Der erste Roman Stanisław Lems, 1948 entstanden, noch bevor Lem als Science-fiction-Autor debütierte, spielt Anfang der vierziger Jahre im besetzten Polen und erweist sich, wie Heinrich Vormweg in der Süddeutschen Zeitung schrieb, »als das verblüffend originelle, präzis komponierte, eine bedrängende Erfahrung exemplarisch ins Bild hebende Werk eines jungen Autors, der auf der Höhe der literarischen Möglichkeiten der Moderne seine eigene Diktion findet«.

Der junge Arzt Stefan tritt seine Stellung in einem Hospital für Geisteskranke an, und schon bald wird ihm die besondere Atmosphäre an diesem Ort bewußt. Er beobachtet diese seltsame Umwelt mit Verwirrung und hat mehr und mehr das Gefühl, Mitverantwortung zu tragen. Der Einbruch der Brutalität durch SS-Truppen, die das Krankenhaus besetzen und die Insassen liquidieren, läßt alle Fassaden der Konventionalität zwischen den Kollegen zusammenstürzen.

Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.

Stanisław Lem

Das Hospital der Verklärung

Roman

Aus dem Polnischen
von Caesar Rymarowicz

Suhrkamp

Titel der polnischen Originalausgabe:

Czas nieutracony,

Kraków: Wydawnictwo Literackie 1955

Übersetzung des Vorworts: Klaus Staemmler

Das Hospital der Verklärung erschien 1982 als suhrkamp taschenbuch 761

Umschlagfoto: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© by Stanisław Lem 1955

Alle deutschsprachigen Rechte beim Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig

Nutzung der deutschen Übersetzung von Caesar Rymarowicz mit freundlicher Genehmigung des Verlags Volk und Welt, Berlin

Lizenzausgabe des Insel Verlags

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74322-5

www.suhrkamp.de

VORWORT ZUM »HOSPITAL DER VERKLÄRUNG«

DAS HOSPITAL der Verklärung«, meinen ersten Roman, schrieb ich 1948. Das im folgenden Jahr dem Verlag Gebethner und Wolff eingereichte Manuskript übernahm nach Auflösung dieser Firma der Verlag »Książka i Wiedza« (Buch und Wissen). Seine Lektoren meinten, der Roman könne nicht herausgebracht werden, da er der damals entstandenen Rezeptur des sozialistischen Realismus nicht entspreche, und veranlaßten mich, ihm eine ›Fortsetzung‹ in Form von zwei weiteren Bänden zu geben, deren Niederschrift ich 1951 beendete; doch auch dann noch weckte der Roman so viele Bedenken, daß er erst Ende 1955 im Krakauer »Wydawnictwo Literackie« (Literarischer Verlag) erschien. So verzögerte sich mein Debüt um sieben Jahre und nahm eine völlig andere Gestalt an als die ursprünglich beabsichtigte. Nunmehr habe ich mich entschlossen, das Buch in seiner frühesten Form wieder herauszugeben, das heißt, ich mache aus dem ersten Band der Trilogie »Die nichtverlorene Zeit« (deutscher Titel der DDR-Ausgabe: Die Irrungen des Dr. Stefan T.) ein selbständiges Werk, wie es das nach meiner Überzeugung, der Überzeugung eines angehenden Autors, sein sollte. Heute fällt es mir schwer, die Motive der Lektoren zu verstehen, die bei der Beurteilung des Romans das Argument des ›Gegengewichts‹ und andere kompositorische Seltsamkeiten benutzten, und ebenso mich an die unzähligen Varianten der beiden weiteren Bände zu erinnern, die immer wieder neu geschrieben und geändert wurden, auch das unter dem Einfluß unzähliger Beratungen in den Verlagen. Ich möchte ganz einfach unter jenen Überlagerungen die entschwundene Form des Buches herausschälen, das ich vor sechsundzwanzig Jahren geschrieben habe, denn es enthielt meine Erfahrungen aus der Zeit des Krieges und der Okkupation, allerdings nicht autobiographische Elemente, sondern nur den Versuch, meinem damaligen Verhältnis zur erkannten Welt Ausdruck zu verleihen.

Kraków, im August 1974

Stanisław Lem

DAS BEGRÄBNIS

DER ZUG hielt nur ganz kurz in Nieczawy. Stefan hatte kaum Zeit, sich durch die Tür zu zwängen und abzuspringen, da zog die Lokomotive auch schon schnaufend an, und hinter ihm begannen die Räder zu rattern. Seit mehr als einer Stunde wurde er das beklemmende Gefühl nicht los, das Aussteigen zu versäumen, und dieses Problem überschattete alles, selbst den Zweck seiner Reise. Nun, da er, der stickigen Wärme des Abteils entronnen, gierig die frische, fast schneidend kalte Luft einatmete, befreit und ratlos zugleich, kam er sich vor wie aus einem schweren Traum erwacht.

Es war einer der letzten Februartage. Lichte Wolken mit weißglühenden Rändern bedeckten den Himmel. Vom Schmelzwasser unterspült, sackte der Schnee in den Schluchten und Mulden zusammen, gab Stoppelfelder und Gebüsch frei, morastige Wege und lehmige Hänge. Das Chaos – der Herold allen Wandels – war in das eintönige Weiß der Landschaft getreten.

Die Überlegung mußte Stefan büßen; er trat fehl, Wasser lief ihm in den Schuh. Er schauderte. Das immer schwächere Schnaufen der Lokomotive verschwand schließlich hinter der Hügelkette von Bierzyniec, und nun ließ sich ein zirpendes Geräusch vernehmen, jenes allgegenwärtige, unlokalisierbare, eintönige Raunen der Schmelze. Vor der langgestreckten Anhöhe wirkte Stefan in seinem haarigen Raglanmantel, seinem weichen Filzhut und den Halbschuhen gänzlich fehl am Platze, und er war sich dessen auch bewußt. Gleißende Rinnsale stürzten emsig den Weg herab, der zum Dorf emporklomm. Von Stein zu Stein hüpfend, erreichte Stefan die Kreuzung und warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor eins. Die Stunde der Beerdigung stand zwar nicht genau fest, aber Stefan wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Der Leichnam war bereits am Vortag von Kielce übergeführt worden. Der Sarg müßte also schon in Onkel Ksawerys Haus sein. Vielleicht hatte man ihn auch in der Kirche aufgestellt, denn das Telegramm enthielt den unklaren Hinweis auf eine Messe. Oder hieß es Exequien? Stefan vermochte sich nicht zu erinnern, überdies ärgerte es ihn, daß er seine Gedanken an liturgische Fragen verschwendete. Zum Haus des Onkels waren es zehn Minuten Weg, zum Friedhof ebensoviel; wenn der Trauerzug aber zur Kirche abbog ... Stefans Unschlüssigkeit wuchs. Er näherte sich der Landstraße, blieb in der Kurve stehen, ging ein Stück zurück und hielt von neuem an. Da sah er in einiger Entfernung einen alten Bauern den Feldrain entlangschreiten, ein Kreuz auf den Schultern, wie es gewöhnlich dem Begräbniszug vorangetragen wird. Stefan wollte den Bauern anrufen, wagte es aber nicht. Mit zusammengebissenen Zähnen wandte er sich eilig dem Friedhof zu. Der Bauer langte unterdessen an der Friedhofsmauer an und verschwand. Es blieb verborgen, ob er weiter zum Dorf ging. Stefan schlug also verzweifelt die Mantelschöße hoch, hielt sie wie einen Weiberrock und setzte mit immer halsbrecherischerer Geschwindigkeit über die Pfützen. Die Straße zum Friedhof führte im Bogen an einem kleinen Hügel vorbei, der dicht mit Haselnußsträuchern bewachsen war. Stefan lief querfeldein, ohne auf den nachgiebigen Schneematsch und die Weidenruten, die sein Gesicht peitschten, zu achten. Am Saum des Gehölzes sprang er auf die Straße hinunter und sah sich neben dem Friedhof. Still war es hier und menschenleer; von dem Bauern keine Spur. Stefans Eile war mit einemmal verflogen. Finster musterte er seine bis an die Knöchel kotbespritzten Füße; erhitzt, nach Atem ringend, warf er einen Blick über die Pforte. Keine Menschenseele. Er stieß die Pforte auf. Sie knarrte entsetzlich und verstummte mit einem kläglichen Ächzen. Schmutziger, verharschter Schnee bedeckte in erstarrten Wellen die Gräber, trichterförmig geöffnet um das Fußgestell der Kreuze, deren hölzerne Reihen bis an ein Holundergebüsch reichten; dahinter standen die Grabsteine der Seelenhirten von Nieczawy, ein wenig abseits lag die Gruft der Familie Trzyniecki, alle anderen Gräber überragend, schwarz, in goldenen Lettern die Namen und Daten, drei Birken am granitenen Kopfende. In dem Zwischenraum, der wie ein Niemandsland die Gruft vom Friedhof trennte, klaffte eine frisch ausgehobene Grube. Der gelbe Lehm wirkte in dem Weiß ringsum wie ein Schandfleck. Stefan blieb verdutzt stehen. Offenbar war kein Platz mehr frei in der Gruft, und da die Zeit oder auch die Mittel zu ihrer Erweiterung fehlten, mußte ein Trzyniecki wie der erste beste im Lehm verscharrt werden; Stefan malte sich aus, mit welchen Gefühlen Onkel Anzelm die Überführung der sterblichen Hülle angeordnet haben mochte. Einen anderen Weg aber gab es nicht: Alle Trzynieckis wurden hier beigesetzt, war Nieczawy doch einst Familienbesitz gewesen; und obwohl nur Onkel Ksawerys Haus übriggeblieben war, hielt sich dieser Brauch. Bei jedem Todesfall sandte die Familie ihre Vertreter aus ganz Polen zur Beerdigung.

An den Kreuzen und den Holunderzweigen hingen Eiszapfen, von denen lautlos Wasser tropfte und den Schnee durchlöcherte. Stefan verharrte eine Weile an dem offenen Grab. Eigentlich hätte er sich nun zu Onkel Ksawery begeben müssen, aber er verspürte wenig Lust dazu und schlenderte lieber zwischen den Kreuzen des Dorffriedhofs weiter. Die auf kleinen Täfelchen mit Draht eingebrannten Namen hatten sich in schwarze Flecke verwandelt, viele waren auch schon ganz verschwunden und hatten das blanke Holz hinterlassen. Mit kalten Füßen stapfte Stefan durch den Schnee und umrundete den Friedhof; da fiel ihm ein Grab auf, das ein großes Birkenkreuz trug. Auf einem Stück Blech, das darangenagelt war, stand in verschnörkelter Schrift:

Gib, der du vorübergehst, dem Polenlande Kunde, hier ruhen seiner Söhne viel, treu bis zur letzten Stunde.

Und dann folgten Namen mit dem jeweiligen Dienstgrad. Als letzter war ein unbekannter Soldat aufgeführt, darunter das Datum: September 1939. Nicht einmal sechs Monate waren seitdem vergangen, aber die Aufschrift wäre längst in Regen und Frost verblichen, hätte nicht eine sorgende Hand sie in treuem Gedenken immer wieder erneuert. Von diesem Gedenken zeugten auch die Tannenzweige, mit denen das auffallend kleine Grab bedeckt war; es schien kaum glaublich, daß mehrere Menschen darin ruhten. Stefan verweilte längere Zeit, bewegt und unsicher zugleich, denn er wußte nicht, ob er den Hut abnehmen sollte; da er sich nicht entschließen konnte, ging er weiter. Der naßkalte Schnee setzte ihm hart zu. Er schlug die Schuhe aneinander und sah von neuem auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten nach eins. Nun mußte er sich aber beeilen, wollte er rechtzeitig beim Onkel sein. Doch Stefan meinte, daß er seine feierliche Teilnahme an der Beerdigung beträchtlich vereinfachen konnte, wenn er gleich hier auf den Trauerzug wartete; so machte er noch einmal kehrt und blieb wieder vor der Grube stehen, die Onkel Leszeks sterbliche Überreste aufnehmen sollte. Er warf einen Blick hinein und stellte fest, daß sie sehr tief war. Da ihm die Bestattungstechnik kein Geheimnis war, begriff er gleich, daß das Grab mit Vorbedacht tiefer ausgehoben worden war, damit später noch ein Sarg darin Platz finden könnte – der von Tante Aniela, Onkel Leszeks Witwe. Diese Entdeckung berührte ihn wie eine unbeabsichtigt belauschte Gemeinheit; unwillkürlich wich er einige Schritte von der Grube zurück, und die Reihen der schiefen Kreuze rückten wieder in sein Gesichtsfeld. Er schien durch die Einsamkeit überempfindlich geworden zu sein, denn der Umstand, daß die Vermögensunterschiede auch in einer Versammlung von Toten weiterbestanden, dünkte ihn absurd und niederträchtig. Er schöpfte ein paarmal tief Atem. Völlige Stille herrschte. Vom nahen Dorf drang nicht der geringste Laut herüber, selbst die Krähen, deren Krächzen Stefan auf seiner Wanderung begleitet hatte, waren nun verstummt. Die kurzen Schatten der Kreuze lagen auf dem Schnee, die Kälte strömte von den Füßen durch den Leib bis ans Herz. Geduckt schob Stefan die Hände in die Taschen. In der rechten fand er ein Päckchen – ein paar Schnitten, die die Mutter ihm zugesteckt hatte, als er aus dem Hause ging. Er hatte plötzlich Hunger, zog das Päckchen hervor und wickelte ein Schinkenbrot aus dem dünnen Papier. Er führte die Schnitte zum Munde, brachte es jedoch nicht über sich, an dem offenen Grab zu essen. Er suchte sich einzureden, es sei dummer Aberglaube; denn was war das hier im Grunde weiter als ein tiefes Loch im Lehmboden – trotz alledem: Er konnte sich nicht überwinden. Das Brot in der Hand, schritt Stefan dem Ausgang zu, vorbei an Kreuzen ohne Namen, an deren unförmigen Gestalten man vergebens nach individuellen Zügen forschen mochte, die von ihren postumen Eigentümern Zeugnis ablegen könnten. Ihm kam der Gedanke, die Sorge um die Erhaltung der Gräber sei Ausdruck des in graue Vorzeit zurückreichenden Glaubens, daß die Toten, ungeachtet der Behauptungen der Religion, dem unleugbaren Fäulnisprozeß zum Trotz, ja entgegen dem Zeugnis der Sinne, tief unten in der Erde eine Existenz führen, die vielleicht unbequem, sogar widerwärtig, aber immerhin eine Existenz sei und die so lange währe, wie über der Erde noch irgendwelche Erkennungszeichen ständen.

Stefan erreichte die Pforte und blickte noch einmal von fern auf die Reihen der in Schnee getauchten Kreuze und den gelblichen Fleck der ausgehobenen Grube; dann trat er auf die schlammige Straße hinaus. Bei seiner letzten Überlegung kam ihm die Sinnlosigkeit der Bestattungszeremonien so recht zum Bewußtsein, und er empfand seine Beteiligung an dem bevorstehenden Leichenbegängnis als geradezu peinlich. Einen Augenblick zürnte er fast den Eltern, daß sie ihn zu dieser Eskapade veranlaßt hatten, die um so befremdender war, als er hier eigentlich nicht in eigener Person, sondern an Stelle seines erkrankten Vaters erschien.

Er kaute jetzt langsam an seinem Schinkenbrot, feuchtete die Bissen mit Speichel an und schluckte sie beinahe mit Anstrengung hinunter, denn die Kehle war ihm ausgedörrt. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Ja, so ist es sicherlich, dachte er, die Menschen glauben an dieses »Weiterleben der Toten« mit einem Teil ihres Wesens, der allen weltlichen Argumenten verschlossen sein muß; denn wäre die Gräberfürsorge nur ein Ausdruck der Liebe und Trauer um den Verschiedenen, so würde sie sich mit der Pflege der sichtbaren, der »überirdischen« Form des Grabes zufriedengeben. Führte man aber die Motive der menschlichen Bestattungstätigkeit auf solche Gefühle zurück, dann bliebe unerklärlich, weshalb soviel Mühe auf die Bequemlichkeit des Leichnams verwandt wurde, indem man ihn kleidete, ihm ein Kissen unters Haupt legte und ihn in ein Futteral einschloß, das den größtmöglichen Schutz gegen das Wirken der Naturkräfte bieten sollte. Einem solchen Tun liegt gewiß ein obskurer, vernunftwidriger Glaube an das Weiterleben der Toten zugrunde, an dieses entsetzliche, schaudererregende Eingekapseltsein im Sarg, das gemäß einer inneren Gewißheit der Bestattenden offenbar doch einer vollständigen Vernichtung und Einswerdung mit der Erde vorzuziehen ist.

Ohne es gewahr zu werden, hatte Stefan den Weg zum Dorf eingeschlagen, wo der Kirchturm in der Sonne funkelte. Plötzlich sah er, daß sich in der Biegung der Landstraße etwas rührte, und bevor er erfaßt hatte, was dort geschah, hatte er rasch das Brot in die Tasche gesteckt.

Dort, wo die Chaussee die steile Lehmwand des Hügels umging, erschien der Trauerzug. Die Leute waren noch so weit entfernt, daß Stefan die Gesichter nicht erkennen konnte. Er sah nur das Kreuz, das vorangetragen wurde, dahinter wie weiße Tupfen die Priesterornate, das Verdeck eines Autos und eine Menge kleiner Figuren, die sich so langsam fortbewegten, als träten sie auf der Stelle. Das geschah sicherlich in einem feierlichen Wiegen, aber verkleinert durch die Entfernung wirkte dieses Auf und Ab nahezu grotesk. Es fiel schwer, diese Begräbnisgesellschaft en miniature ernst zu nehmen und sie mit der geziemenden Andacht zu erwarten; nicht weniger Überwindung kostete es, ihr entgegenzutreten. Der Trauerzug sah aus wie eine zusammengewürfelte Versammlung von schwarzen Puppen, die am Fuße der lehmigen Steilwand dahinglitten. Der Wind wehte Fetzen unverständlichen Gesangs herüber. Stefan wäre gern so schnell wie möglich dort gewesen, aber er traute sich nicht vom Fleck und wartete reglos, den Hut in der Hand und die Haare vom Winde zerzaust, am Straßengraben. Ein Fremder hätte nicht entscheiden können, ob er ein verspäteter Teilnehmer an der Trauerfeier oder nur ein zufälliger Passant sei. Die Gestalten wuchsen in dem Maße, wie sie sich näherten, und unmerklich überschritten sie die Grenze jener Entfernung, die dem Schauenden einen so sonderbaren Eindruck vermittelt hatte. Nun endlich erkannte Stefan den alten Bauern, der mit dem Kreuz voranging, die beiden Priester, den langsam hinterdreinfahrenden Lastkraftwagen aus dem nahen Sägewerk und schließlich die in heilloser Unordnung einherschreitende Familie. Die Bäuerinnen sangen ohne Pause, monoton und unharmonisch. Als der Zug nur noch etwa ein Dutzend Schritt von Stefan entfernt war, begann die Kirchenglocke zu läuten – zunächst gab sie nur einige ungleich laute Töne von sich, aber dann klang sie voll und stark; ihr Dröhnen füllte majestätisch die Landschaft. Als die Glocke erschallte, dachte Stefan, daß es wohl der kleine Wicek von Szymczaks gewesen war, der da am Seil gezogen hatte; und dann hatte ihn sicherlich der einzig zum Glockenläuten berufene rothaarige Tomek verjagt. Doch gleich darauf fiel ihm ein, daß der »kleine« Wicek ja nun längst ein Bauernbursche in seinem, Stefans, Alter war und daß von Tomek gewiß jede Spur fehlte, seit er in die Stadt gezogen war. Aber offenbar kämpfte die junge Generation von Nieczawy noch immer um das Recht, am Glockenstrang zu ziehen.

Im Leben gibt es Situationen, die kein Lehrbuch der guten Manieren vorsieht und die so schwierig und heikel sind, daß man sie nur mit viel Taktgefühl und Selbstvertrauen meistern kann. Stefan, dem diese Tugenden völlig abgingen, hatte keine Ahnung, wie er sich in den Zug eingliedern sollte, und er stand daher unschlüssig da in der Gewißheit, bemerkt worden zu sein, was seine Verwirrung nur noch steigerte. Zum Glück machte der Zug vor der Kirche halt, einer der beiden Priester trat an den Wagen heran und richtete eine Frage an den Fahrer, der zur Bestätigung nickte. Mehrere Bauern, die Stefan nicht kannte, kletterten auf den Wagen und schickten sich an, den Sarg herunterzulassen. Stefan nützte das Durcheinander und gesellte sich rasch zu der um das Auto versammelten Gruppe. Er hatte gerade Onkel Ksawerys untersetzte Gestalt mit dem grauhaarigen, tief zwischen den Schultern steckenden Kopf entdeckt – er stützte Tante Aniela, die ganz in Schwarz war –, als gedämpfte Rufe erklangen: Es wurden mehr Träger für den Sarg gebraucht. Stefan war sogleich zur Stelle; da er jedoch die Fassung verlor – wie immer, wenn vor aller Augen eine auch nur einigermaßen verantwortungsvolle Tätigkeit ausgeführt werden sollte –, äußerte sich seine Bereitwilligkeit zu handeln lediglich in einem nervösen Trippeln um den Wagenkasten; schließlich schwankte der Sarg ohne seine Hilfe über die Köpfe der Anwesenden hinweg, und ihm blieb nur eine Pelzjoppe, die Onkel Anzelm, Vaters ältester Bruder, im letzten Augenblick abgeworfen und ihm zu halten gegeben hatte.

Die Joppe über dem Arm, betrat Stefan die Kirche. Als einer der letzten zwar, doch in der Überzeugung, ebenfalls einiges zum erfolgreichen Ablauf der Zermonie beizutragen, wenn er jenen riesigen Bärenpelz schleppte. Die Glocke beendete ihr monotones Läuten mit einem klagenden Ton, die Priester zogen sich eine Weile zurück und erschienen wieder. Inzwischen hatte die Familie auf den Bänken Platz genommen, und vom Altar ertönten die ersten lateinischen Worte der Exequien.

Eigentlich hätte Stefan sich setzen können, denn die Bänke boten genügend Platz, und Onkels Pelz gehörte auch nicht gerade zu den leichtesten, aber er zog es vor, mit seiner Last weit hinten im Kirchenschiff stehenzubleiben, vielleicht gerade, weil ihm das schwerfiel und seine vorherige Schüchternheit dadurch gewissermaßen kompensiert wurde. Der Sarg stand bereits vor dem Altar, und Onkel Anzelm, der die Kerzen an der Bahre angezündet hatte, kam von dort schnurstracks auf Stefan zu, der ein wenig aus der Fassung geriet – er hatte sich auf die Dunkelheit verlassen, die am Fuß seines Pfeilers herrschte. Der Onkel packte Stefan zum Gruß an den Schultern und flüsterte in das Psalmodieren des Priesters hinein: »Der Vater ist wohl krank?«

»Ja, Onkel. Er hatte gestern einen Anfall.«

»Die Steine, wie?« fragte der Onkel in seinem entsetzlichen Flüsterton und schickte sich an, Stefan den Pelz abzunehmen. Aber Stefan wollte ihn nicht hergeben und stammelte: »Nein, ich bitte dich, ich kann ihn doch ohne weiteres ...«

»Gib den Pelz schon her, du Esel, hier ist es ja hundekalt!« sagte der Onkel fast laut, wenn auch gutmütig, warf die Joppe über die Schultern, steuerte auf die Bank zu, wo die Witwe saß, und ließ Stefan wie vor den Kopf gestoßen stehen; der junge Mann fühlte noch eine geraume Weile, wie seine Wangen brannten.

Dieser im Grunde unbedeutende Vorfall verleidete ihm den Aufenthalt in der Kirche. Er kam erst wieder zu sich, als er Onkel Ksawerys ansichtig wurde, der in der letzten Bankreihe im äußersten Winkel saß. Nahezu getröstet, stellte er sich vor, wie unwohl sich Ksawery fühlen mußte, er, der militante Atheist, der jeden neuen Propst zu bekehren versuchte. Er war ein alter Junggeselle und Wahrheitsapostel, ein fanatischer Abonnent der rationalistischen Buchreihe Boy-Zeleńskis, ein Verfechter der Geburtenregelung und zudem der einzige Arzt im Umkreis von zwei Meilen. Seinerzeit hatten die Verwandten aus Kielce versucht, ihn aus dem alten Hause zu vertreiben, und hatten in den Kreis- und Bezirksgerichten einen jahrelangen Kampf gegen ihn geführt. Aber Ksawery gewann nicht nur alle Prozesse, sondern er zahlte den lieben Verwandten obendrein so geschickt heim – wie er sagte –, daß sie ihm nichts anhaben konnten. Jetzt saß er zusammengesunken auf seinem Platz, seine großen Hände ruhten reglos auf dem Pult, und von der Familie, über die er den Sieg davongetragen, trennte ihn eine ganze Bank.

Die brausenden Töne der Orgel weckten in Stefan den Widerhall seiner einstigen glühenden und demütigen Frömmigkeit, die seine kindliche Seele versengt hatte; Orgelmusik war für ihn immer etwas Erhabenes gewesen. Die Exequien wurden in der vorgeschriebenen Ordnung vollzogen: Der eine Priester entzündete an einem kleinen Lämpchen den Weihrauch und umschritt den Sarg, der in Wolken aromatischen, wenngleich brandig riechenden Rauches gehüllt wurde. Stefans Blick suchte die Witwe – sie saß in der zweiten Bank, geduckt und gottergeben, auffallend gleichgültig gegenüber den Worten der Priester, die mit ihren gewundenen lateinischen Perioden in einer feierlich-aufdringlichen Weise immer wieder ihren Namen und den des Toten skandierten, jedoch nicht an das Gehör der Lebenden gewandt, sondern an die Vorsehung, und die baten sie, flehten sie an, geboten ihr geradezu Wohlwollen für ihn, den es nicht mehr gab.

Die Orgel verstummte, und der auf dem Katafalk aufgebahrte Sarg vor dem Altar mußte von neuem auf die Schultern gehoben werden. Aber jetzt versuchte Stefan nicht einmal, sich ihm zu nähern; alle standen auf und schickten sich hüstelnd an zu gehen. Als der Sarg unter sanftem Wiegen das dämmerige Kirchenschiff verließ, kippte er bedrohlich vornüber, aber sogleich brachte ihn ein ganzer Wald von hochgeschnellten Händen wieder ins Gleichgewicht, so daß er nun, etwas lebhafter schwankend, gleichsam angeregt durch das, was beinahe eingetreten wäre, in das Licht der schOn tief stehenden Sonne hinausglitt.

In diesem Augenblick ging Stefan ein alberner und recht makabrer Gedanke durch den Sinn, nämlich, daß die Person in dem Sarg zweifellos Onkel Leszek war, denn der hatte stets, selbst bei den feierlichsten Anlässen, eine Vorliebe für kauzige Späße gehabt. Stefan erstickte diesen Gedanken sogleich im Keime oder vielmehr lenkte er ihn in die Bahnen einer vernünftigeren Argumentation: Das sei alles ungereimtes Zeug, der Sarg beherberge nicht den Onkel, sondern irgendein Überbleibsel von ihm, die Überreste seiner Person, die so peinlich und lästig sind, daß man diese ziemlich langatmige, komplizierte und unecht wirkende Geschichte ersonnen und in Szene gesetzt habe, um sie aus dem Bereich der Lebenden zu entfernen.

Unterdessen schritt Stefan mit den anderen hinter dem Sarge her, der auf das sperrangelweit geöffnete Friedhofstor zusteuerte. Der Trauerzug bestand aus etwa zwanzig Personen; in einiger Entfernung von dem Sarg machten sie einen recht sonderbaren Eindruck, denn ihre Kleidung war ein Mittelding zwischen Reisekluft – fast alle waren von weit her gekommen – und Besuchsgarderobe, wobei die schwarze Farbe überwog. Dazu trugen die meisten der Herren englische Schaftstiefel, und einige Damen gingen in stiefelähnlichen, sehr hohen Schnürschuhen mit Pelzbesatz. Einer der Herren – Stefan konnte ihn von hinten nicht erkennen – hatte einen Soldatenmantel ohne Dienstgradabzeichen um; die Schulterstücke schienen gewaltsam abgerissen. Dieser eng gegürtete Mantel, der Stefans Blick längere Zeit fesselte, war hier das einzige, was an die Kriegsereignisse vom September erinnerte – doch nein, entschied Stefan im nächsten Augenblick, auch die Abwesenheit derer, die unter anderen Umständen ganz gewiß gekommen wären, so Onkel Antoni und Vetter Piotr, beide in deutscher Gefangenschaft, war ein beredtes Zeugnis.

Der Gesang, vielmehr das Lamentieren der Bäuerinnen, die immer wieder »Gib ihm deinen Frieden, o Herr« anstimmten, war Stefan nur kurze Zeit lästig, denn bald drang er nicht mehr in sein Bewußtsein. Der Zug dehnte sich, ballte sich am Friedhofseingang zusammen und folgte dann im Gänsemarsch zwischen Gräbern hindurch dem hochgereckten Sarg. An der offenen Grube hoben die Gebete von neuem an. Stefan waren sie schon über, und er mußte sogar denken, wenn er gläubig wäre, so würde er diese unausgesetzte Wiederholung von Bitten als Aufdringlichkeit gegenüber dem Wesen empfinden, an das sie gerichtet wurden.

Ehe diese letzte Erwägung in ihm vollends Gestalt angenommen hatte, zupfte ihn jemand am Ärmel. Er wandte sich um und blickte in das breite, vom Pelzkragen eingerahmte, adlernasige Gesicht Onkel Anzelms, der ihn wie vorhin unbekümmert laut fragte: »Hast du heute schon was gegessen?« und, die Antwort gar nicht erst abwartend, rasch hinzufügte: »Brauchst nichts zu befürchten, es gibt Bigos!« Darauf klopfte er Stefan auf den Rücken und eilte gebeugt durch die Reihen der noch immer dem leeren Grab zugewandten Trauernden. Er tippte jeden einzelnen mit dem Finger an und bewegte dabei die Lippen, was Stefan sehr verwunderte, bis er das Verhalten des Onkels enträtselte: Anzelm zählte ganz einfach die Anwesenden. Nun erteilte er einem Burschen mit dröhnendem Flüstern eine Weisung; der zog sich mit ungelenkem Kratzfuß aus dem schwarzen Kreis zurück, hinter dem Friedhofstor aber nahm er die Beine in die Hand und rannte stracks zu Ksawerys Haus.

Onkel Anzelm, der seine Gastgeberrolle ausgespielt hatte, stellte sich, war es nun Absicht oder Zufall, wieder neben Stefan ein und fand sogar Muße, ihn auf den malerischen Anblick aufmerksam zu machen, den die um das Grab Gescharten boten. Eben hoben vier hochgewachsene Bauern den Sarg mit Stricken an und ließen ihn in das gähnende Loch hinab, bis er auf dem Boden ruhte. Da er jedoch ein wenig schief lag, mußte ihm einer der Bauern, am Grubenrand festgekrallt, einen ordentlichen Tritt versetzen. Eine solche Rücksichtslosigkeit bei einem Gegenstand, der bislang von unermüdlicher Ehrerbietung umgeben war, war Stefan peinlich. Er sah darin einen weiteren Beweis für seine These, daß die Lebenden bei aller Zünftigkeit des Verfahren, mit dem sie den entsetzlich schroffen Übergang vom Leben zum Tode abzumildern suchen, doch keine einheitliche und konstante Haltung den Toten gegenüber zu finden vermögen.

Als die Spaten, die mit einem an Verbissenheit grenzenden Eifer betätigt wurden, das Grab zugeschaufelt und ein längliches Lehmprisma darüber geformt hatten, kam die kriegsbedingte Behelfsmäßigkeit dieser Beerdigung besonders kraß zum Ausdruck; es war nämlich unvorstellbar, daß man das Grab eines Trzyniecki verließ, ohne es mit Blumen überschüttet zu haben, doch in diesem ersten Winter nach dem Septemberfeldzug war schwerlich daran zu denken. Selbst die Treibhäuser auf dem nahen Gut Przetulowicz hatten versagt: Während der Kampfhandlungen waren die Scheiben eingeschlagen worden. So bestand der Grabschmuck nur aus einigen Tannenzweigen, und nach dem Hersagen des letzten Gebets wandten alle, sobald sie sich bekreuzigt hatten, dem begrünten Erdhügel unauffällig den Rücken und schlichen einer nach dem anderen über die schneebedeckten Pfade auf die morastige und pfützenbesäte Dorfstraße.

Als die Priester, durchfroren wie die anderen Sterblichen auch, ihre weißen Meßhemden abgelegt hatten, waren sie gleich alltäglicher; eine ähnliche, wenngleich weniger auffällige Verwandlung ließ sich bei den anderen Anwesenden beobachten: Der feierliche Ernst wich, die Bewegungen wurden lockerer, die Blicke freier, und einem naiven Beobachter hätte es scheinen können, daß diese Menschen die ganze Zeit hindurch auf den Zehenspitzen gegangen waren und nun mit einem Schlage ihre Gangart änderten.

Auf dem Rückweg verstand Stefan es einzurichten, daß er nicht in die Nähe der verwitweten Tante Aniela gelangte, nicht etwa, weil er sie verabscheute oder kein Mitleid empfunden hätte, im Gegenteil, er bedauerte sie, und zwar um so mehr, als er wußte, daß sie und ihr Mann eine harmonische Ehe geführt hatten; aber er konnte sich trotz fieberhaften Bemühens nicht eine einzige Beileidsfloskel abringen. Ein panischer Schrecken trieb ihn in die vordersten Reihen, wo Onkel Ksawery Arm in Arm mit Tante Melania Skoczyńska ging. Dieser Anblick war so außergewöhnlich und einmalig, daß Stefan aus dem Staunen nicht herauskam. Onkel Ksawery konnte Tante Melania nämlich nicht ausstehen, er nannte sie eine alte Giftampulle und pflegte zu sagen, man müsse ihre Fußspuren desinfizieren. Tante Melania, eine alte Jungfer, hatte es seit je darauf angelegt, den Hader in der Familie zu schüren; sie hinterbrachte den einzelnen Parteien unter dem süßen Deckmantel der Neutralität den Klatsch und die üble Nachrede der anderen, was viel böses Blut machte und viel Schaden verursachte, denn die Trzynieckis waren alle Hitzköpfe und verteufelt konsequent in ihren einmal entfesselten Gefühlen.

Als Ksawery Stefans ansichtig, wurde rief er von weitem: »Sei gegrüßt, Bruder in Äskulap! Du hast doch wohl schon dein Diplom, wie?«

Stefan mußte natürlich zur Begrüßung stehenbleiben, und er stieß seine Nase mit Schwung in die frostige Hand der alten Jungfer, worauf sie dann zu dritt dem Hause zustrebten. Gelb wie ein Ei tauchte es zwischen den Bäumen auf, ein wahres Schlößchen mit klassischen Säulen und einer großen Veranda, die in den Obstgarten hinausführte. Sie hielten vor dem Eingang an, um auf die Nachkommenden zu warten. Urplötzlich wurde in Onkel Ksawery der Hausherr wach, und so begann er die Verwandten mit einem Ungestüm in sein Haus zu bitten, als hätten sie alle gerade die Absicht geäußert, sich in der verschneiten und schlammigen Umgebung zu zerstreuen. In der Tür mußte Stefan die kurze, aber strapaziöse Zeremonie zahlloser Begrüßungen über sich ergehen lassen, die, während der Beerdigung zurückgehalten, nun lawinenartig auf ihn einstürzten. Er hatte seine ganze Geistesgegenwart aufzubieten, um sich nicht, abwechselnd Hände und stachlige Wangen küssend, versehentlich nach einer männlichen Hand zu bücken, was ihm bisweilen doch unterlief. Ohne zu wissen wie, fand er sich mitten unter den stiefelscharrenden, ärmelschwingenden und mantelablegenden Gästen im Salon. Beim Anblick der riesigen Standuhr mit ihren Messinggewichten fühlte er sich mit einemmal behaglich, denn sooft er früher seine Ferien in Nieczawy verbracht hatte, wurde ihm unter dem Hirschgeweih an der Wand gegenüber die Lagerstatt bereitet; in den Ecken standen ausgebeulte Sessel, mit denen er tagsüber gerungen hatte, um in ihre haarigen Eingeweide vorzudringen, des Nachts aber weckte ihn zuweilen der tiefe Baß des Stundenschlags, und das Zifferblatt schimmerte im Widerschein des Mondlichts gespenstisch aus dem Dunkel, kühl und rund, traumverklärt wie der Mond selbst. Doch er hatte nicht die Muße, in Kindheitserinnerungen zu schwelgen, denn im Zimmer herrschte reger Betrieb. Die Damen plazierten sich in den Sesseln, die Herren standen, in eine Wolke von Zigarettenrauch gehüllt, eine Unterhaltung war aber noch nicht in Fluß gekommen.

Da öffneten sich beide Türflügel, und Anzelm trat auf die Schwelle. Mit der Miene eines gutmütigen und ein wenig zerstreuten Cäsaren bat er die Gäste zu Tisch. Von einem Leichenschmaus konnte offensichtlich nicht die Rede sein, man bat die trauernden und von der Reise ermüdeten Verwandten einfach, einem kleinen Imbiß Bescheid zu tun.

Mitten unter den Familienmitgliedern befand sich einer der beiden Priester, die den Trauerzug auf den Friedhof geleitet hatten, ein hagerer Mann mit gelblichem, müdem Gesicht, aber mit einem Lächeln auf den Zügen, als freute er sich, daß alles so gut abgelaufen war. Dieser Priester nun unterhielt sich, in einem tiefen Bückling erstarrt, mit Großtante Jadwiga, der Seniorin des Geschlechtes Trzyniecki, einer kleinen Person in überlangen und furchtbar weiten Gewändern, die den Eindruck erweckten, daß sie sie niemals abgelegt hatte und darin verwelkt und zusammengeschrumpft war: Sie mußte die Hände ständig wie im Gebet erhoben halten, damit ihr die Spitzenärmel nicht die dürren Fingerchen verdeckten. Auf ihrem kleinen, ein wenig eingedrückten, aber im Grunde noch fast jugendlichen Gesicht lag ein Ausdruck von Abwesenheit und Trotz, als heckte sie gerade einen kindischen Streich aus, ohne den Worten des Priester auch nur im geringsten Beachtung zu schenken. Sie ließ ihre blauen Kulleraugen über die Umstehenden schweifen, und als ihre Wahl auf Stefan fiel, bedeutete sie ihm mit gekrümmtem Finger heranzukommen. Der junge Arzt schluckte und trat kurzentschlossen näher. Der Priester schwieg gekränkt, während die Großtante Stefan spitzbübisch von unten herauf musterte und schließlich mit unglaublich tiefer Stimme fragte: »Du bist doch Stefan, der Sohn von Stefan und Michalina, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt«, sagte er beflissen.

Die Großtante lächelte ihm zu, und er wußte nicht, ob sie sich ihres guten Gedächtnisses wegen oder über das Aussehen ihres Großneffen freute; sie ergriff mit ihrem knochigen, durchsichtigen Händchen Stefans Hand, hob sie vor ihre Augen, betrachtete sie von beiden Seiten und ließ sie dann unversehens fallen, als hätte sie nichts Interessantes daran gefunden. Wieder tauchte sie ihre hellen Augen in die Stefans, der von ihrem sonderbaren Gehabe wie vor den Kopf gestoßen war, und fragte: »Wußtest du überhaupt, daß dein Vater ein Heiliger werden wollte?«

Sie gluckste dreimal leise, und bevor Stefan etwas entgegnen konnte, sagte sie ins Blaue hinein: »Irgendwo müssen noch seine Windeln liegen, wir haben sie aufbewahrt.«

Dann starrte sie vor sich hin und gab keinen Ton mehr von sich. Inzwischen war Onkel Anzelm wieder erschienen und bat die Gäste nunmehr viel energischer als das erstemal ins Speisezimmer; schließlich bot er der Großtante mit einer tadellosen Verbeugung den Arm und schritt mit ihr hinaus, gefolgt von den anderen. Aber die Großtante hatte Stefan nicht vergessen, denn sie äußerte den Wunsch, er möge sich neben sie setzen, was er auch in einer Art freudiger Verzweiflung tat. Es kommt zuweilen vor, daß man eine solche Verquickung gegensätzlicher Gefühle erlebt. Beim Platznehmen ging es ein wenig chaotisch zu; Onkel Ksawery, der bisher unsichtbar gebliebene Gastgeber, erschien jetzt mit einer riesigen Porzellanterrine, der eine Wolke kräftigen Bigosduftes vorauswehte; er hielt eine Kelle zwischen seinen nikotingebräunten Arztfingern und schöpfte den Bigos mit solchem Schwung in die Teller, daß die um ihre Toiletten besorgten Damen erschrocken zurückfuhren; dadurch stieg das Stimmungsbarometer sogleich beträchtlich. Zwei Gesprächsthemen wurden immer wieder strapaziert: das Wetter und die Aussichten auf eine Frühjahrsoffensive der Allierten.

Stefan zur Linken saß der hochgewachsene, breitschultrige Mann, der durch seinen Militärmantel Stefans Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte. Es war Grzegorz Niedzic, ein Verwandter von Stefans Mutter, Pächter aus dem Posenschen. Er schwieg die ganze Zeit über, und hatte er einmal seine Haltung verändert, dann erstarrte er darin, als hätte er einen Stock verschluckt. Er lächelte nur einfältig, schüchtern, auf eine rührend kindliche Art, als wollte er damit Abbitte tun für die Umstände, die er mit seiner Person bereitete. Dieses Lächeln paßte so gar nicht zu seinem sonnverbrannten schnurrbärtigen Gesicht und zu dem Anzug aus einer Felddecke, der offensichtlich selbstgeschneidert war, denn er saß denkbar schlecht.

Bei Tisch trat deutlich zutage, daß den Anwesenden solche Begräbnisfeiern etwas Vertrautes waren; Stefan erinnerte sich, die Familie zum letztenmal vorige Weihnachten in Kielce so friedlich beim Mahle beisammen gesehen zu haben. Das gab zu denken, da es selten vorkam, daß sich alle vertrugen. Eigentlich herrschte Eintracht nur bei Leichenbegängnissen, die die Verwandten an einem Tisch vereinigten. War damals zu Weihnachten auch keiner von den Nächsten gestorben, so berührte sie der allgemeine Schmerz doch gleichermaßen tief: Es war noch nicht lange her, daß sie das Vaterland zu Grabe getragen hatten, und so bildete jene Friedfertigkeit doch keine Ausnahme von der Regel.

Stefan fühlte sich in dieser Gesellschaft nicht wohl, und das aus mehreren Gründen. Einmal liebte er große, vor allem feierliche Zusammenkünfte überhaupt nicht, zum anderen saß ihm gegenüber der Priester, und er ahnte, daß die Anwesenheit so einer heiligen Person Ksawery unweigerlich zu Gotteslästerungen und Sticheleien provozieren würde; Skandale aber waren ihm zuwider, und letztlich war ihm etwas unbehaglich zumute, weil sein Vater, den er hier vertrat, als der erste Erfinder in diesem Geschlecht von Gutsbesitzern und Ärzten nicht gerade den besten Ruf genoß, zumal da er, wenngleich schon an die Sechzig, bisher eigentlich keine einzige Erfindung vorzuweisen hatte.

Auch der Umstand, daß Grzegorz Niedzic neben ihm saß, war nicht angetan, Stefans Laune zu heben. Dieser Grzegorz schien der geborene Schweiger zu sein, denn alle Versuche, eine Unterhaltung anzuknüpfen, quittierte er lediglich mit einem noch freundlicheren Lächeln und hob seinen warmen Blick voll Sympathie vom Teller; das aber genügte Stefan nicht, er hatte das Bedürfnis, sich in ein Gespräch zu vertiefen, um so mehr, als er Onkel Ksawerys Augen schon verräterisch blitzen sah, der unter Garantie etwas im Schilde führte. Und in der Tat, kaum war es einmal verhältnismäßig still geworden und nur das Klirren der Löffel gegen die Teller zu hören, da legte der Onkel los: »Na, mein lieber Stefan, du hast dich in der Kirche doch sicherlich gefühlt wie der Eunuch im Harem, wie?«

Diese Bemerkung war auf Umwegen an den Priester gerichtet, und der Onkel hatte gewiß schon eine zugespitzte Fortsetzung in petto, doch es war ihm nicht vergönnt, die Wirkung seiner Worte auszukosten, da die Verwandten wie auf Geheiß furchtbar schnell und laut zu reden anfingen. Sie kannten doch ihren Ksawery: Der mußte solche Dinge einfach sagen, und sie wußten auch, das einzige Mittel dagegen war, seine Äußerungen durch allgemeine, lärmende Unterhaltung zu übertönen. Zudem wurde der Onkel von einer der Bäuerinnen, die in der Küche aushalfen, hinausgerufen, um den kalten Braten zu suchen, der verschollen war. So erfuhr die Mahlzeit eine unvorhergesehene Pause. Stefan suchte sie sich zu verkürzen, indem er die Gesichterkollektion der Familie betrachtete. Den ersten Platz räumte er ohne weiteres Onkel Anzelm ein. Breit und stämmig, aber nicht dick, eher massiv von Gestalt, hatte Anzelm kein schönes, doch gewissermaßen ein herrschaftlich hochmütiges Gesicht, das er großartig zur Schau zu tragen verstand. Man hätte meinen können, dieses stolze Antlitz sei neben der Bärenpelzjoppe das einzige Überbleibsel von seinem Glanz, den großen Ländereien, die er vor zwanzig Jahren verloren hatte, angeblich, weil er zahlreichen Lastern gefrönt hatte. Stefan wußte jedoch nichts Bestimmtes darüber; allgemein bekannt war lediglich, daß Anzelm energisch, gütig und jähzornig zugleich war. Nachtragend konnte er sein wie kein zweiter in der Familie – fünf, ja sogar zehn Jahre lang, so daß selbst Tante Melania zu vergessen pflegte, was eigentlich der Anlaß gewesen sein sollte. Keiner wagte es, in einem so lange währenden Streit zu intervenieren, da das Eingeständnis, die Ursache seines Zorns nicht zu kennen, den ungeschickten Vermittler automatisch in den Bannfluch des Onkels einbezog. Auf diese Weise hatte sich einst Stefans Vater die Finger verbrannt. Jedoch alle noch so übermächtigen feindseligen Gefühle kamen in Onkel Anzelm, wie überhaupt in der ganzen Familie, zum Schweigen, wenn ein Verwandter starb; eine solchermaßen hervorgerufene »Treuga Dei« währte je nach den Umständen bis zu vierzehn Tagen. Während dieses Waffenstillstandes strahlte seine angeborene Güte aus jedem Wort und jedem Blick, und zwar so unerschöpflich, so voll Nachsicht, daß Stefan jedesmal zutiefst überzeugt war, der Zwist sei nicht aufgeschoben, sondern beigelegt.

Bald darauf aber stellte sich die durch den Todesfall gestörte Ordnung in den Gefühlen des Onkels wieder her, die unerbittliche Strenge triumphierte weitere Jahre hindurch; bis zum nächsten Begräbnis blieb die Lage unverändert.

Diese Beharrlichkeit Onkel Anzelms und seiner Gemütsbewegungen hatte Stefan in seiner Kindheit einfach imponiert; später, in seinen Studienjahren, begriff er ihren Mechanismus wenigstens teilweise. Einst hatte nämlich hinter Onkels gewaltigem Groll die materielle Macht seiner Güter gestanden, das heißt, verständlicher ausgedrückt, das Erbe war im Spiel; aber dank Anzelms unbeugsamem Charakter überdauerte seine nachtragende Haltung gegenüber der Familie den Verlust seines Vermögens, so daß er auch weiterhin gefürchtet wurde, obgleich ja nun keine Enterbung mehr drohte. Doch selbst als Stefan diesen Schlüssel entdeckt hatte, vermochte er nicht, sich völlig von diesem durch Achtung und Angst bestimmten Gefühl zu befreien. Der kalte Braten fand sich unerwartet im Speisezimmer selbst an, er stand in dem schwarzen Büfett; als dieses ungeheure Stück Fleisch aus dem Schlund des alten Möbels gezogen wurde, verschmolz dessen schwarze Farbe in Stefans Einbildung mit der des Sarges, und einen Augenblick lang war ihm unwohl. Da wurden unter Lärmen und Stampfen eine stattliche Anzahl gebratener Enten, Schalen mit herbem Preiselbeermus und Schüsseln voll dampfender Kartoffeln zur Flurtür hereingetragen; der, wie angekündigt, »bescheidene Imbiß« hatte sich ganz offensichtlich in ein zünftiges Festessen verwandelt, zumal da Onkel Ksawery obendrein eine Flasche Wein nach der anderen aus dem Büfett hervorzauberte. Die Kluft, die Stefan von den Anwesenden trennte, war immer größer geworden; die ganze Zeit über hatten ihn schon der Ton der Unterhaltung und die Geschicklichkeit befremdet, mit der man jede Erwähnung des Todes vermied, der doch der einzige Anlaß dieser Begegnung war. Jetzt aber hatte Stefans Ärger den Höhepunkt erreicht, und er nahm an allem Anstoß, die Klagen über das verlorene Vaterland eingeschlossen, die von hastigen Bewegungen der Messer, der Gabeln und der Kiefer begleitet waren. Als er sich dann Onkel Leszeks erinnerte, der da auf dem öden Friedhof unter der Erde lag, glaubte Stefan, er sei wohl der einzige, der noch an ihn denke. Unwillig betrachtete er die geröteten Gesichter der Speisenden; seine Entrüstung überschritt die Grenzen der Familie und nahm die Form einer allgemeinen Weltverachtung an. Im Augenblick konnte er sie freilich nur durch Abstinenz beim Essen demonstrieren, was er so erfolgreich tat, daß er fast hungrig vom Tisch aufstand.

Bevor es jedoch soweit war, trat an dem bisher schweigenden Grzegorz Niedzic, seinem linken Nachbarn, eine Wandlung zutage. Seit einer ganzen Weile schon wischte er sich umständlich den Schnurrbart, warf scheue Blicke nach allen Seiten und zur Tür, als wollte er mit den Augen die Entfernung messen; zweifellos plante er etwas. Plötzlich beugte er sich zu Stefan und teilte ihm flüsternd mit, er müsse nunmehr gehen, da sein Zug nach Posen bald fahre.

»Was, mitten in der Nacht willst du fahren?« fragte Stefan ein wenig gedankenlos.

»Ja, ich muß nämlich morgen früh wieder zur Arbeit.«