Als Ravensburger E-Book erschienen 2014
Copyright © 2014 by Richard Dübell
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2014 by Ravensburger Verlag GmbH
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
Umschlaggestaltung: init, Kommunikationsdesign
Verwendete Fotos von Thinkstock/Rodrigo Blanco,Thinkstock/Design Pics,Thinkstock/Olga Lapshina und Thinkstock/Piotr Kirześlak
Vorsatzkarte: Richard Dübell
Redaktion: Harald Kiesel
ISBN 978-3-473-47546-9
www.ravensburger.de
Für alle, die immer wieder hören:
»Das kannst du nicht.«
Glaubt es nicht.
Ihr könnt es.
Der Verrückte stürmte aus der Gasse und rannte brüllend auf Quirin zu.
»Ist es getilgt?«, schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Ist es getilgt?« Sein Gebrüll hallte in der Stille der Nacht von den Hauswänden wider. In der Hand hielt er eine Fackel, die einen Funkenschweif hinter sich herzog.
Quirin wich zurück, bis er mit dem Rücken gegen den wuchtigen hölzernen Wagen stieß. Er war so erschrocken von dem plötzlichen Auftritt des Mannes, dass sein Herz hämmerte. Zwar hatte er keine Ahnung, was hier vorging, doch eins stand fest: Wer mitten in der Nacht laut kreischend durch die Gassen von Salzburg rannte, konnte nicht ganz richtig im Kopf sein.
»Ist es getilgt?«, schrie der Verrückte noch einmal.
Hinter ihm tauchten keuchend zwei Stadtwächter aus der Gasse auf. Aber sie waren zu weit weg. Der Mann würde Quirin erreichen, bevor sie ihn erwischten.
»Ist es getilgt?«
Quirin blickte sich nach Meister Lukas und den beiden Gesellen um. Die drei Männer standen bei den Zugpferden und starrten den heranstürmenden Mann mit offenen Mündern an.
»Haltet ihn auf!«, japste einer der Stadtwächter. Er und sein Kamerad waren offensichtlich normale Bürger, die die Stadtwache beim Nachtdienst verstärkten. Sie trugen nur Helm und Waffen, nicht aber die rot-weißen Wämser der regulären Wachtruppen, und sie waren alles andere als gut trainiert.
»Ist es getilgt?« Der Verrückte war nun ganz nah herangekommen – ein großer, dicker Mann in teuren Gewändern. Der Fackelschein erhellte seine erhitzten Züge, die fleckige Haut, das stoppelbärtige Kinn. Seine Augen waren so weit aufgerissen wie sein Mund. Tränen liefen ihm über die Wangen, Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel. Seine Beine pumpten. Er war schneller, als sein gedrungener Körper vermuten ließ.
Einer der beiden Stadtwächter blieb stehen, schnappte nach Luft, hob die Armbrust und zielte schwankend. »Stehen bleiben oder ich …«
Der Armbrustbolzen löste sich mit einem Knall, der Quirin zusammenzucken ließ. Etwas pfiff an seinem Ohr vorbei. Er fuhr herum. Keine Handbreit von seinem Kopf entfernt war der Bolzen in das Holz des Wagens eingeschlagen. Der Verrückte rannte weiter, unverletzt.
»… schieße!«, japste der Schütze. »Oh.« Er schielte auf die Armbrust, als wäre sie schuld an seinem miserablen Zielwasser.
»He!«, brüllte Meister Lukas.
Der Verrückte änderte fünf Schritte vor Quirin die Richtung, als hätte er den Jungen, den Wagen, die Pferde und die drei Erwachsenen erst jetzt bemerkt. Quirin hörte deutlich seinen pfeifenden Atem. Der Geruch von Schweiß, Tran und Rauch stieg ihm in die Nase.
»Haltet ihn auf, um Himmels willen!«, keuchte der erste Stadtwächter.
Quirin war wie betäubt. Er sah sich selbst dabei zu, wie er einen Schritt vortrat und dem Vorbeirennenden ein Bein stellte.
Mit rudernden Armen flog der dicke Mann durch die Luft. Die Fackel wirbelte neben ihm her. Er prallte auf den gepflasterten Boden der Gasse und rutschte auf dem Bauch noch ein paar Schritte weiter. Die Fackel schlug funkensprühend auf, überschlug sich wie ein Feuerrad und rollte dann über die Pflastersteine, bis sie schließlich liegen blieb.
Als sich der Verrückte ächzend aufrappelte, war der erste Stadtwächter heran und warf sich auf ihn. Der Verrückte schlug erneut der Länge nach hin – und stemmte sich dann ein zweites Mal in die Höhe, als hätte er die Kräfte eines Riesen. Der Stadtwächter hing auf seinem Rücken wie ein Reiter auf einem bockenden Pferd. Der zweite Stadtwächter kam herbeigeeilt, ließ die Armbrust fallen und warf sich ebenfalls auf den Verrückten. Zu dritt gingen sie zu Boden.
Der Mann zappelte und stöhnte. »Ist es getilgt?«, schrie er. »Sagt mir, ob es getilgt ist! Bei der Barmherzigkeit Christi! Ist es getilgt?«
Die Stadtwächter zerrten ihn auf die Beine. Er wand sich nach Leibeskräften. Die Wächter hatten sichtlich Mühe, ihn festzuhalten. Sein Blick irrte ziellos umher und blieb schließlich an Quirin hängen, der noch immer ein Pochen in seinem Bein verspürte, wo ihn der Fuß des dicken Mannes getroffen hatte.
»Ist es getilgt?«, stöhnte er. Seine Blicke bohrten sich in Quirins Herz.
»Ja«, sagte Quirin, weil die Not des Verrückten so groß war, dass er nicht anders konnte.
»Heilige Maria, Mutter Gottes«, schluchzte der dicke Mann und sackte in sich zusammen. »Heilige Maria, Mutter Gottes.« Er begann zu weinen.
Meister Lukas trat heran und schob Quirin beiseite. Einer der beiden Gesellen zog den Armbrustbolzen aus der Wagenwand und tippte mit dem Finger auf die scharfe Eisenspitze. Der zweite Geselle pfiff durch die Zähne. Quirin spürte, wie eine plötzliche Schwäche seine Beine hochkroch. Der Bolzen hatte ihn um ein Haar verfehlt! Er drückte die Knie durch, um sein Zittern zu verbergen.
»Was zum Henker soll das?«, grollte Meister Lukas. »Wieso schießt ihr auf meine Leute?«
Der Stadtwächter, der die Armbrust abgefeuert hatte, gestikulierte entschuldigend. »Ich hab auf den Kerl hier geschossen«, keuchte er.
»Nicht sehr erfolgreich«, versetzte der Meister.
»Was hat er angestellt?«, hörte sich Quirin fragen. Er konnte den Blick nicht von dem Mann wenden, der jetzt auf dem Boden hockte und schluchzte.
Meister Lukas verpasste ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf. »Halt den Mund, wenn Erwachsene reden!«
Der Meister war hochgewachsen und breitschultrig, ein Mann mit Händen wie Schaufeln und einem eckig geschnittenen Vollbart, der ihm das Aussehen eines Kirchenpropheten verlieh. »Ich bin Meister Lukas Guldenmund, der Buchdrucker, und ich möchte wissen, was dieser Unselige verbrochen hat.«
»Er hat das Haus des holländischen Tranhändlers angezündet«, sagte der erste Stadtwächter.
Quirin blinzelte verwirrt. Der Brand war in ganz Salzburg Gespräch gewesen. Mithilfe der Soldaten des Bischofs hatten die Nachbarn das Feuer zwar schnell unter Kontrolle gebracht, aber die Angst war trotzdem groß: Wie schnell konnte so ein Brand auf andere Häuser übergreifen und ganze Stadtviertel verwüsten! Das Feuer war offenbar im Treppenhaus des Tranhändlers ausgebrochen, nicht etwa in der Küche oder der Stube mit dem Kamin. Außerdem hatte man eiserne Fassringe gefunden, die sich in der Hitze verzogen hatten. Als sei ein kleines Petroleumfässchen im Treppenhaus verbrannt worden – ein klarer Hinweis auf Brandstiftung.
»Das war vor einer Woche!«, sagte Meister Lukas.
»Wohl wahr, Meister Guldenmund«, keuchte der Stadtwächter. »Nur – heute Nacht hat er es wieder versucht.«
»Was? Erneut im Haus des Holländers?«
Der Stadtwächter schüttelte den Kopf. Er versuchte, den schluchzenden Mann hochzuzerren, doch der sank sogleich wieder zu Boden. Meister Lukas machte eine knappe Handbewegung. Die Gesellen traten vor und packten mit an.
Erneut traf Quirin ein Schlag des Meisters. »Halt keine Maulaffen feil!«
Zu viert gelang es den Männern schließlich, den Übeltäter auf die Beine zu hieven. Sein Blick fiel auf Quirin.
»Ist es wirklich getilgt?«, flüsterte er. Quirin schluckte. Er wandte sich ab.
»Welches Haus wollte er heute anzünden?«, fragte Meister Lukas.
»Den Bischofspalast.«
Der Meister starrte den Wächter ungläubig an. Auch Quirin traute seinen Ohren kaum. Erzbischof Johann III. war Herrscher über die Stadt Salzburg. Er war nicht unbedingt beliebt bei den selbstbewussten Salzburger Patriziern und Kaufleuten, die ihren Bürgermeister selbst wählen durften, aber die einfachen Leute respektierten ihn. Niemand hätte gewagt, ihm ein Haar zu krümmen. Nicht einmal, wenn er nachts allein durch die Gassen spaziert wäre. Und nun hatte jemand versucht, seinen Palast in Brand zu stecken?
»Der Kerl ist komplett verrückt«, sagte Meister Lukas. Mit einiger Befriedigung fügte er hinzu: »Dafür wird er hängen!«
»Und Ihr, Meister Guldenmund?«, fragte der Stadtwächter, offenbar bemüht, einen Teil seiner Autorität wiederherzustellen »Wo soll’s denn so früh schon hingehen mit Sack und Pack?«
»Zum Kloster Admont.« Der Meister deutete mit dem Daumen auf den Wagen. »Mit meiner Buchdruckmaschine!«
Der Stadtwächter wirkte beeindruckt. Ganz Salzburg kannte die geheimnisvolle Maschine des Buchdruckermeisters Guldenmund, die anders als die Pressen seiner Konkurrenten zerlegt und in einem Wagen überallhin transportiert werden konnte.
»Der Abt will seine Handschriftensammlung nachdrucken lassen«, sagte Meister Lukas nicht ohne Stolz. »Wir haben einen weiten Weg vor uns. Da bricht man früh auf.«
Der Stadtwächter nickte. Ohne Quirin auch nur eines Blickes zu würdigen, sagte er: »Danke für Eure Hilfe, Meister.«
»Gern geschehen«, erwiderte Meister Lukas, ebenfalls ohne Quirin anzusehen.
Die Stadtwächter führten den Verrückten ab.
»Genug gegafft«, stieß Meister Lukas hervor und funkelte die Gesellen und Quirin an. »Wir brechen auf.«
Quirin starrte den Stadtwächtern und dem Verrückten hinterher. Er hatte erwartet, Angst oder Hass in den Zügen des Mannes zu lesen. Aber er hatte sich getäuscht.
Ist es getilgt?
Was in aller Welt sollte das bedeuten?
Meister Lukas verpasste ihm einen dritten Schlag auf den Hinterkopf. »Brauchst du eine Sondereinladung, Faulpelz?«
Quirin kletterte hastig auf den Kutschbock und zwängte sich zwischen die Gesellen. Als der Wagen anrollte, blickte er zurück, bis die nächste Gassenmündung die Stadtwächter und den Verhafteten verschluckte.
»Möcht zu gern wissen, was der Teufel jetzt ins Lebensbuch von diesem Verrückten schreibt«, kicherte der eine Geselle. »Aufgeknüpft, weil er so blöd war, sich nach dem Zündeln von einem Rotzlöffel auf die Schnauze legen zu lassen …« Ein Ellbogen traf Quirin in die Seite, aber er hätte auch so gewusst, dass er mit dem Rotzlöffel gemeint war.
»Was soll das heißen?«, fragte der zweite Geselle.
»Noch nie was vom Lebensbuch gehört? Jeder hat eins. Der Teufel schreibt dein Leben rein, jeden Mist, den du jemals angestellt hast. Beim Jüngsten Gericht wird das dann gegen dich in die Waagschale gelegt.«
»Stell dir mal vor, was er gerade eben in Quirins Lebensbuch geschrieben hat: Beinahe die Rübe weggeschossen, weil ein fetter Büttel zu dämlich zum Zielen war! He, Quirin? Oder bist du sogar dem Teufel zu unwichtig, als dass er über dich Buch führen würde?«
»Wahrscheinlich tut er’s auf den Lindenblättern, mit denen er sich den Hintern abwischt.«
Die beiden Gesellen brüllten vor Lachen, bis der Meister ihnen befahl, still zu sein.
Und so rollte der Wagen mit Meister Lukas’ geheimnisvoller Buchdruckmaschine aus Salzburg hinaus, dem gewaltigen Bergmassiv des Dachstein entgegen und dem Tal der Enns, in dem das reiche und berühmte Kloster Admont lag. Auf den höheren Lagen der Berge schimmerte noch Schnee im Sternenlicht. Es war Frühlingsanfang. Es war das Jahr des Herrn 1486. Es war der bisher größte Auftrag, zu dem Quirin seinen Meister begleitete.
Doch Quirin Klingseis, dreizehn Jahre alt, dachte nur an den Brandstifter. Der Mann war auf frischer Tat ertappt worden. Er hatte versucht, den Bischofspalast anzuzünden. Er würde zum Tod verurteilt werden. Er würde hängen.
Wieso also war in seinem Gesicht lediglich pure Erleichterung zu sehen gewesen?
Quirin war in seinem ganzen Leben nicht weiter aus seiner Heimatstadt Salzburg hinausgekommen als bis zu den bischöflichen Wäldern – Strecken, die man an einem Tag hin und zurück zu Fuß gehen konnte. Sein Vater hatte ihn einige Male mitgenommen, wenn er mit dem Forstaufseher über das Fällen von Birken oder Kiefern verhandelt hatte. Er hatte das Holz für seine Arbeit gebraucht. Schon am späten Vormittag war Quirin weiter von seiner Heimat entfernt als je zuvor. Er verspürte kein Heimweh. Stattdessen fühlte er eine Art Wehmut, dass nun nichts mehr so war wie früher.
Quirins Vater war Drechsler und stellte her, was immer er an Aufträgen bekam: Spinnräder, Werkzeugstiele, Stuhlbeine, Teller, Becher, Holznägel für Dachstühle, Zapfen für Chorgestühle, Knöpfe … nichts, womit man reich oder berühmt wurde. Seine Werkstatt war klein, in der Zunft, der Vereinigung aller Salzburger Drechsler, galt er nicht viel. Als Quirins älterer Bruder, der Erstgeborene, mit dem Wunsch gekommen war, das noch ganz neue Handwerk des Buchdrucks zu erlernen, anstatt die väterliche Werkstatt zu übernehmen, hatte der Vater keine Einwände gehabt. Die Werkstatt war für Quirin, den Zweitgeborenen, gut genug.
Quirin hätte nichts dagegen gehabt. Er liebte es, ein raues, roh behauenes Stück Holz so lange zu drehen, zu schleifen, zu drechseln, bis etwas Schönes daraus entstand, etwas, dessen Schönheit nicht nur in seiner Form, sondern auch in seiner Funktion bestand. Ein wie von selbst sich in die Hand schmiegender Werkzeugstiel besaß Schönheit; ein Spinnrad, das fast lautlos lief; ein Knopf, über den man immer wieder mit dem Finger strich, weil er so glatt war wie ein Edelstein.
Es war anders gekommen. Sein Leben galt nicht um seiner selbst etwas. Er war nur als Gegengewicht zu etwas nütze, damit sein Bruder in die Lehre gehen konnte. Sein Leben war nicht mehr als ein Stück Blei, das zufällig das richtige Gewicht besaß, um das Gold in der anderen Schale aufzuwiegen.
Quirins Bruder hatte eine Lehre bei Meister Lukas Guldenmund begonnen – als Buchdruckerlehrling. Schnell wurde klar, dass Quirins Vater das teure Lehrgeld nicht bezahlen konnte, nicht einmal, wenn er die Ersatzteile für Meister Lukas’ Druckerpressen gratis anfertigte. Schließlich hatte Meister Lukas vorgeschlagen, dass er beide Söhne in seine Obhut nehmen würde. Den älteren als Lehrling, den jüngeren als Hilfsarbeiter, der das Lehrgeld für den älteren mitverdiente. Meister Lukas hatte es ihnen vorgerechnet. Wenn man bedachte, was Quririns Vater an Lehrgeld zahlen konnte, die Ersatzteile mit eingeschlossen, und angesichts der Jugend und Unerfahrenheit und damit anfänglichen Wertlosigkeit von Quirins Arbeit, musste der Kontrakt zwanzig Jahre laufen.
Quirins Vater und Meister Lukas hatten sich die Hände geschüttelt.
Zwanzig Jahre sind, wenn man zwölf ist, eine lange Zeit. Sie sind wie ein ganzes Leben. Erst ein Jahr war seither vergangen. Quirin schien es, als seien es hundert.
Er erhielt einen groben Stoß in die Seite. »He, träumst du?«
Der eine der Gesellen – sein Name war Mertel – grinste ihn an. Der zweite Geselle – Endres – war bereits abgestiegen.
»Runter vom Wagen«, sagte Mertel. »Jetzt kommt ein steiles Wegstück. Die Pferde haben mit dem Wagen genug zu tun, da brauchen sie nicht noch deinen Hintern als Gewicht.«
»Auch wenn nicht viel dran ist an seinem Hintern«, kicherte Endres.
»Es ist überhaupt nicht viel an ihm dran«, bestätigte Mertel.
Meister Lukas trat zwischen den Pferden hervor. Er hatte das Geschirr überprüft, mit dem die Zugtiere und der schwere Wagen verbunden waren. »Ruhe«, grollte er. »Mertel, Endres, lauft voraus und räumt mögliche Hindernisse aus dem Weg.«
Die Gesellen nickten und liefen los. Die Straße stieg nicht übermäßig steil an, aber das Gewicht des Wagens war immens, und die Zugpferde mussten bis Admont durchhalten. Quirin konnte verstehen, dass Meister Lukas sie schonen wollte. Er spürte den Blick des Meisters auf sich ruhen.
»Wenn du dein Bruder wärst, würde ich sagen, du schiebst hinten an«, brummte der Buchdrucker. »Aber dein Bruder hat Schultern und Muskeln und nicht nur Haut und Knochen und ein dummes Gesicht.«
Mein Bruder, dachte Quirin, darf auch an der Druckerpresse arbeiten und den Schlitten schieben und den Presshebel ziehen. Aber er sagte nichts. Von der schweren Arbeit an der Druckerpresse bekam jeder Muskeln: die Gesellen, Meister Lukas’ Pressmeister und der Lehrling. Alle Angestellten waren so athletisch gebaut wie der Meister selbst – alle bis auf Quirin, der nutzlose Handlanger mit dem Zwanzig-Jahre-Kontrakt.
»Vielleicht hätte ich deinen Bruder mitnehmen und dich in der Werkstatt zurücklassen sollen«, knurrte Meister Lukas.
»Ich weiß es nicht, Meister«, sagte Quirin.
Er wusste es sehr wohl. Die bischöfliche Schreibstube hatte Meister Guldenmund schon vor Monaten einen Großauftrag erteilt. Wenn er nicht mit den Arbeiten in Verzug geraten wollte, musste er so viele Spezialisten wie möglich in Salzburg an der zweiten Druckerpresse zurücklassen. Der Pressmeister, den Meister Lukas angestellt hatte, verstand vom Drucken fast ebenso viel wie der Meister selbst, und zusammen mit Quirins Bruder und den restlichen drei Gesellen würde er die Arbeiten pünktlich abschließen. Quirin hingegen hätte in der Salzburger Werkstatt kaum etwas dazu beitragen können. Wenn die Druckmaschine im Wagen irgendwann laufen sollte, dann waren Quirins Handlangerdienste gefragt. Nur deshalb hatte Lukas Guldenmund ihn mitgenommen.
Meister Lukas wandte sich ab. »Sieh zu, dass du nicht unter die Räder kommst!«, sagte er.
»Ja, Meister.«
Der Meister stemmte sich selbst gegen die Rückwand des Wagens, als die Pferde anzogen. Quirin trottete neben den Zugtieren her und blickte sich um. Es war früher Nachmittag, die Flanken der Berge leuchteten im Sonnenschein und ragten über den sattgrünen Wäldern und Almen zu ihren Füßen auf wie die Zacken einer gewaltigen Krone.
Oder wie Zähne in einem weit aufgerissenen Kiefer, dachte Quirin.
Die steinernen Riesen flößten ihm einen Respekt ein, der an Angst grenzte. Sie waren schon immer da gewesen und würden noch da sein, wenn alle, die Quirin kannte, längst zu Staub zerfallen waren. Das Schicksal eines einzelnen Menschen war ihnen absolut gleichgültig. Wer auf ihren Pfaden wandelte, wandelte nicht in der Obhut von Freunden.
Quirin war froh, dass es die Straße gab. Er stellte sich vor, wie es wäre, sich den Bergpfaden anvertrauen zu müssen, und spürte einen Schauder seinen Rücken hinaufkriechen.
Sie folgten der Straße nach Süden. Es war eine der Salzstraßen, die das Reich durchzogen. Hauptsächlich wurde sie von den Salzhändlern genutzt. Man nannte sie auch Salzsender; zehn Monate im Jahre waren sie mit ihren Frachtwägen unterwegs durch das Reich. Salz war eines der wichtigsten Güter überhaupt und so teuer wie Gold. Nur die Reichen konnten sich leisten, ihr Brot und ihre Speisen damit zu würzen. Aber auch die Armen hatten Salz bitter nötig – um ihre Vorräte damit haltbar zu machen.
Das Salz hatte Salzburg reich gemacht. Mehrere Salzstraßen führten durch die Stadt. Und weil die Stadt reich war, war auch der jeweilige Bischof reich. Erzbischof Johann Beckenschlager, bekannt als Johann III., gehörte zu den reichsten der bisherigen Salzburger Erzbischöfe, obwohl er das Geld mit vollen Händen ausgab. Die Frommen unter den Salzburger Patriziern hielten ihn für zu weltlich, die Reichen für zu prunksüchtig, die Nicht-ganz-so-Reichen für zu verschwenderisch.
Purer Neid gegenüber dem größeren Geist, hatte Meister Lukas einmal abfällig gesagt, der selbst von den Aufträgen der bischöflichen Schreibstube sehr gut lebte. Quirin hatte nicht widersprochen. Der Bischof war für ihn so weit entfernt wie der Kaiser im fernen Graz – oder der türkische Sultan oder der Herrscher des sagenhaften China. Wenn Meister Lukas der Meinung war, dass der Bischof ein aufrechter Mann war und alle, die schlecht über ihn redeten, nur Neidhammel, dann war es wohl auch so. Sicher war nur eines: Unter der Regierung von Erzbischof Johann Beckenschlager gedieh die Stadt und mehrte ihren Wohlstand und damit auch den des Erzbischofs jeden Tag ein bisschen mehr.
Die Via Salaria, die Straße, die von Salzburg aus nach Norden bis nach Lübeck und nach Süden bis nach Rom und noch weiter führte, war gut in Schuss. Sie war die größte und wichtigste aller Salzstraßen und wurde entsprechend gewartet. In jedem größeren Ort, durch den sie führte, war neuerdings eine Truppe von Landsknechten stationiert. Zusammen mit den Rittern, deren Burgen in der Nähe der Straße lagen, sorgten sie für die Sicherheit der Salzlieferungen. Seit Jahren fielen immer wieder türkische Soldaten, aus dem eroberten Bosnien kommend, in Kärnten, der Steiermark und Krain ein. Doch die vielen Wachposten schreckten alles Gesindel ab, und dementsprechend ereignislos war die Reise. Die ständigen Kontrollen ihrer Reisedokumente durch Landsknechtsabteilungen oder Waffenknechte eines Ritters waren noch das Aufregendste. Erst als sie die Via Salaria verließen und bei einer Ortschaft namens Taxen in das Ennstal abbogen, begannen die Schwierigkeiten.
Die Straße kletterte vom Flusslauf der Enns die Hügelflanken hinauf und führte an ihnen entlang, auf langen Strecken der Sonne ausgesetzt. Steil ragten die Berge zu ihrer Linken auf, und zur Rechten fiel das Gelände ebenso steil ab. Die Räder des breiten Wagens rumpelten für Quirins Geschmack viel zu häufig hart am Straßenrand dahin; in Biegungen konnte es passieren, dass das rechte Hinterrad ein paar Schritte ins Freie hing, bevor es die Straße wiederfand. Die Enns schäumte fünfzig oder mehr Mannslängen unter ihnen dahin, schlammig braun und grün, noch angeschwollen von der Schneeschmelze. Zuweilen sah Quirin die Überreste von Wägen zwischen den Uferfelsen liegen und dazwischen, weiß und ausgebleicht, die Knochen der Zugtiere, die die abstürzenden Wägen mit ins Verderben gerissen hatten.
Bei Dörfern, Fähren, Zollstellen, Furten und Wetterstädeln führte die Straße hinab zum Fluss, nur um danach wieder auf die alte Höhe hinaufzukriechen. Die meiste Zeit wanderten der Meister, die Gesellen und Quirin hinter oder vor dem Wagen her, steile Anstiege hinauf, steile Abstiege hinunter, schwitzend, keuchend und die dünnen Ledersohlen ihrer Schuhe verfluchend, durch die sie jeden Stein auf dem Weg spürten. Sie tranken das schale Wasser aus den Lederschläuchen, weil die Enns noch zu verunreinigt war, und aßen dreimal am Tag geräuchertes Fleisch zum kalten Haferbrei, bis ihnen die Kost zum Hals heraushing.
Es dauerte neun lange Tage, und sie waren völlig erschöpft, als sie endlich an einem frühen Nachmittag in Admont ankamen. Und dort fing der Ärger erst richtig an.
Antonius Gratiadei, der Abt des Klosters Admont, war ein hagerer, sehr großer Mann mit einem ernsten, hohlwangigen Gesicht und schwarz glühenden Augen. Er sprach mit einem weichen, fast singenden Akzent. Auf der Reise nach Admont hatte Quirin aufgeschnappt, dass der Abt ursprünglich aus Venedig stammte und dass seine Ernennung vor drei Jahren auf Druck von Kaiser Friedrich III. geschehen war. In den Jahren zuvor hatte sich Antonius Gratiadei als Diplomat im kaiserlichen Dienst hervorgetan.
Das Amt des Abtes verlieh große Macht und war offiziell dem eines Bischofs so gut wie gleichgestellt. Macht speist sich nicht zuletzt aus Reichtum – und da das Kloster Admont viele Salzbergwerke sein Eigen nannte und daher immens reich war, war auch Abt Gratiadei immens mächtig und musste niemandem außer dem Kaiser und dem Papst Rechenschaft ablegen. Damit das auch so blieb, führte er ein straffes Regiment in der Abtei und kontrollierte die Ausgaben und Einnahmen persönlich. Erzbischof Johann Beckenschlager in Salzburg hatte sich den Venezianer sicher ebenso wenig als nächsten Nachbarn gewünscht wie die Admonter Mönche ihn sich als ihren ehrwürdigen Vater.
Abt Antonius hatte seine gewaltige Handschriftensammlung nach Admont mitgebracht und die dort vorhandene Sammlung damit ergänzt. Nun war die Admonter Bibliothek die prächtigste und wertvollste weit und breit. Er hatte Meister Lukas den Auftrag gegeben, die wichtigsten Werke aus dieser Bibliothek nachzudrucken. Jede der Handschriften war unersetzlich und existierte nur ein einziges Mal. Mit dem Nachdruck wollte der Abt sicherstellen, dass der Inhalt nicht verloren ging. Die wichtigsten Werke – das waren gut hundert Manuskripte. Der Auftrag würde viele Wochen in Anspruch nehmen. Bezahlt wurde er aus dem Klosterschatz. Dies war einer der Gründe, warum die Admonter Mönche mit ihrem Vorsteher nicht zufrieden waren. Sie hatten das Gefühl, er verschwendete das Geld des Klosters für seine private Leidenschaft und dachte viel zu weltlich.
All das hatte Quirin erfahren, indem er still gewesen war und den Unterhaltungen der drei Erwachsenen gelauscht hatte. Es war erstaunlich, was man alles erfuhr, wenn man die anderen reden ließ und dabei gut zuhörte.
Als sie mit dem Wagen durch das Klostertor rumpelten, lief einer der Klosterknechte los und meldete ihre Ankunft. Der Abt kam persönlich, um sie zu begrüßen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Meister Lukas den hinteren Wagenverschlag bereits geöffnet, war hineingeklettert, war wieder herausgekommen, hatte einen ellenlangen Fluch gezischt und dann hastig den Verschlag geschlossen, als er den Abt mit ein paar weiteren Mönchen heraneilen sah. Mertel und Endres wechselten verstörte Blicke, bevor sie alle vier vor dem Abt niederknieten. Irgendetwas stimmte nicht …
Antonius Gratiadei bedeutete Meister Lukas, wieder aufzustehen. Quirin und die Gesellen blieben auf den Knien. Der Klostervorhof, über dem sich der Klausurbereich des Klosters erhob – die Gebäude, in die nur die Klosterbrüder und die engsten Bediensteten des Abts eintreten durften –, war nicht gepflastert. Kleine Steinchen drückten sich schmerzhaft in Quirins Knie, und er versuchte unauffällig, sein Gewicht so zu verlagern, dass nicht immer die gleichen Stellen wehtaten.
»Ich bin sehr gespannt darauf, Eure Druckmaschine mit eigenen Augen zu sehen«, sagte der Abt mit tiefer Stimme in seinem venezianischen Singsang: »Ischä binnä sehr gespanntä …«
»Ja«, sagte Meister Lukas und erwiderte den Blick des Abtes wie ein Kaninchen den Blick einer Schlange. »Äh … große Ehre, Ehrwürdiger Vater … äh …«
Er machte keinerlei Anstalten, den Verschlag wieder zu öffnen und dem Abt die Druckerpresse zu zeigen. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Er lächelte so angestrengt wie einer, dessen Leben davon abhängt.
Quirin wusste aus eigener Erfahrung, dass Meister Lukas, so eifersüchtig er das Geheimnis seiner Presse vor den Augen der Normalsterblichen hütete, begeistert mit seiner Erfindung angab, wenn Auftraggeber oder wichtige Personen zugegen waren. Warum ließ er ausgerechnet den Abt keinen Blick darauf werfen?
Abt Antonius schien sich das Gleiche zu fragen. Er musterte das eingefrorene Grinsen des Meisters ein paar Herzschläge lang, dann deutete er auf den Wagen. »Ist sie da drin?«
»Ja«, erwiderte Meister Lukas und bewegte sich keinen Zoll in Richtung Wagenverschlag. »Ist sie, ehrwürdiger Vater.«
»Und … ahem … sie ist einsatzbereit?«
»Sobald wir sie in die Bibliothek geschafft haben, Ehrwürdiger Vater.«
Der Abt bewegte sich seitwärts, als wollte er an Meister Lukas vorbeigehen. Meister Lukas bewegte sich mit ihm und verstellte ihm den Weg. Er lächelte so angestrengt, dass sein Bart zitterte. »Eine große Ehre, ehrwürdiger Vater«, wiederholte er mit allen Anzeichen der Verzweiflung.
Quirin spürte die Blicke des Abts über sich und die beiden Gesellen streifen, um dann zum bleichen Gesicht des Meisters zurückzukehren. Erneut musterte der Klostervorsteher den Buchdrucker einige schweigende Herzschläge lang. Schließlich schien er fürs Erste aufzugeben. Wahrscheinlich dachte er, dass Meister Lukas, wenn er wirklich das Genie war, als das er sich immer ausgab, das Recht hatte, ein bisschen merkwürdig zu sein. Quirin hingegen wusste genau, dass der Meister ein trockener, höchst vernünftiger und normalerweise geradezu schmerzhaft unmerkwürdiger Mann war. Was nur hatte Lukas Guldenmund im Wagen entdeckt?
»Na gut, verehrter Meister. Wisst Ihr bereits, wie lange Ihr für den Auftrag brauchen werdet?«
Meister Lukas entspannte sich sichtlich. Seine Rede wurde flüssiger. »Nun, ehrwürdiger Vater, das kann ich erst mit Sicherheit sagen, wenn ich die Handschriften gesehen habe. In welchem Zustand sind sie, ist die Schrift leserlich, hat der Schreiber mit Abkürzungen gearbeitet, die wir erst entschlüsseln müssen, sind sie vollständig … um eine Seite zu drucken, muss man sie zunächst verstehen, Ehrwürdiger Vater.«
»Das heißt, Eure Helfer können alle lesen?«
»Nur die Gesellen«, erklärte Meister Lukas. »Er hier«, ein Daumen deutete auf Quirin, der hastig den Kopf senkte, »hat es nicht gelernt.«
»Zu faul?« Quirin glaubte Verachtung aus der Frage des Abts herauszuhören.
»Zu dumm. Er ist nur für Hilfsarbeiten zuständig.«
Erneut senkte sich sekundenlanges Schweigen über die Gruppe. Der Abt erwartete offensichtlich, endlich die Druckerpresse vorgestellt zu bekommen, und Meister Lukas hoffte ebenso offensichtlich, dass der Abt endlich verschwand.
»Na gut«, sagte der Abt zuletzt. »Braucht Ihr Hilfe, Meister Lukas?«
»Nein, danke, Ehrwürdiger Vater. Wir schaffen es allein. Äh … ich lasse Euch benachrichtigen, wenn die Maschine einsatzbereit ist, ja? Ihr … Ihr wollt Euch ja sicher nicht mit den niederen Tätigkeiten des Aufstellens und Vorbereitens langweilen …?«
Endlich stapften der Abt und seine Begleiter davon. Meister Lukas sah sich um, als wäre er gerade aus einem besonders schlechten Traum erwacht. Quirin und die Gesellen knieten immer noch auf dem Boden.
»Steht schon auf, Himmeldonnerwetter!«, zischte der Meister. Er riss den Wagenverschlag auf.
»Was ist denn los, Meister Lukas?«, fragte Mertel.
Quirin blickte ins dunkle Wageninnere und sah es sofort. Er warf Lukas Guldenmund einen Seitenblick zu. Der Meister hatte alle Finger einer Hand im Mund und kaute verzweifelt auf den Fingernägeln.
Die beiden mächtigen Holzsäulen, zwischen denen die Presse aufgehängt wurde, waren an beiden Seiten des Wagens auf dem Boden festgezurrt. Dies war das eine Geheimnis von Meister Lukas’ Druckerpresse: Sie ließ sich zerlegen und so über jede denkbare Strecke transportieren. Wegen der gewaltigen Kräfte, die beim Buchdruck auf die ganze Konstruktion wirkten, war es bislang niemandem gelungen, eine zerlegbare Presse zu konstruieren. Aber Meister Lukas hatte es geschafft.
Doch all das nützte ihm jetzt nichts. Eine der beiden Tragsäulen, zwischen denen die Pressvorrichtung aufgehängt wurde – Meister Lukas nannte sie »Wangen« – war geborsten. Ein klaffender Spalt zog sich durch die Hälfte ihrer Gesamtlänge. Das Holz musste zu frisch gewesen sein und gearbeitet haben. Sie würde keinen einzigen Druckvorgang aushalten.
Sie hatten verspielt. Der Auftrag war beendet, bevor er begonnen hatte. Wenn nicht …
»Wir sind verloren …«, stöhnte der Meister. »Davon erholt sich meine Werkstatt nie!«
»Ich krieg das hin«, sagte eine helle Stimme. Quirin war selbst am meisten erstaunt, als er feststellte, dass es seine eigene gewesen war.
Und das soll halten?«, fragte Meister Lukas. Er schwankte zwischen Hoffnung und Misstrauen.
»Nicht für ewig«, erwiderte Quirin. Er konnte kaum sagen, woher er wusste, dass seine Lösung die richtige war. Aber er wusste es. »Aber bis Ihr aus Salzburg eine neue Säule herbeischaffen lassen könnt, wird es halten.«
Quirin hatte dem Meister und den Gesellen seinen Plan erläutert, während sie gemeinsam die Einzelteile der Presse abluden. Die meisten Teile waren in dicke Lederpacken eingeschlagen, um sie vor Stößen und neugierigen Blicken zu schützen. Abt Antonius wollte die Funktionsweise der Druckerpresse so schnell wie möglich sehen. Also musste sie funktionieren. Ein paar kleine Blätter würden reichen, am besten welche, in die nur wenige Buchstaben gedruckt werden mussten, damit mehr Platz für Illustrationen blieb. Diese würden die Illuminatoren, die Buchstabenmaler des Klosters, nachher mit Feder, Tinte und Farben einzeichnen. Nach dieser Demonstration würde die Presse erst einmal stillstehen, weil die Handschriften zunächst entziffert werden mussten. Wenn sie sich damit Zeit ließen und dem Abt nur hin und wieder eine halb leere Seite präsentierten, dann konnten sie ihn so bei Laune halten und mit der beschädigten Presse über die Runden kommen, bis Ersatz aus Salzburg herangeschafft war.
Derweil konnte Mertel oder Endres mit einem der Wagenpferde schnellstens zurückreiten und die Herstellung und den Transport einer neuen Säule überwachen. Quirin schätzte, dass sie nur drei bis vier Wochen überbrücken mussten.
»Und so lange«, bekräftigte er, »wird die Wange hier halten.«
Meister Lukas fuhr sich unwirsch durchs Haar. Ihm war anzusehen, dass er Quirins Fertigkeiten misstraute. Schließlich riss er sich zusammen. Er streckte das Kinn vor, sodass sein Bart nach vorn stand wie eine Schaufel. »Wenn das nicht klappt oder wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen von all dem verrätst«, drohte er Quirin, »schick ich dich zu Fuß nach Hause und setze deinen Bruder auch noch mit vor die Tür.«
Danach trugen der Meister und die Gesellen die zerlegte Druckerpresse in die Bibliothek und begannen sie so weit zusammenzubauen, wie es eben ging. Quirin, der normalerweise derjenige war, der schleppen und schuften musste, machte sich stattdessen an der geborstenen Säule zu schaffen.
Er nahm einen der Ersatzhebelarme, mit denen die Spindelpresse der Maschine nach unten bewegt wurde, und schnitzte ihn vierkantig zu. Der Hebel war aus hartem Eichenholz und sehr widerstandsfähig. Als Quirin damit fertig war, läuteten die Vesperglocken des Klosters zu Abend. Er versenkte sein Werkstück in einem der langen Steintröge im Klostervorhof, die als Viehtränke dienten, dann hielt er seine Hände eine Weile in das angenehm kalte Wasser. Seine Handflächen waren wund und an einigen Stellen hatte er sich Blasen geholt. Es war nicht einfach gewesen, den Hebelarm zuzuschnitzen.
»Wann wäschst du den Rest?«, fragte jemand neben ihm. Quirin blickte überrascht hoch. Ein Mädchen war zur Tränke getreten. Auf ihrem Rücken trug sie eine geflochtene Kippe mit hoch aufgetürmtem frischen Heu. Quirin roch den Duft von Wiesenkräutern, das Heu musste von der ersten Mahd einer Kräuterwiese stammen. Sicher kam das Mädchen von einem der Höfe, die von Pachtbauern für das Kloster bewirtschaftet wurden. Das wertvolle, nahrhafte Heu war vermutlich für die Pferde des Abts gedacht.
»Was für einen Rest?«, fragte er.
»Das Gesicht. Die Füße. Und was sonst noch so alles an dir stinkt.«
»Ich stinke nicht«, sagte Quirin empört und hoffte gleichzeitig, dass das auch stimmte. »Und ich wasche nicht, ich kühle.«
Das Mädchen schnaubte spöttisch. Ihr Haar war blond, aber so von der Sonne und dem Leben draußen gebleicht, dass es fast weiß wirkte. Dafür war ihre Haut im Gesicht und an den Unterarmen, wo sie die Ärmel ihres einfachen Kittels zurückgeschoben hatte, tief gebräunt. Sie war Quirin auf Anhieb unsympathisch.
Sie deutete auf den Wagen, von dem nur noch der Boden mit den beiden Achsen und den großen Rädern übrig war; alles andere hatten der Meister und die Gesellen bereits zerlegt. »Gehörst du zu dem Buchdrucker? Das halbe Tal spricht seit Wochen von nichts anderem.«
»Ja«, sagte Quirin mit genau dem richtigen Quäntchen an Herablassung, das der Angehörige eines so geheimnisvollen Gewerbes wie des Buchdrucks einer unwissenden, sonnenverbrannten Bauernmagd entgegenzubringen hatte. Obwohl die Bauernmagd gar nicht so hässlich aussah, wie sie ihn jetzt so mit vor Ehrfurcht aufgerissenen Augen anblickte.
»Toll!«, sagte sie. Sie war tatsächlich, wenn man es recht bedachte, sogar sehr hübsch.
»Das ist keine Arbeit für jedermann«, erklärte Quirin und zuckte dabei lässig mit den Schultern.
»Dann kannst du sicher …« – sie betonte das nächste Wort, als würde sie sagen: Mit den Tieren sprechen! Mit den Armen schlagen und in den Himmel fliegen! Sterne vom Himmel pflücken! – »… lesen?«
»Äh …«, machte Quirin.
»Ich will mal einen Mann, der lesen kann. Wer nicht lesen kann, ist ein dummer Ochse«, sagte sie.
So hübsch war sie eigentlich doch nicht. Die vielen Sommersprossen … und die vollen roten Lippen … viel zu derb, wenn man genau hinsah …
»Natürlich kann ich lesen«, log Quirin.
»Bringst du’s mir bei?«
»Ich werde wohl kaum Zeit haben …«, erklärte Quirin würdevoll, »neben meiner Arbeit einem Mädchen das Lesen beizubringen.«
»Warum nicht? Du arbeitest doch nicht Tag und Nacht!«
»Selbstverständlich arbeite ich Tag und Nacht.«
»Dann kannst du ja nicht so gut sein, wie du tust. Wer richtig gut ist, braucht für seine Arbeit nicht so lange.«
»Äh …«, machte Quirin zum zweiten Mal und hasste sich dafür.
Sie lächelte ihn an. »Gib halt nicht so an«, sagte sie freundlich. »Und bring mir das Lesen bei. Bitte!«
Quirin fiel wieder ein, dass der zugeschnitzte Hebelarm nicht zu lange im Wasser liegen durfte. Er sollte aufquellen, aber erst, wenn er ihn an Ort und Stelle eingefügt hatte. Wenn er vorher zu stark quoll, war die ganze Arbeit umsonst.
»Ich muss jetzt weitermachen«, beschied er dem Mädchen, holte sein Werkstück aus dem Trog und machte, dass er wegkam. Er hörte, wie sie ihm etwas hinterherrief, aber er ignorierte sie.
Den größten Teil der Nacht brachte Quirin damit zu, mit einem Handbohrer geduldig ein fast fauststarkes Loch quer durch die beschädigte Wange zu bohren, eine Handbreit über der Stelle, an der der Spalt begann. Dann schlug er den vierkantigen Holzstab, den er angefertigt hatte, in das Loch, bis er an beiden Seiten herausschaute. Der ehemalige Hebel war jetzt ein hölzerner Nagel.
»Der Holznagel wird noch weiter aufquellen«, erklärte er danach, »und sich so fest in dem Loch verkeilen, dass er den Spalt zusammenhält. Wichtig ist nur, dass wir alles ständig feucht halten, weil auch das Holz der Säule aufquellen muss. Wir müssen also immer wieder Wasser drüber gießen.«
Meister Lukas wiegte den Kopf. »Wie sollen wir dem Abt erklären, dass wir einen Eimer Wasser neben der Presse stehen haben – in seiner kostbaren Bibliothek, die vom Wasser ebenso beschädigt werden kann wie vom Feuer?«
»Wir sagen ihm, dass der Wassereimer eine Vorsichtsmaßnahme ist, falls die Druckerpresse Feuer fängt.«
»Meine Druckerpresse fängt kein Feuer!!«, jaulte der Meister.
»Aber das weiß der Abt nicht.«
»Ich hab’s dir schon mal gesagt«, knurrte der Meister. »Wenn das schiefgeht, mach ich dich verantwortlich.«
Als sie endlich mit dem Aufbau fertig waren, sickerte bereits das Morgenlicht durch die schmalen, hohen Fenster der Bibliothek.
Die beiden Wangen standen aufrecht, oben durch einen Querbalken, die »Krone«, verbunden. In Hüfthöhe war ein weiterer Querbalken eingehängt. Er trug die Schienen, auf denen der Karren fuhr. Das war ein Schlitten, der mithilfe von Gurten und einer schwer beweglichen Kurbel unter die Presse gefahren wurde. Die Presse war eine dicke Holzplatte, der »Tiegel«, und war unten an einer mächtigen Schraube, der »Pressspindel«, befestigt. Die Platte drückte das Papier von oben gegen die mit Farbe bestrichene Druckform, die auf dem Karren lag. Das Papier wiederum wurde in einen Rahmen eingespannt und mit dessen Hilfe sauber und gerade über die Druckform geklappt, bevor der Druckvorgang begann. Es hörte sich ganz einfach an, doch für Quirin war es immer noch ein Wunder.
Ein Wunder, denn am Ende dieses Vorgangs entstand ein mit sauberen, gestochen scharfen Buchstaben bedrucktes Blatt Papier, das für alles das stand, was Quirin nie gelernt hatte und was – glaubte man dem überaus hässlichen Mädchen mit der Heukippe – einen dummen Ochsen ausmachte, wenn man es nicht beherrschte: das Lesen.
Von der Druckerpresse war jetzt nicht mehr viel zu sehen; die Holzverkleidung des Wagens, der sie hergebracht hatte, verbarg die meisten Einzelheiten. Dies war das zweite Geheimnis, mit dem Meister Lukas seine Arbeit umgab. Ein Zuschauer sah nur, wie das Blatt Papier in den Rahmen gespannt wurde, er hörte das Rumpeln des Schlittens, sah die Gesellen abwechselnd den Hebel betätigen und wie sich ihre Muskeln von der Anstrengung unter dem Hemd wölbten, hörte das Holz knarren, fühlte die ganze Presse erzittern … und dann glitt der Karren wieder aus der Verkleidung heraus, und der Meister zog das fertige Blatt hervor und übergab es seinem staunenden Kunden.
Vom Staunen des Kunden bekam Quirin in der Regel nichts mit. Während des Druckvorgangs befand er sich innerhalb der Verkleidung der Presse und hatte darauf zu schauen, dass sich nichts verkeilte oder verklemmte. Er musste auf beginnende Risse im Holz achten und immer wieder die Pressspindel mit Tran nachfetten. Bei Letzterem musste er höllisch aufpassen und sich dem Rhythmus des Druckens anpassen. Hatte er seine Finger noch an der Schraube, wenn der Zug am Hebel sie nach unten drehte, wurden sie ihm abgeklemmt und zerquetscht. Keiner der Gesellen – oder der Pressmeister zu Hause in Salzburg – machte sich die Mühe, »Achtung« zu rufen, wenn er die Presse betätigte. Es war Quirins eigene Verantwortung, auf seine Finger aufzupassen. Was die Funktionsweise der Druckpresse betraf – dafür gab es ein dickes, ebenfalls gedrucktes Buch, das Quirin zwar nicht lesen konnte, das aber mit einer Handvoll Zeichnungen versehen war. Zu jeder der beiden Druckpressen gehörte ein solches Buch. Es hing in einer Leinentasche, die an den unteren Verbindungsbalken zwischen den Wangen genagelt war.
Meister Lukas rieb sich die Augen und gähnte, dann gab er Quirin einen Klaps auf den Hinterkopf, der ausnahmsweise nicht ganz so grob ausfiel. »Rein mit dir in die Maschine«, brummte er. »Schauen wir, was sie aushält, bevor wir den Abt holen.«
Quirins Hilfskonstruktion hielt, was er versprochen hatte – beinahe. Nach den ersten Probedrucken für den Abt zeigten sich Risse in dem Holznagel, zu dem Quirin den Hebelarm umgebaut hatte.
»Ich wusste, das funktioniert nicht!«, schimpfte Meister Lukas. »Wie konnte ich mich nur auf so einen dämlichen Vorschlag einlassen!«
Doch noch bevor er ausholen und Quirin einen seiner Schläge auf den Hinterkopf geben konnte, rief dieser: »Weil auch das Holz für den Hebelarm zu frisch war, Meister!«
»Natürlich war es frisch. Ich habe einiges speziell für diesen Auftrag neu anfertigen lassen!«
»Wir haben doch noch zwei Ersatzhebel dabei. Lasst mich einen davon an der Maschine anbringen und den alten als Holznagel zurechtschnitzen. Sein Holz ist nicht mehr frisch und wird halten.«
»Und wenn dann der Ersatzhebel abbricht? Dann stehen wir ohne da!«
»Wer immer nach Salzburg zurückreitet, um die neue Wange in Auftrag zu geben, kann doch ein paar Ersatzhebel aus der Werkstatt mitbringen.«
Widerstrebend willigte Meister Lukas ein. Quirin verbrachte viele weitere Stunden damit, das beinharte Holz des alten Hebelarms zurechtzuschnitzen. Im Morgengrauen stand er gähnend und mit vor Anstrengung zitternden Händen einmal mehr an der Pferdetränke im Vorhof, wo er Holz und Hände in das eiskalte Wasser tauchte und wohlig seufzte.
Das Wohlgefühl verschwand, als er das Bauernmädchen zusammen mit anderen Frauen und Mädchen durch das Klostertor treten sah. Sie brachten Körbe voller Brot und schienen die Klosterbackstube zu beliefern. Offenbar bestand ihre Zinsleistung – die Abgabe, die sie dem Kloster dafür zu bezahlen hatten, dass sie dessen Felder und Almwiesen bewirtschaften durften – nicht nur in der Lieferung von Heu. Die Männer, Söhne und Knechte mussten zusätzlich Arbeitsdienste für das Kloster verrichten: Dackdeckerarbeiten, mauern, die Latrine leeren, den Klostergarten umgraben und dergleichen mehr. Die Frauen, Töchter und Mägde buken, pökelten Fleisch und Gemüse ein, spannen und webten. Auf diese Weise blieb ihre Welt im Gleichgewicht. Die Pächter hatten vor lauter Arbeit keine Zeit zum Beten, daher beteten die Mönche, derentwegen sie so viel Arbeit hatten, für ihr Seelenheil.
Das blonde Mädchen entdeckte Quirin. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht und Quirin blickte schnell weg. Doch als er eine herrische Männerstimme »Aus dem Weg, Weibsbilder!« schnarren hörte, sah er unwillkürlich wieder auf.
Ein Reiter kam mit einem weiteren Pferd, das er am Zügel führte, zum Tor hereingetrabt. Er trug lederne Sachen mit hohen Stiefeln und eine lederne Kappe, an der eine lange Pfauenfeder wippte. Auffälliger als er waren jedoch die Pferde – zwei große, dunkle Rösser, breit gebaut und mit schweren Hufen, deren Mähnen und Schweife kunstvoll zu Zöpfen geflochten waren. Ihr Fell schimmerte im frühen Morgenlicht wie Seide. Jemand musste Stunden damit zubringen, es täglich zu pflegen.