Matthias Gerschwitz, Jahrgang 1959, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbstständig. Zuvor arbeitete er für verschiedene Unternehmen und Produkte, unter anderem auch für Bullrich Salz. Die ungebrochene Faszination für dieses traditionsreiche Produkt veranlasste ihn, die spannende Geschichte eines der ältesten Markenartikel Deutschlands zu recherchieren und zu veröffentlichen. Mehr zu seinen Büchern finden Sie unter http://www.matthias-gerschwitz.de.

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über »www.dnb.de« abrufbar.

© 2007/2019 Matthias Gerschwitz

www.matthias-gerschwitz.de

Cover, Layout, Satz: Matthias Gerschwitz

Lektorat: Dr. Wolf Borchers und Andreas Schultz

Herstellung und Verlag: BoD Books on Demand GmbH,Norderstedt

ISBN: 978-3-75045-414-9

Inhalt

Kinodia aus den 1930er Jahren

Vorwort

WIE MAN AUF die Idee kommt, ein Buch über »Bullrich Salz« zu schreiben, wurde ich bei der Vorbereitung und Recherche oft gefragt. Eigentlich ist es ganz einfach: Man nehme die Faszination für Geschichte, das Wissen, dass Tradition ein wichtiger Teil der Unternehmenskultur ist und die Begeisterung für eine Marke, die in fast zweihundert Jahren Höhen und Tiefen erlebt, politischen und wirtschaftlichen Stürmen getrotzt und ganz nebenbei Millionen Verbraucher von Magenbeschwerden und Sodbrennen erlöst hat, und die auch im 21. Jahrhundert als starke Marke nicht aus den Gesundheitsregalen des Handels wegzudenken ist. Wenn sich dazu noch herausstellt, dass in der Geschichte eines der ältesten deutschen Markenartikel viel mehr steckt – Familienfehden und Erbstreitigkeiten, Prozesse wegen Betrug, Beleidigung und Markenrechtsverletzungen … bis hin zu einem Mord! – dann wird aus der historischen Recherche eine spannende Entdeckungsreise, bei der man zudem noch auf so illustre Namen wie Theodor Fontane, Walter Benjamin, Henri Nannen, Vicco von Bülow, Martin Buchholz, Sönke Wortmann und Ottfried Fischer trifft. Viel Vergnügen auf einer Reise durch deutsche Marken-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte … viel Vergnügen mit »Bullrich Salz«!

Berlin, im Oktober 2019 | Matthias Gerschwitz

Am Anfang stand die Idee …

EIGENTLICH KENNT IHN jeder. Zumindest jenen, die 1852 in der Berliner Innenstadt leben, ist sein Anblick vertraut. Der ausgeprägte Backenbart und das schneeweiße Haar zeichnen ihn aus, den Parfümerie- und Toilettenseifenfabrikanten, den Königlich Preußischen Hoflieferanten, den Hoflieferanten Sr. Majestät des Königs und Sr. Königlichen Hoheit Prinz Friedrich der Niederlande – den Apotheker 1. Klasse August Wilhelm Bullrich. Seit 25 Jahren, seit 1827, überquert er allmorgendlich den Molkenmarkt, biegt in die Stralauer Straße ein und betritt das Haus mit der Nummer 33. Hier ist der Sitz der Firma Stegmann, der Arbeitsstätte Bullrichs. Anfangs als Angestellter, ab 1835 als Inhaber1.

August Wilhelm Bullrich ist das dritte von fünf Kindern. Von den beiden Schwestern Luise Marie Wilhelmine und Friederike Wilhelmine sowie dem jüngeren Bruder Johann Wilhelm ist nichts bekannt. Der älteste Bruder, Carl Wilhelm, fügt sich dem Wunsche des Vaters nach einer kaufmännischen Ausbildung. August Wilhelm aber hat andere Interessen. Schon früh begeistert er sich für die Wissenschaft, doch da sich in der Familie kein Vorbild findet, muss er sich aus eigener Kraft empor arbeiten. Gegen den Willen des Vaters verlässt der Sohn früh seine Heimatstadt Potsdam und macht sich auf nach Berlin, um eine pharmazeutische Ausbildung in der Apotheke Zum schwarzen Adler in der Friedrichstraße 173 zu absolvieren, wo er nach dem Ende seiner Ausbildung die Position des »Provisors«, der ersten Fachkraft, bekleiden wird. Dadurch hat er Zugang zum Labor – und den nutzt er reichlich. Nächtelang brütet er über chemischen Formeln, Beschreibungen von Heilpflanzen und ihren Inhaltsstoffen sowie weiterer einschlägiger Literatur und führt Experimente aller Art durch. Mitte der zwanziger Jahre fallen ihm Aufzeichnungen von Valentin Rose d. J.2 über Natriumbicarbonat in die Hände. Bullrich ist von der Abhandlung des Apothekers und preußischen Medizinalassessors fasziniert: Bald findet er heraus, dass Bicarbonat erheblich besser Abhilfe bei dem ihn plagenden Sodbrennen zu schaffen vermag als die bis dahin verordnete Schlämmkreide. Zudem notiert er eine deutliche Verbesserung des allgemeinen Befindens. Beflügelt durch die Ergebnisse des Selbstversuchs entwickelt er 1827 die ihn lebenslang begleitende Theorie, dass es neben organischen Defekten nur drei weitere Ursachen für Krankheitserscheinungen gibt: Nervenleiden, Vergiftungen oder gastrische Verunreinigungen, die sich durch Gaben von Natriumbicarbonat lösen und aus dem Körper spülen lassen. Im selben Maße, in dem ihn seine Entdeckung begeistert, verwirrt sie ihn auch. Er ist Angestellter der Apotheke und daher verpflichtet, seinen Dienstherrn Johann Daniel Riedel über die Ergebnisse der Forschung zu informieren; dann aber würde dieser die Meriten in Form von Ruhm und Geld einstreichen – was Bullrich vermeiden will. Ihm schwebt vor, seine Erfindung unter eigenem Namen auf den Markt zu bringen. Doch ohne akademischen Abschluss kann er dieses Ziel nicht erreichen. So legt er 1827 das Examen als Apotheker 1. Klasse ab. Nun hat er zwar die Voraussetzungen geschaffen, sich selbstständig zu machen, aber zur Gründung einer neuen oder zum Erwerb einer bestehenden Apotheke fehlen ihm die finanziellen Mittel. Deshalb tritt er noch im selben Jahr in die Firma F. C. Stegmann ein.

Stegmann beliefert einen großen Kundenkreis mit eigenen Fabrikationen von Seifen, Pomaden, Rasieröl, Schminke, Eau de Cologne, Eau de Lavande, Räucherkerzen und Zahnpulver, aber auch mit Glas- und Stahlwaren, Feuerzeugen und Tabakwaren. Da Lieferungen nur mit der Postkutsche möglich sind, finden die meisten Wettbewerber ihre Abnehmer nur in der näheren Umgebung; Stegmann jedoch bedient den gesamten deutschsprachigen Raum. Möglich ist dies durch ein Auslieferungslager in Frankfurt am Main, das der Firmeninhaber in weiser Voraussicht angemietet hatte. Schließlich sollte es noch acht Jahre dauern, bis 1835 zwischen Nürnberg und Fürth die erste Eisenbahn in Deutschland verkehrt, und noch drei Jahre länger, bis die Strecke Berlin-Potsdam eröffnet wird.

Die Einrichtung eines Auslieferungslagers erweist sich von Anfang an als gute Idee. Bullrich und Stegmann beschicken alle wichtigen Messeplätze mit ihren Mustern und sind zumeist auch selbst vor Ort. Das Unternehmen floriert und heimst viele Preise und lobende Erwähnungen ein. Auch die Anerkennung aus höchsten Kreisen lässt nicht lange auf sich warten: Am 28. Februar 1828 wird dem Unternehmen der Titel eines Hoflieferanten Sr. Majestät des Königs von Preußen verliehen; am 26. Dezember 1833 zusätzlich der Titel eines Hoflieferanten Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Friedrich der Niederlande. Stegmann hat von der zweiten Auszeichnung nicht mehr viel – er stirbt am 23. Oktober 1834.

Erbin und neue Eigentümerin wird Stegmanns in Warschau lebende Mutter, die mit der Seifenfabrik allerdings nicht viel anfangen kann. Daher veräußert sie das Unternehmen am 21. Februar 1835 an August Wilhelm Bullrich, der sich mit einem früheren leitenden Mitarbeiter Stegmanns, George Louis Knoblauch, einen Kompagnon ins Boot holt. Zwar reichen die finanziellen Mittel nicht einmal für ein Viertel des Kaufpreises in bar, aber Bullrich finanziert den Rest über Raten und Kredite. Schließlich hat er die Idee aus dem Jahr 1827 in petto – doch als er Knoblauch von seinen Forschungen über Natriumbicarbonat berichtet, ist dieser skeptisch. Als gelernter Seifensieder will er sich lieber dem angestammten Geschäfte widmen; Pharmazie ist nicht sein Ding. Doch Bullrich lässt nicht locker und erreicht einen Kompromiss. Der Apotheker kann seine Idee realisieren, verspricht dem Kompagnon aber, das Hauptgeschäft nicht zu vernachlässigen. Das wäre allerdings auch ein schwerer Fehler gewesen. F. C. Stegmann ist ein im Markt etabliertes, erfolgreiches Unternehmen. Durch die Beibehaltung des Namens können sie auch weiterhin vom guten Ruf der Firma profitieren, der letzlich auch die Einführung des Bullrich’schen »Universal-Reinigungs-Salz« erleichtert.

Debitorenbuch F.C. Stegmann, September 1836: Das Unternehmen belieferte Kunden zwischen Wesel und Memel (heute Klaipéda/Litauen), Hamburg und Salzburg, Freiburg und Krakau sowie in London.

Bullrich hat viel zu tun, um sein Salz zu etablieren. Trotzdem findet er Zeit für das private Glück. Am 10. Januar 1836 ehelicht er Henriette Crudelius3. Bullrich ist eine gute Partie; seine Frau weiß das zu schätzen und hält ihm den Rücken frei. Wehmütig muss sie allerdings akzeptieren, dass sich ein Herzenswunsch nicht erfüllen wird: Die Ehe bleibt kinderlos.

Obwohl das Geschäft brummt, verschlechtert sich das Verhältnis zwischen den Teilhabern zusehends. Bullrich hat klare Vorstellungen von der Ausrichtung der Firma; Knoblauch fühlt sich zurückgesetzt und zieht die Konsequenzen. Er lässt sich auszahlen und scheidet zum Jahresende 1843 aus der Firma aus. Nun kann Bullrich nach Lust und Laune schalten und walten. Bis zu seinem Tod wird er die Geschicke des Hauses und den Erfolg seines »Bullrich Salz« nicht mehr aus der Hand geben.

Als alleiniger Inhaber der Firma widmet sich August Wilhelm Bullrich intensiv der Vermarktung seiner Erfindung. Er nutzt jede Gelegenheit, das in Tüten bzw. blaues Packpapier abgefüllte »Bullrich Salz« als Mittel für die unterschiedlichsten Anwendungen anzupreisen. Neben anderen Messen nimmt er auch an der ersten »Ausstellung Vaterländischer Gewerbeerzeugnisse« 1844 in Berlin teil, bei der seine Firma eine Bronzemedaille erringt.

Bei Vorträgen in polytechnischen und anderen Gesellschaften bringt er den Zuhörern die Vorteile und Anwendungen seines Produktes nahe. In Traktaten, Schriften und Büchern preist er die medizinischen Erfolge und scheut sich auch nicht, mit amtlichen Stellen in Konflikt zu geraten, was ihm des Öfteren Geldstrafen wegen Beleidigung und Widerstandes gegen die Staatsgewalt einbringt. Überliefert ist ein heftiger und hartnäckiger Streit mit Johann Ludwig Casper, dem Berliner Stadtphysicus4 über die Verwendung von »Bullrich Salz«. Auslöser für diesen Streit ist das Buch »Aufschluss über die Cholera auf Erfahrung, nach wissenschaftlichen Prinzipien, gestützt für Aerzte und Nichtaerzte«, das Bullrich 1849 veröffentlicht. Der Apotheker ist der festen Überzeugung, mit seinem »Universal-Reinigungs-Salz« ein Allheilmittel gefunden zu haben, das auch gegen die seit 1831 in Preußen grassierende Seuche helfen soll. Casper, ein klassischer Schulmediziner, schimpft Bullrich einen Scharlatan und verbietet ihm die Empfehlung und Verabreichung seines Mittels. Trotz gegenteiliger Meinung der Schulmedizin bleibt Bullrich bei seiner Auffassung. Ja – er legt sogar noch nach.

1853 erscheint der »Rathgeber bei Krankheitsfällen«, in dem er seine bereits 1827 entwickelte These zu den drei Krankheitserscheinungen jenseits organischer Defekte veröffentlicht. Zur Kur gastrischer Verunreinigungen empfiehlt er sein »Universal-Reinigungs-Salz« oder das von ihm 1851 entwickelte Bullrich-Sodawasser, das nach Aussage des Apothekers festsitzende innere Verunreinigungen besser als Selterswasser zu lösen vermöge. Bullrich versteift sich sogar darauf, sein Sodawasser als gesunde Alternative zu Champagner zu positionieren5.

Aufmerksamkeit ist gut für’s Geschäft – und über mangelnde Aufmerksamkeit kann sich Bullrich nun wirklich nicht beklagen. Die Berliner amüsieren sich wie Bolle über seine öffentlichen Auftritte – aber sie kaufen das Bullrich’sche Salz. Und nicht nur die Berliner tun das ...

Im Jahre 1901 wird sich die Pharmaceutische Zeitung den Auswirkungen der Entdeckung des Natriumbicarbonats durch Valentin Rose einhundert Jahre zuvor ausführlich widmen und feststellen:

»Die grösste Bedeutung jedoch besitzt das Präparat als Volksmittel, besonders seit Barella und Bullrich ihre berühmten Universalreinigungs- und Magensalze in Verkehr gebracht haben. Zumal auf dem Lande, wo Arzt und Apotheker oft weit entfernt wohnen, gibt es keinen Gutshof, kein Pastor- oder Schulhaus, in dem nicht eine Düte oder Schachtel des köstlichen Allheilmittels mit besonderer Sorgfalt aufbewahrt würde. Es hilft so ziemlich bei allen ›inneren‹ Leiden, die dem Sterblichen in halbwegs normalen Zeiten zu begegnen pflegen, und es ist dabei unschädlich. Wäre es anders, so hätte ein in seiner Materia medica zwar etwas beschränkter, sonst aber offenbar recht praktisch veranlagter Mediziner nicht reimen können:

Geht’s deiner Frau, sie weiss nicht, wie,

So reiche schnell ihr Natron bi.

Fehlt’s deiner Frau, sie weiss nicht, wo,

Dann gib ihr Natron bicar bo

Ich lob’ in allen Fällen drum

Das Natron bicarboni cum.«

Doch zurück in die 1850er Jahre. Um die Nachfrage, nicht nur nach dem »Universal-Reinigungs-Salz«, das bald als »Bullrich Salz« in aller Munde sein wird, sondern nach allen Produkten des Hauses zu befriedigen, muss Bullrich Angestellte und Arbeiter einstellen. Zahlen sind nicht überliefert, aber Positionen: Es werden Seifensieder und Abfüller, Lageristen und Packer sowie kaufmännisches Personal benötigt. Und natürlich Lehrlinge. Ein Bewerber ist Wilhelm Zoll6 aus Zechlin (Mark). Nach gutem Schulabschluss sucht er sein Glück in der preußischen Hauptstadt. August Wilhelm Bullrich erkennt das Potenzial des jungen Mannes und stellt ihn zum April 1853 ein. Zoll wird ihm sein Vertrauen am 30. April 1857 mit dem erfolgreichen Abschluss zum Kaufmannsgehilfen (siehe Abbildung nächste Seite) danken.

Kurz zuvor hatte Bullrich seine Nichte Anna7, die Tochter des »Sternen«-Wirts aus Teupitz, nach Berlin geholt. Da die Ehe des Apothekers kinderlos geblieben ist, soll sie seine Nachfolgerin werden. Ungewöhnlich genug: Für Frauen ist es Mitte des 19. Jahrhunderts nicht gerade üblich, berufliche Perspektiven angeboten zu bekommen – aber ist Bullrich nicht ohnehin ein ungewöhnlicher Zeitgenosse?

Anna hat Eingewöhnungsschwierigkeiten, wie sie ihrer Mutter in einem Brief offenbart: »So lieb und gut Onkel auch zu mir war, so streng und abweisend war Tante Minna und es hat viele Tränen und schwere Kämpfe gekostet, bis ich mir ihre Liebe erwarb.«

Leichter fällt ihr der Kontakt zu Wilhelm Zoll. Ihm trägt Bullrich daher auf, seiner Nichte alle notwendigen Kenntnisse über das Unternehmen zu vermitteln. Er widmet sich dieser Aufgabe ausgiebig und, wie die Zukunft belegen wird, auch gut.

Kaufmannsgehilfenbrief von Wilhelm Zoll (1857)

Zoll macht sich unentbehrlich: Er bildet aus, führt die Bücher und kümmert sich um das Personal. So stellt er 1857 einen weiteren Reisenden ein – von Friedrich Wilhelm Assmann wird noch zu hören sein.

Assmann stammt, genau wie Zoll, aus Zechlin, ist aber dreißig Jahre älter. Deshalb fällt es ihm schwer, den jungen Kaufmannsgehilfen als Vorgesetzten zu akzeptieren; vielmehr sieht er sich dem nur drei Jahre älteren Apotheker ebenbürtig. Bullrich lässt sich auf Ränkespiele gleich welcher Art aber nicht ein, die Hierarchie bleibt unverändert. Nur das Verhältnis zwischen Zoll und Assmann kühlt ab. Dafür erblüht – erst still und leise, bald aber für alle sichtbar – eine innige Beziehung zwischen Zoll und Anna. Bullrich betrachtet die Verbindung mit Wohlwollen, wird aber nicht mehr erleben, wohin diese Beziehung führt, denn der Apotheker stirbt am 3. Juli 1859.

August Wilhelm Bullrich vererbt das prosperierende Unternehmen seiner Witwe, die sich bald gegen Nachahmer des »Universal-Reinigungs-Salz’« wehren muss. Daher überlässt sie lieber Zoll die Leitung, der mittlerweile die Liaison mit Anna Bullrich intensiviert hat. Sie planen nicht nur eine gemeinsame private, sondern auch geschäftliche Zukunft.

Achtzehn Monate nach dem Ableben Bullrichs, am 10. Januar 1861, kaufen Wilhelm Zoll und Anna Bullrich die Firma Stegmann und benennen sie im Gedenken an den verstorbenen Onkel in A.W. Bullrich vorm. F. C. Stegmann um. Wie schon der Onkel verfügen auch sie nicht über ausreichende finanzielle Mittel und müssen den Kaufpreis abstottern; daher verpflichten sie sich, Henriette Bullrich bis zu ihrem Tode eine jährliche Rente zu zahlen. Diese Verpflichtung wird erst am 30. September 1900 enden.

Völlig unerwartet melden plötzlich die Geschwister des Apothekers Ansprüche auf das Erbe an. Jahrelang war von ihnen nichts zu hören und zu lesen gewesen; der Geruch von Geld und Wohlstand jedoch verkürzt bekanntlich auch die größten Entfernungen. Wobei – so groß sind die Entfernungen gar nicht; mit Ausnahme von Carl Wilhelm Bullrich8, der nach Hamburg verzogen war, sind alle Geschwister nach wie vor in Potsdam ansässig. Trotzdem haben sie sich niemals um Bruder und Schwägerin gekümmert. Aber nun, da eine Erbschaft winkt, entdecken sie plötzlich ihren Familiensinn.

Henriettes Stirn ist von dunklen Vorahnungen umwölkt. Sie drängt Anna dazu, die ohnedies anstehende Verlobung schnellstmöglich in die Tat umzusetzen, denn die Geschwister beäugen bereits misstrauisch die Geschäftsführung von Wilhelm Zoll – der, so wird argumentiert, ja schließlich nicht zur Familie gehört. Auch die Bekanntgabe der Verlobung am 10. Februar 1861 ändert nichts am geschwisterlichen Argwohn, vor allem, weil gleichzeitig mit der Verlobung auch die Übernahme der Firma offiziell bekannt gegeben wird.

Das ruft die Geschwister endgültig auf den Plan. Sie missgönnen Zoll den privaten und geschäftlichen Erfolg, bezichtigen ihn der Vorteilsnahme sowie des Betrugs und bestreiten die Rechtmäßigkeit des Firmenverkaufs dem Grundsatze nach. Zu diesem Behuf strengen sie unter Federführung des ältesten Bruders Carl Wilhelm – dem einzigen, der sich mit so etwas auskennt – eine Klage gegen Zoll an, um die geschlossenen Verträge gerichtlich für ungültig erklären zu lassen. Die Klage wird abgewiesen.

Nun wenden sich die Geschwister an die Witwe. Sie verlangen von ihr die Herausgabe eines Teils des von August Wilhelm hinterlassenen, nicht unbeträchtlichen Vermögens. Der Rechtsstreit zieht sich über Jahre hin und treibt kuriose Blüten. 1865 wird gegen Henriette ein Steckbrief9 erlassen, woraufhin sie sich in ihrer Verzweiflung eine Zeit lang an einem geheimen Ort in der Mark Brandenburg versteckt halten muss. Erst 1875 können sich die Parteien einigen und schließen einen Vergleich; Henriette Bullrich verpflichtet sich, an die Geschwister ihres verstorbenen Gatten und deren Abkömmlinge eine jährliche Rente zu zahlen.

Nach fünfzehn Monaten Verlobungszeit heiraten Wilhelm Zoll und Anna Bullrich am 23. Mai 1862. Damit beginnt für die Nichte des Firmengründers eine enge Verbindung mit dem Unternehmen, die erst 1918 enden wird, als sie im Alter von 76 Jahren in den Ruhestand tritt.


1 August Wilhelm Bullrich (2.6.1802-3.7.1859), Apotheker 1. Klasse. Eintritt ins Unternehmen F. C. Stegmann 1827, Übernahme der Firma 1835.

2 Valentin Rose d. J. (1762-1807), Besitzer der Apotheke »Zum weißen Schwan« in der Spandauer Straße zu Berlin, stellte 1801 zuerst doppeltkohlensaures Natron her. Er war auch Vormund von Karl Friedrich Schinkel, der 1794 als Dreizehnjähriger mit Mutter und Geschwistern nach Berlin kam, wo er später zum berühmtesten preußischen Baumeister avancierte.

3 Henriette Wilhelmine Crudelius (1807-1900), genannt »Tante Minna«

4 Der Stadtphysicus war zugleich Leiter des städtischen Gesundheitswesens und der Rechtsmedizin.

5 Bullrich schreibt im »Rathgeber bei Krankheitsfällen« über sein Sodawasser: »Auch ist es im Stande, als angenehmes Getränk nach Festmahlen den Champagner zu ersetzen, welcher in vielen Fällen, selbst wenn er gut ist, Uebelkeit und Erbrechen hervorbringt, während mein Sodawasser, besonders mit etwas Lünel [süßer Muscat-Wein] getrunken, ein angenehmes Getränk ist.

6 Wilhelm Carl Emil Erdmuth Zoll (1835-1883)

7 Anna Wilhelmine Mathilde Bullrich (1842-1934). Von 1857-1918 in der Bullrich’schen Firma tätig.

8 Carl Wilhelm Bullrich (1799-1871). Buchhalter in Hamburg, wohnhaft Cremon 20.

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