Paul Heyse

Der Kinder Sünde, der Väter Fluch

Novelle

Der Kinder Sünde, der Väter Fluch

Vom Ifinger, der in grauer Vorzeit mit einem gewaltigen Erdsturz die alte Maja verschüttet und den Abhang gegründet hat, auf dem jetzt die Häuser und Weingärten von Obermais stehen, geht eine tiefe Schlucht östlich von Meran in das Etschtal hinab. Der Wildbach, der sie durchströmt, ist den größten Teil des Jahres hindurch eine kümmerliches Wasser, das im Hochsommer zwischen Gestein und gelbem Sand vollends versiegt, sodass sein tiefes Bett so gefahrlos zu betreten ist, wie droben die hochgeschwungenen hölzernen Brücken. Wenn im Frühling der Schnee jählings ins Tauen kommt, füllt sich auch die Rinne der Naif mit einem trüben Schwall, in dem keine Fische atmen mögen. Weiter ins Jahr hinein aber, bei starkem Ungewitter, Hagelschlag und Orkan, scheint sich alle Wut der Elemente in dieser einsamen Schlucht zu sammeln. Dann lösen sich die zähen Erbmassen, mit denen das Granitgerippe des Ifinger umkleidet ist, in einen dunkelbraunen Schlamm, den die Quelle der Naif mit Ungestüm fortwälzt; große Felsblöcke, Bäume und Rasenstücke folgen dem Sturz, mit immer wachsendem Getöse stürmt der Höllenbrei aus der Enge ins bewohnte Tal hinaus, und über eine Stunde weit hört man den donnernden Fall und spürt das Beben der Erde. Wenn es Nachts geschieht, wachen die Bauern weit und breit davon auf und horchen ängstlich hinaus. Die Naif kommt! sagen sie und beten. Die aber zunächst wohnen lassen es nicht beim Beten bewenden, stürzen aus den Betten ins Freie, treiben das Vieh aus den Ställen und laden ihre wertvollste Habe auf Wagen, lange bevor die zähe Masse zum Rand der Ufer hinaufgeschwollen ist. Denn sobald nur ein größerer Felsen oder ein ausgerissener Baum sich in den Weg schiebt, so staut der Schlamm und wächst alsbald zu einem Berge in die Höhe, hinter dem dann die nachstürzenden Massen links und rechts überfließen und Weinpflanzungen, Obsthalden, Häuser und Gehöfte unwiderstehlich verwüsten.

Von solchen Schrecken musste dem einsamen Manne, der am schönsten Junimorgen die Schlucht hinunterwanderte, etwas zu Ohren gekommen sein. Wenigstens war auf seinem finsteren alten Gesicht von dem Frieden, der ihn umgab, so wenig zu entdecken, als mache er sich, während er in dem halb ausgetrockneten Bett von Stein zu Stein kletterte, jeden Augenblick auf einen tückischen Überfall der Elemente gefasst. Auch die Nachtigallen, die er tiefer in der Schlucht vor Tagesanbruch so süß hatte schlagen hören, schienen sein Inneres nicht besänftigt zu haben. Er war ganz in grobe graue Leinwand gekleidet; das tief gefurchte Gesicht, von weißem, kurz geschorenem Haar und Bart umstarrt, beschattete ein alter Strohhut, eine kleine gelbe Ledertasche hatte er umgehängt, in die er dann und wann ein Mineral oder eine Versteinerung steckte, wie sie von der Naif zahlreich zu Tage gespült werden. So heiß die Sonne herabschien, war ihm doch keine Ermüdung anzumerken. Er ging mit einem stracken militärischen Anstand, nur den Kopf auf die Brust gesenkt, und stützte sich kaum auf den Hammerstock, mit dem er hie und da an die Felsen schlug. Etwas Versteinertes, Verwittertes hatten seine Züge; der Blick der verblichenen grauen Augen glänzte wunderlich, gleich dem Erz, das man im Gestein versprengt findet. Nirgends stand er, um zu ruhen, oder sich an der stillen Schönheit des Tals, dem prachtvollen Wuchs der edlen Kastanien und Nussbäume zu erfreuen, oder den Hirtenbuben nachzusehen, die ihre Ziegen und Schafe zwischen dem üppigen Gras und Farrenkraut die Abhänge hinauf weiden ließen.

Als er jetzt heraustrat, wo sich die Schlucht öffnet und man von der hohen Brücke über die Wipfel fort nach Meran hinunter sieht, schien er unschlüssig, welchen Weg er einschlagen solle. Da sah er zur Linken, wo eine Allee von Maulbeerbäumen zu altertümlichen Zinnenmauern und dem offenen Hoftor eines der vielen Herrenschlösser führt, die über diese Abhänge verstreut sind, einen kleinen elegant gekleideten jungen Mann geradewegs sich ihm nähern, und unwillkürlich machte er Rechtsum und schritt, als habe er weder Zeit noch Lust, den Kommenden zu erwarten, die gepflasterte Straße hinunter, unmutig zwischen den Zähnen murrend. Als er den Andern hinter sich rufen hörte, bog er eilig in einen Seitenweg, durch den die Bauern eine Quelle zur Wiesenwässerung geleitet hatten. Hier wird er mich wohl in Ruhe lassen, brummte er, indem er mit den schweren Nagelschuhen mitten durch das helle Wasser schritt. Aber er täuschte sich. – Sie laufen vor mir davon, aber es hilft Ihnen nichts, Herr Oberst, rief der Kleine ihm nach. Ich kenne Sie ja schon und nehme Ihnen nichts übel. Diesmal müssen Sie mich hören, denn Einen Menschen muss ich haben, gegen den ich mich aussprechen kann, und sollte ich ihm bis in die Etsch nachlaufen. Wissen Sie, von wem ich komme? Nun, das können Sie sich allenfalls denken, da Sie mich aus dem Schlosshof treten sahen. Aber dass ich diese Schwelle zum letzten Mal beschritten habe, das wissen Sie noch nicht, und weshalb ich mir das zugeschworen habe, muss ich Ihnen jetzt sagen, oder ich ersticke daran.

Es schien allerdings Gefahr im Verzuge zu sein. Das runde menschenfreundliche Gesicht des kleinen Herrn war über und über rot und zitterte in allen Fibern; er lüftete den schwarzen Hut und trocknete mit einem feinen weißen Batisttuch die Stirn, einmal über das andere seufzend, während er mit den rundlichen, wohlgepflegten Händchen Hut und Tuch vor Aufregung kaum zu halten wusste. Dabei merkte er es gar nicht, dass er mitten im Wasser stand, bis ihm der Andere – der ihn wohl um zwei Köpfe überragte – mit einem kurzen rauen Ton sagte: Sie werden sich den Schnupfen holen, Herr Graf. Auf Tanzstiefel sind diese Bauernwege nicht eingerichtet.

Sie haben Recht, Verehrtester. Gehen wir eine Strecke weiter, bis es noch einsamer wird, dass ich Ihnen ungestört erzählen kann.

Bin gar nicht begierig, gab der Alte zur Antwort. Die Ungarin wird Ihnen einen Korb gegeben haben. Nun gut, so wissen Sie, woran Sie sind; sie hatten es schon längst wissen können. Danken Sie Ihrem Schicksal, dass Sie die Hexe los geworden sind, eh es zu spät war.

Lieber Freund, erwiderte der Kleine in einem stillen, wehmütigen Ton, Sie sind ein Menschenkenner, Sie haben die gefährliche Frau nur einmal und nur von Ferne gesehen und sie gleich durchschaut. Aber Sie sollten mit den Schwächen der Menschen Nachsicht haben, je mehr Sie sie erkennen. Dieses Weib, das Ihnen immer antipathisch war, hatte eine Macht über mich –

Ich bitte Sie, unterbrach ihn der Alte, verschonen Sie mich mit Ihren Gefühlen, von denen Sie mich schon mehr als hinreichend unterhalten haben. Sie wissen, dass ich bei gewissen Gesprächen leicht die Geduld verliere.

Kann ich es Ihnen verdenken? rief der Kleine. Ist mir nicht selbst, so lang ich in diesen Fesseln lag, mehr als einmal zu Mut gewesen, als müsse ich aus der Haut fahren? Heute Hoffnung, morgen die helle Desperation; heute ein Lamm gegen mich, ein sanftes, lenksames, inniges Geschöpf, morgen die züngelnde Schlange des Paradieses. Ich bin ein argloser Mensch, das wissen Sie. Ich konnte Ihre Maxime, immer das Schlimmste zu denken, niemals verstehen. Aber so viel war denn auch mir klar geworden, dass sie ein Spiel mit mir trieb, und ich wartete nur auf eine herzhafte Stunde, um ein für alle Mal ein Ende zu machen und davon zu laufen. Da kommt sie – denken Sie sich – gestern auf ihrem schön geschirrten Maultier vor meinem Hause vorbeigeritten, ihren Bedienten hinter sich, der in einem Korb am Sattel eine große Menge Alpenrosen verwahrt. Ich sitze eben auf meiner Altane vorm Haus, rauche und denke an nichts Arges. Und sie, sobald sie mich erblickt, Halt gemacht, vom Tier herunter, dem Lakaien gewinkt, dass er die Blumen ihr nachbringen soll, und nun mit dem holdesten Lächeln die Treppe herauf zu mir, dass Alles drüben ans Fenster stürzt und ich selbst wie eine Bildsäule stehe. Sie aber, schön wie eine Alpenfee, etwas erhitzt vom Reiten, die Locken halb lose unterm Hut, gibt mir mit einer spitzbübischen Vertraulichkeit die Hand, nimmt Platz mir gegenüber, schüttet die Rosen auf meinen Tisch und macht mir nun halb lachend, halb böse die zärtlichsten Vorwürfe, dass ich sie so lange vernachlässigt hätte. – Werden Sie mich auslachen, wenn ich Ihnen sage, dass ich Narr genug war zu glauben, ich sei es ihr schon der Leute wegen schuldig, nach dieser Szene heute förmlich um ihre Hand zu werben? Aber Sie lachen ja gar nicht! O, wenn ich nur Ihre Geduld ermüden und Ihnen die ganze Komödie von heute Morgen, von der schmunzelnden Kammerkatze an bis zu ihrem Vetter, dem Baron, der plötzlich so ganz wie bestellt dazu kam, erzählen wollte, Sie würden schon lachen, dass Ihnen die Tränen in den Bart laufen sollten.

Der Alte sah mit einem verbissenen Schweigen vor sich nieder, und eine Weile gingen sie durch die schönen stillen Kastanienschatten neben einander hin, Jeder in seinen Gedanken. Der Kleine aber, der trotz seiner behaglichen Figur in beständiger Lebhaftigkeit sich bald links bald rechts wandte, den Hut abnahm und wieder aufsetzte und mit dem Taschentuch von seinem feinen schwarzen Rock jedes Stäubchen abwischte, hielt es offenbar nicht länger aus vor innerer Unruhe und sagte:

Ja, mein Verehrter, es ist ein Wink des Himmels, dass ich hier Ihre Bekanntschaft gemacht und mich durch Ihre schroffe, abwehrende Art nicht habe einschüchtern lassen, Sie immer wieder aus Ihrer menschenfeindlichen Vereinsamung aufzustören. Sie sollen mich jetzt in Ihre Zucht nehmen, mir die unselige Empfindsamkeit und Gutherzigkeit systematisch austreiben, die mich trotz so vieler Erfahrungen immer von neuem den bittersten Täuschungen aussetzt. Ich habe nun lange genug gedacht, die idealste Ansicht der Welt und der Gesellschaft, wenn sie auch nicht die richtigste wäre, sei doch die wohltätigste zu unserer Seelenruhe. Nun nehmen Sie mich zum Schüler an in Ihrer Kunst, das Schwarze immer vor dem Weißen, in jeder Sonne die Flecken, in jedem Lächeln die alte Gleißnerei der Hölle zu sehen. Machen Sie einen wetterhaltigen, hieb- und stichfesten Menschenhasser aus mir, und ich will es Ihnen ewig danken.

Der Alte gab einen Ton von sich zwischen Husten und Lachen. Er stand einen Augenblick still, sah den Kleinen von oben bis unten an und sagte dann trocken: Und das Lehrgeld, Herr Graf? Denken Sie, das sei schon bezahlt? Die paar Tropfen Schweiß, die Sie um eine Kokette vergossen haben? Sie wissen nicht, was Sie reden.

Oh, stöhnte der Andere, treiben Sie nur Ihren Spott mit mir; das kann mich nur in meiner Überzeugung bestärken, dass ich bei den Menschen hinfort nichts zu suchen habe, da selbst Sie mich nicht verstehen. Auch das werde ich entbehren lernen und in Zukunft meinen Frieden nur da suchen, wo er einzig und allein unterm Monde zu finden ist, und wo auch Sie ihn gefunden haben: in der Natur!

Er warf sich mit diesen Worten am Wege nieder, auf einem Grasfleck, hinter dem ein kleines Mäuerchen von roh aufgeschichteten Steinen einen Rebengarten begrenzte. Gegenüber am Wege standen hohe Nussbäume, durch deren Laub man aus eine alte, in Efeu ganz versteckte Schlossmauer sah, die einen breiten Schatten warf und die kühle, trauliche Abgeschiedenheit des Ortes noch einladender machte.

Der Alte blieb vor dem Grafen stehen und sah mit einem unheimlichen Zug von bitterem Mitleiden zu ihm hernieder, wie ein hungriger Bettler zu einem geputzten Kinde, das ihm klagt, es habe sein Spielzeug zerbrochen.

Frieden? wiederholte er, Frieden? und in der Natur wollen Sie ihn suchen? Suchen Sie ihn, wo Sie wollen, in Tagelöhner-Arbeit, im Beichtstuhl, in der Flasche – nur nicht in der Natur. Sie müssten sich denn gleich zu Anfang dahin wenden, wohin ich erst gekommen bin, nachdem ich bei allem Lebendigen vergebens angeklopft habe, zu den Steinen. Aber das meinen Sie ja gar nicht. Ihre »Natur«, die Sie einschläfern und über Ihre kleinen Miseren betäuben soll, ist ja nichts weiter als eine Operndekoration, ein paar Strohdächer im Grünen, die untergehende Sonne im Hintergrund und dazu Hirtenflöten und blökende Lämmer und das Rauschen eines Baches, in dem Sie Forellen für Ihre Tafel fischen mögen. Und wenn Sie mit Kulissen und Orchester im Reinen sind, sehen Sie sich doch wieder eilig nach einer Primadonna um, die Ihnen Ihren vielbelobten Frieden, will sagen die Langeweile, vertreiben möchte. Sie sind noch in den Dreißigern, reich, verwöhnt, und von viel zu fetter Constitution, um den Frieden da zu suchen, wo er allein zu finden ist, und wo ihn heilige Männer wirklich gefunden haben sollen.

Das wäre?

In der Wüste.

In der Wüste? Fast möchte ich lachen, wenn mir sonst danach zu Mut wäre. Nein, Verehrtester, das ist nicht Ihr Ernst. Wären Sie sonst nicht längst dahin aufgebrochen, um den Schakals und Kamelen Ihr Evangelium vom Menschenhass zu predigen, statt dass Sie sich noch immer in diesen leidlich kultivierten Gegenden aufhalten?

Sie sprechen, wie Sie’s verstehen, sagte der Alte finster. Wo ich lebe, Jahr aus, Jahr ein zwischen Felsen und Gletschern, nur einmal einem Sennhirten die Zeit bietend, wenn mich hungert, und im Winter in einem Holzstadel eingeschneit, möchte es Ihnen Wüste genug dünken. Auch bin ich in diese Täler nur hinabgestiegen, um zu sehen, ob die weichere Luft mir etwa die Rheumatismen aus den Gliedern ziehen will, mit denen man droben im Hochgebirge übel daran ist. Sonst hätte mich nichts hier herunter gelockt. Es ist mir zu voll hier, allerlei galonierter Menschenpöbel verdirbt die Luft, auch ist man Welschland schon näher, als mir lieb ist, und lange treib’ ich’s hier nicht mehr; nur die große Steinsammlung in der Naifschlucht ist allenfalls der Mühe wert.

Der Graf hatte nur noch zerstreut zugehört und seinen eignen Plänen nachgesonnen. Lassen Sie mich nur machen, sagte er jetzt. Ich werde mich in Leinwand stecken, wie Sie, und meine Tage unter Pflanzen, Insekten und Steinen hinbringen, hier in dieser prachtvollen Wildnis, unter guten, zufriedenen, ehrlichen Menschen, die ihr Herz in der Hand tragen und als biedere Nachbarn einander helfen. Oder wär’ es denn so ungereimt, wenn ich mir einen Bauernhof mit Weinberg und Maisfeld kaufte, ein paar hohe Kastanien über meinem Dach, im Stall schöne Rinder, in meinem Garten Rosen, Pfirsiche und Mandelbäume? Nur dass ich nie eine Hand mehr zu drücken brauche, die sich mit kölnischem Wasser wäscht, und –

Stehen Sie auf, Graf, stehen Sie auf! Sehen Sie die Tiere denn nicht, die an Ihnen hinaufkriechen? rief der Oberst mit einem hastigen verstörten Blick.

Der Graf sprang auf, lachte aber, als er sich den Rock abschüttelte. Nun wahrlich, sagte er, ich dachte, ich hätte mich in ein Skorpionsnest gesetzt, und es sind nur Ameisen. Für einen Naturforscher sind Sie ängstlicher, als ich dachte, mein Lieber.

Der Alte hatte sich abgewandt, um die Röte zu verbergen, die seine verwitterten Züge plötzlich überflog. Ich hasse sie! murmelte er. Sonst bin ich so ziemlich auf Du und Du mit Allem, was da kriecht und schleicht. Kommen Sie weg von hier; es wird heiß.

Indem er dies sagte, schüttelte er sich, als ob ihn ein frostiger Schauder packte, und der Graf folgte ihm, achselzuckend, da er jetzt einen schmalen Weg betrat, der dicht an der hohen Schlossmauer unter Feigengestrüpp und einzelnen Weinreben hinlief. Ein kleiner Graben trennte die Wanderer von der breiteren Straße. Da stand der wunderliche Alte plötzlich wieder still und sah in das klare, geräuschlose Wasser hinab, das träge unter den Brombeerranken und wildem Hopfen abfloss.

Was haben Sie entdeckt? fragte der Andere.

Ein Stück Frieden in der Natur, sagte der Alte ernsthaft. Sehen Sie dort den schwarzen Wurm am Grunde? Eine elende nackte Schnecke ist hineingefallen, und der lauernde Bursch, der Pferde-Igel dort, hat sie behände umklammert und wühlt sich in ihren hilflosen feisten Rücken ein. Sehen Sie doch, wie das gemarterte Tier sich windet!

Abscheulich! Geben Sie mir Ihren Stock, dass ich sie aus einander bringe. Noch wird das Opfer zu retten sein.

Meinen Stock? Dass ich ein Narr wäre, ihn zu einem Narrenstreich herzuleihen!

Herr Oberst!

Sind Sie beleidigt? Nach Belieben. Aber denken Sie erst nach, ob Sie auch ein Recht haben, hier den Großmütigen zu spielen auf fremde Kosten. Wenn ein Erzengel bei einer Fleischhauerbude vorbeiginge und dem Metzger, der eben einen Ochsen schlagen will, aus edler Empörung mit seinem Flammenschwert die Hand zerschmetterte, was würden Sie dazu sagen? Oder wollen Sie es übernehmen, alle Pferde-Igel in diesen Gräben aus eignem Blut mit Frühstück zu versorgen, damit Sie nur das Wegelagern lassen und lieber eine Rettungsanstalt für verunglückte Schnecken stiften?

Er lachte heiser auf, während der Andere den Kopf noch gesenkt hatte und ins Wasser starrte. Ich gebe es Ihnen zu, sagte er kleinlaut: den ewigen Kriegszustand Aller gegen Alle in der Natur können wir nicht abstellen, und der Blick in das stille Mordgewühl da unten – denn ich sehe jetzt noch mehr Würger und Opfer – macht einem das Herz schaudern, das einen Augenblick hier auszuruhen dachte. Fast bewundere ich nun die Leute, die den Mut haben, sich in diese unheimlichen Reiche ein Leben lang zu versenken. Aber die Rebe ächzt nicht, wenn man sie beschneidet, noch das Korn, wenn man es drischt, und die Leute, die Tag für Tag die zufriedene, üppige, stille Frucht um sich herum reifen sehen, müssen endlich einen Frieden gewinnen, von dem man in der sogenannten großen Welt, die die kleine heißen sollte, nichts ahnt. Haben Sie sich die Gesichter des Volkes in dieser Gegend angesehen? Aber nein, Sie sehen ja weg, wenn Ihnen ein Menschengesicht begegnet.

Ich habe ein Recht dazu, sagte der Alte dumpf. Dann ging er so rasch vorwärts, dass der Kleine ihm mit Mühe folgen konnte und das Gespräch fallen ließ. Nicht lange, so bogen sie um einen runden Turm, der aus der verfallenen Mauer vorsprang, und sahen nun, dass die hohe Schlossruine im Viereck aufragte; denn eine neue Mauer mit verfallenen Fenstern führte zu einem dritten Turm, der noch üppiger vom Efeu umkleidet war. In viel geteilten, handbreiten Stämmen hatte er sich hinaufgezogen und seine Klammern tief in die Steinfugen eingedrängt, immer dichter nach oben zu sich belaubend, bis er das spitze Dach wie eine dicke grüne Haube ganz umwuchert und an der einen Seite sogar, einem Helmbusch ähnlich, einen buschigen freien Trieb hinausgeschickt hatte. Nicht minder reich bedeckte er Mauern und Fenster, und hie und da sah der Bau wie eine riesige, wohlbeschnittene Efeuhecke aus, in deren sechs Schuh dicken Wänden man regelmäßige viereckige Öffnungen angebracht hätte. Der Ort war gegen Wind und Sonnenbrand trefflich geschützt, die Nussbäume standen wie Wächter rings um das ungeheure Viereck, überall rieselten die Wasser von den höher gelegenen Wiesen herab nahe genug vorbei, um die Luft zu durchfeuchten. Nun erst, als die Wanderer um den dritten