Gottfried Keller
Gesammelte Werke
Romane und Geschichten
Gleich unterhalb des aargauischen Städtchens Kaiserstuhl stehen die beiden Schlösser Schwarz- und Weiß-Wasserstelz, jenes mitten im Rhein, das heißt näher dem linken Ufer und jetzt noch von allerlei Leuten bewohnt, die es kaufen mögen, dieses zerfallen auf dem rechten Ufer. Zu den Zeiten Rudolfs von Habsburg aber saßen zwei Schwestern auf den beiden Burgen als Erbinnen eines mäßigen Landwesens, das nach seiner Teilung keiner großes Gut übrigließ. Darum suchte die ältere derselben, Mechthildis, welche auf Weiß-Wasserstelz hauste und dessenungeachtet eine fast ruhige, finstere und gewalttätige Person war, unablässig ihre jüngere Schwester, Kunigunde auf Schwarz-Wasserstelz, von ihrem Erbe zu verdrängen und mit allen möglichen Ränken in ein Kloster zu treiben. Denn diese Kunigunde war von schöner und lieblicher Gestalt, von der weißesten Hautfarbe und anmutig-heiteren Wesens und besaß viel bessere Aussichten für eine günstige Heirat, als jene bösartige.
Trotzdem war sie den Bewerbungen nicht zugänglich und verwahrte sich gegen solche beinah ebenso sorgfältig, wie gegen die Listen und Überfälle ihrer Schwester, welche diese in Verbindung mit anderen Übeltätern ins Werk zu setzen suchte. Die schöne Kunigunde verschloss sich zuletzt ganz in ihr festes Wasserhaus, das rings von den tiefen grünen Wellen des Rheines umflossen war. Am Ufer besaß sie eine Mühle, betrieben von einem treuen wehrbaren Dienstmann, der Zufahrt und Eingang des Schlosses bewachte mit seinen bestäubten Knechten. Im übrigen war ringsum Stille der Wälder, und man hörte nichts als das Ziehen des Flusses, bis einmal jemand sagte, er habe in der Nacht durch ein offenes Fenster des Schlosses ein kleines Kind schreien hören, und ein anderes Mal ein anderer, er habe es auch gehört, und zwar bei hellem Tage. Bald aber ging das Gerücht im Land, die Dame auf Schwarz-Wasserstelz werde von einem gewaltigen Manne besucht, der niemand anders sei als des Kaisers Kanzler, Heinrich von Klingenberg, mit dem nicht gut Kirschen essen wäre. Ihm sei die schöne Frau in Liebe ergeben, und als starker Nekromant wandle er, wenn er in die Gegend komme, nächtlich über das Rheinwasser trockenen Fußes, um sie ungesehen zu besuchen; er gleite auf einer wie Gold leuchtenden Strickleiter oder, wie andere meinten, von Dämonen getragen an der Turmmauer empor bis zum offenen Fenster der Dame; denn er hielt sich alsdann im nahen Schloss Röteln oder im Städtchen zu Kaiserstuhl auf, das er später als Bischof von Konstanz von einem der letzten Regensberger auch käuflich erwarb.
Tatsache war, dass nach etwa sieben oder acht Jahren die Frau von Schwarz-Wasserstelz ein gar anmutiges Mädchen nach Zürich bringen ließ, dass sie bald darauf selber, und zwar freiwillig, als Klosterfrau in die Abtei Zürich ging und dass sie nach Ablauf einer weiteren Zeit durch den Einfluss eben desselben Bischofs Heinrich zur Fürstäbtissin gewählt wurde.
Ob diese Geistlichwerdung aus Reue geschah und um die Jahre der Leidenschaft abzubüßen oder ob es sich für das vornehme Liebespaar darum handelte, als kirchenfürstliche Personen in freier Gesellschaftlichkeit sich öfter zu sehen und einer beruhigten Zuneigung froh zu werden, ist jetzt nicht mehr zu ermitteln; doch spricht damalige Sitte und das weiter sich Begebende eher für den letzteren Fall.
Denn es gab in unserer Stadt Zürich eine mannigfache und ansehnliche Gesellschaft. Neben den Prälaten und ihren Amtleuten waren da angesessene, schon mehrere hundert Jahre alte Geschlechter, die Nachkommen königlicher Verwalter mit seltsam abgedrehten altdeutschen Namen, die, meistens ein- oder zweisilbig, aus ehemaligen Personen- oder Spitznamen zu rätselhaften Familiennamen geworden, mancher verhallende Naturlaut aus dem Rauschen der Völkerwanderung darunter; kleinere Edelleute der umliegenden Landschaften mit den Namen ihrer Wohnsitze zu Berg und Tal drängten sich herbei, und eine Reihe wichtiger Dynasten der oberdeutschen Lande waren in Zürich verbürgert und gingen ab und zu. Unter allem dem waltete eine nicht unzierliche freie Geselligkeit, und wie einst in solchen Kleingebieten der romanische Baustil noch gepflegt wurde, nachdem er in den offenen Großländern längst dem Gotischen gewichen, so erfreute man sich eines verspäteten Minne- und Liederwesens ritterlicher Art, nachdem dessen Blütezeit schon vorüber war.
Jetzt müssen wir uns aber nach dem Kinde Fides umsehen, welches eben das natürliche Töchterlein der Fürstäbtissin war. Das tun wir am besten, wenn wir auf der anderen Seite der Stadt am Zürichberg hinaufgehen, wo wir das Kind alsbald antreffen werden, und zwar auf einem Spaziergang an der Hand des alten Meister Konrad von Mure, des rühmlichen Vorstehers der Singschule am Großmünsterstift. Der sehr betagte Mann hat das lebhafte Mädchen, das durch den Einfluss des Kanzlers im Hause des Herrn Rüdiger Manesse erzogen wurde, unter die Fittiche seiner besonderen Freundschaft genommen und, da er häufig in der nahen Ritterwohnung verkehrt, aus welcher auch sein Vorsteher, der Probst Heinrich Manesse, stammt, seine kleine Freundin zu dem Gange abgeholt.
Je weiter es aber in die Höhe ging, desto weniger vermochte er das rasche und etwas heftige Kind an der Hand zu behalten wegen überhandnehmender Schwäche und Engbrüstigkeit, wie der treffliche Mann denn auch dazumal nicht manches Jahr mehr lebte. Er ließ also das Mägdlein laufen, wie es mochte, und half sich an seinem Stabe in den schattigen Wegen weiter, die zwischen den vielen zerstreuten Bauernhöfen auf die Höhe des Berges führten.
Als er eine genügende Umsicht erreicht, ruhte er eine Weile auf einem Steine sitzend aus und ließ mit Behagen seinen Blick über die weite Landschaft gehen oder vielmehr über die Versammlung von Landschaften, welche ebenso widerspruchsvoll sich aufreihte, wie unser Zürich, seine Leute und seine Geschichte überhaupt. Das Gebirgsland gegen Süden war urhelvetischen Charakters, in unruhigem und ungefügem Zickzack, eine wilde Welt, die nur durch das Blau der Sommerluft und den Glanz von Schnee und See einigermaßen zusammengehalten war. Wendete der Kantor aber den Blick rechts, gegen Abend, so sah er in das ruhige Tal der Limmat hinaus, durch welches der Fluss, an wenigen Punkten aufleuchtend, hinzog und in den sanft gerundeten und geschmiegten Höhenlinien sich verlor. Von einem massigen Nußbaum und ein paar jungen Eschen eingefasst, glich das Tal, wenn es im Abendgolde schwamm, in seiner maßvollen Einfachheit einem Bilde des Lothringers, der vierhundert Jahre später malte. Nach dieser Richtung hin schaute der alte Herr Konrad am liebsten, wenn er hier oben ausruhte; denn der Frieden dieses Anblickes ergötzte und beruhigte sein trotz der Jahre immer erregtes Gemüt.
Als er sich nun zum Weitergehen wendete und die Höhe vollends gewann, zeigte sich auf dem Rücken des Berges abermals ein neues Landschaftsbild. Jenseits waldiger Gründe und Hänge dehnte sich gegen Norden und Osten flacheres Land, am weiten Horizonte von tiefblauen schmalen Höhenzügen begrenzt. Im vordersten Plane aber standen Gruppen hoher Eichbäume, zwischen deren Kronendunkel die weißen Wolken glänzten. Diese Gegend konnte ebenso gut im Spessart oder im Odenwalde liegen, wenn man das Auge nicht rückwärts wandte.
Da und dort zwischen den Bäumen war die Hofstätte eines der Berggenossen zu erblicken, die bis hier hinauf ihre Wohnungen zerstreut hatten, mehr als einer noch von den ursprünglichen freien Männern der Berggemeinde abstammend und den Hof in alter Freiheit fortführend. Unbezweifelt war ein solcher der Bauer Ruoff oder Rudolf am Hadelaub, dessen Haus am Rande eines diesen Namen tragenden Laubgehölzes stand. Der Name deutet auf einen Streit, der einst in dem Holz oder um das Holz geschehen sein mag; er kommt aber unter den jetzigen Flurnamen nicht mehr vor, weil das ganze Grundstück in einem größeren Besitz aufgegangen und auch der Hof längst verschwunden ist; indessen heißt heutigen Tages noch eine kaum fünfhundert Schritte weiter nördlich gelegene Waldparzelle das Streitholz. Damals aber lag das Haus, aus größeren und kleineren Bach- und Feldsteinen gebaut und mit einem niedrigen Schindeldache versehen, samt dem hölzernen Viehstalle dicht an einer der Schluchten, in welchen der Wolfbach herniederfließt.
Hierher lenkte aber jetzt Herr Konrad, das Mädchen an sich rufend, seinen Schritt und sprach bei dem Hofbesitzer vor. Der lange knochige Mann war eben von einem Gerüste aufgestanden, an welchem er in Mußestunden lange Speerschäfte herzurichten pflegte. Das Holz hierzu gaben ihm die schlanken Eschen, die reichlich am Bache und auf den Höhen wuchsen. Er prüfte den Schaft, an dem er eben schnitzte, nach seiner Länge und Gräde, indem er ihn waagerecht vor das Gesicht hielt und darüber hinblinzelte. Dabei entdeckte er die Ankunft des Kirchenmannes und legte langsam seinen Schaft auf den Haufen der bereits glatt geschnittenen Stangen, um jenen zu begrüßen.
»Ruoff, du verdienst den Namen deines Wohnsitzes!« rief der von Mure ihm entgegen, »wo in aller Welt ist denn schon wieder Streit und Mannschlacht, dass du deine Spießmacherei so eifrig betreibst!«
»Es geht immer etwas«, erwiderte der andere, »bald hie, bald da! Übrigens muss ich die Schäfte machen, wenn ich Zeit habe und das Holz trocken ist, so gibt’s etwa einen Pfennig Geld! Seid willkommen, Herr Konrad, was bringt Ihr Gutes?«
»Du bleibst halt immer ein gewerbsamer Züricher, ihr seid alle gleich und habt nie genug, unten am Wasser und hie oben auf dem Berg!«
»Ja, wir haben’s wie die Wildheuer dort drüben am Hochgebirge, wir müssen trachten, da und dort ein herrenloses Gras zu raffen; statt der hohen Felswände haben wir die Kirchenmauern, drum herumzuklettern! Hofft man ein bequem gelegenes Wieslein oder Äckerlein für sein hart erspartes Geld zu erwerben, so ist schon ein Gotteshaus da, unten, oben, hinten, vorn am Berge, das es nimmt, und man muss es sich noch zur Ehre anrechnen, wenn der bescheidene Mann als Zeuge zugelassen wird!«
»Ruf deine Wirtin herbei«, sagte der Magister lachend, »dass sie dem Kinde hier etwas Milch gibt! Es ist erhitzt und durstig. Oder eher wollen wir einen Augenblick ins Haus gehen, denn ihr Landbebauer kennt ja nicht die höfische Freude, im grünen Klee und unter Blumen zu sitzen, wenn ihr tafelt!«
Der Mann vom Hadelaub schüttelte die Späne von seinem starken Lederschurz, indem er leicht die Stirne runzelte; er liebte nicht, sich gelegentlich, im Gegensatze zu den Herrensitten, gewissermaßen als bäuerisch hingestellt zu sehen. Schon sein sorgfältig rasiertes Gesicht, das nur von einem Kranzbart eingerahmt war, und das halblange Haupthaar bewiesen, dass er als Freier sich zur guten Gesellschaft zählte und nicht mit einem ungeschorenen Hörigen oder Leibeigenen verwechselt werden wollte. Denn die Sitte hatte in diesem Stücke, wie noch in manchem, sich geändert. Geschoren waren jetzt die Herren und langhaarig die Knechte, und nur die Apostel und Könige dachte man sich langbärtig.
»Wenn es höfisch ist, im Freien zu speisen«, sagte er, »so leben wir hier bei Hofe, da wir in Sommertagen hinter dem Hause am Schatten essen. Dort mag auch Euer Mägdlein die Milch trinken, Ihr selbst aber einen Schluck dauerhaften alten Mostes von Holzbirnen, den Ihr kennt.«
»Er ist kühlend und nicht ohne Würze«, erwiderte der Kantor; »kommst du mit deinem Weib nächstens einmal zum Münster, so werde ich euch dafür ein Becherlein welschen Weines vorsetzen, den mir ein sangliebender Herr gebracht hat.«
Sie begaben sich demnach auf die Rückseite des Hofes, wo in der Tat ein uralter Steintisch unter den Bäumen stand, welche vom tiefen Bachtobel heraufstiegen und kühlen Schatten verbreiteten. Nebeneinander gelegte und mit Kies und Rasen bedeckte Baumstämme bildeten eine fahrbare Brücke in den Wald hinüber. An einem laufenden Brunnen wirtschaftete Rudolfs Eheweib, Frau Richenza. Sie war kaum zwei Zoll kürzer als ihr Mann, sodass man erst jetzt, als das Paar beieinander stand, den hohen Wuchs derselben recht gewahrte. Ihr Haar war an Stirne und Schläfen straff zurückgestrichen und hinten in einen starken Zopf gebunden, wie es arbeitende Frauen nötig haben. Auch das Kleid war etwas kürzer, als es bei Leuten freien Standes damals zu sein pflegte, was ihr, mit ihren raschen Bewegungen verbunden, ein rüstiges Ansehen verlieh, das wiederum durch einen gewissen alemannischen Liebreiz des hellen Gesichtes gemildert wurde.
Richenza schüttelte dem Geistlichen und dem Kinde treuherzig die Hand und brachte bald die Milch sowohl als den gelben klaren Most herbei, nebst kräftigem Roggenbrot, während der Mann selbst ebenfalls ins Haus ging und von den geräucherten Vorräten über dem Herde, worüber die Verfügung ihm vorbehalten war, langsam und bedächtig eine Wurst herunterschnitt. Denn ihm stand zu, zu ermessen, wie auf dem Heerzuge des Lebens die köstlichere Speise abzuteilen war, dass der Vorrat langte und niemals Mangel, Schuldbedrängnis und Verpflichtungen eintraten, die von allen Seiten feindlich lauerten.
Nicht lange saß nun die kleine Gesellschaft an dem steinernen Tische, als aus dem Walde drüben heller Gesang eines Kindes schallte und bald eine kleine Herde von Kühen erschien, welche von dem zehnjährigen Knaben des Bauern von der Weide heim und über die Brücke geleitet wurde. Nur mit einem langen blauen Leinenrocke bekleidet, barfuß, von reichem, blondem Goldhaar Gesicht und Schultern umwallt, ein hohes Schilfrohr in Händen tragend, gab das Kind mit den Tieren ein ungewöhnlich anmutiges Bild, welches zudem samt dem Waldesgrün vom Lichte der Abendsonne gestreift war, soweit sie durch die Belaubung dringen mochte. Mit Wohlgefallen folgten Konrads Augen der Erscheinung, bis der unbekümmert weiter singende und sich kaum umsehende Knabe die Kühe in den Stall gebracht hatte und nun zum Tische kam, um sein Abendbrot zu empfangen. Er gab dem alten Herrn ungeheißen die Hand; dann aber legte er erstaunt die Hände auf den Rücken und betrachtete unverwandt das Mägdlein Fides, welches eben sein Milchbecken am Munde hielt und darüber hinweg seine Äuglein gehen ließ. Einen Augenblick setzte es ab und sagte: »Du dummer Bub!« worauf es fertig trank und den Mund wischte.
Er schlug beschämt die Augen nieder und wendete sich seitwärts mit zuckendem Munde; denn eine so unhöfliche Anrede war ihm in seinem kurzen Leben noch nie zuteil geworden. Als nun aber Frau Richenza den Knaben an sich zog und beschwichtigte und der Kantor dem Mädchen seine Unart verwies, fing dieses seinerseits an zu weinen, sodass die Frau auch hier einschreiten und besänftigen musste.
»Sieh, Johannes«, sagte sie zum Knaben, »das Schäppelein des Dämchens ist fast verwelkt, geh mit ihm an den Bach hinunter, wo die vielen Blaublümel stehen, und holet zusammen zu einem frischen Kranze, aber kommt bald wieder, eh’ es zu kühl wird!«
Das Blumenkränzchen, womit das fliegende Haar des Herrenkindes geziert war, befand sich wirklich nicht mehr in bestem Zustande, und es wurde das Vornehmen auch von dem Kantor gebilligt. Die Kinder gingen also, leidlich versöhnt, den schmalen Pfad hinunter, wo der Wolfbach heute noch sich durch Steinblöcke von allen Farben, unterwaschene Baumwurzeln und andere Geheimnisse drängt, kleine Wasserfälle und hundert kleine Theater von Merkwürdigkeiten bildet. Sie gelangten auch bald an eine Stelle, wo das Bord länger von der Sonne beschienen und daher fast immer mit blühenden Pflanzen bedeckt war. Besonders von Vergissmeinnicht erschien alles blau, aber auch weiße Sternchen und rote Glöckchen gab’s darunter, in jenem blumenliebenden Zeitalter eine Augenfreude nicht nur für Kinder.
Die kleine Fides machte sich auch gleich darüber her und band mit Behändigkeit einen Kranz, zu welchem Johannes ihr kaum genug Blumen reichen konnte, je nach Auswahl und Befehl. Ring und Faden hierzu nahm sie vom alten Kranz und ließ die Überreste desselben den Bach hinabschwimmen. Nachdem sie die neue Zierde aufgesetzt, sah sie sich im weiteren um und fing an, auf den Steinen herumzuspringen, welche aus dem rinnenden Wasser hervorragten, bis sie auf einen kam, wo sie nicht mehr fort konnte, ohne durch das Wasser zu gehen. Das war aber wegen der feinen Schuhe und des Kleides untunlich; nach kurzem Besinnen befahl sie dem Knaben, der ihr nachgesprungen war und ratlos bei ihr auf dem Steine stand, sie ans Ufer zu tragen. Er glitt auch sofort ins Wasser und trug das angehende Frauenwesen auf dem Arme und mit schwerer Mühe über die eckigen und runden Bachsteine, indessen sie sich an seinem Halse hielt, aufs Trockene.
Inzwischen rückte Meister Konrad von Mure dem Ziele seines heutigen Ausganges näher. Er hatte, seit längerer Zeit mit den Leuten am Hadlaub in guter Freundschaft lebend, die zarte, aber auch aufgeweckte und gelehrige Beschaffenheit des Knaben Johannes bemerkt und wünschte denselben zu sich zu nehmen, um ihn zunächst zu einem Schreiberlein und Schüler heranzubilden, dessen er zu allerlei Aushilfe ermangelte, dann aber auch einem besseren Lebenslose entgegenzuführen, als er ihm auf dieser Berghöhe beschieden wähnte. Er begann daher von dem Singen des Knaben zu sprechen, wie er allerhand Singspiel in Worten und Weisen richtig aufgefasst und, wenn auch nur stückweise, innehabe, ohne dass man wisse, wie es zugehe. Dann brachte er allmählich sein Anliegen vor, fand aber keine Zustimmung beim Vater. Der unterbrach ihn, als er im besten Zuge war, und sagte: »Lieber Herr! Wir wollen hierin nicht weitergehen! Statt eines ehrlichen Christennamens, wie sie auf diesem Berge und rings im Lande altherkömmlich sind, Heinz, Kunz, Götz, Siz, Frick, Gyr, Ruoff, Ruegg, hat man dem Buben einen von den neumodischen Pfaffennamen verschafft, Johannes, ohne dass ich weiß, wie es eigentlich gekommen ist. Aber weiter soll es nun mit dem Pfaffwerden nicht gehen. Es ist mein einziges Kind. Seit unvordenklicher Zeit haben sich meine Väter auf der hiesigen Hofstatt gehalten; ich will mir nicht vorstellen, dass das durch meine Schuld anders werden soll und keiner der Meinigen mehr seinen Pflug hier führe, sein Vieh hier weide und von hier aus mit Schild und Speer zum Heerbann niedersteige.«
»Ei, was die ehrlichen Christennamen betrifft«, antwortete ihm der Alte lächelnd, »so seid Ihr nicht gut berichtet! Ihr habt als solche lauter wilde alte Heidennamen genannt, Euren und meinen nicht ausgeschlossen. Wisst Ihr, wie Euer Name Rudolf sich ehemals geschrieben hat? Hruodwolf, lupus gloriosus, ein berühmter Wolf, ein Hauptwolf, ein Wolf der Wölfe! Schönes Christentum! Wie heilig klingt dagegen das biblische Johannes, sei es nun der Täufer, oder der Lieblingsjünger des Heilands, oder der Evangelist!«
Soeben kamen nun die beiden Kinder an, und der Kantor zog gleich den Knaben herbei, ergriff dessen Hände und rief: »Seht, Kapitan aller Wölfe, sind diese schmalen Händchen diejenigen eines Pflugführers und Speerträgers? Oder nicht vielmehr diejenigen eines Pfaffen oder Magisters? Eines sanften gelehrten Johannes? Merkt Ihr denn nicht die Weisheit der guten Mutter Natur, die aus so reisigem Volk von Zeit zu Zeit selber ein zarteres Pflänzlein schafft, aus dem ein Lehrer oder Priester werden mag, wo Ihr sonst bei aller Stärke in Unwissenheit und Sünde verderben müsstet? Übrigens ist gar nicht gesagt, dass er durchaus geistlich werden soll; ich bin zufrieden, wenn er nur vorerst etwas lernt und die Zeit nicht verlorengeht!«
»Willst du in die Schule gehen zu den Herren am Münster?« sagte nun die Mutter zu dem Knaben, welcher verwundert alle der Reihe nach ansah.
»Willst du schöne Bücher schreiben und malen lernen mit Gold und bunten Farben, Lieder singen und die Fiedel spielen«, sagte der Singmeister, »schöne Mailieder, kluge Sprüche und das Michaelslied: O heros invincibilis dux – oder wie hast du heut gesungen?«
»O Herr, o Vizibilidux! heißt es«, rief Johannes eifrig, und lachend fragte Konrad, wer ihn das gelehrt habe?
»Der Bruder Radpert im Klösterlein«, versetzte jener selbstzufrieden.
»Das ist ein uralter Mönch bei den Augustinerbrüdern dort hinter den Eichen, der einst als Kriegsmann noch den Heerzug ins Heilige Land mitgemacht hat und dem Kinde zu erzählen pflegt, wie sie das Lied immer gesungen, wenn es in den Streit ging.«
Dies bemerkte die Frau Richenza; Rudolf, ihr Mann, aber sagte jetzt zu dem Knaben: »Nun, was ziehst du nun vor? Willst du bei den Mönchen in der Schule sitzen und eine Glatze tragen, oder willst du hier oben in der freien Luft bleiben und ein wehrhafter Geselle werden?«
Johannes begriff den Sinn der Unterhaltung nur etwa zur Hälfte; er sah sich nochmals um und vermutete zuletzt, dass es sich um eine Schule handle, in welcher solche kleine Dämchen saßen, wie der Chorherr eines zur Probe mitgebracht habe, und da dieses ihm gefiel, so erklärte er, er wolle in die Schule gehen.
»Genug«, rief der Vater in strengerem Tone, »wir wollen mit solcher Sache nicht länger spielen! Geh hinein, Johannes, und hole das Horn, dass wir die Knechte und Dirnen heimrufen!«
Der Chorherr merkte, dass er jetzt nichts weiter ausrichten werde, nahm, da die Sonne sich zum Untergange neigte, Abschied und begab sich auf den Heimweg. Gleichzeitig kamen ein alter und ein junger Knecht mit Ochsen und Eggen in raschem Laufe auf der Hofstatt an, mit lautem Geschrei und Heio, Menschen und Tiere gleich ungeduldig. Während hierdurch die Aufmerksamkeit des Meisters in Anspruch genommen wurde, benutzte Johannes die Gelegenheit, vom Hofe zu entfliehen und dem Kantor und dem Mädchen den Berg hinunter nachzulaufen. Da er barfuß war, so hörten sie ihn nicht. Wenn Herr Konrad einen Augenblick stillstand, um auszuruhen und zu husten, so hielt Johannes in einiger Entfernung ebenfalls an und blieb schüchtern stehen, und wenn sie weitergingen, so lief er wieder hinter ihnen drein. Bei einem solchen Halt entdeckte ihn die zurückschauende Fides; aber sie sah ihn jetzt wieder so stolz und fremd an und schien nicht einmal den alten Herrn von seiner Nachfolge in Kenntnis zu setzen, sodass er verschüchtert zurückblieb und ihnen traurig nachblickte, bis sie in den Abendschatten verschwanden. Dann lief er voll Furcht, teils vor den Folgen seines Ungehorsams, teils vor den Geheimnissen der hereinbrechenden Nacht, eilig zurück, bis ihn die Mutter, die ihn bereits suchte, empfing und unbemerkt ins Haus brachte und auf seinem Lager versorgte, dem Anerbieten des ehrwürdigen Kapitelsmannes mütterlich nachsinnend.
Als sie nach Jahr und Tag ihrem Eheherrn einen zweiten Sohn schenkte, ein Knäblein, das auffallend groß und kräftig war, wurde Rudolf am Hadelaub anderen Sinnes und der Wunsch des Singmeisters der Propstei Zürich erfüllt.
*
Nach ungefähr acht Jahren finden wir den Johannes Hadlaub, wie er jetzt genannt wurde, als blondgelockten feinen Jüngling unermüdlich bei allerhand gelehrter Arbeit. Konrad von Mure hatte ihn unter seine ganz besondere Obhut genommen und zu allererst so schnell schreiben und lesen gelehrt, wie ein Kriegsmann seinen Knaben reiten und fechten. Gleichzeitig mit dieser Übung und durch dieselbe musste er die Sprache deutsch und lateinisch verstehen lernen, denn der Meister gönnte ihm nicht so viel Zeit hierzu, wie den Pfaffen- und Herrenknaben der Stiftsschule. Nach Brauch und Art des Handwerks musste er so bald als möglich Nützliches hervorbringen, was an seiner Stelle in sauberer und genauer Abschrift bestand; den Inhalt aus den vertrauten Worten des Alten gewissermaßen im Fluge verstehen zu lernen, musste er sich still und aufmerksam angewöhnen. Mit der Zeit mochte er dann sehen, was er weiter aus sich machte, wenn er ein wirklicher Gelehrter und Theolog werden wollte. Inzwischen musste er nicht nur Noten und Worte der Kirchenmusik schreiben, sondern auch die Reimwerke Konrads, seine mythologischen, geografischen, naturkundlichen und historischen Traktate fleißig kopieren, bis sein Taufgevatter Johannes Manesse, der Kustos und Scholaster der Propstei Zürich, der Sohn des Herrn Rüdiger, hinter die Sache kam und der flinken und zierlichen Hand des Knaben gewahr wurde. Der zögerte nicht lange, sondern ließ sich von ihm alle die alten und neuen Minnelieder und Rittergedichte abschreiben, deren er habhaft werden konnte in seinem weltlichen Sinne, und Konrad von Mure machte sich eifrig herbei und wachte darüber, dass sie richtig in Ton und Maß geschrieben und vorhandene Fehler ausgemerzt wurden. Hierdurch erlangte der junge Hadlauber, gelehrig und stets munter, eine neue Kenntnis und Übung.
Einige Verzierung der Schrift mit schönfarbigen Tinten gehörte an sich schon zum klösterlichen Schreibewerk; allein hierbei blieb er nicht stehen, sondern suchte bei naiven Bildkünstlern jener Zeit, wie sie etwa in den Bauhütten der beiden Münster zu treffen waren, so viel Erfahrung abzulauschen, als zur Bemalung eines halben oder ganzen Pergamentblattes erforderlich war.
Seit mehreren Jahren war nun der greise Kantor und Stiftsherr von Mure tot, Johannes Hadlaub aber an der Singschule und Bücherei beschäftigt geblieben, ohne sich für den Stand der Geistlichkeit bereit zu machen. Sein Vater schien hiermit zufrieden, obgleich sein zweitgeborener Sohn kräftig heranwuchs und ebenso groß und stark zu werden versprach, wie er selbst. Wenn Johannes ein geschäftskundiger weltlicher Bürgersmann in der Stadt würde, so war ihm das auch recht, und jener begann in der Tat von verschiedenen Herren bei ihren Verhandlungen als Schreiber benutzt zu werden; besonders war es der jüngere Leuthold, Freiherr von Regensberg, der seine Dienste andauernd in Anspruch nahm bei Ordnung seiner schwankenden Verhältnisse.
Noch näher trat er in der Folge dem älteren Manesse, Herrn Rüdiger, als dessen Sohn, der »Küster«, ihn eines Tages aufforderte, schleunig seine Fiedel zu nehmen und mit ihm auf den Hof des Manesse zu kommen.
Johannes ergriff freudig errötend augenblicklich die Geige und schritt mit dem Chorherrn gar stattlich die Kirchgasse, so jetzt Römergasse heißt, hinauf. Freundlich nickte der goldgelockte Jüngling an der Seite des Chorherrn Bekannten zu, welche in den volkreichen Gassen vorübergingen, und er wurde von jedermann ebenso freundlich wieder gegrüßt, weil er eine liebenswürdige Erscheinung war. In einen faltigen Rock gekleidet, der sich in breite, weiße und blaue Querstreifen teilte und fast bis auf die Füße ging, trug er ein purpurrotes Barett, besteckt mit einem weißen Tuche, das Nacken und Schultern deckte.
Bald gelangten sie zu der Behausung der Herren Maneß; erregt blickte Johannes an das steinerne Haus empor, welches damals an dem Turme lehnte und das Wohnhaus war. Im zweiten Stock war die Mauer unterbrochen von einer Rundbogenstellung auf zierlichen Säulen, hinter welchen der Saal sich befand, überragt von den Eichenbalken des Daches. Das Erdgeschoss zeigte ein paar Fenster mit ebenfalls verzierten Rundbogen, daneben aber hauptsächlich ein großes Einfahrtstor, das unter dem Hause durch in den Hof führte zu verschiedenen Aufgängen und Treppen. Unter dem Torbogen waren die Steinstufen angebracht, von welchen die Frauen zu Pferde stiegen, wenn sie ausritten. Eine jener steinernen Schneckenstiegen, deren Tritte uns jetzt, wo sie noch erhalten sind, so hoch und beschwerlich vorkommen, führte zum Saal hinauf.
Als Johannes Hadlaub mit seinem Führer in die Türe desselben trat, verließ ihn plötzlich sein frischer Mut. Er war nicht auf die ansehnliche Gesellschaft gefasst, die da um einen großen Tisch herum in Lehnstühlen oder auf kissenbedeckten Schemeln saß.
Da war vor allem Bischof Heinrich von Konstanz, ein schöner Mann mit dunklen Augen und Haar, mit ernsten, aber geistvollen Gesichtszügen; mit der beringten Hand hielt er die Hand der Fürstäbtissin von Zürich, die in weltlicher Damentracht neben ihm saß, eine still vorübergehende Erscheinung, die nur im Lichte jener Augen aufblühte. Zu seiner anderen Seite saß die Hausfrau des Ritters, von dem ebenfalls alt eingewohnten Stamme der Wolfleipsch, gleich neben ihr eine andere Konventualin der Abtei, Frau Elisabeth von Wetzikon, Muhme des Bischofs, die später die bedeutendste Äbtissin wurde, diese auch in weltlicher Tracht. Neben ihr saß der Toggenburger Graf Friedrich, Nachkomme des Minnesingers Kraft von Toggenburg, dann der Herr von Trostberg, Enkel des Sängers gleichen Namens, dann Herr Jakob von Wart, endlich Herr Rüdiger selbst mit ergrauten Locken, aber blühendem Antlitz, in pelzverbrämtem Rocke. Einige Sitze waren leer, da die junge Fides aufgestanden war und mit zwei anderen Frauen im Hintergrunde des Saales auf und nieder ging.
Auf dem Tische standen Blumen und Früchte, Gebäcke und silberne Schalen mit südlichem Weine, dazwischen aber kleine Pergamentbüchlein, größere Hefte und schmale, lange aufgerollte Streifen von gleichem Stoffe, alles dies mit Reimstrophen beschrieben, gedrängt und endlos wie Heerzüge der Völkerwanderung.
Der Hausherr erhob sich und empfing seinen Sohn samt dessen Begleiter.
»Hast du uns den jungen Spielmann mitgebracht?« fragte er. »Das ist gut, denn wir haben durch die Gunst dieser Herren einige neue Sachen erjagt und möchten dieses und jenes gerne singen hören; aber niemand singt, als der hochwürdigste Fürst Heinrich, und der will nicht mehr, seit er Bischof ist! Da hat uns Graf Friedrich noch einige Lieder seines Großvaters gebracht, die wir nicht besessen; Freund Trostberg nicht weniger als zwei Dutzend Gesänge seines würdigen Vorfahren und hier Baron Jakobus von der Wartburg, rate einmal! sein eigenes Jugendbüchlein, das er uns so lange hinterhalten, achtzehn Lieder, ich hab’s schon gezählt! Aber auch er will nicht mehr singen!«
»Wenn ich nicht mehr singen darf«, nahm jetzt der Bischof das Wort, »so habe ich dafür Buße gebracht, nämlich die Lieder des edlen und ritterlichen Herzogen von Breslau, meines schönen und guten Heinrich! Leider zugleich mit der Nachricht, dass der Treffliche unverhofft und in jungen Jahren Todes verblichen ist, eine Kunde, die mich tief betrübt hat!«
Er zog eine kleine Liederrolle aus seinem Gewande, durchmusterte sie und fuhr fort:
»Hier ist eines der anmutvollsten Lieder, die wir von dem seligen Manne haben, könnte uns der wackere Knabe das wohl vortragen?«
Er winkte Johannes herbei, gab ihm das Lied zu lesen und unterrichtete ihn in halblauten Tönen rasch in der Weise, die jener bald begriff. Johannes legte hierauf die viersaitige Geige flach vor seine Brust und sang das Lied, indem er die Weise eine Terz tiefer dazu spielte und nur jeweilig mit den zwei vorletzten Noten einer Zeile harmonierend ausbog. Es war das Lied:
Dir klag’ ich, Mai, ich klag’ dir’s, Sommerwonne,
Dir klag’ ich, leuchtende Heide weit,
Ich klage dir’s, o blühender Klee,
Ich klag’ dir, Wald, ich klag’ dir, Sonne,
Dir klag’ ich, Venus, sehnendes Leid,
Dass mir die Liebste tut so weh!
und so weiter, wie von den angerufenen Richtern jeder seine Strafe verheißt, der Ankläger aber schließlich seine Klage zurückzieht und lieber sterben will, als dass solches Ungemach die Schöne treffe.
Der Gesang war aus der frischen Kehle des frohen unschuldigen Jünglings so wohltönend hervorgequollen, dass alle davon ergriffen und gerührt waren, zumal die Nachricht von dem frühen Ende des Dichters die Gemüter schon weicher gestimmt hatte. Der Bischof aber bereinigte sofort mit dem Johannes und Herrn Rüdiger, der eifrig hinzutrat, den Text, in welchem sich durch den gesanglichen Vortrag einige offenbare Unrichtigkeiten in der Silbenzählung bemerklich gemacht hatten.
Jetzt sprang aber der von Wart auf, der sein eigenes Büchlein vom Tisch genommen hatte, und rief: »Nur das erste beste von meinen schwachen Gesätzlein möchte ich nochmals von dem Munde dieses Knaben hören.« Er zeigte ihm eines der Liedchen, und Johannes spielte und sang:
Voll Schönheit wie der Morgenstern
Ist meine Fraue, der ich gern
Für jetzt und immer dienen will!
Wie wenig sie mir Trost gewähre:
Ich wünsche, dass sie Glück und Ehre
Begleiten an der Freuden Ziel!
Ihre Güte und Bescheidenheit
Sind leider gegen mich entschlafen;
Doch muss ich sie drum tadelnd strafen,
Ist eben dies mein schweres Herzeleid!
Indessen hatte der Bischof die Lieder des älteren Trostberg durchgangen, erhob sich unversehens, nahm von dem jungen Spielmann die Fiedel an sich und sang und spielte mit schönen korrekten Tönen:
Rosenblühend ist das Lachen
Der viel lieben Frauen mein,
Wie konnt’ er solch Wunder machen,
Der ihr gab so lichten Schein?
Sie ist meines Herzens Osterspiel,
Des Herzens, das sie niemals lassen will!
»Verzeiht, edle Freunde«, sagte er dann, »dass ich mich habe hinreißen lassen! Aber das ist die erste frohe Stunde, die ich genieße, seit ich armer und getreuer Kanzler meinen Herrn Rudolf in der Kaisergruft zu Speier begraben habe!«
Er warf dabei ein blitzendes Auge auf die errötende Äbtissin Kunigunde, und alle bezeugten ihre wohlwollende Teilnahme, obschon jeder wusste, dass der Sangesgruß des Kirchenfürsten der Fürstäbtissin gegolten, welche er heute nach längerem Zeitraume wiedersah.
Schon hatte jetzt Jakob von Wart aber eine kleine Harfe, die ihm geschickter war, von der Wand genommen, und angefeuert von dem Beispiel des Bischofs sowohl als durch den edlen Wein, sang der nicht mehr junge Herr das schöne Tagelied, das am Schlusse der von ihm uns erhaltenen Sammlung steht und sich mit den vorzüglichsten Gedichten dieser Art aus der Staufenzeit vergleichen lassen kann.
»Nun habt Ihr mir die größte Freude und Ehre gewährt!« sagte Herr Rüdiger, »ja, ich bin froh, dieses Lied und die anderen von Euch zu besitzen! Wer möchte uns aber jetzt eine Probe von des Toggenburgs Liedern singen, dass wir von allem etwas hören?«
Graf Friedrich dagegen meinte, er sei für seine Person nicht besonders erpicht auf das eigene Hausgewächs und wäre eher begierig, von dem jungen Spielmann ein paar altbekannte gute Stücke zu hören.
»Nun«, rief der Bischof, »so soll er uns einiges von dem alten Vogelweider zum besten geben; der steht immer noch über allen an Wohlklang und Geist!«
Walthers gangbarste Weisen waren allerdings dem Jüngling geläufig, und er spielte sogleich das sechsstrophige Lied:
Wollt ihr schauen, was im Maien
Wunders ist beschert:
Seht die Pfaffen, seht die Laien,
Wie sich’s kehrt und fährt!
Groß ist sein’ Gewalt!
Bringt er Zauberstab und Krone?
Wo er naht mit seiner Wonne,
So ist niemand alt!
Dann folgte das Lied:
Immer nimmt mich wunder, was ein Weib
An mir hab’ ersehen, usw.
Wie nun der hübsche Knabe weitersang:
Hat sie keine Augen im Gesicht?
Aller Männer schönster bin ich nicht,
Das ist nicht zu leugnen.
Schaut nur, wie der Kopf mir steht,
Der ist gar nicht wohlgetan!
und dabei den feierlichsten Ernst bewahrte, brach die ganze Gesellschaft in ein fröhliches Gelächter aus.
Zuletzt sang er das »Unter der Linde auf der Heide« mit dem Tandaradei-Refrain mit so naiver Unschuld, dass er alle sich geneigt machte und der Bischof ihn umarmte und küsste.
Herr Johannes, der Küster, freute sich der guten Aufnahme, welche sein Schützling gefunden, und stellte denselben erst jetzt genauer vor. »Er ist guter Leute Kind«, fügte er hinzu, »sein Vater war anno 78 mit Rudolf auf dem Marchfelde und einer der wenigen Züricher, die von dort zurückgekommen sind.«
»Dann würde ich ihn wohl wiedererkennen, wenn ich ihn sähe«, antwortete Herr Heinrich von Klingenberg; »denn ich sah sie alle, als sie in dem Völkerstreit standhaft vordrangen mit denen von Schwyz und Uri und der König auf ihre Tapferkeit hinwies.«
»Er ist auch ein Kenner alter Bräuche und weiß stets ohne Schrift, was Rechtens ist«, sagte der ältere Maneß; »mehr als einmal habe ich Gelegenheit gefunden, das zu erproben.«
Johannes Hadlaub mischte sich bescheiden in die Rede, indem er bemerkte, sein Vater habe, seit er, der Sohn, schreiben könne, ihn an stillen Winterabenden schon manches aufzeichnen lassen von dem, was ihm als auf den Höfen weit herum von alters her üblich bekannt sei und nicht in den Rechtsbüchern stehe.
Begierig rief sogleich der Ritter: »Mein Sohn! von allem, was der Vater dich solchergestalt niederschreiben lässt, solltest du mir Copia geben, das heißt, wenn er es gestatten will! Denn ich fürchte, er gehört zu denen, welche glauben, das Alleinwissen verleihe Macht im Rechtsleben, oder die gar den Aberglauben hegen, solche Kunde sei als etwas Übermenschliches und Gefährliches zu hüten!«
»Das tut er nicht«, antwortete Johannes, »denn er hält es für ein Gemeingut und hält es für ein Übel, dass alles nur in den Gotteshäusern aufgeschrieben und bewahrt werde, wenigstens hier.«
»Sieh, mein Sohn, schon manches hab’ ich hier, was dir auch zugute kommen kann und was du mir wiederum kannst vermehren helfen!« fuhr der Ritter fort und führte ihn zu einem offen stehenden, in die dicke Mauer des Saales eingelassenen Schranke, aus welchem ein Teil der auf dem Tische liegenden Handschriften entnommen war, in welchem aber noch viele Bücher und Pergamentrollen geschichtet lagen.
Da waren neben dem Parzival, dem Erec, Iwein und armen Heinrich, dem Tristan, dem Wartburgstreit und anderen poetischen Werken auch verschiedene Bücher beschreibender und historischer Natur, wie sie damals geschrieben und, gelesen wurden, vornehmlich aber sah man da Abschriften wichtiger Rechtsdenkmäler und Urkunden, wie sie nur ein einflussreicher und hochstehender Mann zu sammeln in der Lage war. Herr Rüdiger holte ein besonders eingewickeltes Buch hervor und zeigte es dem Jüngling. Es war die Handschrift des Schwabenspiegels.
»Vorzüglich das Buch hier möchte ich besitzen, denn diese Schrift gehört nicht mir, sondern den Herren am Münster«, sagte er; »wolltest du zuweilen herkommen, so könntest du es hier abschreiben, indem wir es gleicherzeit zusammen lesen; denn es wird etwas schwierig sein, da manches gar alter und eigentümlicher Art ist. Haben wir die Schrift fertig, so wollen wir auch den Spruch an den Schluss setzen, den dieser Schreiber hier am Ende des Lehensrechtes angebracht hat und der auch mir wohlgesagt scheint:
›Es ist niemand so ungerecht, den es nicht unbillig dünkt, wenn man ihm unrecht tut. Darum bedarf man weiser Rede und guter Künste, sie in den Rechten zu verwenden. Wer zu allen Zeiten nach dem Rechte spricht, der macht sich manchen Feind. Dem soll sich der Biedermann gern unterziehen, um Gottes und seiner Ehre willen und zum Heil seiner Seele. Der gütige Gott verleihe uns, dass wir das Recht also lieben in dieser Welt und das Unrecht schwächen in dieser Welt, dass wir dessen genießen dort, wo Leib und Seele scheiden!‹«
»Das ist wohl ein schöner Spruch«, sagte unversehens eine jugendliche Frauenstimme dicht hinter Johannes. Rasch kehrte er sich um und stand einem sechzehnjährigen Fräulein gegenüber von einer ganz seltenen und eigentümlichen Schönheit und überaus schlanker Gestalt. Die Anmut ihrer Gesichtszüge war fast etwas verdüstert durch einen tiefen Ernst und doch durch denselben wieder beseelt. Es war Fides, die bisher sich von der Gesellschaft entfernt gehalten.
Johannes hatte alle die Jahre her das Mädchen nie wieder erblickt, obschon er nach Jugendart dasselbe im Gedächtnis bewahrt und heute sofort der Meinung gewesen war, er werde das ehemalige Kind ohne Zweifel endlich finden. Allein eben weil sie nicht mehr ein Kind, sondern eine ganz andere Person und Gestalt war, und dann von der glänzenden Versammlung überrascht und durch das Singen beschäftigt, hatte er sie nicht gesehen und waren seine Gedanken sogar ganz von ihr abgekommen.
Wie sie seine Überraschung bemerkte, betrachtete sie ihn genauer und schien sich zu besinnen, wo sie ihn wohl schon gesehen habe, bis ihr einfiel, dass der hier stehende Schüler des seligen Kantors ja kein anderer als jener Knabe sei, der sie einst durch den Bach getragen und sie dann eine Strecke weit den Berg hinunter verfolgt hatte. Sie nickte ihm mit flüchtigem Lächeln ein weniges zu und ging dann wieder mit ihren Gespielinnen auf und nieder, zuletzt aber aus dem Saal.
»Unser junger Spielmann hat nun aber auch einen Trunk verdient«, sagte jetzt die Hausfrau, »setzet Euch ein Weilchen nieder und erquickt Euch; denn gewiss habt Ihr Euch die Kehle trocken gesungen!«
Sie wies Johannes einen der ledigen Sitze an, auf welchem er sich still und schüchtern verhielt.
Herr Rüdiger aber trat plötzlich, nachdem er inzwischen nachdenklich einigemal auf und nieder gegangen war, hinter den Bischof Heinrich und legte ihm die Hand auf die Schulter, sodass die übrigen Anwesenden ihre Gespräche unterbrachen.
»Weißt du, trauter alter Freund! welch ein Gedanke mir eben gekommen ist, als ich mich dort mit dem Bücherwesen unterhielt? Seit mehr als hundert Jahren, so dachte ich, wird in deutschen Landen die Minne gesungen und sonst so mancher weise und tapfere Spruch ersonnen; von Hand zu Hand gehen die Lieder, und noch vermehren sie sich täglich, aber niemand weiß und kennt sie alle, und je mehr der Jahre fliehen, je mehr der Lieder gehen mit den sterbenden Menschen zu Grabe! Wie mancher edle Sänger liegt seit sechzig, siebzig Jahren wohl in seiner Ruhe, noch haben wir seine Lieder, aber schon nur noch wenige seiner Weisen; in abermals siebzig Jahren, was wird noch vorhanden sein von seinen Tönen und von seinem Namen? Vielleicht ein Märchen, wie vom Orpheus, wenn’s gut geht!«
»Ich verstehe dich, lieber Herr und Freund!« erwiderte der Bischof, seine Hand erfassend, »du willst die Lieder gründlich sammeln und retten, was zu retten ist, und ich muss solchen Vorsatz nur loben, soviel ich loben kann! Einen guten Anfang habt Ihr ja schon gemacht, du und dein würdiger Sohn, von dem ich wiederholt erfahren und vernommen, wie er in allen Burgen und Klöstern nach Geschriebenem bohrt! Aber wir müssen nun ins Breite und Weite gehen und eine gewisse Ordnung in die Sache bringen!«
»Versteh mich recht!« versetzte der Manesse, »ich meine ein einziges großes Buch zu stiften, in welchem alles geordnet beisammen ist, was jeder an seinem Orte singt. Ja, soeben schaue ich«, fuhr er in edler Erregung fort, »schon sehe ich das Buch in schönster Gestalt vor mir, groß, köstlich und geschmückt, wie, ohne Blasphemia zu reden, das Messbuch des Papstes!«
»Ebenso mein’ ich es auch«, antwortete der Klingenberger, »und weißt du warum? Weil ich bereits einen Anlauf und Vorgang solchen Unternehmens kenne. In der Bücherei unseres Domsitzes zu Konstanz gibt’s ein Buch, worin an die fünfundzwanzig Sänger schon beieinander stehen, wenige davon vielleicht vollständig, aber kundig geordnet und begleitet von ihren Bildnissen. Das alles kannst du größer, schöner, reicher anlegen, vorzüglich aber müssen wir die Namen vervollständigen. Nach meinem Dafürhalten werden wir statt fünfundzwanzig an die hundert Namen bekommen.«
»Es wird gegen die hundertundfünfzig gehen«, rief Johannes Maneß, der Chorherr, »wie viele haben wir nur in unseren Gauen zu suchen vom Bodensee bis ins Üchtland und in die Berge des Oberlandes; dann denkt an die Donau, an Bayern, Franken, Sachsen, den Rhein, Niederland und die Nord- und Ostmarken!«
»Um so eher müssen wir beginnen«, sprach wieder Herr Rüdiger, »daher fragen wir Euch, den Herrn Fürsten und Bischof zu Konstanz, hiermit förmlich an, ob wir bemeldeten Liederschatz lehensweise benutzen dürfen zur Vergleichung und Umschau?«
»Mit Freuden wird Euch das Werk zur Verfügung gestellt«, antwortete der Bischof mit scherzhaftem Ernste, »wofern unsere hochgelobte gnädigste Fürstin, die große Frau zu St. Felix und Regula in Zürich, für die unbeschwerte Rückkehr des Schatzes gute Bürgschaft leisten will!«
»Sie will es«, sagte Frau Kunigunde, die Äbtissin, lächelnd, »insofern der Ersatz für so leichte Ware, wie jene Lieder sind, falls sie verlorengehen oder veruntreut werden, in ebenso leichtem Wert geleistet werden kann, etwa in einem Korb Rosen oder Feldblumen, so alljährlich an Kaiser Heinrichs Tag, welches der Namenstag des Herrn Fürsten, meines Oberherrn, ist, nach Konstanz zu schicken wäre, wohlgemerkt unter Gegenverpflichtung, den Boten und sein Roß gehörig zu pflegen und der Tributpflichtigen jedes Mal ein Paar neue Handschuhe zurückzusenden!«
»Eine echt weibliche Großmut, die wir in Demut über uns ergehen lassen!« rief der Bischof.
Herr Jakob von Wart aber erhob sich und zugleich seine Trinkschale und rief: »Herren! lasst uns der schönen Frauen nicht spotten, zu deren Preis und Hochhaltung das Werk hauptsächlich dienen soll! Denn wird es nicht, recht durchgeführt, vor allem auch ein Denkmal und Zeugnis werden von der Ehre, welche wir den guten Engeln erwiesen haben und erweisen, wie noch nie vordem in der Welt erhört worden ist, aber wie es bleiben soll, solange die Herzen ritterlicher Männer schlagen?«
»Recht so«, fiel Manesse ein, »solche Worte sind glückverheißend für unser Unternehmen, und glückverheißend ist die Anwesenheit des Herrn, der sie sprach, eines echten Ritters und Minnesingers. Lassen wir die Becherlein füllen, bitten wir die edlen Frauen, sie uns zu kredenzen, und trinken wir dann auf das unvergängliche Heil der blühenden Weibesseele, auf das Heil unseres Freundes Wart, der heut hier sein eigenes Lied gesungen hat, und auf das Gelingen unseres Vorsatzes!«
Alle standen von ihren Sitzen auf, die Frauen hielten der Reihe nach alle Becher an ihre Lippen und boten sie den Herren, welche sie wohlgemut leerten.
Maneß umarmte und küsste den Herrn von Wart, welcher freudig bewegt, in der Weise älterer Leute, sich diese Nachblüte seiner Kunst gefallen ließ und nicht ahnte, dass in weniger als zwanzig Jahren seine Burgen zerstört und sein Geschlecht von der Erde hinweggetilgt sein würden.
Als sich Frauen und Männer wieder niedergelassen hatten, ergriff der Bischof abermals das Wort.
»Wir wollen nun«, sagte er, »nicht länger säumen, sondern so bald als möglich Ernst machen. Mir scheint am besten, wenn wir gleich eine junge Kraft für unser Vorhaben, das weit aussehend ist und Ausdauer heischt, heranziehen und unseren weißblauen Knaben dort zum Herold und Mareschalk des Feldzuges ernennen. In drei Tagen werde ich wieder auf meinem Hirtensitze sein; dann mag er sein zierliches Kleid ausziehen und sich in ein Reiterröcklein begeben, so es Euch recht ist, Freund Rüdiger, um das Liederbuch in Konstanz zu holen. Ich sage das, weil ich dieses sowohl als andere Sachen, die ich hervorsuchen will, ihm selbst übergeben und alle diese Dinge mit einiger Unterweisung begleiten möchte. Denn seit den Lebenstagen des Königs und in dem Trubel der letzten zwei Jahre überhaupt habe ich meine Mappen und Truhen, die noch manches bergen, nicht mehr geöffnet und gemustert. Habe ich dem Knaben dann meine Gedanken über dies und jenes mitgeteilt und hat er sie, wie ich hoffe und glaube, richtig erfasst, so wird er Euch und Eurem Sohne, dem Kustos, alles zur weiteren Erwägung und Entscheidung vortragen, oder wie dünkt Euch?«
»Ganz vortrefflich scheint mir alles, was Ihr sagt«, erwiderte Rüdiger; »ist der junge Mann vom Berge und nicht minder sein Vater, mit welchem ich selber sprechen werde, damit einverstanden, dass er uns in dieser Sache diene oder vielmehr behilflich sei, so wollen wir gleich darangehen. Am besten wird sein, wenn er das Buch gleich selber schreibt, so haben wir die Aussicht, dass es ganz aus der gleichen Hand entstehen wird, auch wenn wir selbst darüber wegsterben sollten!«
Johannes befand sich wie in einem Traume, so wunderbar ging ihm alles durch den Kopf; er vermochte bloß freudig und verwirrt sich zu verneigen, als ihn der Kustos Johannes fragend ansah, und ging dann, als dieser ihm leise andeutete, dass es jetzt schicklich für ihn sei, sich zu entfernen, sich gegen alle abermals neigend, seine Fiedel unter dem Arme, schleunig davon.
So verwirrt und befangen er war, hatte er doch Geistesgegenwart genug, sich auf Flur, Treppen und Hof umzusehen, so gut es mit seinen raschen Schritten sich vertrug; allein er sah oder hörte nicht ein Stäublein und nicht einen Laut von der jungen Dame Fides, die sich in das entlegenste Gemach der weitläufigen Ritterbehausung zurückgezogen zu haben schien.
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