Kurzbeschreibung:
Die Zeit heilt selbst die tiefsten Wunden. Aber ein Jahr ist nicht genug.
Als Josh und Emma erneut aufeinander treffen, merken sie, dass das Herzklopfen noch immer da ist.
Der Start ins neue Leben scheint perfekt, doch dann holt ein Fehltritt aus der Vergangenheit die beiden ein und Emmas Leben steht wieder einmal Kopf.
Ihr neuer Job sorgt für Ablenkung, bringt aber auch jede Menge Wirbel mit sich.
Wohin wird Emmas Weg sie führen?
Josh & Emma
Portrait einer Liebe
Roman
Edel Elements
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Korrektorat: Tatjana Weichel
Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart.
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ISBN: 978-3-96215-368-7
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Eine einzelne Träne kullerte aus meinem Augenwinkel. Sie sah so glücklich aus. Der kleine Stachel namens Neid bohrte sich tiefer in das kalte versteinerte Etwas, das bis vor gut einem Jahr einmal mein Herz gewesen war. Ich versuchte, tapfer zu lächeln und freute mich für sie. Wirklich. Aber ich fragte mich, ob ich jemals wieder so etwas wie Glück empfinden würde. Ich schloss die Augen. Gleich würde Hallelujah kommen, das Lied, von dem sich Liv gewünscht hatte, dass es Joshua mit seiner einzigartigen, gefühlvollen Stimme für sie singen würde.
Ich hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zu wissen, dass eigentlich er das Lied gesungen hätte, war fast genauso schlimm, als wenn er mir nun tatsächlich gegenübergestanden hätte. Ich seufzte und hoffte inständig, dass kein Laut aus meinen mit Lipgloss zugekleisterten Lippen gedrungen war.
Ich zwang mich dazu, die Augen zu öffnen, als ich die ersten Töne des Klassikers von Leonard Cohen hörte. Toms Stimme erfüllte den Innenraum der St. Anna-Kirche und hallte an den Wänden wider. Er klang wie ein gefallener Engel. Klar, verletzlich. Der Song schleuderte mich unvermittelt in meine Vergangenheit zurück. Ich erinnerte mich. An damals, als ich noch lebte. Damals, als diese Musik ein Teil von mir gewesen war. Ich schluckte, versuchte durchzuhalten und die Bilder von mir fernzuhalten. Das Strahlen der dunklen, tiefgründigen Augen. Die Grübchen. Die wuscheligen Haare, die jeden Tag anders aussahen. Die Muskeln, die sich unaufdringlich unter seinen T-Shirts spannten. Ich versuchte die Erinnerung an seine Küsse zu unterdrücken, an sein Lachen und seine sanften Berührungen. Ich erschauderte. Endlich. Applaus.
Erleichtert atmete ich durch. Ich hatte es überstanden und erhob mich, um ebenfalls zu klatschen. Mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen. Sonnenlicht sickerte wie eine klebrige Flüssigkeit durch die bunten Gläser der Kirche und ließ die Farben in ihrem Inneren tanzen.
Liv strahlte mit der Sonne um die Wette, als sie sich zu mir wandte. Ich streckte den Arm aus, um ihre Hand zu drücken. Von meinem angestammten Platz als Trauzeugin in der ersten Reihe hatte ich sogar eine realistische Chance, sie zu erreichen. Doch im nächsten Moment wurde sie von ihren Verwandten umzingelt, die allesamt mit feuchten Augen ihre Glückwünsche ausriefen.
Ich versuchte, so schnell es meine Stöckelschuhe und das enge Kleid zuließen, aus der kleinen Kirche zu stürmen, um meine Gedanken abzuschütteln. Der heutige Tag gehörte Liv und Lukas. Meine Trauer um Joshua hatte hier nichts zu suchen.
Ich stellte mich etwas abseits unter einen der alten Kastanienbäume, die den Kirchplatz säumten, und blinzelte in die Sonne. Wer bitte heiratete mitten im August? Richtig: glückliche, total verliebte Liebespaare. Ich stöhnte auf. Kinderlachen drang vom nahegelegenen Spielplatz. Es war ein schöner Tag, warum nur konnte ich nicht loslassen und im Hier und Jetzt leben? Warum musste ich heute wieder an Joshua denken? In den letzten Wochen hatte ich es doch endlich geschafft, ein Vakuum an Gefühlen zu erzeugen. Doch nun war alles wieder da. Der Schmerz hatte sich wieder durch die dichten Wände gefressen, die ich im letzten Jahr fein säuberlich aufgebaut hatte.
„Hier“, sagte die mir inzwischen vertraute Stimme. Ich lächelte ihn an und nahm ihm das Sektglas dankbar ab. In den letzten Monaten war er an manchen Tagen der einzige Kontakt zur Außenwelt gewesen. Wenn ich mich in meinem Zimmer verkrochen und meinen Tränen hingegeben hatte. Tom, der Bassist von Amblish. Tom, der Trauzeuge von Lukas. Tom, der arrogante Macho.
Er ließ es sich nicht nehmen, mich immer und immer wieder an die Verantwortung zu erinnern, die wir als Trauzeugen hatten. Schließlich sollte der heutige Tag unvergesslich für Liv und Lukas werden. Und Tom sah es als unsere Aufgabe an, genau das zu organisieren. Zuerst hatte er mich genervt. Er erinnerte mich zu sehr an meine Zeit mit Joshua. Aber nach und nach hatte er mich überzeugt. Er war nett zu mir. Und er nahm keine Rücksicht auf meine Verfassung. Nie behandelte er mich wie ein rohes Ei, und ich war ihm dankbar dafür.
Über Joshua oder die anderen Jungs von Amblish sprachen wir nie. Auch nicht über die Musik oder was bei ihnen gerade ablief. Es glich einem Eiertanz, aber Tom absolvierte ihn jedes Mal meisterhaft.
„Du denkst wieder an ihn“, stellte er ohne Umschweife fest. Ich schluckte. Für ein oberflächliches Arschloch hatte er verdammt feine Antennen. Zerknirscht verzog ich den Mund und kippte den Sekt in einem Zug hinunter. Als sich die Bläschen in meinem Magen ausbreiteten und eine wohlige Wärme nach sich zogen, fühlte ich mich ein kleines bisschen besser. Joshuas wunderschönes Gesicht verblasste langsam vor meinem inneren Auge, und ich winkte ihm im stillen Gruß hinterher. Spätestens morgen früh würden wir uns wiedersehen. Wenn all der Trubel und die Promille verflogen waren.
„Hier, iss was. Du kannst es gebrauchen“, raunte Tom und hielt mir ein Laugengebäck hin. Er musterte mich durchdringend. Ich verdrehte die Augen. Diesen Spruch hatte ich in den letzten Monaten zu oft gehört. Nicht zuletzt Liv hatte mir mit Schimpf und Schande zu verstehen gegeben, was sie davon hielt, dass ich ein paar Kilos abgenommen hatte. Sie hatte sich nach langem Hin und Her entschieden, das Brautkleid ihrer Großmutter zu tragen. Als angehende Mode-Designerin ließ sie es sich aber nicht nehmen, ein Kleid für ihre Hochzeit zu kreieren. Und ich als ihre Trauzeugin hatte die Ehre, es zu tragen. Sie hatte das hellgrüne Spitzenkleid auf meine alten Maße geschneidert, und es hatte ziemlichen Stunk gegeben, dass sie es auf den letzten Drücker enger nähen musste. Wir hatten uns einfach zu lange nicht gesehen.
Ich wusste, ich hatte mich im vergangenen Jahr nicht nur äußerlich verändert. Mit den Kilos war auch die Leichtigkeit verschwunden. Geblieben war eine drückende Schwere, eine Melancholie, die mich an vielen Tagen verbittert erscheinen ließ.
„Oh Mann, ich bin nur trainiert“, verteidigte ich mich. Ein spöttisches Lachen drang aus Toms Mund.
„Na, dann müsste man ja Muskeln sehen.“ Er nahm meinen Arm unsanft in die Hand und hielt ihn sich dicht vor die Augen. „Ich sehe nur Knochen. Und Haut.“ Er ließ meinen Arm fallen und zog einen Mundwinkel entschuldigend nach oben. Ich schlug die Augen nieder.
„Aber ...“, versuchte ich mich leise zu verteidigen. Wie sollte ich ihm nur klar machen, dass alles seinen Geschmack verloren hatte. Dass ich an Essen keinen Gefallen fand und mich das Meiste nur anekelte. Ich aß, weil ich musste. Nicht, weil es mir schmeckte. Und ab und zu vergaß ich es eben. Punkt.
„Nichts aber. Iss, sonst bist du heute Abend zu nichts mehr zu gebrauchen. Und das wäre schade.“ Er zwinkerte, und ich spürte, wie mir die Röte in den Kopf schoss. Tom flirtete aber schon über sein Sektglas hinweg mit Eleni, einer Cousine von Liv. Ich war froh über die Ablenkung.
Endlich kam das Brautpaar aus der Kirche geschritten. Liv machte in dem langen, altweißen Kleid ihrem Namen alle Ehre. Eine Elfenkönigin könnte nicht zarter, nicht märchenhafter aussehen. Mit ihrem extrem flachen Bauch brachte sie alle Gerüchte um den wahren Grund der Hochzeit zum Erliegen. Liv war gerade einmal neunzehn – und schwanger war sie jedenfalls nicht.
Ich war froh, als wir den Sektempfang auf dem Annaplatz hinter uns gebracht hatten und im Greiffenegg-Schlössle ankamen. Großmütig hatte ich mich bereit erklärt, die Kinderbespaßung zu übernehmen und war froh, dass ich für ein paar wenige Stunden keinen Small-Talk mit Livs oder Lukas’ Verwandten halten musste.
Liv hatte mich eindringlich ermahnt, die Kinder nicht in schwarz zu schminken. Schwarz – wie meine Bilder im letzten Jahr allesamt geworden waren. Schwarz – wie meine Stimmung. Schwarz. Farben ermüdeten mich. Aber brauchte man für Spiderman und kleine Hexen nicht schwarz? Ich war zuversichtlich, dass ich etwas zaubern würde, das den Kids gefiel und mir keine Kopfschmerzen bereitete. Bis ich den Schminkkasten öffnete und feststellte, dass Liv vorgesorgt hatte. Das Schwarz fehlte. Und das dunkelgrau, braun und dunkellila. Ich stöhnte auf, als mich das lustige Ensemble aus rot, gelb und grün schadenfroh anlächelte. Wie sollte ich aus diesen viel zu aufdringlichen Farben etwas halbwegs Anschauliches malen? Ich verfluchte Liv dafür.
Aber die Kinder waren Feuer und Flamme, dass ich sie in quietschebunte Schmetterlinge, gelb-grün-gestreifte Bienen und Tiger mit roten Streifen verwandelte. Und nach und nach genoss ich es ein bisschen, in die einzelnen Farben abzutauchen, auch wenn das viel zu bunte Ergebnis leichte Übelkeit in mir hervorrief.
„Immer schön anständig bleiben. Die Kids sind noch zu klein für deine Künste.“ Natürlich spielte er auf die Edding-Kritzelei an, bei der ich versucht hatte, ihm einen Penis auf die Wange zu zeichnen. Tom reichte mir ein Aperol Spritz und setzte sich neben mich auf den viel zu kleinen Stuhl. Er grinste mich zweideutig an und prostete mir zu. Ich ließ es zu, dass ich mich über seinen Besuch am Kindertisch freute. Obwohl ich bei Liv ein und aus ging, kannte ich außer Tom und der engsten Verwandtschaft des Brautpaares kaum jemanden. Die beiden heirateten im kleinen familiären Kreis, ohne ihren riesengroßen, hippen Freundeskreis, den sie für gewöhnlich um sich scharten. Eine Hochzeitsparty mit ihren Freunden würde kurz vor Weihnachten stattfinden. Dann, wenn alle ihre Familien besuchten und somit möglichst viele von ihnen in Freiburg waren.
„Soll ich dich auch noch schminken?“, fragte ich neckisch und malte ihm einen rosa Klecks auf die Nasenspitze. Ich lachte ein bisschen zu laut, aber Tom sah mich nur freundlich aus seinen strahlend blauen Augen an. Seine Haare hatte er zur Feier des Tages geschnitten. Nun trug er sie kurz. In seinem braunen Anzug, dem cremefarbenen Hemd und der karierten Krawatte sah er wirklich gut aus – objektiv betrachtet. Nur die zahllosen Ringe an seinen Fingern und die Tattoos, die sich von seinen Händen ausgehend an seinen Armen bis zum Ohr entlangschlängelten, ließen vermuten, dass er ein Rockstar war. Ohne das überhebliche Zucken um seinen Mund hätte ich ihn sogar als attraktiv bezeichnet. Aber Tom war eben Tom. Und er blieb Tom. Ich widmete mich wieder Tim – Livs kleinem Bruder – und zauberte eine fliederfarbene Glitzerlibelle auf seine Wange.
„Wenn ich mir aussuchen kann, wo und mit was, bin ich dabei.“ Er zwinkerte, als ich innehielt und ihn verdattert anschaute. Baggerte er mich gerade an? Ich schüttelte angeekelt den Kopf und widmete mich dem Schminkkasten. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sich Tom umständlich von dem Kinderstuhl hochhievte.
„Ich bereite mal alles für den Film später vor.“ Tom legte eine Hand auf meine nackte Schulter. Ich erschauderte, obwohl sie sich warm anfühlte. Langsam wurde er mir doch zu vertraulich.
„Du siehst heute wunderschön aus“, flüsterte er mir ins Ohr und war verschwunden, bevor ich mich umgedreht hatte. Ich verzog den Mund. Und ich freute mich über sein Kompliment, auch wenn ich wusste, dass es gelogen war.
Tom hatte bei der Sitzordnung seine Finger im Spiel gehabt. Das vermutete ich jedenfalls, als ich auf meinen Platz zusteuerte und ihn direkt daneben sitzen sah. Er grinste mich vielsagend an und schob meinen Stuhl ein kleines Stück nach hinten. Ich lächelte zaghaft und versuchte dankbar auszusehen, er meinte es schließlich gut.
Auch den Rest des Abends wich er mir nicht von der Seite. Wahrscheinlich hatte er von Eleni einen Korb bekommen. Und außer uns gab es nur ältere Damen oder kleine Kinder. Eleni und ich waren also die Einzigen, die in sein Beuteschema passten. Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass Tom tatsächlich sein Glück bei mir versuchen würde.
Das Gesöff namens Aperol Spritz, das Tom ständig vor meiner Nase abstellte, schmeckte ausgesprochen gut. Und es machte mich lockerer. Ich ließ mich von der guten Stimmung anstecken. Lachte mit Tom. Umarmte Liv und sprach ein halbwegs ernstes Wörtchen mit Lukas, dass er meine beste Freundin gut behandeln sollte. Wir quatschten, tanzten und fast war es wie früher. Früher, als ich noch Spaß am Leben hatte.
Ich hielt inne und versuchte den Nebel zu spüren, der mich normalerweise umgab. Zumindest für den Moment schien er sich verzogen zu haben, stellte ich erfreut fest. Ich umarmte Tom und grinste Liv vielsagend an.
„Ich muss gleich los. Morgen Mittag stehen wieder Proben an. Willst du mitfahren oder bleibst du noch?“, fragte Tom und hielt die Arme weiter um mich geschlossen.
„Wohin mitfahren?“, fragte ich und zog die Augenbrauen zusammen.
„Na, nach München!“ Tom grinste, als hätte ich eine dämliche Frage gestellt. Dabei probte Amblish doch normalerweise im Bandhaus in Oberried.
„München“, flüsterte ich und überlegte krampfhaft, was Amblish in München zu suchen hatte. München. Meine neue Heimat. Ich seufzte. Nach einem dreiviertel Jahr in der selbstgewählten Isolation konnten meine Eltern meine dauernde Anwesenheit nicht mehr ertragen und schoben mich zu meinem Onkel Eric nach München ab. Sie schrieben mich für ein Probestudium in Grafik Design ein. Bis zum nächsten Semester sollte ich meine Mappe fertighaben, um mich anschließend an einer Grafik-Schule zu bewerben. Doch ich verkroch mich lieber in der winzigen Einliegerwohnung. Und litt weiter vor mich hin. Still.
Der Gedanke daran war alles andere als angenehm. Morgen würde ich wieder allein sein. Morgen wären all der Schmerz und die Erinnerungen wieder da. Erinnerungen an Joshua.
„Ich fahr mit“, beschloss ich kurzerhand. Noch ein paar weitere Stunden in Toms Gesellschaft waren allemal besser, als die nervtötende Fahrt mit Udo von der Mitfahrzentrale, der mir jedes Mal das Ohr abkaute und erzählte, wie nahrhaft die Äpfel vom Bodensee waren.
Tom lächelte siegessicher und legte seinen Arm um mich. Ich wand mich aus der Umarmung und suchte meine Sachen zusammen. Liv hob erstaunt die Augenbrauen, als ich die Party mit Tom verließ, und bedeutete mir, sie anzurufen. Das würde ich sicher tun. Aber nicht heute Nacht. Schließlich war es ihre Hochzeitsnacht. Ich umarmte sie ein letztes Mal und drückte Lukas einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Und schon saß ich in Toms Potenzschleuder. Ein 5er-BWM mit Ledersitzen, einer dicken Musikanlage und mindestens 250 PS. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wen er hier schon alles flachgelegt hatte.
Müde strampelte ich meine Stöckelschuhe von den Füßen und schaute aus dem Fenster, als die Lichter der Freiburger Nacht an mir vorbeizogen. Der viele Alkohol machte sich bemerkbar. Ich war unendlich müde. Froh, dass mich mein übliches Gedankenkarussell in Ruhe ließ, kuschelte ich mich in den Sitz ein. Mein Kleid war eigentlich viel zu kurz für solche Verrenkungen, aber damit musste Tom halt irgendwie klarkommen. Ich hoffte, dass er keinen Unfall baute, weil er auf meine nackten Oberschenkel starrte, und fiel in einen dumpfen, traumlosen Schlaf.
Als ich mit einem Ziehen im Nacken aufwachte, beschleunigte sich mein Puls von Null auf Zweihundertachtzig. Joshuas einzigartige rauchig-weiche Stimme dröhnte mir aus den Lautsprechern entgegen. Ich hielt die Augen geschlossen und versuchte, den Schock zu verdauen. Während der letzten Monate hatte ich eine grandiose Vermeidungsstrategie gefahren und immer und überall aufgepasst, dass kein Song von Amblish lief. Ich hörte weder Radio noch ging ich shoppen oder in Clubs. Alles, wobei ich mit einem Song von Amblish konfrontiert werden könnte, mied ich, als könnte ich mir dort eine lebensbedrohliche Seuche holen.
Die Wärme, die seine Stimme augenblicklich in mir auslöste, legte sich wie eine kuschelige Wolldecke über mich. Hüllte mich ein und schenkte mir das lang vermisste Gefühl der Geborgenheit. Ich ließ es zu, dass das süße Gift weiter in den Betonblock um mein Herz eindrang und erste Risse entstanden.
Ich lauschte, doch ich kannte das Lied nicht. Es musste ein neuer Song sein. Sanft und kraftvoll. Traurig und wunderschön. Ich schluckte. All die Erinnerungen, die ich so fein säuberlich verschlossen hatte, waren auf einen Schlag wieder da. Eigentlich sollte ich traurig sein. Doch ich fühlte mich gut. Ich wartete auf den erstickenden Nebel, doch er kam nicht. Ich schüttelte benommen den Kopf. Sollte ich etwa über Joshua hinweg sein? Nein, der Alkohol musste das Schmerzzentrum in meinem Gehirn betäubt haben.
„Du bist ja wach“, sagte Tom und drehte die Anlage leiser. Ich drückte mich umständlich auf dem Sitz hin und her und suchte eine halbwegs bequeme Position. Mein kurzes Kleid gab eindeutig zu viel Bein preis, aber das war mir egal. Ich gähnte herzhaft und versuchte vergeblich, die Gedanken an Joshua zu unterdrücken. Draußen dämmerte es bereits. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis wir an unserem Ziel angekommen sein würden.
„Yep. Mann, wie selbstverliebt muss man eigentlich sein, um ’ne CD von seiner eigenen Musik im Auto laufen zu lassen? Stehen da deine Miezen drauf? Ich wette, du hast einen ganzen Stapel Autogrammkarten im Handschuhfach“, witzelte ich und beugte mich Richtung Konsole. Tom versuchte mich aufzuhalten, hatte aber keine Chance. Ich öffnete das Fach mit einem lauten Rums und wurde von einem Berg Kondome überschüttet.
„Ups“, sagte ich und starrte die goldenen, blauen und roten Verpackungen an. Größe XL – war ja klar, dass Tom auch in diesem Bereich an maßloser Selbstüberschätzung litt. Ich nahm einen Gummi in die Hand und grinste Tom vielsagend an. Zeitgleich brachen wir in schallendes Gelächter aus.
„Allzeit bereit, my dear. Bedien’ dich ruhig. Man weiß nie, wann man sie mal brauchen kann“, raunte er und zwinkerte vielsagend. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss und klappte das Handschuhfach schnell wieder zu.
„Was sind das für Songs? Die kenne ich gar nicht“, versuchte ich abzulenken.
„Die sind für das nächste Album. Wir gehen noch einmal ins Studio und nehmen sie neu auf. Josh ist unzufrieden und will es nochmal machen – mit mehr Ruhe.“ Josh. Eine kleine Nadel pikte beim Klang seines Namens in mein Herz. Ich ignorierte sie.
„Die sind doch gut.“ Ich lehnte mich ans Beifahrerfenster und musterte Tom. Er sah müde aus. Aber ohne potenzielle Zuschauer war er so viel lockerer und weniger arrogant. Fast konnte ich ihn gernhaben.
„Na, ja. Als wir sie aufgenommen haben, hatte er … er hatte ’ne schwierige Zeit. Und da wir eh erst mal alle Gigs abgesagt haben, können wir jetzt in Ruhe daran feilen.“
„Wie? Alle Gigs abgesagt?“ Plötzlich beschleunigte sich wieder mein Puls. Was bedeutete das? Was war los?
„Hast du das nicht mitbekommen?“, fragte Tom verständnislos und schaute kurz zu mir rüber.
„Was mitbekommen?“ Meine Stimme zitterte. Nichts hatte ich mitbekommen. Nichts. Ich hatte Amblish aus meinem Leben radiert und Liv gebeten, mir nichts zu sagen. Aus Selbstschutz.
„Na, Josh ist im Mai zusammengebrochen. Dachte, du wüsstest davon“, sagte er ohne Umschweife. Ich blinzelte verständnislos und spürte, wie mich eine eisige Kälte ergriff.
„Zusammengebrochen?“ Meine Stimme zitterte.
„Das letzte Jahr war für alle zu viel. Josh hat es eben zuerst erwischt. Die sensible Seele.“ Alles zu viel. Sensible Seele. In mir drehte sich alles. „Hey, keine Panik. Niemand gibt dir die Schuld. Josh am allerwenigsten.“ Ich verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln.
„Was ...“ Ich räusperte mich, um den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. „Was ist mit Amerika?“
„Amerika? Herzchen, wir nehmen gerade unsere zweite Platte auf, und danach sehen wir weiter. Wir wollen es eine Spur langsamer angehen lassen. Diese ständige Reiserei, Interviews, Gigs, Termine, zwischendrin ins Studio. Das hat nicht nur Josh zugesetzt. Wir alle sind ausgelaugt und brauchen ’ne Auszeit.“ Sollte das heißen, dass alles umsonst gewesen war? Dass sie nicht in Amerika gewesen waren und vorerst auch nicht gehen würden? Ich lehnte den Kopf zurück und versuchte mich selbst zu beruhigen. Nicht meine Schuld. Es war nicht meine Schuld.
„Wie geht es Joshua jetzt?“, flüsterte ich, bemüht, meine Stimme im Griff zu haben.
„Besser. Er räumt in seinem Leben auf.“ Ich zog fragend eine Augenbraue hoch. „Er war eine zeitlang in Italien bei seiner Mom. Das hat ihm echt gutgetan. Und ich glaube, vom Alkohol und den Drogen lässt er grad auch die Finger.“
„Alkohol und Drogen? Joshua?“, fragte ich fassungslos, meine Stimme überschlug sich.
„Ja, Süße, dein Supermann ist lange nicht der Saubermann, für den du ihn hältst.“
„Na, du wirst es wissen.“ Demonstrativ verschränkte ich die Arme vor der Brust. Tom war sicher nicht ganz unschuldig, wenn Joshua Drogen nahm. Wie sonst kam er wohl an das Zeugs? Wahrscheinlich hatten sich die beiden sogar nach den Konzerten gemeinsam zugedröhnt.
Und wieder war es da. Das schlechte Gewissen, das mich auffressen wollte. Ich schob es beiseite. Ich konnte nichts dafür, dass Joshua zu zerbrechlich für diese Welt war.
Ich spürte die altbekannte Nebelfront auf mich zurollen, und plötzlich überkam mich die Angst vorm Alleinsein. Ich wollte nicht mit meinen Gedanken Karussell fahren, wollte nicht immer und immer wieder daran denken, dass es ein Fehler gewesen war, mit Joshua Schluss zu machen. Die Gewissheit, dass alles umsonst gewesen war, machte die Sache nicht besser.
„Hey, wir sind gleich da“, stellte Tom fest und räkelte sich auf dem Fahrersitz, als die Lichter der Stadt uns willkommen hießen.
„Mhm.“ Kalte Luft schlug mir entgegen, als Tom ohne Vorwarnung alle Fenster öffnete. Ich schnappte nach Luft und schlug Tom unsanft auf den Oberarm. „Mann, Tom.“ Er lachte schadenfroh.
„Komm schon. Eine kleine Abkühlung schadet dir nicht. Du hast es dir auf dem Sitz viel zu gemütlich gemacht. Sonst kriege ich dich gleich nicht mehr hier raus.“
„Wäre das so schlimm?“, fragte ich leise.
„Nein, ganz und gar nicht.“ Wir fuhren am Bahnhof entlang. Gelbes Licht drang durch die Fensterscheiben, und ich war froh, dass ich nicht mit dem Zug gefahren war und nun hier allein stehen musste.
„Zu dir oder zu mir?“, fragte Tom unvermittelt. Ich legte den Kopf schief und strafte ihn mit einem giftigen Blick. „Okay, okay. Einen Versuch war es wert“, sagte Tom und strubbelte mit einer Hand durch meine Haare. Ich versuchte ihn abzuwehren und fiel in sein Lachen ein. Er konnte es einfach nicht lassen.
Tom ergatterte direkt vor Onkel Erics Haus im Lehel einen Parkplatz. Ich kramte in der Handtasche nach dem Schlüssel und kämpfte mich aus dem Auto. Meine Oberschenkel klebten am Ledersitz fest und machten ein schmatzendes Geräusch, als sie sich endlich davon lösten. Beschämt blickte ich mich nach Tom um, aber der war bereits ausgestiegen und öffnete den Kofferraum.
„Darf ich dir wenigstens die Tasche reinbringen?“, fragte Tom, als ich sie ihm abnehmen wollte und hob sie außerhalb meiner Reichweite. „Ich benehme mich auch anständig. Versprochen.“ Tom zauberte sein wahrscheinlich vertrauensvollstes Lächeln auf sein Gesicht und sah dabei so ulkig aus, dass ich lachen musste und schließlich Richtung Haus nickte. Zufrieden legte Tom seinen Arm um meine Schulter. Er war fast genauso groß wie Joshua, aber er fühlte sich anders an. Steifer. Kantiger. Unpassend. Ich schluckte und eilte die drei Treppenstufen zu meiner Wohnungstür hinunter. Mein Onkel Eric ließ mich auf Bitten meines Vaters in dem Souterrain-Zimmer wohnen, das er sonst an Studenten vermietete.
„Hereinspaziert.“ Tom blieb unschlüssig stehen, während ich das Licht anknipste und den Wohnungsschlüssel an das Schlüsselbrett hing. Schon stand ich in dem kleinen Etwas, das Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche in einem war. Tom folgte mir. „Willst du noch was trinken?“, fragte ich, da er nicht den Anschein machte, sich in den nächsten Minuten zurückzuziehen. Er blickte sich interessiert um.
„Kaffee. Gerne.“ Ich hatte ja eher an ein schnelles Glas Wasser gedacht, wollte aber nicht unfreundlich sein. Schließlich hatte er mich mitfahren lassen und mir somit eine nervige Fahrt mit Udo erspart. Ich schaltete die Senseo-Maschine ein und verzog mich ins Badezimmer. Als ich wieder rauskam, hatte Tom es sich auf meinem Bett gemütlich gemacht. Ich schluckte im ersten Moment, sah aber schnell ein, dass es momentan keine andere Sitzgelegenheit gab – den Schreibtischstuhl hatte ich als Ablage für meine Klamotten zweckentfremdet.
Dennoch zitterten meine Finger nervös, als ich den Kaffee mit einem Klick in eine geblümte Siebziger-Jahre-Tasse laufen ließ und sie Tom reichte – ich war Besuch einfach nicht gewohnt. Tom trank seinen Kaffee schwarz. Das wusste ich noch aus Amblish-Zeiten. Müde von dem langen Tag und der Fahrt sank ich ebenfalls aufs Bett und streckte mich genüsslich aus. Einen Moment die Augen zumachen. Nur einen Moment. Ausruhen. Tom würde es mir verzeihen.
Keine Sekunde später spürte ich ein sanftes Streicheln auf meinem Kopf. Ein Traum. Es fühlte sich gut an. Ich streckte mich – und fühlte eine Hand. Atem dicht an meinem Mund. Ich öffnete die Augen und schaute direkt in Toms blaue Augen, die mich erwartungsvoll anstrahlten. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich räusperte mich.
„Was wird das?“, fragte ich mit erstickter Stimme. Er strich mir über die Wange und lächelte sanft.
„Nach was sieht es denn aus?“ Mein Verstand sagte Nein, wollte ihn wegschieben, ihn mit Schimpf und Schande aus der Wohnung jagen. Aber ich konnte nicht. Mein Körper wollte ihn. Unbedingt.
Zu sehr sehnte ich mich danach, jemandem nahe zu sein, mich in eine weiche Wolke aus Geborgenheit fallen zu lassen. Das Gefühl, begehrt zu werden, fehlte mir. Und es fühlte sich einfach wundervoll an, wie er mich berührte.
Wenn du ohne ihn
nicht mehr du selbst bist,
dann hast du ein Problem.
Denn ihn zu lieben heißt zu leiden.
Für immer. Vielleicht.
Keine zwanzig Minuten später klopfte es zaghaft an der Tür. Keine Ahnung, wie es Tom so schnell hierher schaffen konnte. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich gar nicht wusste, wo die Jungs momentan wohnten. In einem Haus hatte Joshua gesagt. Nur wo?
Ich legte die Briefe fein säuberlich zurück in die Kiste, die ich wieder in ihr dunkles Verlies unter dem Bett verbannte. Ein weiteres Klopfen, diesmal lauter, drängender, und ich eilte zur Tür. Ich fuhr mir prüfend durch die zerzausten Haare. Sicher sah ich furchtbar aus. Die Augen verquollen, ungeschminkt und noch immer in meinen Wohlfühl-Schlabber-Klamotten, in denen ich auch in Ermangelung eines sauberen Schlafanzugs geschlafen hatte. Aber es war nur Tom, beruhigte ich mich. Ich atmete tief ein und drückte die Klinke. Da stand er. Mit einer Pizzaschachtel in der einen und einer riesengroßen Tafel Schokolade in der anderen Hand. Seine Haare waren klatschnass vom Regen, und er sah irgendwie zerrissen aus. Abgehetzt. Unentschlossen.
Ich verzog zerknirscht den Mund und hielt ihm die Tür auf. Fast schon hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn bei diesem Wetter hergebeten hatte. Aber zumindest würde er ein paar seiner Pillen loswerden, und meinetwegen konnte er auch einen Schlechtwetterzuschlag auf den Preis hauen.
„Hast du was mitgebracht?“, fragte ich, noch bevor die Tür ins Schloss fiel und spürte, wie mein Puls bei der Frage in die Höhe schnellte. Er schälte sich gerade aus seiner nassen Jacke und schüttelte die kurzen Haare. Ich erschauderte, als ich ein paar Wassertropfen abbekam und verzog mich wieder auf mein Bett.
„Nette Begrüßung“, maulte Tom und streifte die durchweichten Turnschuhe unsanft von den Füßen. Er nickte Richtung Pizzaschachtel, die er auf einem kleinen Sideboard in dem winzigen Flur abgestellt hatte. Mein Magen reagierte augenblicklich auf den herzhaften Geruch nach geschmolzenem Käse, Tomaten, Oliven und Kräutern. Ich verbot mir, allzu hungrig auszusehen und übte mich in Teilnahmslosigkeit.
„Ne, ich meine ...“ Ich verdrehte die Augen und verfolgte seine tapsigen Schritte. Die nassen Socken hinterließen kleine Wasserflecken auf den Fliesen. Er steuerte direkt auf mich zu und setzte sich auf die Bettkante. Ich drückte mich unter seinem mitleidigen Blick tiefer in die Kissen.
„Schlechten Tag?“, fragte er und trocknete sich die Hände an seiner Jeans.
„Schlechtes Jahr.“
„Hey, hör zu. Ich werde dir nichts geben.“ Ich hob zum Protest an, doch er unterbrach mich. Mein Herz raste unaufhaltsam auf die Autobahn eines Wutausbruchs zu. „Ich werde dir nichts geben, solange es dir so mies geht.“
„Aber ...“ Ich schluckte. „Joshua hast du sicher auch was besorgt.“
„Josh kennt sich aus, er weiß, worauf er sich einlässt.“
Ich spürte Wut in mir aufsteigen. „Ich weiß auch, worauf ich mich einlasse. Ich brauche keinen Babysitter, der mir die Hand hält.“
„Sicher?“ Er hob die Augenbrauen, und am liebsten wollte ich diesem arroganten Etwas eine reinhauen. Doch im nächsten Moment schon spürte ich die nasse Flut in mir aufsteigen. Schon wieder. Ich kämpfte dagegen an. Erfolglos. Tom breitete die Arme aus, und es verging keine Sekunde, bis ich mich an seiner Brust wiederfand.
„Hey, jetzt beruhige dich erst mal“, sagte er sanft und strich mir über die Haare. Ich atmete seinen Duft ein. Duschgel. Deo. Aftershave. Von allem ein bisschen zu viel. „Ich habe dir doch gesagt, es ist nicht gut, dass du so oft allein bist.“ Ich schluckte und wischte die Tränen mit dem Handrücken weg. Ich schloss die Augen. Noch ein kleines bisschen Wärme spüren. Nähe fühlen. Ein bisschen bei ihm sein. Joshua.
„Schlaf mit mir“, drängte ich und blickte flehend zu Tom auf. Ich musste diese Sehnsucht loswerden. Diese Gedanken. Gedanken an ihn.
„Oh, selten so liebevoll verführt worden.“ Tom wand sich aus meiner Umklammerung. Er stand auf und angelte die Pizzaschachtel. Ich starrte die Decke an und versuchte die Leere, die mich umgab, auszufüllen. Ein verführerisches Stück Pizza erschien vor meinen Augen, und plötzlich schien sich in meinem Magen ein hungriger Zoo versammelt zu haben. Ich gab meinem Hunger nach und griff missmutig nach dem Stück Pizza.
Augenblicklich füllte Wärme meine Mitte aus, und ich spürte, wie langsam etwas Leben in mich zurückkehrte. Dabei hatte ich immer gedacht, Essen würde gnadenlos überschätzt. Gierig schlang ich noch drei weitere Stücke runter und nahm das Wasserglas, das mir Tom entgegenstreckte, dankbar an. Nachdem ich den letzten Käseklumpen runtergespült hatte, gönnte ich mir noch ein weiteres Stück, in vollem Bewusstsein, dass mir danach übel werden würde.
Ich schleckte meine Finger ab und linste unsicher zu Tom. Bisher hatte er kein Wort gesagt, mich essen lassen und dabei beobachtet, als wäre es das Sonderbarste auf der Welt, mich bei der Nahrungsaufnahme anzusehen. Ich klappte die Schachtel zu und reichte sie Tom, damit er sie neben das Bett stellen konnte.
„Und jetzt?“, fragte ich, da ich keine Ahnung hatte, wo uns der Abend hinführen sollte. Zwei meiner Wünsche hatte Tom bereits abgeschmettert. Nun war er am Zug.
„Jetzt gehst du erst mal unter die Dusche.“ Ich verdrehte die Augen. Wollte er mir damit zu verstehen geben, dass mein Deo versagt hatte? Ich versuchte unauffällig an mir zu schnuppern. Ohne Erfolg. „Hopp, hopp, das wird dir guttun.“
Ich ergab mich dem Vorschlag und schlurfte zum Badezimmer. Noch bevor ich mich ausgezogen und das Wasser aufgedreht hatte, hörte ich, wie Tom den Fernseher anstellte.
Ich ließ die heißen Strahlen über mich rieseln, ließ sie all die schlechten Gedanken, die Ängste und Sorgen den Ausguss hinunterspülen. Übrig blieb diese allumfassende Sehnsucht. Kein Wasser, keine Wärme konnte sie stillen, keine Pizza und auch keine Schokolade. Sie war in mir, machte sich breit, füllte mich aus.
Warum hatte ich Tom angerufen? Was hatte ich mir davon versprochen? Ich wusste, dass er das Loch nicht stopfen konnte, das Joshua in meinem Herz hinterlassen hatte. Wusste, dass er kein Ersatz war, kein Ersatz sein konnte. Und dennoch genoss ich seine Nähe. Seine Zuneigung.
Ich drehte das Wasser ab und trocknete notdürftig die Haare, bevor ich sie in einem provisorischen Pferdeschwanz zusammenband. Nachdem ich mir ein T-Shirt übergeworfen hatte und in eine Jogginghose geschlüpft war, öffnete ich mit klopfendem Herzen die Badezimmertür. Würde nun das Verhör kommen? Eine Standpauke, dass ich mich nicht so gehen lassen sollte?
Aber Tom beachtete mich nicht, sondern glotzte weiter in den schwarzen Kasten, auf dem eine schlechte Soap flimmerte, und rückte nur unter Protest ein Stück im Bett zur Seite. Er hatte es sich gemütlich gemacht und machte keine Anstalten, seine bequeme Position aufzugeben.
Ich angelte eine dünne Decke und kuschelte mich darin ein. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, hob Tom den Arm. Schweigend nahm ich sein Angebot an und schmiegte mich eng an seine Brust. Er fühlte sich anders an als Joshua, härter und mein Kopf wollte nicht so recht in die Kuhle unter dem Schlüsselbein passen. Die Stelle, wo mein Kopf wie selbstverständlich die bequemste Position gefunden hatte, wenn ich mich an Joshua gelehnt hatte. Ich seufzte und nestelte weitere Sekunden herum, bis ich eine halbwegs angenehme Position gefunden hatte.
Tom schmiegte seinen Arm eng um mich und hinderte mich daran, gleich wieder einen Rückzieher zu machen. Ich schloss die Augen. Wie anders es wäre, wenn Joshua statt Tom hier in meinem Bett liegen würde. Ich würde mich sicher fühlen. Würde all die Last fallen lassen können, die seit Monaten auf meine Schultern drückte. Er würde seine Nase tief in meine Haare drücken und schließlich meinen Kopf küssen. Zaghaft. Überlegt. Wie er es immer getan hatte. Joshua. Wie sehr ich seine Berührungen vermisste. Seine Zuneigung.
Unwillkürlich begannen meine Finger in Erinnerung an ihn, über seine unaufdringlichen Bauchmuskeln zu streichen, die sich unter dem grauen T-Shirt abzeichneten. Wo nahm er nur die Zeit her, um zu trainieren? Seinen Körper zu stählen, um mir diese perfekten Muskeln zu präsentieren? Ich drückte mich näher an ihn, suchte seine Nähe, wollte ihn spüren. Er reagierte mit einem leisen Stöhnen. Ich lächelte. Meine Finger wanderten weiter und suchten sich ihren Weg unter das T-Shirt. Wie warm seine Haut war. Wie weich. Meine Finger erinnerten sich, wussten, was sie zu tun hatten.
Ohne ihnen einen Befehl erteilen zu müssen, wanderten sie weiter nach unten, öffneten geschickt die Knöpfe seiner Jeans. Er lehnte sich weiter zurück, sein Arm schlang sich enger um meine Schulter. Ich spürte, wie endlich die Geste kam, die ich so sehr vermisst hatte. Seine Lippen vergruben sich tief in meinen nassen Haaren. Ich spürte seinen Atem auf meiner Kopfhaut und erschauderte.
Seine Hände wanderten sanft an meinen Armen entlang, zogen mir mit einer geschickten Bewegung das T-Shirt über den Kopf und landeten schließlich auf meinem nackten Rücken. Mein Körper reagierte mit Gänsehaut. Und gleichzeitig füllte mich eine unbändige Leidenschaft aus. Ein Gefühl, das ich eine Ewigkeit nicht mehr gefühlt hatte. Ich rutschte tiefer ins Bett und zog ihn auf mich. Sein Atem war nur wenige Millimeter von meinem Gesicht entfernt. Kein Wimpernschlag, und seine Lippen trafen sanft auf meine, erfüllten meine Gedanken mit einer alles umfassenden Wärme.
Geschickt entledigte er sich seiner Jeans und streichelte sanft über meine Brust. Ich streckte mich ihm entgegen, wollte ihn spüren, wollte jede einzelne Berührung aufsaugen. Wie lange hatte ich auf diesen Moment gewartet? Wie lange hatte ich von diesen Gefühlen geträumt? Eine einzelne Träne stahl sich aus meinen geschlossenen Augen, als ich ihn endlich in mir spürte. Sanfte rhythmische Bewegungen, leises Stöhnen nahe an meinem Ohr. All die Sehnsucht schien verschwunden. Endlich waren wir eins. Wieder.
Ich suchte nach seinem Mund und küsste ihn, wollte ihn schmecken und verdrängte den Gedanken, dass er nach kaltem Rauch und Pfefferminz schmeckte. Der Moment gehörte uns. Joshua und mir.
Wieder dieser Zigarettenqualm, den ich so wenig mochte. So wie ich mich selbst in diesem Moment nicht mochte. Ich schloss die Augen und schluckte schwer.
„Wir können uns nicht mehr sehen“, sagte ich schwach und öffnete die Augen. Ich blickte starr an die Zimmerdecke. Rauchkringel tauchten vor meinem Blickfeld auf und verschwanden wieder. „Ich habe mich mit Joshua getroffen.“
Tom verschluckte sich und setzte sich schlagartig auf. „Fuck. Du hast was?“, fragte er aufgebracht und blickte mich verständnislos an.
„Ich habe mich mit Joshua getroffen. Gestern“, wiederholte ich mechanisch und wich seinem Blick aus. Ich fühlte mich mies. Ich hatte Tom ausgenutzt, hatte an Joshua gedacht, während ich mit ihm geschlafen hatte. Zum zweiten Mal.
Tom schwieg.
„Hör zu, Tom. Er muss ja nichts von uns erfahren. Es ist … es ist eben passiert.“ Sicher hatte er Schiss vor den Konsequenzen. Würde Joshua überhaupt sauer sein, wenn er wüsste, dass Tom und ich …? Würde er ihn aus der Band werfen? Momentan hielt ich es für wahrscheinlicher, dass es ihn überhaupt nicht interessierte, mit wem ich mich abgab.
„Mann, Emma, Josh ist mir so was von scheißegal. Es ist nur … Verdammt. Ich mag dich. Und wenn du dich nun wieder mit ihm triffst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis du … bis ihr ...“, stammelte er, stand auf und zog seine Boxershorts über. Ich verdrehte die Augen.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass aus uns was geworden wäre?“ Ich kicherte hysterisch. „Du und ich … Das wäre wie Feuer und Wasser. Wie zwei Magnete, die sich abstoßen.“ Unsicher fingerte ich an den Haaren herum. Hatte ich die Situation falsch eingeschätzt? Ich war immer davon ausgegangen, dass wir das Gleiche wollten. Nun ja, vielleicht nicht genau das Gleiche. Aber zumindest hatte ich nicht erwartet, dass Tom irgendwelche Gefühle für mich hatte. „Jetzt sei nicht gleich angepisst. Du hast sicher einige Eisen im Feuer.“ Er drehte sich ruckartig um und funkelte mich an.
„Du raffst es einfach nicht, oder? Ich dachte, du magst mich.“ Er zog sich ein T-Shirt an. Ich streckte die Hand nach ihm aus. Er ignorierte es.
„Ja, das tu ich. Aber …“, murmelte ich und ließ den Arm sinken.
„Na ja, jetzt weiß ich wenigstens, an wen du gerade gedacht hast“, spuckte er aus.
„Was hältst du von dem ganzen Ehe-Ding? Liv und Lukas … das wird doch nicht gut gehen. Oder?“ Ich wedelte mit der Hand vor meiner Nase. Ich wollte mich lieber an ihn kuscheln, noch ein paar Momente diese Wärme spüren.
„Abwarten. Luke ist immer für ’ne Überraschung gut. Er scheint Liv wirklich gern zu haben. Und die beiden haben sich schließlich mehr als genug die Hörner abgestoßen – wenn man all den Geschichten glauben mag, die über Liv kursieren.“ Er nahm einen letzten Zug und drückte die Kippe auf einer Untertasse aus, die ich zum Aschenbecher umfunktioniert hatte. Ich blickte mich in meinem Zimmer um. Es war ein einziger Schweinestall. Ich schämte mich nicht. Sollte Tom denken, was er wollte.
Er drückte mir einen schnellen Kuss auf die Stirn und zog seinen Arm unter meinem Kopf vor.
„Ich muss los“, sagte er knapp und zog sich seine Shorts an. Ich bestaunte ein letztes Mal seinen knackigen Po, bevor er verschwinden würde. Ich bereute es nicht, dass ich mit ihm geschlafen hatte. Es war schön gewesen. Anders. Ich hatte mich gehen lassen. Dem Alkohol und Tom sei Dank.
„Warum seid ihr eigentlich ausgerechnet in München? Studios gibt’s doch überall. Warum hier?“ Die Frage beschäftigte mich, seit er mir erzählt hatte, dass sie hier ihre neue Platte aufnahmen.
„Was weiß ich. Frag das Josh. Vielleicht wegen dir?“, antwortete er leichtfertig, während er seine Lederschuhe anzog. Er würde sich noch umziehen müssen, bevor er ins Studio ging. Ich schluckte. Wegen mir?
„Sicher nicht. Ich habe keinen Kontakt zu Joshua. Schon vergessen?“ Ich zog die Decke enger um mich und verkroch mich darin.
„Whatever.“ Er setzte sich nochmal auf die Bettkante und strich sanft über meine Wange. „Rufst du an?“
„Ach, Tom. Wir wissen doch beide, dass ich nicht anrufe.“ Ich setzte mich halbwegs auf und klammerte mich an der Bettdecke fest.
„Nicht? Ich dachte, du hattest gerade Spaß.“ Er stupste meine Nase und schien alles andere als angepisst zu sein.
„Ja, das hatte ich“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Aber Spaß allein reicht halt nicht.“
„Komm schon. Es muss ja nicht immer gleich die große Liebe sein. Ich mag dich. Lass uns ein bisschen zusammen abhängen, Spaß haben.“ Er rüttelte mich am Arm. „Es ist nicht gut, dass du so viel allein bist.“ Ich verzog den Mund und verdrehte die Augen. Fehlte nur, dass er mir noch einen Vortrag darüber hielt, dass ich mehr essen sollte. Ich ließ mich tiefer ins Bett sinken und lächelte ihn matt an.
„Okay, ich überleg’s mir.“ Er nickte und küsste mich zum Abschied.
Ein leises Klicken, als die Haustür ins Schloss fiel, und ich war allein. Mit meinen Gedanken. Mit dem schlechten Gewissen, das langsam, aber sicher in mir hochkroch.
„Verschwinde – ich habe nichts falsch gemacht. Wir sind nicht mehr zusammen“, versuchte ich es zu verscheuchen und musste grinsen, als es sich tatsächlich in einen entfernten Winkel meines Herzens zurückzog.
Es war okay, dass ich anfing, mein Leben zu leben. So schwer es mir fiel, loszulassen. Vermutlich würde ich nie wieder dieses Band spüren, das mich mit einem anderen Menschen so ausnahmslos vereinte, und momentan konnte ich mir nicht vorstellen, jemals einen anderen Menschen so sehr zu lieben wie Joshua. Aber das war okay. Es war eine einzigartige Zeit gewesen. Eine Zeit, die vorüber war.
Ich beschloss, dass ich nun lange genug getrauert hatte. Ich sollte nach vorne schauen. Akzeptieren, dass Joshua für immer bei mir sein würde. In meinem Herzen. Aber er würde sich diesen Platz in Zukunft mit anderen Menschen teilen müssen.
Konnte ich es wagen und bei Liv anrufen? Ich schaute auf die Uhr. Zwölf Uhr mittags. Ihre Hochzeitsnacht hatte lange genug gedauert. Ich angelte die Tasche vom Boden, und keine zehn Sekunden später klingelte es bei der frisch gebackenen Ehefrau. Ich trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Bettdecke. Eine halbe Ewigkeit später nahm sie ab.
„Na, wie war die Hochzeitsnacht?“, begrüßte ich sie ohne Umschweife.
„Hochzeitsnacht. Du bist gut. Wir waren um fünf zu Hause und mussten um acht wieder mit der Verwandtschaft aus Hinterschnöpflingen frühstücken.“ Unausgeschlafen war sie immer zickig. Ich grinste. Geschlafen hatte ich schließlich auch nicht. „Hat dich Tom gut zu Hause abgeliefert?“
„Ja.“
„Dann ist ja gut. Hab mich schon gewundert, dass du so schnell mit ihm abgehauen bist. Alles okay?“
„Ich hab mit ihm geschlafen.“ Stille auf der anderen Seite der Leitung. Mein Herz begann zu galoppieren.
„Du hast mit Tom geschlafen?“ Livs Stimme überschlug sich.
„Psst. Lukas muss ja nicht gleich mitkriegen, dass ich dir das brühwarm erzähle.“ Das Grinsen schien auf meinem Gesicht eingemeißelt zu sein.
„Du hast mit Tom geschlafen?“ Sie schien es noch immer nicht zu glauben.
„Jep.“ Ich versuchte mein Herz zu beruhigen und presste die flache Hand darauf.
„Hast du sie noch alle? Du magst Tom doch noch nicht mal.“
„Ja, und?“ Ich tat nur so abgebrüht, und Liv wusste das natürlich.
„Erzähl! Ich will alles wissen. Mit allen schmutzigen Details. Wie war’s?“
„Es war … es war schön. Anders irgendwie. Aber gut“, gab ich leise zu.
„Und jetzt? Trefft ihr euch wieder. Seid du und Tom jetzt ...“
„Zusammen? Liebes, du kennst ihn genauso gut wie ich. Tom und ’ne Beziehung? Ne. Ne! Er will sich ab und zu mit mir treffen. Aber ich weiß nicht ...“ Eine Freundschaft, die auf Sex basierte, war nicht gerade mein Ding.
„Wie, du weißt nicht? Vielleicht wird ja was aus euch. Und dann heiratet ihr, und wir sind verwandt“, sponn Liv weiter.
„Ja, klar. Und der Storch bringt die Babys. Träum weiter.“
„Mann, Emma. Ich verstehe ja, dass du noch an Josh hängst. Aber meinst du nicht, dass es langsam Zeit wird, nach vorne zu schauen? Du kannst doch nicht ewig Trübsal blasen.“
„Hey, ich habe doch gerade einen ersten Schritt getan, oder? Dräng mich nicht gleich so. Wann geht denn eure Hochzeitsreise los?“, versuchte ich das Thema zu wechseln.
„Morgen. Und dann sind wir drei lange Wochen weg. Unerreichbar. Für jeden. Ach, ich freu mich.“
„Ich mich auch für euch. Und ich vermisse dich jetzt schon. Aber ich muss jetzt schlafen. Gute Reise. Und melde dich, wenn ihr zurück seid, ja? Frau Heinrich!“ Mit einem Lachen legte sie auf, und ich kuschelte mich tief in die flauschige Bettwäsche, die noch nach Tom roch. Sonne waberte in meine Kellerwohnung, verfing sich in den schmuddeligen Gardinen. Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Aber die Welt musste erst einmal ein paar Stunden ohne mich zurechtkommen.
In den nächsten Tagen bombardierte mich Tom mit unzähligen SMS. Er schmeichelte mir, brachte mich zum Lachen. Und drängte immer wieder darauf, dass wir uns treffen sollten. Ich blieb standhaft. Noch.
Am Mittwoch saß ich gerade in Erics kleinem Garten und versuchte mich seit einer Ewigkeit wieder an einem Makrobild eines Blattes. In den letzten Monaten hatte ich ausschließlich Steine gemalt. Schwarze Steine. Dunkelgraue Steine. Sie waren leblos. Wie ich. Aber die Aufnahmeprüfung für das Grafik-Design-Studium mit Schwerpunkt Illustration würde ich nicht mit emotionslosen Bildern bestehen. Daher musste ich endlich anfangen, wieder mit Farbe und mehr Gefühl zu zeichnen. Es fiel mir schwer. Und das Ergebnis war alles andere als brillant.
Nur Toms SMS hatten mir bislang den Mittag etwas erhellt. Er bettelte schon wieder um ein Date, und es schmeichelte mir, dass er noch immer nicht aufgegeben hatte. Ich fragte mich, wie er im Studio so viel Zeit haben konnte, um mir die vielen Nachrichten zu schicken.
Wieder vibrierte mein Handy, und ich grinste, weil es keine Minute gedauert hatte, bis Tom auf meine Nachricht geantwortet hatte. Doch ein Blick auf das Display zeigte mir eine fremde Nummer. Wenig interessiert öffnete ich sie. Wahrscheinlich irgendeine Werbenachricht. Ich hasste diese Spam-Meldungen und war versucht, sie gleich zu löschen.
„Hallo, Emma, wollte mich schon ewig melden. Hast du am Freitagabend Zeit für mich? Würde gerne ein paar Dinge mit dir besprechen. J.“ J.? Ich kannte nur eine Person, deren Namen mit J anfing. Und der würde sich ganz sicher nicht bei mir melden. Außerdem war das nicht seine Nummer.
„Hallo, J. Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber nein, ich habe keine Zeit für dich. Sorry. E.“ Ich klickte auf Senden und legte das Telefon wieder auf den Rasen neben meinen Stuhl.
Ich versuchte mich wieder in die filigranen Linien des Blattes zu vertiefen, als das Telefon klingelte. Ich fluchte leise und angelte das Handy vom Boden. Mein Blick huschte kurz auf das Display. Es war die Nummer des ominösen J. Ich verdrehte die Augen. Ich wusste gerne, mit wem ich sprach, bevor ich annahm. Vielleicht sollte ich das Gespräch abweisen, aber wer wusste schon, ob der oder die Unbekannte sonst Ruhe geben würde.
„Ja?“, sagte ich wenig begeistert, fügte einen Strich auf dem Blatt hinzu und hielt die Zeichnung ins Licht.
„Hallo, Emma.“ Mein Herz rutschte in die Hose, um gleich darauf zu meinem Hals hochzuschnellen und wie wild geworden loszupreschen. Ich schnappte nach Luft.
„Äh, hallo, Joshua“, stammelte ich und blickte mich verwirrt um. Natürlich stand er nicht hinter mir. Ich sprang auf und lief wie von der Tarantel gestochen in dem kleinen Garten auf und nieder. Meine Knie zitterten.
„Hey, ich dachte, ich rufe kurz an. Hab ganz vergessen, dass du meine neue Nummer gar nicht hast“, hauchte die rauchig-weiche Stimme. Die Stimme, die ich so sehr vermisst hatte. Die Stimme, die meine Welt zum Wanken brachte. Noch immer. Ich krallte mich an dem kleinen Apfelbaum fest, bis das Weiß unter den Fingernägeln hervortrat.
„Mhm.“ Ich war mir sicher, dass mein erster Herzinfarkt nur Sekunden entfernt war. Scheiße, scheiße, scheiße. Was sollte das denn? Gerade erst hatte ich beschlossen, ihn endlich gehen zu lassen. Mich damit abzufinden, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Und nun das. Was wollte er von mir?