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Können Sie sich vorstellen, dass ein deutscher Konzern sein Gebäude bei einer Bombendrohung nicht räumen lässt, weil er im Zweifel lieber seine Mitarbeiter in Rauch aufgehen sieht als ein paar Minuten Arbeitszeit? Dass eine Mitarbeiterin im selben Umschlag gleich zwei frohe Botschaften von der Firma erhält, ihre Weihnachtspost und ihre Kündigung? Oder dass ein Chef, eben weil er der Chef ist, seine Flensburger Punkte regelmäßig an seine Mitarbeiter delegiert?
Halten Sie es für möglich, dass ein Konzern seinen Mitarbeitern Kleidung ohne Hosentaschen verordnet, weil er sie als Diebe sieht? Dass ein Mitarbeiter entlassen wird, weil er eine Chinesin heiratet und nun natürlich als potentieller Spion der Großmacht China gilt? Oder dass ein Chef, statt wenigstens einen Killer anzuheuern, diese Rolle gleich selbst übernimmt und mit seinem Auto versucht, eine Betriebsrätin an einem unverdächtigen Ort zu überfahren – dem Firmenparkplatz?
Über 2000 Leser-Zuschriften rauschten nach dem ersten Teil von »Ich arbeite in einem Irrenhaus« in mein Mailfach. Die kuriosesten, lustigsten, aber auch skandalösesten Fälle habe ich für Sie in diesem Buch versammelt. Und ich darf Ihnen versprechen: Dieser Irrsinn sprengt alle Erwartungen.
Wie viele Menschen sich an ihrem Arbeitsplatz wie in einem Irrenhaus fühlen, beweist der Erfolg des ersten Bandes. Mehr als 20 Auflagen ratterten durch die Druckmaschinen. Noch ein knappes Jahr nach Erscheinen stand der Titel in der Spiegel-Bestsellerliste auf Rang 3. Jeder Mitarbeiter, der dieses Buch kaufte, hat mit den Füßen abgestimmt – gegen seine Firma! Doch die Irrenhaus-Direktoren haben das Stampfen nicht gehört, sie produzierten fleißig neuen Irrsinn. Hier ein paar Kostproben:
»Warum sitzen Sie denn noch so freudestrahlend an der Kasse?«, wird eine Schlecker-Mitarbeiterin am 20. Januar 2012 von einem Kunden gefragt. Als ganz Deutschland schon weiß, dass Schlecker in die Insolvenz gehen wird, als jede Radio- und Fernsehstation die Hiobsbotschaft sendet – da haben die Insassen des Irrenhauses noch keine Ahnung davon. Die Presseagenturen wurden vor ihnen informiert.1 Motto: Sind ja nur die Mitarbeiter – die werden es noch früh genug erfahren!
Aber bestand wirklich Grund zur Sorge? War nicht bekannt, dass Anton Schlecker als eingetragener Kaufmann mit seinem Privatvermögen für die Firma haftete? Und war dieses Vermögen nicht noch in der Reichen-Liste 2011 des Forbes-Magazins auf 3,1 Milliarden US-Dollar geschätzt worden, womit Schlecker als einer der 400 reichsten Menschen dieses Planeten galt?2
Doch! Nur machte der Irrenhaus-Direktor Schlecker nun auf arme Kirchenmaus. Seinem Milliardenvermögen war angeblich dasselbe Schicksal widerfahren wie 11 000 Arbeitsplätzen in seiner Firma: über Nacht verschwunden.
Oder: Die Deutsche Telekom verhökerte langjährige Kundenservice-Experten per Outsourcing an die Firma Teldas. Die meisten dieser Mitarbeiter hatten um ihre Arbeitsplätze bei der Telekom gekämpft – doch angeblich brauchte man sie dort nicht mehr. Nun saßen sie auf Schleudersitzen.
2011 flatterte den Abgeschobenen eine Mail ins (neue) Haus, Motto: »Jobs for Friends«. Die Telekom jammerte, wie schwer es sei, qualifiziertes Personal zu finden. Und sie forderte die frisch Entsorgten auf, Freunde und Bekannte für Festanstellungen bei der Telekom zu empfehlen. Das ist so, als würde ein Hauseigentümer seine langjährigen Mieter grundlos vor die Tür setzen, um sie dann zu bitten, ihn bei der beschwerlichen Suche nach einem neuen Mieter tatkräftig zu unterstützen …
Einer der Angemailten schimpfte im Intranet: »Das ist ja wohl der Gipfel an Frechheit und Kaltblütigkeit. (…) Wir stehen im Juli nächsten Jahres auf der Straße, und die Telekom schert sich einen Dreck um ihre verkauften Mitarbeiter. Und jetzt wagen Sie es, davon zu sprechen, dass es schwer ist, qualifizierte Mitarbeiter zu finden!«
Zerknirscht antwortete Personalvorstand Martin Seiler, die Aktion »Jobs for Friends« habe »fälschlicherweise« auch die Outsourcing-Partner des Kundenservice der Deutschen Telekom einbezogen. Der Verteiler sei nun »angepasst« und der »Arbeitsfehler behoben« worden.
Als hätte der Irrsinn in diesem Verteiler bestanden – und nicht darin, dass man verdiente Mitarbeiter wie altes Eisen entsorgte, während man neue suchte.
Oder: Die Hypo Real Estate, eine nach Missmanagement verstaatlichte Immobilienbank, schlägt gegenüber ihren Mitarbeitern einen rigiden Sparkurs ein. Doch in der Bilanz nehmen es die Irrenhaus-Direktoren nicht so genau, eine Prüfung enthüllt: Läppische 55,5 Milliarden waren durch eine Doppelbuchung unter den Tisch gefallen – so wie ein Cent unbemerkt in einen Gullyschacht rollt.3 Niemand hatte das Geld vermisst. Und das in einem Land, in dem Firmen ihre Mitarbeiter feuern, weil diese ihr Handy bei der Arbeit aufladen und so ein kratertiefes Loch von 0,00014 Euro in die Firmenkasse reißen.4
Solcher Irrsinn sorgt dafür, dass die typische Handbewegung des Mitarbeiters ein Sich-an-den-Kopf-Fassen ist, dass die Büros und Werkshallen zu Motivationsfriedhöfen verkommen, dass laut einer aktuellen Gallup-Studie fast jeder vierte Mitarbeiter in Deutschland innerlich gekündigt hat – die höchste Quote aller Zeiten.5
Wie schrieb Friedrich Nietzsche: »Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.« Bei Firmen auch! Dieses Buch lädt Sie ein, durch die Schlüssellöcher der Wahnsinns-Unternehmen zu schauen. Ingenieure, Betriebswirte und Kaufleute, Manager, Ladendetektive und Handwerker, Krankenschwestern, Chefsekretärinnen und Beamte, Informatiker, Redakteure und Kundenberater – alle möglichen Berufsstände haben ausgepackt.
Mancher Irrsinn wird Sie erstaunen – heimliche Sexorgien, mit denen Firmen ihre Mitarbeiter anspornen wollen. Anderer wird Sie zum Lachen bringen – die Beförderung eines verstorbenen Mitarbeiters per Nachruf. Und wieder anderer wird Sie nachdenklich stimmen – die faulen Tricks, mit denen Zeitarbeiter ausgebeutet und kritische Mitarbeiter gemobbt werden.
Ich danke allen Lesern des ersten Bandes, die mir ihre Erlebnisse geschildert und dieses zweite Buch ermöglicht haben. Und ich danke auch allen Firmen, die mutig genug waren, mich als Redner einzuladen. Ich bin mir sicher: Der erste Schritt, den Irrsinn zu bekämpfen, besteht darin, ihn beim Namen zu nennen. Damit eine Krankheit behandelt werden kann, muss sie erst mal diagnostiziert sein.
Den Firmen wünsche ich gute Besserung. Und Ihnen wünsche ich ein im wahrsten Sinne des Wortes irres Lesevergnügen.
Ihr
Martin Wehrle
P. S. Schildern Sie mir gerne, welchen Irrsinn Sie in Ihrer Firma erleben. Sie erreichen mich über meine Homepage
www.karriereberater-akademie.de
1.
Unternehmen Irrsinn:
Geht’s noch, Firma?
Einige Firmen haben ein Dach – andere haben einen Dachschaden. Die häufigste Frage der Mitarbeiter lautet: »Geht’s noch?« In diesem Kapitel erfahren Sie …
warum viele Mitarbeiter-Zeitungen »Prawda« heißen müssten,
welches Irrenhaus-Alphabet die Chefetage beim Irren leitet,
wie das Mailen mit CC (Chaos-Club) in den Firmen für Skandale sorgt
und warum ein Konzern seine Mitarbeiter aus Profitgier fast in die Luft gesprengt hätte.
Das Irrenhaus-Ratespiel
Welche Firma hat in den letzten Jahren welchen Irrsinn verbrochen? Dieses Irrenhaus-Ratespiel gibt Ihnen die Gelegenheit, Skandale den richtigen Firmen zuzuordnen. Am Ende des Tests folgt eine Auswahl der Verdächtigen. In diesem Buch werden Ihnen all diese Irrsinns-Erlebnisse begegnen. Bitte prüfen Sie Ihre Lösungen bei der Lektüre.
1. Welche Firma hat die bestellten Callgirls nach jedem Geschlechtsverkehr mit ihren Mitarbeitern wie Vieh abstempeln lassen?
2. Welcher Arbeitgeber hat seine Mitarbeiter per Reisebus in ein brasilianisches Bordell gekarrt?
3. Welches Unternehmen hat seinem Betriebsratsvorsitzenden mit 350 000 Euro die Geliebte finanziert?
4. Welche Firmen haben sich von einem gelernten Autolackierer beraten lassen, wie man anhand der Schädelform die richtigen Bewerber auswählt?
5. Welche Unternehmen haben ihren Bewerbern vor der Einstellung wie Vampire Blut abgezapft?
6. Welcher Arbeitgeber hat Zehntausende von Bewerbungsunterlagen mit Gehaltswünschen ins Internet gestellt?
7. Welche Firma hat private Daten, unter anderem Kontenbewegungen, von 173 000 Mitarbeitern ausspioniert?
8. Welches Unternehmen hat in zwei Jahren 49 000 Anfragen bei einer Kreditauskunft gestellt, um den Schuldenstand seiner Mitarbeiter zu erforschen?
9. Welche Firma hat Protokoll über unerfüllte Kinderwünsche und Psychologenbesuche ihrer Mitarbeiter geführt?
10. Welcher Arbeitgeber schleuste mehr als ein Drittel seiner Arbeitskräfte als preisgünstige Zeitarbeiter bei sich ein?
11. Welche Firma entließ Mitarbeiter, angeblich mangels Geld – worauf ein Maulwurf die unglaublich fetten Gehälter von 17 Führungskräften aufdeckte?
12. Welches Unternehmen hat seinem Vorstandsvorsitzenden 2011 ein Jahresgehalt von 16,6 Millionen gezahlt, was dem Einkommen von 553 Arbeitern entspricht?
13. Welche Firma hat einen Mobbing-Leitfaden verfasst, der unter anderem aufzeigt, wie man »Motzbrüder« zermürbt?
14. Welcher Arbeitgeber hat den Anwalt eines gemobbten Ex-Mitarbeiters so offensichtlich schikaniert, dass ein Gericht dazwischenging?
15. Welches Unternehmen hat seine Mitarbeiter heimlich mit Mini-Kameras überwacht und sogar Toilettengänge protokolliert?
Irrenhäuser zur Auswahl: Deutsche Bahn, Thyssen Krupp, TÜV, Spiegel TV, Hamburg-Mannheimer, Unesco, Caritas-Verein Altenoythe, Volkswagen, Daimler, Deutsche Post, Beiersdorf, Merck, Wüstenrot, Daimler, Lidl, Kraft Food, Volkswagen, Finanzamt, Lidl, Kik
Mehrfach genannte Firmen kommen auch mehrfach als Lösung vor.
Die Acht-Stunden-Diktatur
Wer behauptet, Deutschland sei eine Demokratie, müsste eigentlich hinzufügen: »Höchstens 16 Stunden am Tag.« Den Rest der Zeit verbringen Mitarbeiter in ihren Firmen. Recht bekommt dort nicht, wer die besten Argumente hat, sondern wer im Haus der Hierarchie ein Stockwerk höher wohnt. Unten ist immer, wo die Mitarbeiter sind.
Das Ansehen eines Irrenhaus-Insassen hängt davon ab, wie glaubwürdig er das tägliche Mitarbeiter-Gebet spricht: »Alles Gute kommt von oben!« Wer sich den Luxus leistet, eine abweichende Meinung zu haben, ist in seiner Firma so erwünscht wie Wolf Biermann einst in der DDR.
Ein »Vorgesetzter« heißt so, weil er dem Mitarbeiter vor die Nase gesetzt wird. Schon mehrfach habe ich erlebt, dass Proteste der Belegschaft gegen einen neuen Chef von der Irrenhaus-Direktion eigenwillig gedeutet wurden: »Wenn die Schafe blöken, ist ein Leitwolf im Anmarsch!«, sagte der Vorstand eines Stahlbauers.
Doch wie Zeitungen in Diktaturen, die nichts als Lügen drucken, vorzugsweise »Prawda« (Wahrheit) heißen, so nennen sich Firmen, die mit der Peitsche führen, vorzugsweise »mitarbeiterorientiert und demokratisch«. Mit 360-Grad-Feedbacks, mit Kommunikations-Workshops, mit Pressemeldungen täuschen sie demokratische Bräuche vor, die in Wirklichkeit am Firmentor enden.
Raffinierte Irrenhaus-Direktoren bringen ihre Insassen dazu, selbst Lobpreisungen auf die Firma zu singen. Das Gesangsbuch dafür nennt sich Mitarbeiter-Zeitung. So habe ich verfolgt, wie die Geschäftsleitung eines süddeutschen Zulieferers in Bedrängnis geriet. Bei Sitzungen wurden die Chefs von ihren Mitarbeitern immer wieder für ihren Sparkurs und ihre krude Geschäftsstrategie kritisiert. Der Haussegen hing schief. Mittlerweile waren diese Missklänge auch an die Ohren der Geschäftspartner gedrungen.
Eine Gegenstimme musste her. Die Irrenhaus-Direktion regte eine Mitarbeiter-Zeitung an. Alle 350 Mitarbeiter wurden eingeladen, an der Gründungssitzung teilzunehmen. Die Mitarbeiter schüttelten ihre Köpfe: Sie, deren Meinung immer abgebügelt wurde, sollten jetzt eine eigene Zeitung bekommen? Das konnte doch nur einer der üblichen Tricks ihrer Geschäftsführung sein …
Außerdem war die Sitzung an einem Montag um 10.00 Uhr angesetzt worden – zu dieser Zeit war die unterbesetzte Belegschaft erfahrungsgemäß völlig ausgelastet. Tatsächlich kam nur eine Handvoll Mitarbeiter. Ein Spezialkommando aus Vorgesetzten, Chefsekretärinnen und Pressestellen-Mitarbeitern stand ihnen gegenüber.
Im Eilverfahren – »demokratisch«, wie es hieß – wurde ein Chefredakteur gewählt. Die Wahl fiel – welch Zufall! – auf den Pressesprecher der Firma. Ein zweiter Kandidat, Betriebsrat und Unternehmenskritiker, wurde in der Diskussion von den Vorgesetzten mehrfach angegangen und fiel bei der Wahl durch.
Die erste Redaktionssitzung glich einem Begräbnis der Pressefreiheit. Ein Mitarbeiter schlug vor: »Ich könnte mal beschreiben, wie viel Energie bei uns zwischen den Abteilungen verlorengeht. Da gibt es heftige Beispiele.«
»Eine gute Idee«, sagte der Pressesprecher-Chefredakteur, »aber solche Interna gehören in ein Meeting, nicht in diese Zeitung.«
»Aber die Zeitung ist doch dazu da, solche Dinge anzusprechen!«
»Eigentlich schon. Aber haben Sie mal überlegt, dass auch Kunden und Geschäftspartner unser Blatt in die Hand bekommen könnten? Und wollen Sie wirklich, dass die uns für eine Chaostruppe halten?«
»Aber wir machen doch eine Mitarbeiter-Zeitung – und kein PR-Blättchen!«
»Dennoch müssen wir uns über die Außenwirkung im Klaren sein. Diese Zeitung soll unser Unternehmen spiegeln.«
Auf diese Weise bügelte der Chefredakteur alle Ideen für kritische Artikel ab. Sogar vereinbarte Artikel der Mitarbeiter wurden von ihm mit spitzem Rotstift »redigiert«, was lediglich besser als »zensiert« klang. Ein Azubi hatte in einem Artikel über seinen Alltag geschrieben: »Einige Kollegen halten uns Azubis für Kopiersklaven. Das sind wir aber nicht, wir sollen etwas lernen.« In dem Artikel hieß es dann: »Etliche Kollegen haben erkannt: Wir sind keine Kopiersklaven, wir sollen etwas lernen.«
Ebenfalls in den Fleischwolf der Zensur geriet der Artikel eines Mitarbeiters aus der Produktion. Er hatte in einer lebendigen Reportage über seine Arbeit darauf hingewiesen, dass die Quote der Arbeitsunfälle durch die Einführung eines neuen Schichtsystems gestiegen sei. Ausgerechnet dieser Absatz wurde vom Chefredakteur gestrichen, »nur aus Platzmangel«, wie er später behauptete.
Und natürlich sorgte der Irrenhaus-Chefredakteur auch dafür, dass die Titelgeschichte im Sinne der Geschäftsleitung ausfiel: »Unsere Firma wird 75 – eine Erfolgsstory!« In diesem Beitrag bildete er alle Geschäftsführer seit Gründung der Firma ab – ein Horror-Kabinett, sogar ein Typ mit Hitler-Bärtchen aus den 1930er Jahren war dabei. Doch in dem Jubelartikel wurde kein einziger Mitarbeiter erwähnt. In der nächsten Redaktionssitzung forderte ihn ein Betriebsrat auf, nun zum Ausgleich das Gedicht »Fragen eines lesenden Arbeiters« von Brecht zu drucken, in dem es heißt:
»Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon,
wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war,
die Maurer? (…)«
Der Chefredakteur lehnte das kritische Gedicht mit Verweis auf die angeblich teuren Druckrechte ab. Das Mitarbeiter-Blatt war nur ein Feigenblatt, das die Unzufriedenheit der Belegschaft verdecken sollte. Jedem Geschäftspartner oder Kunden, der nicht schnell in Deckung ging, wurde ein Exemplar in die Hand gedrückt. Die Mitarbeiter, eigentlich Zeugen der Anklage, wurden als Zeugen der Verteidigung missbraucht.
Nach der dritten Ausgabe waren alle halbwegs kritischen Köpfe aus der Redaktion abgesprungen. Der Pressesprecher hatte nun freie Bahn für seine Propaganda. Die Resonanz der Leser wurde immer am ersten Mittwoch im Quartal sichtbar, wenn das Blatt in der Firma verteilt wurde: Die Papierkörbe waren schon mittags überfüllt; die Putzfrauen jammerten immer.
Alle Blendemanöver der Firmen funktionieren nach außen, gegenüber Kunden, Zeitungsredakteuren, Aktionären. Aber der Scheinwerfer eines Autos kann nur andere Autos blenden, niemals die eigenen Insassen. Die Mitarbeiter sind Beifahrer – sie durchschauen den Schwindel.
§ 1 Irrenhaus-Ordnung: Der Inhalt einer Mitarbeiterzeitung hat mit der Meinung der Mitarbeiter so viel zu tun wie der Inhalt einer Hühnersuppe mit den Interessen der Hühner.
Irrenhaus-Sprechstunde 1
Wer erlebt aus nächster Nähe, welche Blüten der Irrsinn in den Firmen treibt? Wer ist live dabei, wenn Chefs aus der Haut und Unternehmen an die Wand fahren? Die Mitarbeiter! Dieses Buch gibt ihnen eine Stimme: Zweimal pro Kapitel, in der »Irrenhaus-Sprechstunde«, erzählen sie ihre ganz persönlichen Wahnsinns-Erlebnisse mit Firmen. Diese Geschichten bieten interessante Einblicke ins Innerste des Irrsinns, Stoff zum Lachen, Kopfschütteln und Aufregen. Zusammen ergeben diese Berichte ein scharfes Unsitten-Gemälde der deutschen Firmenlandschaft.
Betr.: Wie mich meine Firma fast
in die Luft gesprengt hätte
Eines Tages saß ich mit meinem Mann am Frühstückstisch. Ich war gerade dabei, mir ein Brot zu schmieren, da blickte er aus seiner Zeitung auf. »Sag mal, Schatz, warum hast du mir davon nichts erzählt?«
»Davon?«, fragte ich.
»Na von dem Theater, das gestern bei euch los gewesen sein muss.«
»Theater?«
Er sah streng über den Rand seiner Brille: »Jetzt erzähl mir aber nicht, dass ihr davon nichts mitbekommen habt! Du willst mich schonen, stimmt’s?«
Ich war neugierig und schnappte mir die Zeitung. Was ich dort im Lokalteil las, ließ mir das Blut gefrieren: Am Vortag hatte es – wie hier in einer Meldung stand – »eine Bombendrohung« gegen die Niederlassung unseres großen Telekommunikationskonzerns gegeben. Diese habe sich »als Scherz herausgestellt«. Denn um 13.30 Uhr sei, entgegen der Ankündigung, keine Bombe explodiert.
Um 13.30 hatte ich an meinem Schreibtisch gesessen. Wie meine Kollegen auch. Kein einziges Stockwerk war geräumt, kein einziger Abteilungsleiter informiert worden. Offenbar hatte man sich darauf verlassen, dass die Bombendrohung ein Scherz war.
Was hätte der Konzern zu verlieren gehabt, wenn man das Gebäude geräumt hätte? Ein paar tausend Arbeitsstunden! Undwas hat er riskiert, indem er nicht räumte? Ein paar tausend Menschenleben!
Die Firma hatte Russisches Roulette mit meinem Leben gespielt, offenbar aus Profitsucht. Auch wenn die Bombe nicht hochging: Mein Glaube an die Menschlichkeit meiner Firma wurde endgültig gesprengt.
Lisa Seidel6, Kundenberaterin
Betr.: Wie ich zu einem kastrierten Taschendieb wurde
Bis vor einigen Jahren war es mir freigestellt, welche Kleidung ich als Handwerker im Warenlager meines Konzerns trug. Dann wuchs das Misstrauen: Beim Verlassen der Firma wurden meine Kollegen und ich immer öfter durchsucht. Offenbar verschwanden Waren. Wir wussten auch, wohin: Leitende Mitarbeiter tauchten immer wieder bei uns auf, um sich »Muster« zu holen. Vieles kam nie zurück. Aber die raffgierigen Diebe, das mussten natürlich wir sein!
Und so wurde uns eine einheitliche Dienstkleidung verordnet. Als ich sie sah, verschlug es mir die Sprache: Der helle Stoff erinnerte an Sträflings-Kleidung und war so dünn, dass man, wenn eine Kollegin auf der Leiter stand, Dinge sah, die man vielleicht sehen wollte, aber keinesfalls sehen sollte – zum Beispiel die Farbe ihrer Unterwäsche. Die Kleidung wurde vom Licht durchschienen; das war mehr als peinlich.
Doch ein anderer Mangel erzürnte uns noch mehr: Wir hatten Jacken und Hosen ohne Taschen bekommen. Sind Sie schon mal auf eine Leiter geklettert, um mit Zollstock, Bohrmaschine, Schrauben und Wasserwaage zu arbeiten? Wie im Schlaf steckt man sich Werkzeuge und Zubehör in die Taschen, um die Hände frei zu haben und die Balance zu halten. Das ging mit der neuen Kleidung nicht mehr. Man geriet auf den Leitern ins Schwanken, ließ Dinge fallen und hatte auch am Boden nie das dabei, was man für seine Arbeit brauchte. Ein Kollege, der regelmäßig Tabletten nehmen muss, verschwand immer wieder in den Aufenthaltsraum.
Die Geschäftsleitung hatte uns diskreditiert. Wir waren Männer und Frauen ohne Taschen geworden. Ein Kollege spitzte es zu auf die Formel: »Wir sind kastrierte Taschendiebe!« Zudem war unsere Arbeit gefährlicher und komplizierter geworden.
Wenige Monate später kam durch einen Medienbericht heraus: Mehrere Top-Manager unseres Konzerns hatten im großen Stil Aktien verkauft, als sie witterten, dass sich eine Auslieferung verzögern würde.
Diese »Insider-Geschäfte« riefen den Staatsanwalt auf den Plan. Der Aktienkurs brach ein, die Firma verlor Riesensummen.
War das nicht der eigentliche Diebstahl? Diese Herren gingen mit vollen Taschen aus dem Haus. Wie gerne hätte ich ihnen meine Kleidung angeboten!
Jürgen Wolff, Handwerker
Betr.: Warum man als Kranker niemals
einen Massagegutschein bekommt
»Wir wollen unseren Mitarbeitern den Rücken stärken«: Mit dieser Parole spielt sich unser Konzern zum Schutzpatron seiner Belegschaft auf. Tatsächlich werden Gutscheine für Massagen und Rückengymnastik vergeben. Aber nur an Mitarbeiter, die im Vorjahr keinen einzigen Fehltag hatten! Als Belohnung. Wer dagegen, wie ich, tagelang mit Rückenschmerzen flachlag, der wird vom Rückentraining ausgeschlossen.
Das ist so, als würde man Rettungsringe nicht den Ertrinkenden im offenen Meer, sondern den Passagieren eines sicheren Luxusdampfers zuwerfen. Natürlich werden die meisten Gutscheine niemals eingelöst: Warum sollte jemand, dessen Wirbelsäule vor Gesundheit strotzt, sich im Rückentraining quälen?
Eine fitte Kollegin, die um mein Rückenleiden weiß, wollte mir ihren Gutschein abtreten. Doch die Personalabteilung wehrte ab: Dass ausgerechnet eine Mitarbeiterin, die mehrere Wochen krank war, diese Belohnung für null Fehltage bekäme – das wäre ja nun wirklich das falsche Signal.
Wer krank ist, auch wenn er nichts dafür kann, wird dafür bestraft – gleich doppelt, denn seine Krankheit hat er ja auch noch am Hals beziehungsweise Rücken. Meine Gegenwehr: Früher habe ich mich mit starken Rückenschmerzen nach zwei, drei Krankheitstagen sofort wieder in die Firma geschleppt. Heute nehme ich mir mehr Zeit und gehe zur Krankengymnastik. Ohne Gutschein – dafür mit Krankenschein.
Nina Böhm, Lohnbuchhalterin
Betr.: Als die Firma ein Auto entführte
Eigentlich ist die Sache klar geregelt: Je höher einer in der Hackordnung steht, desto dichter darf er vor unserem Firmengebäude parken. Die Oberindianer haben ihre dicken Dienstwagen direkt vorm Gebäude stehen, auf reservierten Stellplätzen. Dagegen parkt das Fußvolk auf einem allgemeinen Parkplatz, 700 Meter vom Gebäude entfernt.
»VIP« nennen wir Mitarbeiter die Stellflächen direkt vorm Haus: Verbotener Idioten-Parkplatz. Denn obwohl die Hälfte der »VIP« jeden Tag leer steht, darf kein Mitarbeiter dort sein Auto abstellen. Nicht wenn es hagelt, nicht wenn Blitze zucken, nicht wenn er schwere Waren ins Firmengebäude transportieren muss.
Als unser Chef drei Wochen in Urlaub ging, lag ihm mein Kollege Jens in den Ohren. Er musste in dieser Zeit schwere Kisten mit Mustern aus der Fabrik abholen. Normalerweise hieß das: vorm Firmengebäude anhalten, Muster ausladen und hochtragen – dann das Auto 700 Meter zurück auf den allgemeinen Parkplatz fahren. Und dann wieder 700 Meter zum Gebäude marschieren. Dieser Vorgang konnte sich dreimal pro Tag wiederholen. Warum so viel Zeit zwischen Parkplatz und Gebäude verlieren?
Unser Chef sah das ein: Er trat ihm seinen Parkplatz vorm Gebäude für drei Wochen ab. Stolz platzierte Jens seinen Golf auf dem VIP. Am selben Nachmittag rief ihn eine Kollegin an: »Schau mal aus dem Fenster!« Jens sah gerade noch, wie sein Golf unsanft auf einem Abschleppwagen abgestellt wurde. »Halt!«, rief er und jagte die Treppen runter. Als er unten ankam, fuhr der Abschleppwagen gerade davon. Wir sahen oben vom Fenster, wie er mit den Fäusten fuchtelte.
Erbost steuerte Jens das Büro der Hausverwaltung an: »Seid ihr verrückt, mich abschleppen zu lassen! Mein Chef hat mir den Parkplatz für seinen Urlaub offiziell abgetreten!«
Der Hausmeister schüttelte den Kopf. »Diese Parkplätze sind personengebunden. Man kann sie nicht abtreten.«
Jens kochte. »Aber der Chef hat es mir sogar in einer Mail bestätigt.«
»Solche Einzelabsprachen spielen keine Rolle. Hier greifen die Dienstvorschriften.«
Jens erfuhr, dass der externe Sicherheitsdienst beauftragt war, täglich die Parkplätze zu prüfen. Falschparker duldete man für zwei Stunden. Danach wurde abgeschleppt, ohne vorher nach dem Besitzer zu fahnden (wie früher üblich). Diese Regelung galt seit dem letzten Sommer, als ein Top-Manager während seines Urlaubs in der Firma hatte vorbeischauen wollen und auf seinen besetzten Parkplatz gestoßen war.
Abends fuhr ich Jens zum Sammelparkplatz des Abschleppunternehmens. Mit 150 Euro musste er sein Auto auslösen. Die Firma erstattet ihm das Geld nicht zurück, trotz seiner Absprache mit dem Chef. Dieser Vorfall hat uns wieder einmal daran erinnert, wofür das »I« von VIP steht!