem Innersten
seines Pontifikats

 

Impressum

Bibliographische Informationen der Deutschen National­bibliothek,
abrufbar unter http://dnb.ddb.de

Buchgestaltung und Satz: impulsar-werkstatt.de

Umschlagbild © picture alliance/Stefano Spaziani

Marcantonio Colonna, Der Diktatorpapst

280 Seiten, Bad Schmiedeberg 2018

1. Auflage 2020

Originaltitel: The Dictator Pope

© 2018 Henry Sire. Published by arrangement with
Regnery Publishing, Washington DC

© Renovamen-Verlag, Bad Schmiedeberg 2018,
für die vorliegende Ausgabe

www.renovamen-verlag.de

Aus dem Englischen übersetzt von
Benjamin Janszen und Philipp Liehs

ISBN 978-3-95621-147-8

 

 

Inhaltsverzeichnis

Der Diktatorpapst

Vorwort

Kapitel I
Die St. Gallen-Mafia

Kapitel II
Der Kardinal aus Argentinien

Kapitel III
Reform? Welche Reform?

Kapitel IV
Einen neuen (krummen)

Kapitel V
Gnade! Gnade!

Kapitel VI
Der Kreml Santa Marta

Anhang I
Pater Jorge Bergoglio und die Verhaftung
der Patres Yorio und Jalics

Anhang II
Kardinal Bergoglio von Buenos Aires –
Weitere unbeantwortete Fragen

Anmerkungen

Vorwort

 

Wenn Sie mit den Katholiken von Buenos Aires sprechen, dann wird man Ihnen von dem wunderbaren Wandel erzählen, den Jorge Mario Bergoglio durchgemacht habe. Ihr verdrießlich dreinblickender Erzbischof sei über Nacht zum lächelnden, fröhlichen Papst Franziskus geworden, einem Idol des Volkes, mit dem er sich vollen Herzens identifiziert. Sollten Sie sich dagegen mit irgendjemandem im Vatikan unterhalten, dann werden Sie vom umgekehrten Wunder hören. Sobald die Kameras der Öffentlichkeit nicht mehr auf ihn gerichtet sind, verwandle sich Papst Franziskus in eine ganz andere Gestalt: arrogant, den Menschen gegenüber geringschätzig, verschwenderisch mit Schimpfwörtern und berüchtigt für seine wüsten Wutausbrüche, von denen jeder zu kosten bekommt, vom Kardinal bis hin zum Chauffeur.

Wie Papst Franziskus selbst am Abend seiner Wahl erklärte, schienen die Kardinäle des Konklaves im März 2013 beschlossen zu haben, bis zu »den Enden der Erde« zu gehen, um ihren Papst aufzustöbern. Heute dämmert es allerdings, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatten, ihre Auswahl zu prüfen. Anfänglich schien er noch wie ein frischer Wind in der Kirche zu sein, seine Ablehnung der Konvention wurde als Zeichen eines Mannes gedeutet, der mutig radikale Reformen in der Kirche umsetzen wolle. Im fünften Jahr seines Pontifikats wird immer deutlicher, dass keine Reformen geliefert werden. Stattdessen findet eine Revolution des persönlichen Stils statt, eine Revolution, die für das, was die Katholiken als das »heiligste« Amt auf Erden ansehen, nicht die glücklichste ist. Konservative Katholiken sind besorgt über die Veränderungen der Morallehre, die Franziskus einzuführen scheint, Liberale sind unzufrieden, weil die Veränderungen vage formuliert werden und für sie nicht weit genug gehen. Über derartige Befürchtungen hinaus gibt es aber auch Missstände, die alle Katholiken, die sich um die Integrität der Kirche und des Papsttums sorgen, in Aufruhr versetzen sollten. Nach fünf Jahren seines Pontifikats hat Franziskus gezeigt, dass er nicht der demokratische, liberale Regierungschef ist, den die Kardinäle im Jahre 2013 dachten gewählt zu haben, sondern ein päpstlicher Tyrann, wie man ihn seit vielen Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. So schockierend diese Vorwürfe auch sein mögen, sie werden durch unwiderlegbare Beweise untermauert. Dieses Buch versucht, die gescheiterten Reformen nachzuvollziehen, die die Hoffnungen versiegen lassen, die in Franziskus gesetzt wurden und beschreibt detailliert das Regime der Angst im Vatikan, das dort mit dem argentinischen Papst Einzug gehalten hat.

Kapitel I Die St. Gallen-Mafia

Danneels enthüllt alles in einem Fernsehinterview

 

Nach fünf Jahren Papst Franziskus kommt einem öfter und in aller Öffentlichkeit zu Ohren, dass die seltsame Situation im Vatikan heute einem billigen Reißer von Dan Brown in nichts nachsteht, inklusive Verschwörungen hochrangiger Kirchenmänner, Sex- und Finanzskandalen und zweifelhaften internationalen Bankinteressen. Während viele hoffnungsvoll auf Papst Franziskus Lockerung der traditionellen Kirchenlehre und -praxis blicken, wurde überraschenderweise dem Kommentar eines der hochrangigsten und mächtigsten Prälaten der westlichen Welt nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet, dass nämlich der Papst von einer liberalen »Mafia« gewählt wurde, einer Gruppe von progressiven Bischöfen und Kardinälen, die seit Jahren daran gearbeitete hatten, genau dies zustande zu bringen.

Es handelt sich bei dieser Ausdrucksweise nicht einfach um eine Anschuldigung aus dem konservativen Lager der Kirche; diese Bezeichnung [Mafia] wurde zu allererst in einem Fernsehinterview 1 im September 2015 von Godfried Kard. Danneels benutzt, einem emeritierten Kardinal, der dennoch als ehemaliger Erzbischof von Mecheln-Brüssel großen Einfluss genießt. Danneels erklärte, dass er seit Jahren Teil einer Gruppe sei, die sich Benedikt XVI. während seines ganzen Pontifikats widersetzt habe. Diese Gruppe habe – so sagte er – daran gearbeitet, eine »viel modernere« katholische Kirche zu formen und die Wahl des Erzbischofs von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, zum Papst zu erreichen. Eine gründliche Untersuchung der Hintergründe dieser außergewöhnlichen Kommentare kann einen Einblick in die Natur der derzeitigen Kirchenpolitik bieten, speziell in die der liberalen europäischen Bischofskreise.

 

Die St. Gallen-Mafia? Was ist das, wann und
von wem wurde sie gegründet?

»Die Gruppe St. Gallen ist eine Art vornehmer Ausdruck« sagte Danneels, der dafür anerkennendes Gelächter des Live-Publikums erntete. »Aber in Wirklichkeit nennen wir uns und die Gruppe die ›Mafia‹.«, so der Kardinal in einer belgischen Fernsehsendung. In dem kurzen Video, das mit Danneels’ »Bemerkungen« ins Internet hochgeladen wurde, fasste ein Voice-Over das Wesen der Gruppe zusammen, die sich »jedes Jahr seit 1996« im Schweizer Kanton St. Gallen getroffen hatte, ursprünglich auf Einladung des Ortsbischofs Ivo Fürer und des berühmten italienischen Jesuiten und Akademikers, dem Erzbischof von Mailand, Carlo Maria Kardinal Martini hin. Es hieß:

»Zusammen haben sie einen geheimen ›Widerstand‹ gegen Kardinal Ratzinger organisiert, der zur damaligen Zeit [als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre] die rechte Hand von Papst Johannes Paul II. war.«

»Als Papst Johannes Paul II. 2005 starb, versuchten wir, den jetzigen Papst [Franziskus] in den Vordergrund zu rücken.« Der erste Versuch, Jorge Mario Bergoglio auf den Thron zu hieven, scheiterte. Als er mit der Wahl Ratzingers zum Papst Benedikt XVI. konfrontiert wurde, »konnte Danneels seine Enttäuschung kaum verbergen«, erklärte der Sprecher.

Danneels hatte das Interview als Werbung für seine offizielle Biographie gegeben und erklärte weiter, dass die Gruppe St. Gallen »zu viele« Bischöfe und Kardinäle als Mitglieder habe, »um sie alle aufzuzählen.« Aber sie alle teilten dasselbe allgemeine Ziel: die Umsetzung der »liberalen / progressiven« Agenda, die Opposition gegen Papst Benedikt XVI. und gegen die Richtung eines gemäßigt-dogmatischen Konservatismus. Obwohl später verneint wurde, dass die Gruppe geheim war, erklärte Danneels: »Es gab keine Berichterstattung darüber, sodass jeder seinem Frust freien Lauf lassen konnte. Die Dinge wurden sehr freimütig besprochen.«

Das Fernsehprogramm interviewte Danneels’ Biographen Jürgen Mettepenningen, der erklärte, dass man seit 2013 mit dem Rücktritt von Benedikt »sagen kann, dass Kardinal Danneels, durch seine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, einer der Pioniere der Wahl von Papst Franziskus war.«

Die Autoren von Danneels Biographie zählten als Sorgen der Gruppe die »Situation der Kirche«, den »Primat des Papstes«, »Kollegialität« und die »Nachfolge von Johannes Paul II.« auf. Der englische Vatikanist Edward Pentin schreibt, dass sie »auch den Zentralismus in der Kirche diskutierten, die Funktion der Bischofskonferenzen, die Entwicklung des Priestertums, die Sexualmoral [und] die Ernennung von Bischöfen.« Ein Schema, welches dem ähnelt, das während der zwei Bischofssynoden über die Familie, die 2014 und 2015 von Papst Franziskus einberufen wurden, ans Licht der Öffentlichkeit kam.

Die vom Kardinal autorisierte Biographie wurde von Mettepenningen und Karim Schelkens gemeinsam verfasst. Als einer der mächtigsten katholischen Prälaten Europas und eine der führenden Stimmen im dominierenden liberalen Lager des europäischen Episkopats war die Biographie Danneels’ von größtem öffentlichen Interesse. Damit man nicht denken möge, dass der Kardinal scherzte, wurde die Existenz der St. Gallen-»Mafia« auch von Schelkens in einem Interview mit dem örtlichen Radiosender St. Gallens bestätigt. 2

Pentin fasste in einem Artikel für den National Catholic Register 3 zusammen: »Die Persönlichkeiten und theologischen Ideen der Mitglieder waren durchaus unterschiedlich, aber ein Element verband sie: ihre Abneigung gegen den damaligen Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, Joseph Kardinal Ratzinger.«

Pentin schrieb: »Die Gruppe wollte eine drastische Reform der Kirche, die viel moderner und im Einklang mit dem Zeitgeist sein sollte, mit Jorge Bergoglio, Papst Franziskus, an ihrer Spitze. Sie haben bekommen, was sie wollten.« Pentin fügt in einem späteren Artikel hinzu, dass die Gruppe St. Gallen zwar 2006 offiziell aufgehört hatte zu existieren, es aber keinen Zweifel darüber geben kann, dass ihr Einfluss bis ins Jahr 2013 reicht. »Sicher ist, dass die Gruppe dabei geholfen hat, ein Netzwerk zu bilden, das den favorisierten Kardinal Bergoglio sieben Jahre später im Konklave zum Papst wählen sollte.«

Im Jahre 2015 4 bestätigte der deutsche Autor und Vatikanexperte Paul Badde, dass er »verlässliche Informationen« 5 darüber habe, wie drei Tage nach dem Begräbnis von Johannes Paul II. die Kardinäle Martini, Lehmann und Kasper aus Deutschland, Bačkis aus Litauen, van Luyn aus Holland, Danneels aus Brüssel und Murphy-O’Connor aus London »sich in der sogenannten Villa Nazareth in Rom trafen, dem Haus Kardinal Silvestrinis, der das Alter eines Stimmberechtigten überschritten hatte, um dort im Geheimen die Taktik zu besprechen, wie man die Wahl Joseph Ratzingers abwenden könne.«

Nach den Enthüllungen von Danneels erschien ein etwas konfuser Brief 6 der Diözese St. Gallen, der die Behauptung, die Gruppe habe den Rücktritt von Papst Benedikt beeinflusst, zum Teil zurücknahm. Der Brief bestätigte, dass die Wahl Jorge Bergoglios zum Papst Franziskus im Jahre 2013 »den in St. Gallen entworfenen Zielen entsprach«, wobei er sich auf die Biographie von Kardinal Danneels als Quelle berief. »Das wurde auch von Bischof Ivo Fürer bestätigt«, so der Brief weiter, der erklärte, dass »seine Freude über die Wahl des Argentiniers niemals verhehlt wurde.«

In Danneels Biographie kann man lesen, dass die Gruppe sich schon lange vor 1996 formiert hatte. 1982 nahm Danneels zum ersten Mal an Treffen des »Rates der europäischen Bischofskonferenzen« (CCEE) teil, wo er Martini und Ivo Fürer, der als »eifriger und diskreter Sekretär der CCEE« beschrieben wurde, begegnete. Martini nahm die Zügel der CCEE 1987 in die Hand. Seine Führung ging entschieden in eine liberale Richtung, aber 1993 hatte der Papst entschieden, dass der Sekretär der Gruppe ein von Rom ernannter Bischof sein musste, dass kuriale Prälaten an den Treffen teilnehmen sollten und schließlich, dass der Schauplatz nach Rom zu verlegen sei.

1993 übergab der Papst nun die CCEE-Präsidentschaft Miroslav Vlk, dem Erzbischof von Prag. Es könnte sein, dass diese Entscheidung durch den Berliner Mauerfall und das Zusammenbrechen der Sowjetunion bedingt war und die Miteinbeziehung osteuropäischer Bischöfe zum Desiderat wurde. Vlk war weit davon entfernt, Interesse an dem Typus von Reformen zu zeigen, die Martini und Hume am Herzen lagen.

Diese Veränderungen behinderten die CCEE, als ein Vehikel für den liberalen Druck in der Kirche zu fungieren, und seit dieser Zeit hatte sich Danneels von ihr entfernt. 1996 begann die St. Gruppe Gallen, sich wieder zu treffen – auf Einladung Ivo Fürers, der 1995 zum Bischof von St. Gallen ernannt worden war – drei Jahre nach diesem Leitungswechsel.

Später nahmen die beiden Biographen Danneels’ ihre Beschreibung der Gruppe St. Gallen als »liberale Lobby« teilweise zurück. Aber es herrschte die gleiche Unklarheit wie in dem Brief der Diözese St. Gallen, den sie in ihren Erklärungen zitierten. Pentin schrieb 7 am 26. September 2015, dass die Biographen die Aussage des offiziellen Briefs der Diözese wiederholten, indem sie sagten: »Die Wahl von Bergoglio entsprach den Zielen von St. Gallen. Darüber gibt es keinen Zweifel. Und das Programm entsprach den Plänen Danneels’ und dem seiner Mitbrüder, die seit zehn Jahren diskutiert worden waren.« Ihnen zufolge habe das Scheitern Bergoglios bei der Papstwahl 2005 die Auflösung der Gruppe zur Folge gehabt. Pentin zeigt auf, dass einige der St. Galler Mitglieder oder ihre engsten Mitarbeiter später vom englischen Papstbiographen Austen Ivereigh als Teil des »Teams Bergoglio« tituliert wurden, der Gruppe von Kardinälen, die im Konklave von 2013 schließlich den St. Galler Plan verwirklichten.

 

Who is Who? Führende Mitglieder und
ihr Hintergrund

Vor allem die Prälaten in der Gruppe waren damit beschäftigt, Ratzingers Wahl im Konklave 2005 zu verhindern. Aber ganz allgemein ist es nicht schwer, aus der Untersuchung ihrer Karrieren heraus zu schließen, in welche Richtung die Mitglieder der St. Gallen-»Mafia« in wesentlichen Fragen die Kirche zu steuern hofften. Der Gedanke war simpel: die mächtigen Gesinnungsgenossen unter den Prälaten zusammenzuschließen, um ein Netzwerk von Kontakten für einen – um es mit einem politischen Ausdruck zu sagen – »Regimewechsel« zu knüpfen.

Das Programm, das sie vorantrieben, verbarg sich vor allem hinter den Schlagwörtern »Dezentralisierung«, »Kollegialität« und einer »pastoraleren« Kirche. Mit dem letzten Begriff war gemeint, man solle sich von der klassischen Morallehre der Kirche entfernen, die Papst Johannes Paul II. charakterisiert hatte, und sich in eine Richtung bewegen, die derjenigen ähnelte, die später die Bischofssynode über die Familie einschlagen würde. 8 Die Schlagwörter der Dezentralisierung und der Kollegialität waren eine implizierte Kritik an Johannes Paul II., und an seiner Art, die Kirche zu regieren. Johannes Paul II. kam nach dem fünfzehnjährigen Pontifikat von Paul VI. auf den Stuhl Petri, zu dessen Zeit die radikalen Einschnitte des Zweiten Vatikanischen Konzils umgesetzt worden waren. Ob die liberale Interpretation des Konzils von Paul IV. die richtige war, ist heutzutage ein kontroverses Thema (es wurde durch die »Hermeneutik der Kontinuität« von Benedikt XVI. in Frage gestellt); was aber außer Frage steht ist, dass die Auswirkungen der Regierung Paul VI. in einigen Bereichen unglücklich waren. Fast 50 000 Priester haben in diesen Jahren das Priestertum aufgegeben. Ganz allgemein erlitten Berufungen zum Ordensleben bei Frauen und Männern einen Einbruch gleicher Größenordnung und es gab eine weit verbreitete Ablehnung der Kirchenlehre – nicht zuletzt von Pauls VI. eigener Enzyklika Humanae vitae.

Durch seine Bischofsernennungen wurde das Phänomen noch verstärkt. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel wurde die ganze Hierarchie durch die Ernennungen von Nuntius Erzbischof Jadot umgewandelt, dem es in nur sieben kurzen Jahren (1973 – 1980) gelang, 103 Bischöfe zu berufen und 15 Erzbischöfe zu befördern. Unter den Letzteren befanden sich besonders skandalöse Persönlichkeiten wie der Erzbischof Hunthausen von Seattle, dessen Misswirtschaft den Vatikan später dazu brachte, einen Koadjutor einzusetzen; und vor allem Erzbischof Weakland in Milwaukee, der endlich von seinem Posten zurücktrat, nachdem er seinem Liebhaber, der ihm mit einer Klage drohte, 450.000 Dollar aus Diözesangeldern ausgezahlt hatte. Solche Auswirkungen einer »liberalen« Hirtenwahl wurden über kurz oder lang in vielen Bereichen der weltweiten Kirche spürbar.

Johannes Paul II. bestieg den Stuhl Petri mit der Entschlossenheit, den Verfall aufzuhalten, und er war auf ganzer Linie erfolgreich, aber er hinterließ große Unzufriedenheit bei denen, die sich mit der Schule Pauls VI. identifizierten. Da sich Johannes Paul II. oft nicht auf die Hierarchie, die er geerbt hatte, verlassen konnte, folgte er einer strengen Linie päpstlicher Kontrolle. Auf seinem Weg, die orthodoxe katholische Lehre und das katholische Ordensleben wiederherzustellen, standen ihm allerdings nur wenige Optionen offen. Zweifellos zog er die Zügel der Kirchendisziplin an, aber ob er wirklich ein »Zentralisierer« genannt werden kann, der einer Partei entgegenstand, die einen »kollegialen« Geist in der Kirche anstrebte, ist fraglich. Johannes Pauls II. Zentralismus, gegen den sich die Prälaten der St. Gallen-Gruppe nach eigenen Angaben auflehnten, war eine Antwort auf einen Zustand des Chaos, der durch eben diesen Zentralismus Eingang gefunden hatte. Es wäre naiv, die Schlagwörter der Dezentralisierung und Kollegialität nicht zu durschauen, die Deckmäntel eines breiteren liberalen Programms sind, das noch beschrieben werden muss.

Wer die katholische Szene in den letzten dreißig Jahren beobachtet hat, dürfte die Namen der führenden Mitglieder der St. Gallen-Gruppe zuordnen können. Unter denjenigen, die von Pentin aufgezählt werden, sind Danneels sowie der Bibelfachmann und papabile, der Erzbischof von Mailand, Carlo Maria Kardinal Martini und der deutsche Theologe Walter Kardinal Kasper die berühmtesten.

 

Martini

Der klangvollste Name der Gruppe St. Gallen und deren unbestrittene Führungsgestalt war Carlo Maria Kardinal Martini, viele Jahre lang unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. die führende Persönlichkeit der kirchlichen liberalen Fraktion. Die Einsicht in Martinis Interviews und Schriften gibt einen Hinweis auf Bergoglios Enthusiasmus für seinen erklärten Mentor: Viele der Lieblingswörter und Phrasen des Kardinals werden von Papst Franziskus in Schrift und freien Ansprachen gerne wiederholt.

2008 beschrieb Sandro Magister 9 Kardinal Martini als gewohnheitsmäßig »undurchschaubar und subtil«, fügte aber hinzu, dass es Zeiten gab, in denen er sich aus seinem Versteck wagte. »Wenn es zum Beispiel um den priesterlichen Zölibat geht, spricht er mal so und mal so. Das gleiche beim Thema Frauenpriestertum. Und Homosexualität. Und Verhütung. Und wenn er die Kirchenhierarchie kritisiert, dann nennt er normalerweise keine Namen von Persönlichkeiten oder Institutionen.«

Aber im gleichen Jahr gab Martini ein Interview in Buch-Länge 10, in dem er öffentlich die Lehren Pauls VI. über Verhütung in Humanae vitae in Frage stellte. Das umstrittene Verbot der künstlichen Verhütung in der Enzyklika hat »ernsten Schaden« verursacht, erklärte der Kardinal und beschuldigte sie, Ursache für den Glaubensabfall vieler Katholiken seit 1968 zu sein.

Der Kardinal lobte die Reaktionen auf die Enzyklika vonseiten der österreichischen und deutschen Bischöfe und weiterer Bischofskonferenzen, die »einem Weg folgten, den wir auch heute weiter beschreiten können.« Diese neue »Kultur der Zärtlichkeit« ist eine »Haltung gegenüber der Sexualität, die freier von Voreingenommenheit ist.«

Johannes Paul II. dagegen »folge dem Weg der rigorosen Anwendung« von Humanae vitae. »Er wollte in diesem Punkt keine Zweifel aufkommen lassen. Es scheint, dass er sogar eine Erklärung in Betracht zog, die das Privileg der päpstlichen Unfehlbarkeit genießen würde.«

»Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kirche einen besseren Weg aufzeigen kann, als sie es mit Humanae vitae getan hat. Sich seine Fehler und die Begrenztheit früherer Sichtweisen einzugestehen, ist ein Zeichen von Seelengroßmut und Zuversicht. Die Kirche würde damit Glaubwürdigkeit und Kompetenz wiedererlangen.« 11

Martini, der 2012 starb, nur wenige Monate bevor Papst Benedikt seinen Rücktritt erklärte, war ein italienischer Jesuit und bekannter Bibelwissenschaftler. Er diente als Erzbischof von Mailand während der produktivsten Jahre von Johannes Paul II. zwischen 1980 und 2002. Als einer der einflussreichsten Gestalten der katholischen Kirche Italiens und als Leiter der Erzdiözese Mailand – traditionell der stärkste »papabile« Bischofssitz – war Martini lange Zeit der favorisierte liberale Kandidat für die Wahl zum Papst. Er fiel als Kandidat aus, nachdem bei ihm eine seltene Form von Parkinson diagnostiziert wurde. 2002 trat er von seinem Amt zurück, blieb aber einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der Kirchenlinken in Europa.

Nur Stunden nach seinem Tod im August 2012 veröffentlichte der Corriere della Sera 12 ein letztes Interview. Fast mit seinem letzten Atemzug hielt Martini daran fest, dass die Kirche eine »seit 200 Jahren veraltete« Institution sei. Der Kardinal sagte: »Die Kirche muss ihre Fehler eingestehen und einen radikalen Weg des Wandels einschlagen, der beim Papst anfängt und bis zu den Bischöfen reicht.« Das gelte besonders bei der Sexuallehre, die er implizit als Ursache für die Missbrauchsskandale bei Klerikern ansah. In diesem Interview zeigte Martini die Strategie auf, die von den Liberalen in den beiden Familiensynoden 2014 und 2015 verfolgt wurde und die später in einer eher mehrdeutigen Form in Papst Franziskus’ Exhortation Amoris laetitia Eingang fand: Er drängte auf eine mehr personale und weniger lehrmäßige Annäherung an die Sexualmoral, und besonders hinsichtlich der Fälle von geschiedenen und wiederverheirateten Paaren, die er als »besonders schutzbedürftig« deklarierte. Außerdem äußerte er sich abweichend von der traditionellen kirchlichen Lehre über Homosexualität.

Kasper

Während Martini vornehmlich in Italien bekannt war, genießt der Deutsche Walter Kardinal Kasper auch in Nordamerika größere Bekanntheit, wo er wiederholt Vorlesungen und Interviews gegeben hat. Kaspers Bücher wurden ins Englische übersetzt und werden seit Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten veröffentlicht; seit 1983 war er Gastprofessor in der Catholic University of America. Weil er die größte Kontroverse des Pontifikates von Papst Franziskus losgetreten hat, wird sein Name vermutlich über seinen Tod hinaus Bestand haben.

Papst Franziskus lud Kasper ein, den Leitvortrag für das Konsistorium 2014 zu halten. Er entfesselte damit eine Reihe von Ereignissen und einen Sturm der Debatte, der seitdem nur noch gewachsen ist. Es war dieser Vortrag im Konsistorium, in dem er den »Kasper-Vorschlag« vortrug, dass geschiedene und zivil wiederverheiratete Katholiken nach einem »Prozess der Buße« Absolution in der Beichte und die heilige Kommunion empfangen könnten, ohne das notwendige Versprechen, sich der ehelichen Vereinigung zu enthalten. Aber dieser Höhepunkt in Kaspers Karriere folgt einer jahrzehntelangen Betätigung auf jedem nur erdenklichen Schauplatz für das, was man wohl als die Martini-Agenda bezeichnen kann.

Kasper hat sich durchgängig und öffentlich gegen die Kirchenausrichtung von Wojtyla / Ratzinger gewandt, selbst während seiner Zeit als Kurienmitarbeiter. Für den Großteil der Regierungszeit Johannes Paul II. und früher als Student und Assistent des radikalen Theologen P. Hans Küng an der Universität Tübingen war Kaspers Name ein Synonym für das progressive Lager Deutschlands und der Kurie. Druck für die Akzeptanz seines Vorschlags für geschiedene und wiederverheiratete Katholiken zu erzeugen, wurde zum Kern von Kaspers öffentlichem Wirken in den letzten Jahren. Aber erst mit der Wahl Jorge Bergoglios zum Papst schien dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt zu sein.

In seiner allerersten Ansprache beim sonntäglichen Angelus 13 am 17. März 2013 gab der neue Papst das wohl offensichtlichste Signal für die Richtung, die er einschlagen wollte. Franziskus sprach über Kaspers neuestes Buch: Barmherzigkeit: Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens und gestand: »In diesen Tagen hatte ich die Gelegenheit, das Buch eines Kardinals – Kardinal Kaspers, eines Theologen, der sehr tüchtig ist, eines guten Theologen – über die Barmherzigkeit zu lesen. Und jenes Buch hat mir sehr gut getan, doch glaubt jetzt nicht, dass ich Werbung für die Bücher meiner Kardinäle mache! Dem ist nicht so! Doch es hat mir so gut, so gut getan. […] Kardinal Kasper sagte, dass Barmherzigkeit zu spüren, dass dieses Wort alles ändere.«

Bei einem Vortrag 14 in der Fordham University (New York) erzählte Kasper die Geschichte eines »alten Kardinals«, der nach der Ansprache den Papst versucht hatte zu warnen, »dass es in diesem Buch Häresien gebe«. Der neue Papst, so Kasper, erzählte diese Begebenheit wiederum Kasper selbst und lächelte, während er versicherte: »Das geht mir zum einen Ohr rein und zum wieder anderen raus«.

In einem Interview mit Commonweal skizzierte Kasper seine Position damit, dass sie gegen eine »rigoristische« Haltung der Moraltheologie der Vergangenheit gerichtet sei. Er schreckte nicht davor zurück, den nächsten logischen Schritt zu gehen und zuzugeben, dass ein geschiedener und wiederverheirateter Katholik moralisch dazu verpflichtet sei, seine neue Beziehung nicht abzubrechen. Buße im klassisch katholischen Sinn sei manchmal unmöglich und möglicherweise sogar sündhaft. Menschen »müssen das Beste aus der gegebenen Situation machen« und wenn es Kinder aus der zweiten Ehe gebe, dann würde das Paar, das der traditionellen katholischen Forderung folgend die Ehe auflösen würde, aktive Schuld auf sich nehmen.

Mit der sich abzeichnenden Familiensynode wurde Kasper sogar noch unverblümter 15, nämlich bei einer Buchvorstellung in Rom 16, als er einen klassischen Slogan der LGBT-Lobby übernahm. Dort erklärte er, dass Homosexualität nicht mit »Fundamentalismus« begegnet werden sollte:

»Für mich ist diese Neigung ein Fragezeichen: Sie spiegelt nicht den ursprünglichen Plan Gottes wider, aber trotzdem ist es eine Realität, dass man schwul geboren wird.«

Danneels

Sicherlich kann Godfried Danneels auch zu diesen hochrangigen Kirchenmännern gezählt werden, da er seit mehr als 30 Jahren nicht nur das Haupt der einflussreichen und wohlhabenden Erzdiözese Brüssel war, sondern auch eines Netzwerks von Kontakten aus Politik, Gesellschaft und Justiz, was ihm immense politische Macht verschaffte. In seiner langen Amtszeit hat sich Danneels niemals die Mühe gemacht, seine Meinung zu verbergen, wenn es um die »heißen« Themen der Kirche ging, vor allem hinsichtlich der Sexualmoral, Abtreibung, Verhütung, Homosexualität und homosexueller Ehe.

Danneels war in ganz Europa aufgrund seiner politischen Schlagkraft bekannt, mit der er in Belgien auf die Liberalisierung der Gesetze bezüglich der Sexualität und Ehe drängte. Im Jahr 1990 riet er König Baudouin von Belgien, ein Gesetz zur Legalisierung von Abtreibung zu unterzeichnen und später weigerte er sich, Material zur Sexualerziehung aus den katholischen Schulen in Belgien zurückzurufen, obwohl dieses Material von den Eltern als pornographisch verurteilt worden war. Es ist dokumentiert, dass er die belgische Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen als »positive Entwicklung« bewertete. 17

Im Mai 2003 gratulierte er dem Premierminister Guy Verhofstadt, der sich auf seine zweite Regierungsperiode vorbereitete, in einem Schreiben zur »Anerkennung des Rechtsstatus von stabilen Partnerschaften zwischen Partnern des gleichen Geschlechts« unter seiner Regierung.

Ein paar Monate nach seiner Emeritierung im April 2010 wurde Danneels durch die Anklage in einen besonders großen Skandal verwickelt, einen von ihm protegierten Bischof gedeckt zu haben, der zugab, seinen eigenen minderjährigen Neffen sexuell missbraucht zu haben. Im Jahr 2010 18 wurde durch die Veröffentlichung einer Audioaufnahme enthüllt, dass Danneels dem Opfer geraten hatte, ruhig zu bleiben und dem bald aus dem Amt scheidenden Bischof Roger Vangheluwe von Brügge keine Schwierigkeiten zu bereiten, und sogar empfahl, das Opfer solle »um Vergebung bitten«. Bevor die Aufnahmen veröffentlicht wurden, hatte Danneels jegliches Wissen über sexuellen Missbrauch durch Geistliche oder Vertuschungen geleugnet. Aber der Whistleblower-Priester Rik Devillé behauptete später, er habe Mitte der 1990er Jahre 19 Danneels vor Vangheluwe gewarnt. Da die gesetzlichen Verjährungsfristen abgelaufen waren, wurde Vangheluwe nie für seine Verbrechen angeklagt, obwohl er sich sogar öffentlich bei den Opfern entschuldigte.

Daraufhin veranlasste eine Welle von Klagen in Hunderten von Fällen sexuellen Missbrauchs durch Geistliche über einen Zeitraum von zwanzig Jahren ein Eingreifen der Polizei, die Danneels’ Haus und die Diözesanbüros durchsuchte. Computer und Dateien wurden beschlagnahmt, einschließlich der gesamten von der Diözesankommission zu den Missbrauchsvorwürfen gesammelten Dokumentation 20. Der Kardinal wurde später von Staatsanwälten zehn Stunden lang befragt, aber es wurde keine Anklage erhoben.

Aus unklaren Gründen wurde das beschlagnahmte Beweismaterial für unzulässig erklärt, die Unterlagen an die Erzdiözese zurückgegeben und die Ermittlungen wurden abrupt eingestellt. Und das, obwohl Einzelpersonen mit fast fünfhundert Einzelklagen aufgetreten waren, darunter viele, die Danneels vorwarfen, seine Macht und Verbindungen genutzt zu haben, um klerikale Sexualstraftäter zu schützen.

Peter Adriaenssens, Vorsitzender der Kommission gegen sexuellen Missbrauch, die von Danneels Nachfolger Erzbischof André-Joseph Leonard eingesetzt wurde, beschwerte sich bei den Staatsanwälten über die Razzien, weil das Team dadurch alle 475 Dossiers verloren habe, die aufgrund der Missbrauchsbeschuldigungen gesammelt worden waren. Die Kommission wurde aufgelöst und es wurden keine weiteren Ermittlungen durchgeführt, obwohl Adriaenssens aufdeckte, dass ungefähr 50 Dossiers Danneels belasteten.

Im Dezember desselben Jahres erklärte Danneels vor einem parlamentarischen Ausschuss für sexuellen Missbrauch, dass es niemals eine Politik der Deckung von Missbrauchs­tätern beim Klerus gegeben habe. Die Erzdiözese Mechelen-Brüssel erließ später eine öffentliche Entschuldigung für das »Schweigen« in Verbindung mit den Sexualstraftaten an Minderjährigen.

Der Ruhestand entpuppte sich als Enttäuschung für Danneels, der seinen Nachfolger, einen bekannten Ratzinger-Konservativen, als »völlig ungeeignet für Brüssel« bezeichnete. Mit der Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst Benedikt XVI. im Jahr 2005 schien Danneels’ Stern hoffnungslos gesunken zu sein.

Aber das Konklave 2013 brachte ihn an die Spitze der kirchlichen Politik zurück, und der neue Papst hatte ihn eingeladen, ihn auf der St.-Peters-Loggia bei seinem ersten Auftritt vor den Massen zu begleiten. Er erhielt das Privileg, die offiziellen Gebete bei der Einweihungsmesse von Franziskus zu intonieren. Später wurde der Kardinal, den viele als »in Ungnade gefallen« betrachteten, von Papst Franziskus aufgrund besonderer päpstlicher Gunst eingeladen, an beiden Synoden über die Familie teilzunehmen, wo er eine prominente Rolle spielen würde. Danneels selbst beschrieb sein letztes Konklave als »eine persönliche Auferstehungserfahrung«.

Das »Team Bergoglio« vollendet das Werk von St. Gallen

Trotz der strengen Geheimhaltung wurde nach dem Konklave von 2005 enthüllt, dass der obskure Jesuiten-Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, Zweitplatzierter gewesen war. 21 Die St. Gallen-Gruppe hatte sich fast wieder vollständig zusammengefunden und arbeitete hart für ihren Kandidaten. Ihre Unterstützung war entscheidend. Während des vorletzten Wahlgangs hatte Bergoglio 40 Stimmen, Ratzinger hingegen 72. Paul Badde erklärte, dass es Kardinal Meisner aus Köln gewesen sei, der die St. Gallen-Gruppe »leidenschaftlich bekämpfte« und für Ratzinger warb, und besonders Kardinal Danneels »aufs Korn« genommen habe. Im Tagebuch eines anonymen Kardinals steht, dass die Gruppe ihr Ziel beinahe erreicht hatte: »Der argentinische Jesuit ist einen Schritt von der Stimmzahl-Schwelle von 39 Stimmen entfernt, was theoretisch einer organisierten Minderheit hätte erlauben können, die Wahl eines anderen Kandidaten zu blockieren.« Der Rest ist Geschichte und die St. Gallen-Gruppe zog sich nach 2005 zurück.

Aber Benedikts Pontifikat war besonders in den letzten Jahren turbulent, ganz gleich, ob die Gruppe an seinem überraschenden Rücktritt beteiligt war oder nicht. Jedenfalls ergriff sie ihre letzte Gelegenheit. Mit Martinis Tod und einem Großteil der Gruppe ganz knapp an der Altersgrenze, die ihnen eine Teilnahme am Konklave versagt hätte, wurde die Zeit knapp. Man wusste, dass dies die letzte realistische Chance war. Mit der Sedisvakanz, die einem Konklave vorausgeht und wenige Tage vor dem 80. Geburtstag von Walter Kasper offiziell begonnen hatte, fragten einige, ob es sich mit dem Zeitpunkt von Benedikts plötzlichem Rücktritt nur um einen Zufall handeln könne. Danneels’ 80. Geburtstag sollte nur wenige Monate später folgen, und Lehmann hatte nur noch drei Jahre vor sich.

Wahlkampagnen bei einem Konklave sind von besonderer Bedeutung, denn nach den Revisionen von Papst Johannes Paul II. sind sie ausdrücklich verboten, verbunden mit der Strafe der automatischen Exkommunikation. Das päpstliche Gesetzesdokument von 1996 über das Konklave, Universi Dominici gregis, untersagt ausdrücklich jegliche Art derartiger Aktivitäten und sieht die schwere Strafe sowohl für diejenigen vor, die sich engagieren, als auch für denjenigen, der den Wahlwerbern zustimmt. Und ein exkommunizierter Papst ist kein Papst.

Universi Dominici gregis 81 erklärt: »Die wahlberechtigten Kardinäle müssen sich außerdem jeder Form von Verhandlungen, Verträgen, Versprechen oder sonstiger Verpflichtungen jeder Art enthalten, die sie binden können, einem oder einigen die Stimme zu geben oder zu verweigern.« Johannes Paul hatte erklärt, dass das Konklave ein religiöses, kein politisches Ereignis sein müsse, ein Ereignis, bei dem die Kardinäle sich auf Gebet und die Inspiration des Heiligen Geistes verlassen müssten und nicht auf weltlichen Parteigeist. Erst recht sollte es keine Kabale geben, die beabsichtigt, die beabsichtigt, das Konklave zu benutzen, um die Kirche aus dem Hintergrund zu lenken.

Trotz dieses reformistischen Ehrgeizes schrieb Ivereigh 2014 in seinem Buch über Bergoglio, The Great Reformer, über die offene Wahlkampagne, die 2013 von einer Gruppe von vier Kardinälen auf den Weg gebracht wurde. Es waren drei ehemalige St. Gallener: Walter Kardinal Kasper, Godfried Kardinal Danneels und Karl Kardinal Lehman. Unter ihnen war jedoch auch der Erbe des englischen Repräsentanten der Gruppe, Basil Kardinal Hume, Erzbischof von Westminster. Hume war 1999 gestorben, aber sein ideologischer und bischöflicher Nachfolger war Cormac Kardinal Murphy-O’Connor. Ivereigh schriebt, dass, obwohl schon über 80 Jahre, es Murphy-O’Connors Rolle während der allgemeinen Versammlungen und sozialen Engagements vor dem Konklave gewesen sei, die wahlberechtigten Kardinäle der englischsprachigen Hemisphäre für die Sache zu gewinnen.

Obwohl Kardinal Bergoglio selbst kein Mitglied der St. Gallen-Gruppe war, sagte Ivereigh, er habe Murphy-O’Connor dennoch verbal seine »Zustimmung« gegeben, Kandidat im »Team Bergoglio« zu sein, eine Aktion, die in einer strengen Auslegung von Universi Dominici gregis ebenfalls verboten ist. Obwohl alle vier Kardinäle, die genannt wurden, diese Behauptung bestritten – und Ivereigh versicherte, zukünftige Ausgaben des Buches dementsprechend anzupassen – widersprechen dem Dementi zumindest im Fall von Kardinal Murphy-O’Connor dessen eigenen vorherigen Behauptungen. Immerhin gab der Erzbischof von Westminster Ende 2013 in einem Interview mit dem Catholic Harald zu, nicht nur im Konklave Wahlkampf gemacht, sondern auch Bergoglios Zustimmung gewonnen zu haben, ihr Kandidat zu sein.

Der Artikel von Miguel Cullen vom 12. September 2013 in der Ausgabe des Herald 22 beschrieb: »Der Kardinal gab bekannt, dass er mit dem zukünftigen Papst gesprochen hatte, als sie die Missa pro eligendo Romano Pontifice verließen, die letzte Messe vor dem Konklave am 12. März.«

Murphy O’Connor sagte: »Wir haben kurz miteinander gesprochen. Ich sagte ihm, dass er meine Gebete habe und er antwortete auf Italienisch: ›Sei vorsichtig‹. Ich habe Andeutungen gemacht und er verstand: ›Si – capisco – ja, ich verstehe‹. Er war ruhig. Er war sich bewusst, dass er wahrscheinlich als Kandidat ins Konklave gehen würde. Wusste ich, dass er Papst werden würde? Nein. Es gab andere gute Kandidaten. Aber ich wusste, dass er einer der führenden Anwärter sein würde.« Die Ermahnung Bergoglios »vorsichtig« zu sein, scheint sicherlich anzudeuten, dass Murphy-O’Connor – und Bergoglio – wussten, dass sie die Regel zumindest großzügig auslegten.

Dasselbe wird im besagten Artikel des Herald bestätigt, in dem Murphy-O’Connor zitiert wird: »Alle Kardinäle hatten zwei Tage nach seiner Wahl ein Treffen mit ihm in der Benediktionsaula. Wir gingen alle einer nach dem anderen hinauf. Er begrüßte mich sehr herzlich. Er scherzte und sagte so etwas wie: ›Es ist deine Schuld. Was hast du mir angetan?‹«

In einem Interview mit dem Independent nach dem Konklave 23 deutete Murphy-O’Connor auch an, dass dem 76-jährigen Argentinier ein bestimmtes Programm vorgelegt wurde, das er in ungefähr vier Jahren umsetzten solle. Der englische Kardinal sagte dem Journalisten 24 und Autor Paul Vallely: »Vier Jahre Bergoglio würden ausreichen, um die Dinge zu ändern.« Ein passender Kommentar nach der Wahl, aber dies war der gleiche Satz, den Andrea Tornielli in La Stampa in einem Artikel vom 2. März 2013 niederschrieb, elf Tage vor Bergoglios Wahl: »Vier Jahre Bergoglio würden genügen, um die Dinge zu ändern«, flüsterte ein Kardinal und langjähriger Freund des Erzbischofs von Buenos Aires.

Die Situation wurde kürzlich von Matthew Schmitz in First Things 25 zusammengefasst, der sagte: »Obwohl Benedikt noch lebt, versucht Franziskus, ihn zu begraben.«

Kapitel II Der Kardinal aus Argentinien

Die Verhältnisse in Buenos Aires

 

Als Kardinal Bergoglio 2013 zum Papst gewählt wurde, war er fünfzehn Jahre lang das Oberhaupt der katholischen Kirche in Argentinien gewesen und im ganzen Land eine bekannte Persönlichkeit. Den Kardinälen wäre es möglich gewesen, Informationen über seinen Ruf von der Basis einzuholen, aber Konklaven zur Wahl eines Papstes sind etwas ganz anderes als die Wahl des Vorstandsvorsitzenden einer multinationalen Firma, für die Kandidaten besondere Eignungen vorweisen müssen. Seit seiner Wahl hat Papst Franziskus die Welt überrascht – und das gilt sicherlich auch für die meisten Kardinäle, die für ihn votiert haben.

Das Ziel dieses Kapitels ist es, einen Überblick über Bergoglios frühere Karriere zu geben und damit die Lücken zu schließen, was die Kardinäle außer Acht gelassen haben. Die zu Rate gezogenen Quellen sind die umfassende Biographie von Austen Ivereigh, The Great Reformer, die eine rein äußerliche Beschreibung der Geschichte ist, und, nicht zufällig, die schmeichelhafteste. Im Vordergrund sollen hier aber vor allem die Berichte von Bergoglios Landsmännern stehen, Personen, die ihn über Jahre gut kannten und die die Lage der Kirche in Argentinien aus dem Inneren heraus detailliert beobachtet haben. Alle erzählen sie eine Geschichte, von der der Rest der Welt offensichtlich nichts weiß, die aber im Wesentlichen den Stil und die Politik von Franziskus erklärt, wie wir sie in den letzten fünf Jahren beobachten konnten.

Jorge Mario Bergoglio wurde am 17. Dezember 1936 in einem Vorort von Buenos Aires als Sohn eines um seine Existenz kämpfenden Buchhalters geboren. Die Sorgen in seiner Familie waren nicht nur wirtschaftlicher Art. Der heranwachsende Jorge konnte nicht bei seinen Eltern groß werden. Nach der Geburt des fünften Kindes wurde seine Mutter zeitweise invalide und musste das Aufziehen der Kinder einer Frau mit Namen Concepción überlassen. Jorge pries diese Ersatzmutter als gute Frau, obwohl er zugab, dass sie ihn schlecht behandelt hatte. Als sie später zu ihm kam, um ihn als Bischof von Buenos Aires um Hilfe zu bitten, schickte er sie, wie er es mit eigenen Worten ausdrückte, »sehr schnell und auf unhöfliche Weise« fort. 26 Dieser Vorfall scheint auf Charaktereigenschaften hinzuweisen, die ihre Wurzeln tief in der Vergangenheit haben, aber Hinweise auf Bergoglios rätselhafte Persönlichkeit geben.

Auf gesellschaftlicher Ebene waren die Zeiten schwer genug. Argentinien wurde von der weltweiten Rezession der 30er Jahre gebeutelt und erlebte einen vorher nie gekannten Wirtschaftsrückgang. In dem halben Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Land mit britischen Investments überschüttet, der Rest der Welt war begeistert von den Naturprodukten der Pampa und Argentinien wurde zum achtreichsten Land der Welt, das von einer Oligarchie von Schönwettermillionären dominiert wurde. Der letzte Aufstieg des Wohlstands ereignete sich im Zweiten Weltkrieg, als das belagerte Britannien händeringend argentinische Fleischprodukte brauchte. Mit dem Kriegsende aber kollabierte der Exportboom. Das war die Kulisse, vor der sich die Machtübernahme von Juan Perón ereignete, einem populistischen Diktator, der die politische Kultur Argentiniens seitdem dominierte.

Zwischen Jorge Bergoglios zehntem und neunzehntem Lebensjahr von 1946 – 1955 war Perón Präsident und der Blick des Jugendlichen, wie der seiner gesamten Generation, war überaus gefesselt von dieser einzigartigen Gestalt und der Bewegung, die Perón gründete. Dessen Geheimnis war, die Missstände in einer neureichen Gesellschaft auszunutzen, die plötzlich ihre »Bonanza« verloren hatte. Er stellte sich auf die Seite des kleinen Mannes – einer Klasse, zu der Bergoglios Familie zweifellos gehörte – gegen eine Plutokratie, die die Unterschicht lange Zeit ausgebeutet hatte. Perón nutzte eine nationalistische und ausländerfeindliche Rhetorik, in der Argentinien als Opfer dargestellt wurde, so, als ob das Land sich nicht selbst seit einer Generation an der Fremdnachfrage bereichert hätte. Peróns Frau Evita, eine ehemalige Schauspielerin mit Hang zum Luxus, aber tiefem Hass gegen die hohen Gesellschaftskreise, in denen sie immer Außenseiterin blieb, verkörperte mit ihrem auffälligen und schrillen Stil die Ausdrucksform des Regimes. Peróns auffallendste Charaktereigenschaft war sein zynischer Opportunismus, mit dem er rechte und linke politische Kräfte nacheinander ausnutzte. Er begann als ein Vorkämpfer argentinischer katholischer Identität, aber bereits 1950 hatte sich Perón mit der Kirche überworfen und regierte eines der antiklerikalsten Regime der Welt. Er wurde 1955 durch einen Militärputsch gestürzt und verbrachte die nächsten achtzehn Jahre im spanischen Exil. Er ließ eine verblendete und enttäuschte Generation zurück. Unter seinen Anhängern befand sich ein junger Jorge Bergoglio, und es ist an der Zeit zu zeigen, wie sehr er ein Jünger seines Meisters werden würde.

Nach einer katholischen Erziehung in Buenos Aires entschied sich Jorge Bergoglio im Alter von 21 Jahren Jesuit zu werden und trat 1958 in das Ordensnoviziat ein. 1969 wurde er zum Priester geweiht und schloss zwei Jahre später die langwierige Jesuitenausbildung ab. Nach seiner Wahl zum Papst erschienen rühmende Erzählungen seiner Karriere, aber einige Charakterzüge, die von seinem Biographen Austen Ivereigh erwähnt werden, sollten beachtet werden – nicht für eine Verunglimpfung, sondern für eine Persönlichkeitsstudie. In den ersten Jahren löste eine prahlerische Zurschaustellung von Frömmigkeit Kritik von Jorge Bergoglios Mitnovizen aus; und später, als er Leiter und Präfekt der Disziplin in einer Jungenschule des Ordens wurde, war er bekannt dafür, die strengsten Bestrafungen mit einem Engelsgesicht auszuführen. 27