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Christoph Quarch

Umschlaggestaltung: Uwe Müller (frei nach

Verliebe dich ins Leben

dem Motiv „Canova: Amor und Psyche“, Paris)

© J. Kamphausen Verlag &

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Lektorat: Stephanie Ehrenschwendner

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ISBN E-Book: 978-3-89901-515-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und

Mit einem Vorwort von Platon

Lose Ware

»Tinte! Tinte, wer braucht! Schöne schwarze Tinte verkauf ich!«
Rief ein Büblein gar hell Straßen hinauf und hinab.
Lachend traf sein feuriger Blick mich oben im Fenster,
Eh ich michs irgend versah, huscht er ins Zimmer herein.
Knabe, dich rief niemand! – »Herr, meine Ware versucht nur!«
Und sein Fäßchen behend schwang er vom Rücken herum.
Da verschob sich das halbzerrissene Jäckchen ein wenig
An der Schulter und hell schimmert ein Flügel hervor.
Ei, laß sehen, mein Sohn, du führst auch Federn im Handel?
Amor, verkleideter Schelm! soll ich dich rupfen sogleich?
Und er lächelt, entlarvt, und legt auf die Lippen den Finger:
»Stille! sie sind nicht verzollt – stört die Geschäfte mir nicht!
Gebt das Gefäß, ich füll es umsonst, und bleiben wir Freunde!«
Dies gesagt und getan, schlüpft er zur Türe hinaus. –
Angeführt hat er mich doch: denn will ich was Nützliches
schreiben
,

Gleich wird ein Liebesbrief, gleich ein Erotikon draus.

Eduard Mörike

Vorwort

Leben in Hochpotenz.
Der Zauber des Verliebtseins

An meine frühere Geliebte

Pulsierende Zellen

Ein Auge voll Licht

Hin und weg

Das große Ja

Das beherzte Nein

Glühende Drähte

Vereint und Getrennt

Für immer und ewig

Hier und Jetzt

Schatten in der Liebe

Auf den Flügeln des Eros.
Die Reise zum erfüllten Leben

An einen philosophischen Freund

Leben, das zu sich selber kommt

Die Geometrie der Seele

Auf dem weiten Meer des Schönen

Unsterblich verliebt

Vom Sex zur Unio mystica

Von der Begierde zur Berührung

Sehnsucht macht das Ego mürbe

Krisen brechen Krusten auf

Gefahrlose Liebschaften

Liebeskummer ist nicht schlimm

Leben, das schön ist.
Die Kultur des Eros

An eine Freundin

Hingerissen oder frei?

Vom Irrsinn des 90-60-90

Glatte Oberflächen und kalte Körper

Als die Nackten Götter waren

Apollon küsst Dionysos

Von Playboys und Playmates

Der Luxus der Kosmetik

Das Leben ist ein Fest.
Eros im Alltag

An meine Ehefrau

Eros’ Elternabend

Ohne Leere keine Fülle

Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über

Schenken und sich beschenken lassen

Ein Hoch auf den ehelichen Sex

Ganze Frauen, ganze Männer

Das große Mobile

Zwei Seelen, eine Leidenschaft

Erotik und Ethik

Offen und weit

Ja zum Leben, Ja zum Tod

Alles ist heilig.
Erotische Spiritualität

An meine Eltern

Confessiones

Der Sündenfall

Agape – die Kaskade der Liebe

Der erotische Jesus

Im mystischen Minnebett

Mit Leib und Seele – und beiden Füßen auf dem Boden

Wahrer Mensch und wahrer Gott

Epilog mit den Worten eines anderen

Alle meine Lieben

Vorwort

„Daher behaupte ich auch, dass jedermann den Eros ehren müsse; und ich ehre auch selbst, was mit den Liebesdingen zu tun hat, und übe mich darin in ganz besonderem Maße. Auch ermuntere ich alle anderen dazu. Und jetzt und immerdar verherrliche ich die Macht und die Tapferkeit des Eros, sosehr ich es nur vermag.“

Ha, das war gut gesagt damals; und noch heute stehe ich zu diesen Worten, die ich dem alten Sokrates in meinem Symposium in den Mund legte. Aber ach! Wie wenig haben meine späteren Leser sie beachtet. Im Gegenteil, im Gegenteil: Zum Eros-Verächter haben sie mich gemacht. Zum Urvater einer „platonischen Liebe“, die wohl den Ansprüchen ihrer trockenen Moral oder auch ihrer unseligen Religion genügen konnte, nicht aber der Heiterkeit und Glückseligkeit des Lebens diente. Für einen sinnenfeindlichen Griesgram halten sie mich – mich, der ich doch zeit meines Lebens nur der einen Frage nachging: wie ein gutes, freudvolles Leben gelingen könnte. Oh, wie recht hatte doch dieser junge deutsche Dichter – ich glaube, er hieß Hölderlin (ein echter Bruder im Geiste) –, als er ausrief: „Heiliger Platon, vergib, man hat schwer an dir gesündigt!“ Das Vergeben fällt mir nicht leicht, denn wahrlich: Schon dieser eifrige Aristoteles hat mein Denken verkannt, verbogen und entstellt; hat den Eros „entmannt“ und zu einer saftlosen „Freundschaft“ werden lassen. Aber ach, das hätte ich so eben noch durchgehen lassen. Aber was dann die christlichen Theologen mit meiner Philosophie angestellt haben … – Im Ernst: Es bedurfte satter 2000 Jahre guten Willens, um diesen Frevel zu verzeihen.

Doch, meine Freunde, umso größer ist meine Freude, dass nun völlig unerwartet ein dem Anschein nach junger Mann – seltsamerweise schon wieder aus einem dieser schrecklich nasskalten Gefilde der nordischen Länder – von meinem Geist beseelt wird und ein Buch schreibt, das mir aus der Seele spricht. Gewiss, ihm fehlt ein wenig die Tiefe der griechischen Sprache, und an meine Dialogkunst reicht es nicht heran. Aber es atmet doch ihren Geist, und wahrhaftig: Es gefällt mir, dass dieser Mann für die Darstellung der „erotischen Lebenskunst“ (ärgerlich, dass ich nicht selbst auf diese Formulierung gekommen bin) die Briefform wählt. Ja, das ist gut, das ist – beim Zeus – platonisch. Denn es nimmt euch, meine Freunde, mit hinein ins Geschehen, nötigt euch dazu, euch berühren zu lassen vom philosophischen Gedanken, ihn zu bewegen, sich an ihm zu reiben – bis dass der Funke springt und wie bei einem guten Dialog das Verstehen des Sinns in der Seele aufleuchtet. Deswegen kann ich euch nur ermutigen, euch ins Leben und in dieses Buch zu verlieben, euch immer auch selbst angesprochen zu fühlen und der Kraft des Eros zu folgen, um so in den inneren Dialog der Seele mit sich selbst einzutauchen.

Denn so – und überhaupt nur so – gerät ein Buch zu eben der epimeleia tes psyches (der Pflege der Seele), um die es einem Liebhaber der Weisheit immer gehen sollte. Und nur wenn ein Buch diesem Anspruch genügt, ist es wert, gelesen zu werden. Denn, beim Hunde, nur solch Geschriebenes dünkt mir eines Philosophen würdig, das den Geist beflügelt: das von der Schönheit des Eros kündet, die Götter preist und den Menschen adelt.

Nun, was ich sagen wollte: Dieses Buch gefällt mir. Denn es macht Ernst damit, dass Eros ein Philosoph ist, wie ich einst im Symposium schrieb – und damit, dass ein Philosoph nur dann seinen Namen verdient, wenn er vom Eros beseelt ist. Ja, es macht auch Ernst damit, dass allein Eros den Menschen den Göttern zuführt – und dass es weit wichtiger ist, mit Leidenschaft das Leben zu lieben, als ihm auf spirituellen oder religiösen Schleichwegen zu entschlüpfen. Tatsächlich lässt es sogar etwas von der Schönheit und Herrlichkeit meiner untergegangenen Welt erkennen – und das, ohne diese für mich so befremdliche Welt des 21. Jahrhunderts dabei verächtlich zu machen. Ja, bei Apollon und Artemis, das ist ein Denken con amore, wie es gewisslich auch meinen Zöglingen in Marsilios florentischer Akademie gefallen hätte. Da fällt mir ein, dass es eigentlich wieder Zeit wäre für eine neue, dritte Akademie … Gewiss, so ist es, und ich kann nur hoffen, dass sich in diesen kalten nordischen Gefilden Menschen finden lassen, die dem Autor dieses Buches dabei unter die Arme greifen, bei einem solchen Projekt in meine Fußstapfen zu treten …

Genug der Worte. Was wichtig ist, kann ohnehin nicht gesagt werden. Lieber folge ich nun dem Aufruf dieses Buches und erinnere mich; erinnere mich an meine eigene Liebe – die von all diesen staubigen Philosophie-Gelehrten der Jahrhunderte geflissentlich ignoriert wurde. Außer von eben jenem Hölderlin, der, wie mich dünkt, einst schrieb: „Weißt du, wie Platon und sein Stella sich liebten?“ – Gewiss, das taten wir. Und ohne diese Liebe, das versichere ich, wäre ich nie zu dem Philosophen geworden, der ich bin. Und ohne sie hätte es nie diese europäische Philosophie gegeben, von der ein englischer Denker so treffend sagte, sie sei eine Fußnotensammlung zu meinen Werken. Ja, Stella, meine Liebe, mein schöner Stern. Einst schrieb ich ein Gedicht, das ich als Widmung diesem Buch voranstellen möchte – verbunden mit meinem Segen und den besten Wünschen, dass es die Herzen der Menschen berühren möge:

Sterne beschaust du, mein Stern.
O wär ich der nächtliche Himmel,
hätte ich Augen so viel,
dich zu beschauen wie er!

Platon von Athen, Sohn des Aristos

Leben in Hochpotenz.
Der Zauber des Verliebtseins

An meine frühere Geliebte

Great love changes everything.

Richard Rohr

Pulsierende Zellen

Ist nicht heilig mein Herz,
schöneren Lebens voll, seit ich liebe?

Friedrich Hölderlin

„Ricordati!“ – „Erinnere dich!“ Warst du das? Mir schien, als hätte ich deine Stimme gehört; unversehens, unerwartet. Es war längst nach Mitternacht, aber die Luft war noch warm. Ein leichter Wind vom Tal trug den Duft der Pinien zu mir. Unten im Garten plätscherte der Brunnen. Und in stiller Klarheit lächelte golden der Vollmond über das weite toskanische Land. Eine Nacht im August. Vollkommener Frieden. In meiner Hand ein letztes Glas. Und dann dieser plötzliche Impuls, der mir nichts zu tun gab, als mich ihm hinzugeben. Schon wogte eine Welle der Erinnerung auf mich zu. Sie umhüllte mich wie das Mondlicht, trug mich zu dir, und alles war wieder lebendig.

Weißt du noch? Es war ein Sommerabend in Heidelberg. Ich lag auf deinem Bett und schmeckte deinen Kuss auf meinen Lippen. Ein Prickeln durchlief meinen Körper. Mein klopfendes Herz stand weit offen – so offen, wie das Fenster zum Hof, durch das auch damals der Mond hineinschien. Jede Zelle meines Körpers schien zu pulsieren. Flugzeuge im Bauch. Ich war hellwach, mir war, als könne ich die ganze Welt umarmen. Alles erschien mir schön, alles war gut, mein Leben hatte einen Sinn. Und ich wusste: Für diesen Augenblick hatte es sich gelohnt zu leben. Sollte jetzt der Todesengel zu mir treten, es wäre nicht schlimm. Denn ich war glücklich. Die Zeit schien stillzustehen. Alles war gut. Das schmeckte nach Leben, nach Sinn, nach Schönheit, nach Harmonie, nach Freiheit, nach Ewigkeit. Das schmeckte gut. Es schmeckte nach Liebe. Ja, das war’s. Das Glück schmeckte nach Liebe, weil es aus Liebe kam; weil ich in der Liebe war – weil ich in sie gefallen war: fallen in love – in die Liebe gefallen, wie die Engländer sagen; inamorato – eingeliebt, in die Liebe gebracht, wie es auf Italienisch heißt. Verliebt, verknallt, verschossen. In dich.

Daran erinnerte ich mich in dieser toskanischen Augustnacht. Und es war alles wieder da. Wie durch ein Wunder. Ich fiel noch einmal in die Liebe. Ich war noch einmal in der Liebe. Mein Herz war übervoll, und ich war glücklich. Auch ohne dich. Obwohl ich allein war. Deshalb schreibe ich dir davon. Ich schreibe dir davon, weil ich dieses Glück dir verdanke; weil ich möchte, dass auch du glücklich bist; weil ich von nichts anderem schreiben kann als von dieser Liebe, die alles überwiegt, was ich auf meinem Lebensweg bislang geschmeckt hatte; weil dieses Gefühl so kraftvoll und schön ist, dass ich dich daran teilhaben lassen möchte.

Und weil ich mich selbst immer wieder an dieses Glück und diese Liebe erinnern muss, wenn die Sorgen des Alltags über mir zusammenschlagen und ich weit, weit entfernt bin – von mir, von dir, vom Leben; wenn da keine italienische Stimme mich einlädt, meiner Liebe zu gedenken. Immer dann drängt es mich, dieses innere Leuchtfeuer anzufachen, mich der Liebe und des Glückes und der Lebendigkeit zu erinnern. Ja, immer wenn das Leben grau und öde ist, denke ich mir: Könnte ich doch etwas davon retten! Das Leben wäre schöner und kraftvoller. Ich wäre mehr bei mir selbst und mehr bei den anderen – achtsamer, zärtlicher, leidenschaftlicher, beherzter. Sensibler auch und verletzlicher, wehrloser; vielleicht auch trauriger.

Trauriger? – Ja, trauriger! „Ricordati!“ Die Woge der Erinnerung, der ich mich in jener magischen Mondnacht hingab, trug mich weiter. Sie drang in mich, immer tiefer. Bis hinein in die Traurigkeit, in den Schmerz, hin zu dem Abend in Granada, an dem du mir offenbartest, dass du mich verlassen würdest. Der Platz hieß „Paseo de los Tristes“ – Weg der Traurigen. So fühlte ich mich. Ich habe geweint in dieser Nacht. Nie wieder habe ich so geweint. Du warst zwar noch da, aber ich fühlte mich allein, und die Angst vor der Einsamkeit griff nach meinem Herzen. Mein Leben lag in Scherben. Nichts stimmte mehr. Alles geriet aus den Fugen. Ich war mir so sicher gewesen, dass diese Liebe ewig dauern würde. Aber von wegen! Die Welt dehnte sich grau und trist vor mir. Es war aus. Und es tat verdammt weh. Du weißt das.

Erst fiel es mir nicht leicht, mich auch daran zu erinnern. Doch dann geschah das Merkwürdige. Diese grenzenlose, abgründige Liebe, die mich in der toskanischen Nacht durchpulste, tauchte alles in ein anderes Licht. Wie der Mond seinen goldenen Glanz, so goss die Liebe ein leuchtendes Einverständnis über alles Geschehene. Und zugleich eine geradezu erschütternd klare Einsicht. Denn etwas, das ich mir nie zuvor zu denken erlaubt hatte, schoss mir schlagartig durch den Sinn: Die Tränen, die Verzweiflung, der Kummer – auch das war Liebe. Auch das war intensiv; nicht in der Freude, sondern im Schmerz. Mein Schmerz war echt, er war lebendig und zugleich quälend. Natürlich wollte ich nie mehr so leiden. Also machte ich dicht, verschloss mein Herz, um es zu schützen. Mit Erfolg – zweifelhaftem Erfolg. Ich habe nicht mehr so gelitten. Aber ich habe auch nicht mehr so geliebt. Der Preis war hoch, das Fenster des Herzens öffnete sich nicht mehr – lange nicht mehr. Bis zu jener Nacht, die mir all das Glück und all den Schmerz zurückbrachte – getragen von einer Liebe, die ich mir nicht erklären konnte; die mir vorkam, als habe der Himmel sie mir geschenkt. So wie damals.

In dieser toskanischen Nacht wurde mir deutlich: In der Liebe sein heißt nicht, schmerzfrei sein. Auch nicht Friede-Freude-Eierkuchen. Es heißt stattdessen: lebendig sein, intensiv sein, ganz sein – in Freud und Leid, in Körper und Geist, in Gemeinschaft und allein. Und liegt nicht unser aller Glück genau darin, dies alles wach und intensiv, lebendig und spürbar sein zu dürfen? Sind wir nicht nur dann Menschen im vollen Sinne des Wortes, wenn unser Leben aus Liebesglück und Liebesleid gemischt ist? Wenn es Licht und Schatten integriert, ausbalanciert, so dass das Leben stimmt? Ich habe erfahren, dass es im Leben nicht darum gehen kann, dem Liebesleid auszuweichen – sondern allein darum, ganz in der Liebe zu sein; immer und überall, nicht allein im Gegenüber zu einem einzigen Menschen, sondern im Miteinander mit Allem – sogar in der Trennung, sogar im Tod.

Davon möchte ich dir erzählen. Wie sonst könnte ich dir meinen Dank dafür bekunden? Denn diese Einsicht verdanke ich dir. So wie ich dir mein damaliges Glück verdanke. Und meinen Schmerz. All diese Intensität, die dir nun verwehrt ist. Ich muss davon schreiben, damit du wenigstens so an ihr teilhast. Gute Nacht!

Ein Auge voll Licht

Die Liebe packt uns alle beim Genick
und schleppt uns Zappelnde zu Gott
.

Rumi

Weißt du noch, wie wir einmal zusammen Hermann Hesse gelesen haben? Seinen Vortrag über das Glück? Wir waren beide begeistert von seinen Worten und ahnten, dass sie etwas mit uns zu tun haben könnten. Aber wirklich verstanden haben wir sie damals, glaube ich, noch nicht. Doch habe ich sie nie vergessen. Jene Augustnacht in der Toskana rief sie mir wieder ins Gedächtnis. So habe ich den Vortrag herausgesucht und noch einmal gelesen; und mich darin wiedergefunden. Ja, heute will mir scheinen, ich kenne, worüber er schreibt: das tiefste, wahrste, menschlichste Glück. Den Zustand intensiver Lebendigkeit – einer Seelenschwingung, in der ich mit mir und der Welt im Einklang bin. Noch einmal lese ich:

„Unter Glück verstehe ich etwas ganz Objektives, nämlich die Ganzheit selbst, das zeitlose Sein, die ewige Musik der Welt, das, was andre etwa die Harmonie der Sphären oder das Lächeln Gottes genannt haben. Dieser Inbegriff, diese unendliche Musik, diese voll tönende und golden glänzende Ewigkeit ist reine und vollkommene Gegenwart, sie kennt keine Zeit, keine Geschichte, kein Vorher, kein Nachher. Ewig leuchtet und lacht das Antlitz der Welt, während Menschen, Generationen, Völker, Reiche aufsteigen, blühen und wieder in den Schatten und das Nichts hinabsinken. Ewig musiziert das Leben, ewig tanzt es seinen Reigen, und was uns Vergänglichen, Gefährdeten und Hinfälligen dennoch an Freude, an Trost, an Lachenkönnen etwa zugeteilt wird, ist Glanz von dort, ist ein Auge voll Licht, ein Ohr voll Musik.“ (aus: Glück)

Das entspricht meiner Erfahrung: Glück ist der Zustand, in dem ich „Ja“ sage zu mir und zur Welt, in dem ich das Leben gutheißen kann, weil ich im Herzen spüre, dass es sinnvoll ist; und zwar auch in den dunklen und leidvollen Momenten, die du und ich erfahren haben – weil wir es wagten, uns in die Liebe fallen zu lassen. In der Liebe sein und glücklich sein – das ist meine Erfahrung – gehören zusammen.

Oder nicht? Was sagt dein kritischer Geist dazu? Hält meine Rede deiner Skepsis stand? Meine romantische und manchmal euphorische Neigung war dir immer suspekt, weil du mit Verliebtsein nicht immer nur Glück verbinden konntest. Jetzt, da ich das schreibe, wird mir bewusst, dass ich dir erklären sollte, was ich eigentlich meine, wenn ich das Loblied auf das Verliebtsein, auf das In-der-Liebe-Sein anstimme.

Ist es nicht so, dass auch du, als du dich in mich verliebtest, die Melodie des Glücks erahntest? War es nicht so, dass dir das Herz aufging und dieser Strom von Leben und Energie dich erfüllte? Da nämlich warst du in der Liebe, und es war die Liebe, die in dir strömte und dich beglückte. Sie ließ deinen Körper vibrieren und sprudelte in jeder Körperzelle. Es war die Liebe, in die du „gefallen“ warst – weil dein Liebster dich hingerissen hatte. Es war die Liebe, die dir die Augen für die Schönheit um dich öffnete, so dass du die Welt in einem anderen, helleren Licht sahst. „Rosarot“ sagt das Klischee, um diese veränderte Wahrnehmung zur Sprache zu bringen. Es war die Liebe, die dir Kraft und Schwung verlieh, die dir deine Arbeit leichter von der Hand gehen ließ, die dich inspirierte, Dinge zu tun, die du vorher nie getan hättest, die dich gelassener gegenüber anderen Menschen und dem Leben überhaupt machte. All das war die Liebe. Und all das war gut. Es war eine Freude und ein Glück, dich in diesem Zustand erleben zu dürfen.

Du warst in der Liebe, und in der Liebe war das Glück. Dein Glück, mein Glück, unser Glück. Das Glück, das wir dort fanden, war mehr als eine freudige Stimmung, mehr als ein gutes Gefühl. Es war die Qualität unseres ganzen Seins – dieses Seins, das du bejahen und gutheißen konntest, das dir selbst in den dunklen und schmerzlichen Momenten sinnvoll erschien, so dass du es gut sein lassen konntest. Es stimmte – alles war in Ordnung, alles auf dem Weg: Sonnenzeit.

Dieses Glück war mehr als Freude oder Spaß. Beides, so lehren die alten Weisen, stellt sich in unserer Seele immer dann ein, wenn wir ein Ziel erreicht oder einen Wunsch verwirklicht haben. Dann freuen wir uns, weil das Ungleichgewicht zwischen Wunsch und Wirklichkeit aufgehoben ist und sich ein Gleichgewicht einstellt. Dann stimmt es für einen Augenblick, aber eben nur so lange, bis der nächste Wunsch uns erfüllt und eine neue Spannung entsteht. Die Freude ist deshalb schnell vorbei. Das Glück, das wir damals ahnten und das mich seit der toskanischen Mondnacht begleitet – dieses Glück ist beständig. Es fühlt sich an wie die Schwingung der inneren Harmonie. Ich würde sagen: Dieses Glück ist die Qualität des Stimmigen – wenn alles so ist, wie es sein soll; wenn wir zu allem Ja sagen können. Natürlich macht es Freude, wenn ich in diesen Zustand komme, aber das eigentliche Glück fängt damit erst an. Resonanz erfüllt meine Seele, wenn ich im Einklang bin – mit mir und mit der Welt. Das ist das Geschenk der Liebe.

Hat mich nun doch die Euphorie gepackt? Ich sehe deinen zweifelnden Blick. Du musst nichts sagen, denn ich spüre, was du fragen willst, woran du mich erinnern willst: In unserer Liebe gab es nicht nur Glück und Freude. Nein, da war auch die Angst, einander zu verlieren. Da war das Leiden in den Zeiten der Trennung. Da war die Eifersucht, ein unerfülltes Begehren, da waren die Tränen, da war die Ernüchterung, als der Tanz der Hormone zu Ende ging, da waren die Szenen, die Fremdgeherei und der Liebeskummer. Da war nicht nur das offene Herz, da war auch das gebrochene Herz.

War auch das die Liebe? Glück war es jedenfalls nicht. Aber wenn es kein Glück war: wie kann ich dann behaupten, der sicherste Weg zum Glücklich-Sein sei, sich in die Liebe fallen zu lassen – sich ins Leben zu verlieben?

Wir haben es selbst erfahren: Die Liebe und das Verliebtsein gibt es in unterschiedlichen Formen, in unterschiedlichen Reifegraden. Es gibt ein reifes, bewusstes, erwachsenes Verliebtsein; und ein unreifes, verworrenes, unklares Verliebtsein. Mit Letzterem fingen wir damals an. Und eben weil es unreif war, bereitete es uns so manchen Kummer. Denn es mengten sich Aspekte in unser Verliebtsein hinein, die keine Liebe waren, sondern Angst und Begehren, undurchschaute Projektionen und heimliche Abhängigkeiten – allerlei unbewusster Klebstoff, der uns zwar kräftig verband, uns dabei aber auch fesselte, benebelte und lähmte. Mir ist wichtig, dass wir uns das klarmachen, um nicht dem Irrtum zu erliegen, dieses erste Aufglimmen unseres wahren Seins sei das Ganze; das wäre tatsächlich eine naive Verklärung der ersten Liebe.

Aber noch wichtiger ist mir anzuerkennen, dass es auch in unserer ersten, unbewussten Verliebtheit einen großen Anteil echter Liebe gab; und dass es eine große Dummheit wäre, diese Liebe wegen ihrer problematischen Einsprengsel zu verurteilen oder zu veralbern. Viel zu oft haben Moralapostel oder selbsternannte Pädagogen die Verliebtheit als solche verspottet: als rein biochemisches Hormongewitter, als etwas, das überwunden werden muss.

Aber das lasse ich nicht gelten. Denn wollen wir wirklich all den Zauber jener Stunden verleugnen? Meinen wir wirklich, wir müssten uns schämen für die glühenden Nächte und lachenden Tage unserer ersten, unschuldigen Liebe? Es hieße, das Kind mit dem Bade ausschütten, statt es sorgsam in den Arm zu nehmen, ans Herz zu drücken und aufzuziehen – dieses göttliche Kind, das in unsere Krippe gelegt wurde, um uns zu ganzen Menschen zu machen; dieser Keim, der in unser Herz gesät wurde, um uns reifen und blühen zu lassen; diese Kraft des Lebens, mit der das Leben zu sich selbst kommen will.

Ich glaube, die alten Völker stellten sich nicht umsonst den Eros als Knaben vor – auch Cupido oder Amor genannt. Denn in dieser Gestalt begegnet er uns zunächst, als ein naives und verspieltes Kind, aber voller Potenzial. Voll des Potenzials, uns fliegen zu lassen – deshalb seine Flügel –, nicht nur in den siebten Himmel, sondern noch viel weiter – zur Wahrheit, zur Schönheit, zu Gott.

Deshalb ist es mir wichtig, uns die Erfahrung der ersten Liebe ins Bewusstsein zu rufen. Sie ließ mich den Geschmack des Glücks erahnen. Und diese Ahnung brauche ich, um meinen Weg zu finden – den Weg zu einem großen, blühenden, schönen Leben. Viele Wege führen dort hin. Einer von ihnen ist die Lebenskunst, die zugleich Liebeskunst ist. Von diesem Weg möchte ich dir erzählen. Lass uns noch einmal ins Licht unseres Verliebtseins schauen, lass es uns zu unserem Leuchtfeuer machen auf dem Weg zu einem Leben in der Liebe; auf dem Weg, uns ins Leben zu verlieben.

Hin und weg

Schöne,
wie im kühlen Gestein
das Wasser des Quells
als ein üppiger Blitz aus Gischt entspringt,
so ist das Lächeln in deinem Gesicht,
du Schöne
.

Pablo Neruda

Ja, du hast Recht. Ich habe mich hinreißen lassen von meiner Begeisterung und meinem Drang zum Philosophieren. Sieh es mir nach, denn wie könnte ich nicht begeistert sein, wenn ich dir meine tiefsten Erfahrungen und wichtigsten Einsichten anvertraue? Wie könnte ich nicht hingerissen sein, wenn ich mich daran erinnere, wie du mich hingerissen hast – und wie es mich hinriss in jener Vollmondnacht, als ich mich ins Leben verliebte? Und überhaupt, ist es nicht wunderbar, sich hinreißen zu lassen? Sich begeistern zu lassen von der Schönheit?

Da kommt mir ein Text in den Sinn. Natürlich, die alten Griechen, du kennst mich ja. Es gibt einen uralten Gesang zu Ehren von Aphrodite, der Göttin der Liebe und Schönheit:

Nenne mir, Muse, die Taten von Aphrodite, der goldnen

Kypris, die die Götter mit süßem Sehnen beseligt

auch die Geschlechter der sterblichen Menschen bewältigt,

ja, auch alles Getier, die luftdurchfliegenden Vögel,

alles, was da rings dem Land und dem Meere entsprossen:

Aphrodite gehorchen sie alle, der prächtigbekränzten. […]

Herrlich sodann den Leib gehüllt in köstliche Kleider,

goldgeschmückt verließ die lächelnde Aphrodite

das schönduftende Zypern und schwang sich gen Troias Gefilden.

Als Anchises sie sah, da fasste ihn wunderndes Staunen

über ihr Ansehn und auch ihre Größe und lichten Gewänder.

Trug sie doch ein Kleid, das hell wie Feuer erstrahlte,

reich umwunden mit Schmuck und leuchtenden Ohrgehängen.

Ihren zarten Nacken umschlang ein köstlich Geschmeide,

golden und schön und schimmernd in Buntheit, und über den zarten

Brüsten glänzte es gleich dem Mond, ein Wunder zu schauen.

Eros erfüllte das Herz des Anchises, und also begann er:

„Heil, o Herrin! Wer von den seligen Göttern naht meinem Hause?“

(Homerischer Hymnus
an Aphrodite, 1-93)

So ähnlich ging es mir mit dir. Klar, du warst keine Göttin und ich war kein Ziegenhirt, aber das ist auch nicht der Punkt. Was in diesem alten Lied besungen wird, ist einfach nur das Hingerissen-Sein von einer schönen Frau – von ihrem Leuchten, ihrem Glänzen, ihrem goldenen Strahlen, das alle Aufmerksamkeit auf sich lenkt und so mächtig in das Leben eines Mannes tritt, dass er gar nicht anders kann, als in diesem bezaubernden Wesen eine Göttin zu sehen. Genau das ist der Augenblick der Liebe: der Augenblick, in dem ich von deiner Schönheit so hingerissen bin, dass ich meinen Blick nicht mehr von dir wenden kann; der Augenblick, in dem du zur Göttin wirst, deren Anblick mir zu Bewusstsein bringt, wie kostbar und sinnvoll das Leben ist; der Augenblick, in dem mich eine Ahnung von Ewigkeit und Unsterblichkeit berührt. So sah ich dich. Und so verliebte ich mich in dich.

Und du, die Frau? – Du, der dieser hingerissene Blick gilt, bist in diesem Augenblick schön. Du strahlst in einem Glanz, den jeder sehen kann.

Das ist das Wunder des Sich-Verliebens. Und das Wunderbare an diesem Wunder ist: Es geschehen verschiedene Dinge gleichzeitig. Es öffnet das Herz und es öffnet die Augen. Du siehst die Schönheit eines Menschen, und dieser Mensch wird schön. Ich sah die Schönheit in dir, und in diesem Blick wurdest du für mich zur Göttin. Dieses Verwobensein ist der Grund dafür, dass in der antiken Mythologie Aphrodite sowohl die Göttin der Schönheit als auch die Göttin der Liebe ist; und dass sie immer von dem kleinen Knaben Eros begleitet wird. Denn wo Schönheit erscheint, da regt sich die Liebe, die die Alten Eros nannten. Und wo Eros sich regt, da erscheint Schönheit. Schönheit und Liebe kann niemand voneinander trennen.

Doch damit nicht genug der Wunder. Was ich heute, im Rückblick, als das eigentlich Großartigste des Sich-Verliebens erkenne, ist der Umstand, dass es sich nicht machen lässt. Ich hatte es mir nicht ausgesucht, mich in dich zu verlieben. Und auch du warst nicht mit Kennermine durch die Welt gelaufen, um zu fragen: „Hm, wer ist denn hier so schön, dass ich mich heute in ihn verlieben werde?“ Viele versuchen das zwar, aber es funktioniert nicht. Das verrät viel über ein Missverständnis – als ob sich verlieben so etwas wäre wie einkaufen gehen: Ich suche mir etwas aus, hole es mir und will es dann behalten. Aber du und ich, wir wissen: So funktioniert das Sich-Verlieben gerade nicht.

Nein, wenn ich mich verliebe, dann widerfährt mir das. Du tratst in meinen Gesichtskreis, und ich verliebte mich – ob ich das nun wollte oder nicht. Es überkam mich. „Es ist größer als ich. Dagegen bin ich machtlos“, haucht in Gefährliche Liebschaften der Chevalier de Valmont ein ums andere Mal seiner Holden ins Ohr. Bei ihm ist das eine Floskel, die zuverlässig bei jeder neuen Eroberung einer jungen Dame zum Einsatz kommt, aber gleichwohl verrät sie eine Wahrheit: ES war wirklich größer als ich und du. Plötzlich leuchtete da ein Mensch vor mir auf und lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich; und umgekehrt. Plötzlich waren wir hin und weg – hingerissen, unwiderstehlich angezogen, wie von einer magnetischen Kraft. Unerwartet und oft ungewollt traf ES uns. So wie ein Pfeil aus dem Nichts – weshalb eben Pfeil und Bogen neben den Flügelchen das zweite klassische Requisit des Eros-Knaben sind. „Die Liebe zwingt uns alle in die Knie“, sagt Hölderlin und hat wohl Recht damit.

Gerade für Menschen wie uns beide scheint mir das eine wichtige Erfahrung gewesen zu sein – überhaupt für alle Macher und Leistungsmenschen: Da geschah etwas mit uns, das wir nicht unter Kontrolle hatten, das sich unserem Wollen entzog. Wir konnten es einfach nur geschehen lassen. Damals verstand ich, warum so viele Romane davon handeln, dass Menschen sich gegen ihren Willen verlieben. Und warum so viele Dichter die völlig unerwartete Liebe besungen haben, die gleichsam vom Himmel gefallen schien.

Um mich in dich zu verlieben, musste ich nichts leisten, sondern etwas lassen – etwas zulassen. Ich ließ mich hinreißen, ich ließ mich gehen, ich ließ mich fallen: hinein in die Liebe, hinein die Schönheit, hinein in das Leben, hinein in mein Glück. Trotzdem kreisten Fragen durch mein Hirn: Warum gerade sie? Warum gerade ich? Warum gerade wir? Warum nicht eine andere, die ich auch irgendwie gut fand? – Weißt du was, dazu hat dein alter Philosoph eine Theorie! Darf ich?

Also, noch mal zu Aphrodite – und zu Anchises. Was sagt doch der Hirtenbursche: „Heil, o Herrin! Wer von den Seligen naht meinem Hause?“ Anchises, der sich hier gerade verliebt, erkennt in dieser Frau, die vor ihm steht, eine Göttin. Was ist eine Göttin? – Eine Göttin ist eine vollkommene Erscheinung. Oder besser: Sie ist die Erscheinung des Vollkommenen. Anchises sieht vor sich eine Verkörperung des Lebens, so wie es idealerweise ist. Er erkennt mit den Augen des frisch geöffneten Herzens in Gestalt jener strahlend schönen Frau das, was ihm am meisten fehlt und wonach er sich am meisten sehnt, nämlich Vollkommenheit, Harmonie, innere Stimmigkeit – Ganzheit.

Und nun kann er „Ja“ sagen; ohne Wenn und Aber. Nicht zu etwas, das er sich selbst erworben hätte. Nicht zu dem Lohn seiner Mühen, sondern zu einem Geschenk, dessen Schönheit ihn hinreißt – zu einem Geschenk, das unverhofft in sein Leben leuchtet und es in ein ganz anderes Licht taucht. Das Licht der Liebe, in dem alles sinnvoll und schön, gut und stimmig erscheint; so dass nichts mehr anders sein muss; so dass wir es gut sein lassen können; so dass wir glücklich sind.

Ich bin mir sicher: Wir können der Liebe vertrauen. Ihr wohnt eine große Intelligenz inne und eine glasklare Sicht auf die Dinge. Man sagt, die Liebe mache blind. Das stimmt aber nicht. Was blind macht, sind unsere Schatten, die Begehren und Verlangen in die Verliebtheit mischen. Sie kommen aus den Verstrickungen und Verschattungen unseres Ego. Aber die Liebe, in der wir den Geliebten oder die Geliebte erkennen und darin die seelische Verbundenheit mit allem erahnen, diese Klarheit der Liebe ist alles andere als verblendet. Im Gegenteil: Sie erleuchtet uns. Sie lässt uns etwas von der einen, tiefen Wahrheit erkennen und das Göttliche auf Erden erahnen – die Göttin in der Geliebten, den Gott in dem Geliebten.

Manchmal frage ich mich, wie es wohl wäre, wenn wir in allem die Schönheit des Göttlichen gewahrten und uns dem Leben, den Menschen, Gott und der Welt liebevoll zuwenden könnten? Wie intensiv und kraftvoll das Leben wäre! Wie schön und begeisternd! Das Leben wäre ein Fest! So wie es mit dir ein Fest war.

Das große Ja

Die lautere, schiere Bejahung ist, so
scheint es, allein in der erotischen Liebe
realisiert
.

Josef Pieper

Du warst schön. Und du wurdest von Tag zu Tag schöner. Du musstest gar nichts dafür tun. Du brauchtest keine Kosmetik. Dein volles Herz war dir Kosmetik genug. Weil die Welt für dich in Ordnung war – en kosmó, wie die Griechen sagten. Du warst in Harmonie mit dir selbst und mit der Welt. Das machte dich schön und ließ deine Seele heil und gesund erscheinen. Und auch mir ging es gut wie nie. Das Leben stimmte.

„Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest“, lautet der Titel eines Buches von Eva-Maria Zurhorst. Für mein Lebensmotto „Verliebe dich in ins Leben“ möchte ich diesen Satz varieren: „Liebe dich selbst, und lass dich gut sein! Sag Ja zu dir, nimm dich an – in allem, auch in deinen Schattenseiten. Nimm auch sie an, nimm auch sie an dein Herz, umspüle auch sie mit der Liebe, in die du gefallen bist. Es wird dir nicht schwerfallen. Denn wenn du in der Liebe bist, dann fließt sie nicht nur nach außen, sie fließt auch zu dir selbst zurück.“

Leuchtet dir das ein? Erinnerst du dich daran, wie es sich anfühlte, als dein Liebster dich liebkoste? Erinnerst du dich daran, wie seine Liebe zu dir auch deine Liebe zu dir selbst erwachen ließ? Und wie du Ja zu dir sagen und dich annehmen konntest? Du fühltest dich in Ordnung und konntest dich gut sein lassen. Du fandest dich schön. Und du warst es.

Das war auch heilsam. Nietzsche hat einmal gesagt, er wundere sich immer, dass junge Frauen in leichter Garderobe keine folgenschweren Erkrankungen davontragen, wenn sie bei kalter Witterung ins Theater schreiten. Und er mutmaßte, das könne etwas damit zu tun haben, dass sie sich selbst hinreißend fänden. Da lag der ansonsten mit den Frauen sonst eher unvertraute Philosoph wohl richtig. Denn auch wenn es hier um eine vielleicht zweifelhafte Form der Selbstliebe geht – richtig ist, dass der Liebe in allen ihren Facetten eine heilende Kraft innewohnt; und dass Verliebte über ein starkes Immunsystem verfügen. „Das grundlegende Prinzip der Medizin ist die Liebe“, sagte schon Paracelsus.

Die medizinische Wissenschaft jedenfalls bestätigt, dass ein Ja zu sich selbst besser ist als Pillen und Tropfen. Gerade erst habe ich im SZMagazin gelesen: „,Zeigt Ihnen Ihre Frau, dass sie Sie liebt?‘ – diese Frage richteten Mediziner an ihre männlichen Patienten. Von denen, die mit ‚Ja‘ antworteten, bekamen nur halb so viele Infarkte im Vergleich zu jenen, die nicht das Gefühl hatten, geliebt zu werden. Und bei Frauen mit Brustkrebs sind die Überlebenschancen höher, wenn sie Rückhalt durch ihren Partner spüren.“ Wenn es auch zu weit führte zu behaupten, Verliebt-Sein sei ein Allerheilmittel – als Immun-Aktivator taugt es allemal zum Kernstück dessen, was man heute Salutogenese nennt.

Was die Neuroimmunologen gerade erforschen, ist eigentlich schon längst bekannt. Der Kirchenvater Irenäus sagte schon im dritten Jahrhundert: „Nihil salvatur, nisi acceptatur“ – nichts wird geheilt, wenn es nicht bejaht wird. Die Psychotherapie hat diese Einsicht tausendfach bestätigt: Ein Ja zu sich selbst, aber genauso auch zu allem, was psychisches Leid verursacht – auch wenn es von anderen verschuldet wurde –, ist das sicherste Mittel zur inneren Heilung. Sogar Traumatisierungen können durch ein liebendes Ja aufgelöst werden – können, müssen aber nicht. Denn wenn Menschen nicht mehr für die Liebe erreichbar sind, wird auch dieses Therapeutikum nicht greifen; so wie jüngst geschehen, als sich Robert Enke das Leben nahm und seine Frau bekümmert feststellen musste: „Wir dachten, unsere Liebe könnte ihn heilen.“

Oha, da bin ich nun ins Dozieren gekommen. Aber du wirst es mir nachsehen. Denn es geht ja tatsächlich um eine spannende Entdeckung, die ich mit dir teilen möchte: Wie nichts sonst wohnt der Liebe die Kraft inne, uns Menschen in Ordnung, ins Gleichgewicht zu bringen, weil sie nichts und niemanden unterdrückt oder verdrängt, weil sie ihre Energie nicht damit verschwendet, sich an etwas abzuarbeiten oder es zu bekämpfen; sondern mit der Kraft dieses Ja, das nur sie aussprechen kann, alles integriert und zusammenfügt – heil macht.

Das beherzte Nein

Der Krieger des Lichts kämpft
manchmal mit denen, die er liebt
.

Paulo Coelho

Hm, habe ich da ein Hüsteln gehört? Einen Einwand, eine Frage? Könnte es sein, dass du zu bedenken geben wolltest, es habe beileibe nicht nur das große Ja gegeben, als du in der Liebe warst, sondern auch ein klares Nein, ein entschiedenes Nein? Das wäre mir aus der Seele gesprochen. Denn tatsächlich erinnere ich mich an dieses Nein. Es war ein Nein zu allem, was unserer Liebe im Wege im stand. Ein beherztes Nein, das sich auch gegen meine schlechten Gewohnheiten richtete und mich dazu brachte, mich zu verändern.

Aber wie passt das zu dem, was ich gerade sagte? Wie gehen das beherzte Nein und das große Ja zusammen? Was ist das für ein Nein?

Es war ein Nein aus Liebe, ein Nein, dem ein Ja innewohnt – das Ja zum geliebten Du, zu sich selbst, zum Leben. Dieses Nein bezog seine Kraft daraus, dass es etwas gab, dem all unsere Liebe und Leidenschaft galt. Und dieses Etwas war gut und schön und sinnvoll. Deshalb konnten wir nicht ertragen, was nicht gut und schön und sinnvoll war. Du warst mir ein Appell, mich selbst und die Welt in Ordnung zu bringen. Und ich war dir eine Aufforderung, das Gleiche zu tun. Durchs bloße Dasein ermahnten wir einander wie Rilkes Archaischer Apollon: „Du musst dein Leben ändern.“ – Weil wir unser Leben bejahten, folgten wir diesem Ruf. Und sagten: „Nein, so geht es nicht weiter. Ich höre auf zu rauchen; ich lebe nicht länger allein; ich ziehe in eine andere Stadt.“ Das Leben sollte stimmiger werden, und weil die Liebe uns das Herz erfüllte, konnten wir beherzt einen Wandel vollziehen.

Seither weiß ich: Liebe macht mutig, couragiert. Liebe treibt uns voran. Ganz so, wie es zahllose Liebesgeschichten berichten: Der Mann (traditioneller Weise ist es ein Mann) zieht in den Wald, besteht Gefahren und Prüfungen, riskiert für die Geliebte sein Leben und kehrt gestärkt zurück. Nun, diese Art von Heldentum ist nicht genau das, was ich meine, denn Liebe bewährt sich in meinen Augen nicht so sehr in moralischer Pflichtfüllung. Aber sie zeigt doch, was Männer und Frauen mutig sein lässt. Sie sind mutig, weil sie verliebt sind; mutig, weil ihnen der/die/das Geliebte so kostbar ist, dass es lohnt, sich dafür in Gefahren zu begeben: ein mutiges Nein auszusprechen, wo die Liebe verletzt oder mit Füßen getreten wird. Und zwar nicht nur die Liebe zur oder zum Geliebten. Sondern die Liebe zum Leben, zu allem, was ist.

Stell dir vor, unsere Liebe reichte wirklich so weit! Stell dir vor, sie hätte nicht Halt gemacht an den Grenzen unserer Partnerschaft, sondern wir wären zugleich auch ins Leben verliebt; so wie wir es ansatzweise waren, wenn auch noch nicht ganz und gar. Welche Kraft wäre uns zugeflossen! Welche Kraft würde uns zufließen! Glaube mir, ich ahne sie. Wärst du Zeuge, wo das Leben bedroht ist – ob konkret von Gewalttätern in der S-Bahn, fernab im Regenwald oder abstrakt durch eine ungerechte Wirtschaftsordnung –, dein Herz würde sich verkrampfen, es würde sich winden, es würde leiden. Und du würdest beherzt ein Nein aus Liebe aussprechen – und Taten folgen lassen. Nicht moralische Entrüstung triebe dich dann voran, sondern ein wundes und wehes Herz, das aus Liebe kämpfen muss; das die Liebste, den Liebsten oder das Liebste verteidigen muss – mutig, tapfer, couragiert. Liebe macht mutig – auch zum Kampf aus Liebe, wenn er sein muss. Dann wirst du zu dem, was Paulo Coelho in seinem für mich schönsten Buch einen „Krieger des Lichts“ nennt:

„Ein Krieger des Lichts lässt keinen Hass in sein Herz. Wenn er

sich in den Kampf begibt, gedenkt er der Worte Christi: ‚Liebet

eure Feinde.‘ Und er befolgt sie. Aber er weiß auch, dass Verzeihen

niemanden zwingt, auch alles hinzunehmen. Ein Krieger darf den Kopf

nicht senken – sonst verliert er den Horizont seiner Träume aus dem

Blick. Er akzeptiert, dass die Gegner dazu da sind, seinen Mut, seine

Beharrlichkeit, seine Entscheidungsfähigkeit zur prüfen. Sie sind ihm ein

Segen, denn sie zwingen ihn, für seine Träume zu kämpfen. Der Krieger

des Lichts geht gestärkt aus der Erfahrung des Kampfes hervor.“

(Handbuch des Kriegers des Lichts)

Vermutlich wäre Paulo Coelho damit einverstanden, wenn wir immer da, wo er „Träume“ schreibt, „Liebe“ einsetzen – und wenn wir den Krieger des Lichts einen Krieger der Liebe nennen. Einen, der für seine Liebe kämpft – mutig, beherzt und entschlossen; und einen, dessen Liebe weit reicht, weit hinaus über den Horizont einer Liaison, einer Partnerschaft, einer Familie – die die Welt umfasst, weil sie eine Liebe zum Leben ist. Coelhos „Krieger des Lichts“ ist ins Leben verliebt. Aus seinem Buch habe ich gelernt, wie kraftvoll ein Nein aus Liebe klingen kann, wenn es von einem tiefen, liebenden Ja zum Leben getragen ist: „Ein Krieger des Lichts denkt über den Horizont hinaus. Er weiß: Wenn er nichts für die Welt tut, tut es auch kein anderer. Daraufhin nimmt er am guten Kampf teil und hilft den anderen, ohne selber recht zu wissen, warum er es tut.“

Ahnst du das Potenzial, das in uns steckt? Es ist das Potenzial, kraftvoll, beherzt und aufrecht durchs Leben zu gehen, erblüht zur Schönheit, gereift im Kampf für die Schönheit und Wahrheit des Lebens. Das ist es, was ich in vielen verlorenen Schlachten gelernt habe: Es kommt nur darauf an, mich in die Liebe fallen zu lassen, ihr Raum in mir zu geben; mich zu öffnen für den Anspruch des Lebens, um dann diesem Anspruch zu antworten: verantwortlich und verbindlich. Auch wenn ein Nein geboten ist.

Glühende Drähte

Connection – there came a moment
in the middle of the song when he
suddenly felt every heartbeat in the
room & after that he never forgot he
was part of something much bigger
.

Brian Andreas

Nicht ich war es, der die Liebe machte. Nicht du warst es, die den Zauber schuf. ES kam über uns wie ein Sonnenstrahl aus der Wolkendecke. ES kam über uns und tauchte unser Leben in ein neues Licht – das Licht der Liebe. Wir waren voneinander hingerissen, es schien uns, als hätten wir uns schon immer gekannt, als hätten wir unser ganzes bisheriges Leben nur aufeinander gewartet. Wir spielten sogar mit dem Gedanken, wir seien uns schon vor unserer Geburt in einem früheren Leben begegnet; oder der Schöpfer habe uns in seiner unendlichen Weisheit füreinander bestimmt. Ja, wir hatten damals Gefallen an der Geschichte des alten Aristophanes, der einmal in Platons „Symposion“ erzählte, die Liebe sei deshalb in die Welt gekommen, weil Zeus einst im Zorn die Menschen in zwei Teile gespalten habe und seither jeder verzweifelt die andere, bessere Hälfte suche. Tatsächlich fühlte es sich zwischen uns so an, als hätten wir endlich die uns fehlende Hälfte gefunden; als sei zusammengekommen, was zusammengehört.

Dies alles sind Bilder, die eines zum Ausdruck bringen sollten: dieses Gefühl des innigsten Verbunden-Seins. In meinen Vorträgen benutze ich dafür gerne ein anderes Bild, auch wenn es dir vielleicht etwas technisch scheint: Ich stelle mir vor, dass ich mit dir wie durch einen kaum sichtbaren Draht verbunden bin, der immer schon da war und der immer da sein wird; und dass in dem Augenblick, in dem wir in die Liebe fielen, dieser Draht zu glühen begann. Hell und strahlend, als sei ein Strom von Energie zwischen unseren Polen in Fluss gekommen. ES funkte zwischen uns und wir energetisierten und befeuerten uns wechselseitig – ganz so, wie es bei allen wirklich liebenden Paaren geschieht –, angefeuert von der Schönheit des Gegenübers und der Sehnsucht nach Ganzsein.

Glühende Drähte. Mir gefällt dieses Bild, weil es eines deutlich macht: Die Verbindung zwischen zwei Menschen wird von diesen nicht selbst geschaffen. Sie war schon immer da, nur noch nicht belebt oder aktiviert. Ich stelle mir vor, dass es unendliche viele Drähte gibt, die uns mit unendlich vielen Menschen verbinden – und nicht nur mit Menschen. Wir sind Teil eines großen Netzes oder Geflechtes des Lebens, in dem alles mit allem verbunden ist, wenn auch vielleicht nicht unmittelbar und direkt.

Wenn du in der Liebe bist, dann kommt dir dieses Vernetzt-Sein zu Bewusstsein; dann spürst du, dass da nicht nur zwischen dir und mir dieses Gefühl der Verbundenheit besteht; sondern dass es in alle Richtungen strahlt. Allem fühlst du dich näher, enger, vertrauter. Die ganze Welt scheint zu deiner Familie zu gehören. Du fühlst dich zuhause in ihr.