ROB BOFFARD
VERSCHOLLEN
ROMAN
Aus dem Englischen übersetzt
von Bernhard Kempen
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgabe
ADRIFT
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 2018 by Rob Boffard
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe und der
Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-24075-2
V001
www.diezukunft.de
Das Buch
Wegen ihres spektakulären Ausblicks auf den Pferdekopfnebel ist Sigma Station das beliebteste Urlaubsziel der gesamten Galaxis. Außerdem ist sie der neue Arbeitsplatz von Hannah Elliot. An ihrem ersten Tag soll die junge Reiseführerin eigentlich nur eine kleine Gruppe von Touristen bei ihrem Rundflug auf der Red Panda, einem abgetakelten Ausflugsschiff, begleiten. Doch kaum hat die Red Panda den Raumhafen von Sigma Station verlassen, passiert das Unvorstellbare: Aus dem Nichts taucht ein unbekanntes Raumschiff auf und zerstört die Raumstation. Wie durch ein Wunder gelingt es der Pilotin, die Red Panda aus der Schusslinie zu halten, doch nun sind die Menschen an Bord mutterseelenalleine in den Weiten des Alls – und auf der Flucht vor den Angreifern …
Der Autor
Rob Boffard wurde in Johannesburg, Südafrika, geboren und verbringt seine Zeit als Autor zwischen London, Vancouver und Johannesburg. Als Journalist hat er in mehr als zwölf Ländern Artikel veröffentlicht, unter anderem in The Guardian und Wired. Außerdem ist er regelmäßiger Kolumnist auf diezukunft.de
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Für Cat
1
Rainmakers Head-up-Display ist ein Albtraum.
Die Alarmmeldungen kommen schneller herein, als sie sich ausblenden lassen. Verschlusszustandsanzeigen. Annäherungswarnungen. Treibstoffwerte. Sie werden von ihrem Neurochip erstellt und erscheinen genau vor ihren Augen.
Die Welt außerhalb des Cockpits ihres Kampfjets ist ein Gewimmel aus dahinrasenden Raketen und schlingernden Raumschiffen. In der Ferne detoniert ein Atomsprengkopf an einer Fregatte, ein Sonnenbaby, das sich ins Leben kämpft. Dahinter schimmert der Pferdekopfnebel.
Rainmaker reißt ihr Schiff von der Hitzewelle zurück, lässt es mit präzisen, kontrollierten Gedanken tanzen. Dabei erhält sie einen Rundumblick auf die Schlacht: eintausend Scorpion-Kampfjäger der Frontier, die sich gegenseitig in einer Arena vernichten, die von den schwerfälligen Fregatten begrenzt wird.
Die Streitkräfte der Kolonie dachten, sie könnten das Gebiet rund um Sigma Orionis halten. Sie wollten die Kontrolle über das Sprungtor übernehmen und jeden Verkehr in diesen Sektor unterbinden. Sie rechneten nicht mit einem frühen Sieg bei Proxima, durch den ein Drittel der Frontier-Flotte verfügbar wurde, und nun werden sie in die Enge getrieben und kämpfen ums nackte Überleben.
Vielleicht ist dies die alles entscheidende Schlacht. Vielleicht können die Kolonien nun endlich gestoppt werden.
Rainmaker hat sich immer weiter von der Hauptkampfzone entfernt und nähert sich dem Rand des Sektors. Ihre Zielsysteme spüren einen einsamen Feind auf: einen schwarzen Kampfjäger der Kolonien, der auf sie zurast. Sie will feuern, doch dann hält sie inne und unterbricht ihren Gedankengang.
Etwas stimmt hier nicht.
»Zentrale, hier ist Rainmaker.« Trotz des Chaos klingt ihre Stimme ruhig. »Ich habe den Gegner erfasst. Warum ist er allein? Ende.«
Die Antwort kommt abgehackt und drängend. »Rainmaker, hier Frontier-Zentrale: Ausweichkurs, Ausweichkurs. Keine Kampfhandlung! Mehrere Einheiten nähern sich Ihnen von hinten. Sie versuchen Ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Ende.«
Rainmaker verzichtet auf eine Bestätigung. Ihre Radarsysteme wurden zu Anfang der Schlacht beschädigt, und nun muss sie sich darauf verlassen, dass die Zentrale sie vor den Banditen warnt, die sie nicht sehen kann. Sie schaltet die Zielerfassung aus und dreht mit ihrem Kampfjäger ab, während immer mehr Warnungen auf ihrer Konsole erblühen. »Twin, Blackbird, irgendwer. Ich habe hier mehrere Gegner und brauche den Abschleppdienst, Ende.«
Die sarkastische Stimme eines Flügelmanns ihres Geschwaders kommt über Funk herein. »Kommst du nicht allein mit ihnen klar? Ich bin enttäuscht.«
»Kein guter Moment, Omen«, antwortet sie und lässt ihre Triebwerke glühen. »Könnt ihr mir helfen oder nicht? Ende.«
»Negativ. Wir haben es hier mit drei Kunden zu tun. Stell dich in die Schlange.«
Eine zweite, ältere Stimme meldet sich über Komm. »Rainmaker, hier ist Blackbird. Wie ist deine Position? Ende.«
Ihr Neurochip versteht die Worte und lässt die Daten auf ihrem Display erscheinen, während sie gleichzeitig an Blackbird geschickt werden. »Quadrant einunddreißig«, stößt sie trotzdem durch die zusammengebissenen Zähne hervor.
»Roger«, sagt Blackbird. »Ich hab sie. Einen Moment noch. Ich werde sie für dich … Scheiße, ich wurde getroffen! Ich …«
»Eric!«, ruft Rainmaker ihn bei seinem richtigen Namen. Ihre Stimme ist so laut, dass der Kanal übersteuert wird. Aber Blackbird ist bereits fort. Ein Impactor saust an ihr vorbei, so nahe, dass sie die Brandspuren vom Start auf der Oberfläche erkennen kann.
»Zentrale, Rainmaker«, sagt sie. »Bestätigen Sie Blackbirds Position. Ich habe den Kontakt verloren!«
Die Zentrale antwortet nicht. Es hätte ohnehin keinen Sinn. Diese Leute bekämpfen tausend Brandherde gleichzeitig und geben Empfehlungen an Hunderte von Scorpion-Kampfjägern weiter. Vergiss die Rufzeichen, die auf Anweisung von oben benutzt werden sollen. Blackbird ist nur eine Nummer für
sie, genauso wie Rainmaker, und wenn sie nicht sofort etwas unternimmt, wird sie genauso enden wie er.
Sie dreht ab und zwingt die zwei sie verfolgenden Kampfjäger der Kolonien, sich ihr frontal zu stellen. Sie sind eine größere Gefahr als die einzelne Einheit vor ihr. Jetzt nähern sie sich von elf und ein Uhr, nehmen Kurs auf sie und eröffnen bereits das Feuer. Sie beschleunigt das Schiff, zielt auf die winzige Stelle in der Mitte, um rechtzeitig durch die Lücke zu kommen, bevor die Impactors sie ausschalten können.
»Den Faden durchs Nadelöhr«, flüstert sie. »Na los, zieh den Faden durchs …«
Alles erstarrt.
Die Schlacht verstummt.
Und ein rot blinkender Kasten mit einer Fehlermeldung erscheint über einer Rakete.
»Oh. Ähm.« Hannah Elliots Stimme unterbricht die Stille. »Tut mir leid, meine Damen und Herren. Einen Moment.«
Der Kasten verschwindet – nur um einen Sekundenbruchteil später wieder aufzutauchen, wie eine Fliege, die zu der Stelle zurücksurrt, wo man nach ihr geschlagen hat. Diesmal gibt die Simulation ein gedämpftes Pling von sich, als wäre sie verärgert, dass Hannah das Problem nicht erkennt.
Sie reißt sich die schlanke Brille vom Kopf. Sie ist nicht an so etwas gewöhnt – nach dem Aufwachen hat sie vergessen, die Linse einzusetzen, was bedeutet, dass sie mit dem antiquierten Back-up-System des VR-Raums vorliebnehmen musste. Eine Strähne ihres langen roten Haars verfängt sich am Riemen, und sie muss sie herauszerren. Dann blickt sie auf die altertümliche Konsole vor ihr.
»Tut mir leid, meine Damen und Herren«, wiederholt sie. »Wird nicht länger als eine Minute dauern.«
Ihr besorgtes Gesicht spiegelt sich im dunklen Bildschirm, und ihre Sommersprossen lassen sie noch jünger erscheinen, als sie tatsächlich ist. Diesmal benutzt sie ihren Finger, drückt auf das Bestätigungsfeld im Kasten auf dem kleinen Zugangsterminal. Im nächsten Moment legt sich eine zweite, identische Fehlermeldung über den ersten Kasten. Dahinter ist ein regloser Impactor durch Rainmakers Cockpitfenster zu erkennen.
»Tut mir leid.« Hör auf, tut mir leid zu sagen. Sie versucht es noch einmal, doch es gelingt ihr wieder nicht, das Hauptmenü aufzurufen. »Das ist mein erster Tag.«
Erdrückende Stille. Die zwanzig Touristen im abgedunkelten Raum sind mit ausgefransten Gurten an die Bewegungssessel geschnallt. Die meisten haben die Augen geschlossen, während ihre persönlichen Linsen immer noch die erstarrte Sim projizieren. Ein paar blinzeln und wirken leicht verärgert. Einer von ihnen, ein älterer Mann mit grau meliertem Bart, wirft Hannah einen finsteren Blick zu.
Sie schaut nach unten auf die Fehlermeldungen. Sie kann die Schrift in den Kästen kaum lesen – durch die Tiefenschärfe der VR werden die Buchstaben so winzig wie die unterste Zeile einer Sehtafel.
Sie sollte die Sim neu starten. Aber wie? Heißt das, dass alles noch einmal von vorn beginnt? Kann sie die Sache vorspulen? Die Supervisorin, die es ihr am Morgen gezeigt hat, musste sich mit etwa fünfzehn neuen Reiseführern auseinandersetzen, und ihre Anweisungen liefen darauf hinaus, die Lautstärkeregelung im Blick zu behalten und dafür zu sorgen, dass sich keiner der Touristen übergibt, wenn Rainmaker eine zu scharfe Kurve fliegt.
Hannah klopft versuchsweise gegen den Bildschirm und atmet erleichtert auf, als ein Menü erscheint: eine Dateiliste. Gut. Jetzt muss sie nur noch …
Aber welche ist es? Die Supervisorin hat die Sim eingeschaltet, aber Hannah hat nicht mitbekommen, welche Datei sie aufgerufen hat. Die Namen sagen ihr nichts.
Sie tippt auf die erste. Lebhafte Musik erschallt aus den Lautsprechern im Raum, so laut, dass ein paar Touristen zusammenzucken. Sie setzt die Brille wieder auf und wird von einer animierten Echse im Raumanzug begrüßt, die mit Laserpistolen auf ein riesiges tentakelbewehrtes Alien feuert. Eine dröhnende Stimme übertönt hallend die Musik. »Abenteurer! Tretet ein in die Welt von Reptar! Er rettet die Galaxis vor …«
Hannah stoppt Reptars Rettung der Galaxis. In der folgenden Stille spürt sie, wie ihre Wangen rot werden.
Sie wirft einen letzten hilflosen Blick auf den Bildschirm und springt auf. Sie wird irgendeine Lösung finden. Man hätte ihr diesen Job nicht gegeben, wenn man ihr nicht zutrauen würde, mit unerwarteten Situationen zurechtzukommen.
»Okay!« Sie klatscht in die Hände. »Entschuldigen Sie die Panne. Ich glaube, da ist irgendwo der Wurm in dieser uralten Sim drin.«
Ihr Lachen löst nicht die leiseste Reaktion aus. Sie schluckt und macht unbeirrt weiter.
»Gut. Wie Sie gesehen haben, war das die Schlacht von Sigma Orionis, die vor fünfzehn Jahren stattfand. Das war also …« Sie denkt angestrengt nach. »2157. Im Raumsektor rund um das Hotel, in dem wir uns befinden. Ich hoffe, unsere historische Simulation hat Ihnen eine gute Vorstellung von der Situation gegeben, mit der unsere Piloten konfrontiert waren. Sie wurde direkt aus der Neurochip-Aufzeichnung einer Kämpferin erstellt.
Zufällig fand die Schlacht fast genau einhundert Jahre nach dem Tag statt, als es uns erstmals gelang, eine Sonde durch ein Wurmloch zu schicken, was, wie Sie zweifellos … was die Große Expansion auslöste, nachdem wir permanente Langstreckentore einrichten konnten, wie das Tor, durch das Sie hierhergekommen sind.«
»Das wissen wir«, sagt der Mann mit dem grau melierten Bart. Er erinnert Hannah an einen ausgesprochen mürrischen Lehrer an ihrer Highschool. »Es wurde in der Einführung erwähnt, die Sie uns präsentiert haben.«
»Richtig.« Hannah nickt, als hätte er etwas Hochinteressantes gesagt. Sie hat das verdammte Einführungsvideo völlig vergessen. Ihr Jumplag vom Vortag macht ihrem Gedächtnis zu schaffen. Sie kann sich nur an ein Voiceover erinnern, das viel zu fröhlich für ein Thema wie die brutale Schlacht von Sigma Orionis klang.
Sie beschließt, einfach weiterzumachen. »Also … die Kolonien verloren diesen Kampf, aber der Krieg ging noch fünf Jahre lang weiter, nachdem die Frontier den Raumsektor um Sigma erobern konnte.«
Auch das wissen sie bereits. Warum erzählt sie es ihnen? Sie spürt Hitze, die ihre Wangen hinaufkriecht, eine Empfindung, die sie nach Kräften zu ignorieren versucht.
»Wie auch immer, falls Sie noch irgendwelche Fragen zur Frühzeit der Expansion haben, als wir noch damit beschäftigt waren, die Sprungtore zu konstruieren, dann bin ich die Richtige. Ich habe sogar meine Dissertation über …«
Eine Bewegung hinter ihr. Sie dreht sich um und sieht einen der anderen Reiseführer, einen großen Kerl mit einem Tribal-Tattoo, das unter dem Kragen seines roten Firmen-T-Shirts hervorlugt.
»Ah, Gott sei Dank«, zischt Hannah ihm zu. »Wissen Sie, wie man die Sim wieder zum Laufen bringt?«
Er geht nicht auf sie ein. »Okay, Leute«, sagt er lässig und laut zu den Anwesenden. »Damit ist unsere VR-Präsentation beendet. Ich hoffe, sie hat Ihnen gefallen, und wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben, werde ich sie Ihnen gern beantworten, während unsere nächste Gästegruppe eingewiesen wird.«
Bevor Hannah etwas sagen kann, dreht er sich zu ihr um und lässt sein Lächeln verschwinden. »Das Zeitfenster für Ihre Sim ist seit mehr als fünf Minuten geschlossen. Raus hier.«
Er beugt sich nach unten und tippt mühelos mehrere Befehle ein, mit denen der Simulator neu gestartet wird. Als die Touristen hinausgehen, sieht der bärtige Mann sie an und schüttelt den Kopf.
Hannah kramt in ihrer Gesäßtasche, während sich ihr Gesicht immer noch heiß und kribbelig anfühlt. »Tut mir leid. Die Sim ist wirklich gut, und ich habe mich irgendwie davon mitreißen lassen, also …« Sie sagt es mit einem Lächeln, das jedoch verblasst, als der Touristenführer sie weiterhin ignoriert.
Sie weiß nicht einmal, was sie eigentlich tut. Die Sim war gar nicht gut, sondern gruselig. Etwas über eine Schlacht zu erfahren ist eine Sache – aber tatsächlich dabei zu sein, zu sehen, wie Menschen in Stücke geschossen werden …
Seufzend zieht sie ihr zerknittertes Tab aus der Hosentasche und entfaltet es. Getreulich zeigt es ihren Zeitplan, von ihrer Linse kopiert – eine Gewohnheit, die sie schon als Kind angenommen hat, nachdem die Linse ihrer Mutter eine Macke bekommen hatte und sie einen Schwimmwettbewerb verpassten. »Können Sie mir sagen, wie ich zum Dock komme?«
Der andere Führer wirft einen Blick auf das veraltete Tab, und sein Mund verzieht sich zu einem angewiderten Ausdruck. »Sie müssten einen Plan auf Ihrer Linse haben.«
»Hab sie noch nicht mit der Station synchronisiert.« Es wäre ihr zu peinlich, ihm zu erklären, dass ihre Linse immer noch in der Lösung über ihrem winzigen Waschbecken in ihrem Quartier liegt und sie vergessen hat, zurückzugehen und sie zu holen, bevor ihre Schicht begann.
Jetzt würde sie eine Niere abgeben, um zurückgehen zu können, und das nicht nur wegen der Linse. Ihre Personalkabine ist zwar klein genug, um mit ausgestreckten Armen alle vier Wände gleichzeitig berühren zu können, aber sie ist mit einem Bett ausgestattet. Mit einem Laken. Auch wenn es kratzig und dünn ist und nach Bleichmittel riecht, ist es eine berauschende Vorstellung, es sich über den Kopf zu ziehen und einfach wegzudriften.
Die nächste Gruppe drängt sich in den VR-Raum, in Zweier- und Dreiergruppen, und beäugt die recht abgenutzt aussehenden Bewegungssessel. Der Reiseführer hat Hannah fast vergessen und marschiert mit einem dröhnenden Willkommensgruß zu den neuen Touristen hinüber.
»Danke für Ihre Unterstützung«, murmelt Hannah, während sie durch die Tür hinausschlüpft.
Das Dock. Sie war doch erst gestern dort, nicht wahr? Als sie mit dem Shuttle angekommen ist. Wie schwer kann es sein, es wiederzufinden? Vor dem VR-Raum geht sie nach rechts, in die Richtung, in der sich ihrer Meinung nach das Atrium der Hauptstation befindet. Laut ihrem Tab ist sie nicht zu spät dran, aber sie läuft dennoch zügig los.
Der weite, leicht gekrümmte Gang wird von einem Fenster begrenzt, das vom Boden bis zur Decke reicht und höher ist als das Haus, in dem Hannah aufgewachsen ist. Hier wimmelt es von weiteren Touristen. Die meisten drängen sich am Scheitelpunkt und bewundern die Aussicht, die vom Pferdekopfnebel beherrscht wird.
Hannah konnte kaum einen Blick darauf werfen, als sie am vergangenen Abend eintrafen. Es ging nur um Sicherheitshinweise und Zimmerzuteilungen und Zeitplanänderungen und Gespräche des Personals in der Kantine, die viel zu laut waren. Sie hatte sich ein Stück abseits an einen Tisch gesetzt und gehofft, dass jemand zu ihr kommt und sich mit ihr unterhält, und gleichzeitig gehofft, dass niemand es tut.
Schließlich war es ihr mit einer gewissen Erleichterung gelungen, sich davonzuschleichen und ein paar Stunden lang unruhig zu schlafen.
Diese Station war früher die schlichte alte Sigma XV, ein großer, langweiliger, industrieller Bergbau-Außenposten, um den die Kolonien und die Frontier während des Krieges kämpften. In diesem Sonnensystem ohne bewohnbare Planeten, aber mit einer Menge rohstoffreicher Asteroiden, wird immer noch Bergbau betrieben – hauptsächlich Helium-3, mit dem Fusionsreaktoren betrieben werden –, doch heutzutage ist das Ganze als Luxushotel Sigma bekannt.
Es hat Hannah immer wieder erstaunt, wie schnell das alles passiert war. Es fühlte sich an, als hätten in der Sekunde, als der Krieg beendet war, die Reiseveranstalter damit begonnen, den Frontier-Senat wegen der Konzessionen zu bedrängen. Jetzt fasst Sigma zehntausend Touristen, die von einem Dutzend verschiedener Welten und Monde durch das große Sprungtor hereinströmen, begeistert, endlich reisen zu können, und in der Hoffnung, einen Blick auf den Nebel werfen zu können.
Als hätte es den Krieg nie gegeben. Als gäbe es nicht weiterhin einhundert verschiedene kleine Konflikte und Splittergruppen, die sich sowohl über die Frontier als auch die Kolonien verteilen. Die Nachbeben des Krieges machen sich weiterhin bemerkbar.
Wobei die Sigma-Station keineswegs ein Einzelfall ist. Es passiert überall – anscheinend gibt es sogar eine Reisegesellschaft, die Besucher von Phobos zum Wrack einer Fregatte der Kolonien bringt, die bislang noch nicht geborgen wurde.
Hannah ist die Vorstellung zwar unangenehm, dass man hier so kurze Zeit nach den Kämpfen ein Hotel eingerichtet hat, aber sie braucht diesen Job. Es war der einzige, den sie mit ihrem nutzlosen Abschluss in Geschichte bekommen hat, und zumindest muss sie jetzt nicht mehr am Tisch in ihrem Elternhaus auf Titan sitzen und sich anhören, wie ihre Schwester vom schnellen Wachstum ihres Unternehmens erzählt.
Der Gang macht eine scharfe Biegung nach rechts, weg von den Fenstern, und öffnet sich auf eine luftige Plaza. Der Raum ist riesig, reicht ganze zehn Decks hinauf. Eine funkelnde Lichtinstallation von der Größe eines Lastwagens hängt an der Decke, und auf dem Boden erhebt sich genau in der Mitte ein großer Springbrunnen. Putten und Drachen aus falschem Marmor speien Wasserstrahlen, die sich in der Luft kreuzen.
Auf der Plaza tummeln sich noch mehr Touristen. Sie spazieren um den Brunnen herum oder plaudern auf den Bänken oder bummeln durch die Läden und Restaurants an den Seiten. Hannah muss langsamer gehen und sich mit gemurmelten Entschuldigungen einen Weg durch die Menge suchen.
Der Schwall der Eindrücke überwältigt sie beinahe, und sie muss wieder an ihr Laken denken. Weiß. Kühl. Leicht genug, um darunterzuschlüpfen und …
Nein. Reiß dich zusammen! Sei professionell!
Geht es von hier aus nach links, oder ist es auf der anderen Seite des Springbrunnens? Sich an den Grundriss der Station zu erinnern, den sie sich während des Sprungs angesehen hat, ist, als würde man versuchen, etwas in Sanskrit zu entziffern. Dann sieht sie ein Schild über einem der Gänge, die von der Plaza wegführen. Schiffsdock B. Das ist es.
Drei Minuten später ist sie da. Das Dock ist klein, eine spartanische Sammelstelle mit vier Gangways, die von der Station zu den Luftschleusen führen. Hier halten sich nicht viele Leute auf, auch wenn ein paar auf den Bänken sitzen. Ein kleines Mädchen schläft dort zusammengerollt, die Hände zwischen Schulter und Wange geklemmt, die Knie bis an die Brust hochgezogen. Ihre Mutter – oder die Person, die Hannah für ihre Mutter hält – sitzt neben ihr und betrachtet blinzelnd etwas auf ihrer Linse.
Durch das Glas sind vier Ausflugsschiffe zu erkennen, hell erleuchtet vor tiefschwarzem Hintergrund. Hannah hat schon zahlreiche Ausflüge mitgemacht, und sie muss immer wieder daran denken, dass alle diese Schiffe hässlich wie die Nacht waren. Diesen Typ kennt sie. Die Dinger sehen aus wie geplättete und umgedrehte Elefantenfladen mit einer knollenförmigen Vorstülpung über dem Cockpit.
Hannah schiebt eine Hand in ihre Jeanstasche und zieht das Tab hervor. Sie hat den Namen des Schiffs in winzigen Großbuchstaben neben die Startzeit geschrieben: RED PANDA. Ihr Blick wandert zwischen den vier Schiffen hin und her, aber sie braucht einen Moment, um das richtige zu finden. Der Name ist in großen schablonierten Buchstaben an der Seite angebracht, darunter eine Seriennummer in kleinerer Schrift.
Sie blickt zur Gangway, die zur Panda führt. Ein anderer Reiseführer geht darauf zu. Er trägt das gleiche rote Hemd wie sie, und er hat eine fantastische Frisur, einen spitzen Irokesenschnitt in Purpur, der mindestens dreißig Zentimeter hoch
ist.
Sie hält ihr Tab noch in der Hand, als sie auf die Gangway springt. »Hallo!«, sagt sie mit einer Selbstsicherheit, die sie gar nicht empfindet. »Ich bin für diesen Ausflug eingeplant. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Der Irokese wirft einen Blick über die Schulter und zeigt den Gesichtsausdruck gelangweilter Verachtung. Er geht weiter, und seine schweren schwarzen Stiefel knallen auf dem Metallgitter.
»Ähm. Hallo?« Hannah holt ihn ein. »Ich glaube, das ist meins.«
Sie versucht sich an ihm vorbeizuschieben, aber er hebt eine fleischige Hand und versperrt ihr den Weg. »Netter Versuch, Kleine«, sagt er, immer noch mit der gelangweilten Miene. »Du hast dich verspätet. Jetzt ist es meine Schicht.«
»Was soll das heißen?« Sie wischt mit dem Finger über ihr Tab und sucht nach der kleinen Uhr.
»Hast du keine Linse?«
Diesmal muss sich Hannah viel mehr zusammenreißen, um ruhig zu bleiben. »Da«, sagt sie und zeigt auf ihren Zeitplan. »Ich bin nicht zu spät. Ich soll um elf hier sein, und jetzt ist es …« Endlich findet sie die Zeitanzeige in einer Ecke des Bildschirms. »Elf Uhr zwei.«
»Meine Linse sagt, es ist elf Uhr sechs. Du bist auf jeden Fall zu spät. Ich habe die Schicht übernommen.«
»Was? Nein. Ist das dein Ernst?«
Er beachtet sie nicht weiter und setzt den Weg zur Luftschleuse fort. Nun erinnert sich Hannah an die Worte aus dem Handbuch, das die Firma ihr vor der Abreise von Titan geschickt hat: Reiseführer, die zu spät zu ihrer Schicht kommen, verlieren die Schicht. Bitte bemühen Sie sich, nicht zu spät zu kommen!!!
Das kann er nicht machen! So geht das nicht! Aber wem werden die Personalchefs eher glauben? Dem neuen Mädchen? Sie wird schon am ersten Tag eine Schicht verlieren, was bedeutet, dass sie bereits in den Miesen steht, was wiederum bedeutet, dass sie vielleicht nicht über die Probezeit hinaus beschäftigt wird. Ein kostenloser Shuttle-Flug zurück nach Titan, und wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre künftige Laufbahn.
Wut verdrängt ihre Panik. Das ist vielleicht nicht ihr Traumjob, aber es ist Arbeit, und zumindest heißt es, dass sie irgendetwas aus ihrem Leben macht. Sie sieht schon die Gesichter ihrer Eltern vor sich, wenn sie ihnen sagt, dass sie ihren Job verloren hat. Aber das wird nicht passieren. Niemals!
»Wachsen dir diese Haare auch aus den Ohren?«, ruft sie. So wütend hat sie sich schon seit langer Zeit nicht mehr gefühlt. »Ich habe gesagt, dass ich hier bin. Das ist meine Schicht.«
Er dreht sich verdutzt zu ihr um. »Was hast du gerade gesagt?«
Hannah öffnet den Mund, um zurückzufeuern, aber nichts kommt heraus.
Ihre Eltern hätten eine Idee. Callista auf jeden Fall. Ihre ältere Schwester wüsste genau, wie sich die Wellen glätten lassen, wie sie dieses Arschloch überzeugen könnte. Andererseits hätten weder ihre Eltern noch Callie jemals einen solchen Job angenommen und wären demzufolge niemals in eine solche Situation geraten. Aber sie sind nicht hier, und sie können ihr nicht helfen.
»Schon gut, Donnie«, sagt eine Stimme.
Hannah und der Irokesentyp – Donnie – drehen sich zur Supervisorin um, die auf sie zukommt. Sie ist eine junge Frau, kaum älter als Hannah, mit einem gepflegten schwarzen Bob und einem tadellosen roten Hemd. Hannah erinnert sich, sie gestern Abend für etwa zwei Sekunden gesehen zu haben, aber ihr fällt kein Name dazu ein. Automatisch geht ihr Blick zur Brusttasche der Frau, wo sie erleichtert ein Namensschild findet, auf dem Atsuke steht.
»Nein, Chefin«, sagt Donnie. »Sie war zu spät.« Er blickt zu Hannah, und sein Ausdruck verrät ihr, dass er gerade erst angefangen hat.
»Ich glaube mich erinnern zu können, dass auch du dich an deinem ersten Tag verspätet hast.« Atsukes Stimme ist angenehm und gleichmäßig, wie die einer Nachrichtensprecherin.
»Und«, fährt Donnie fort, als hätte Atsuke gar nichts gesagt, »sie hat meinen Iro schlechtgemacht. Ziemlich respektlos. Ich bin schon viel länger hier als sie, und ich verstehe nicht, warum …«
»Fairerweise sollte man darauf hinweisen, dass deine Frisur wirklich ziemlich albern ist, Donnie. Davon abgesehen, dass sie gegen die Vorschriften verstößt. Das habe ich dir immer wieder gesagt, bestimmt schon zehnmal.«
Donnie starrt sie an, die Schultern angespannt. Atsuke reagiert mit einer hochgezogenen, perfekt geformten Augenbraue.
Er stößt einen angewiderten Seufzer aus, dann schiebt er sich an ihnen vorbei. »Glück gehabt, Kleine«, murmelt er in Hannahs Richtung.
Ihr Brustkorb fühlt sich eingeengt an, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen, und sie stößt den Atem aus. »Vielen Dank!«, sagt sie zu Atsuke. »Es tut mir wirklich leid, dass ich mich verspätet habe – ich dachte, ich hätte noch genug Zeit, um …«
»Hey.« Atsuke legt eine Hand auf ihre Schulter. »Entspann dich. Alles gut.«
Hannah bringt ein mattes Lächeln zustande. Später wird sie Atsuke einen Drink ausgeben. Mehrere Drinks.
»Das ist heute ein einfacher Job«, sagt Atsuke. »Acht Passagiere. Nicht mal ein Drittel der Gesamtkapazität. Ein bisschen über die Station, über den Krieg, den Friedensvertrag, was wir bekommen haben, was die Kolonien bekommen haben, welche Rolle Sigma bei allem spielte. Dann lass sie den Nebel begaffen … In zwanzig Minuten hin und zurück. Alles klar?«
Sie betrachtet Hannahs Tab und blickt mit gerunzelter Stirn auf.
»Meine Linse ist beschädigt«, sagt Hannah.
»Verstehe.« Diesmal scheint sich Atsuke nicht ganz sicher zu sein. Sie greift in ihre Hemdtasche und reicht Hannah ein kleines Mikro zum Anstecken. »Hier. Es verlinkt sich automatisch mit dem Schiff. Eigentlich kannst du direkt mit den Erklärungen loslegen. Und noch etwas: Bleib einfach cool. Mach diesen Job, und wenn du zurück bist, wartet ein Kaffee auf dich.«
Vergiss den Drink. Sie sollte einen weiteren Kredit aufnehmen und für Atsuke ein paar Anteile am Reiseunternehmen kaufen. »Das werde ich tun. Ich meine, ja. Völlig richtig.«
Atsuke deutet auf die Luftschleuse am Ende der Gangway. »Los jetzt. Und falls Volkova dir irgendwelchen Stress macht, ignorier sie einfach. Viel Spaß!«
Hannah will nachfragen, wer Volkova ist, aber Atsuke hat sich bereits auf den Weg gemacht, und Hannah wagt es nicht, ihr zu folgen. Sie dreht sich um und marschiert zur Luftschleuse der Red Panda, so schnell sie kann.