1.

 

Ich bin tot.

Aber er existierte doch!

Also kann ich nicht tot sein. Oder?

David hatte das Gefühl zu fallen und es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Als stünde er unter dem Einfluss starker Medikamente. Oder wie bei einer heftigen Fieberattacke. Wie damals, als er nach einer Infektion ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Auch zu jener Zeit war er aufgewacht und hatte lange nicht gewusst, wo er sich befand.

Ihm wurde bewusst, dass er die Lider geschlossen hatte. Ein dumpfer, leicht pochender Schmerz strahlte von irgendwo hinter seinen Augen in den Rest des Kopfes aus. Gerade hatte er noch das Gefühl gehabt, zu fallen, aber nun stellte er fest, dass er auf einer weichen Unterlage lag. Wie damals im Krankenhaus. Das Blut pochte in seinen Adern, aber ansonsten war es still. Er stöhnte und hörte seine eigene Stimme in den Ohren.

Er musste die Augen öffnen, um herauszufinden, wo er war. Aber es bereitete ihm unendliche Mühen. Seine Augenlider waren wie aus Beton. Oder hatte er gar keine? Er müsste ohnehin tot sein.

Wieso eigentlich? Er versuchte, sich zu erinnern. Aber es gelang ihm nicht. Nur bruchstückhafte Gedankenfetzen, unzusammenhängend und wirr, tauchten in seinem Bewusstsein auf und verschwanden sogleich wieder in diesem Meer aus Agonie.

Die plötzliche Panik ließ Adrenalin durch seinen Körper fließen. Verzweifelt riss er die Augen auf. Es war hell. Zu hell! Das Pochen in seinem Kopf verstärkte sich zu Hammerschlägen und ließ ihn gequält die Lider wieder schließen. Aber wenigstens war er nun sicher, dass er noch Augen hatte. Und somit einen Körper. Wenn er einen Körper hatte, dann konnte er auch nicht tot sein. Aber wo war er?

Wieder öffnete er die Augenlider, diesmal langsam und vorsichtig. Immer noch war es zu hell. Tränen ließen sein Blickfeld verschwimmen. Er blinzelte. Eine weiße Fläche lag vor ihm. Er blinzelte wieder. Die weiße Fläche war eine Zimmerdecke. David wollte seinen rechten Arm heben, aber die Bewegung kostete ihn unendliche Mühen. Er krümmte seine rechte Hand zur Faust und bemerkte, dass er etwas Weiches umklammerte. Es fühlte sich an wie .... wie ... ja, was? Etwas Vertrautes, aber die Benommenheit war immer noch so stark, dass er sich nicht zu konzentrieren vermochte.

Vorsichtig wandte er den Kopf, die Augen geöffnet. Die Zimmerdecke wurde durch die weiße Fläche einer Zimmerwand mit bunten Einsprengseln ersetzt. Wiederholt blinzelte er. Nach und nach klärte sich das Bild. Die Einsprengsel waren bunte Bilder, die an der Wand hingen, und Regale mit dicken Büchern darin. Alles hier kam ihm nur zu vertraut vor. Dann entdeckte er einen grauen Stoffelefanten mit einem blauen, weißgepunkteten Halstuch, der freundlich lächelnd auf einem Holzstuhl saß.

David lachte unterdrückt, als er endlich erkannte, wo er sich befand.

Ich bin zu Hause!

Beruhigt schloss er wieder die Augen. Die vertraute Umgebung gab ihm eine fast unheimliche Zuversicht.

Ich bin zu Hause. Es ist alles gut.

Es gab nur einen Ort auf der Welt, an dem er sich jemals so zuhause gefühlt hatte. Es war der einzige Ort, den er stets, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, als Zuhause bezeichnet hatte: sein altes Kinderzimmer im Haus seiner Eltern.

Warum war er nur so daneben? Warum fiel es ihm so schwer, sich zu erinnern, oder auch nur, sich zu konzentrieren? War er krank gewesen und seine Eltern hatten ihn zu sich geholt? Verzweifelt, versuchte David, sich ins Gedächtnis zu rufen, was als Letztes vor dem Einschlafen geschehen war. Es wollte ihm einfach nicht in den Sinn kommen. Er musste von seinem Arbeitsplatz aus aufgebrochen sein, um seine Eltern in Athens zu besuchen und hier krank geworden sein. Vielleicht hatte er etwas Schlechtes gegessen und sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen?

Er öffnete wieder die Augen. Das Licht schmerzte nun weniger. So hell war es eigentlich gar nicht. Die Sonne schien jedenfalls nicht durch das Fenster, denn sonst hätte sich der charakteristische Schatten des Fensterrahmens an der Wand vor ihm abgezeichnet. Alles sah genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Da hingen die Poster von Nirvana und Pearl Jam, die er in einer kurzen Phase seiner Jugend gemocht hatte, daneben ein Bild von Albert Einstein, der provokant die Zunge herausstreckte. Auf dem Regal, das sein Vater damals etwas schräg in der Wand verdübelt hatte, standen fünf dicke Bücher. Eines über Physik, eines über Mathematik, zwei über die Programmiersprachen C++ und Java und daneben noch ein Star-Trek-Episodenführer. Daneben hing eine graue, analoge Wanduhr. Es war kurz vor halb zehn.

David wandte den Kopf noch etwas weiter zu seinem alten Schreibtisch neben dem Fenster. Der war mehr für einen jugendlichen Schüler denn für einen erwachsenen Doktoranden gedacht und hatte ihm in den Semesterferien einige Rückenschmerzen beschert. Eine silberne Lampe stand darauf und an der Wand direkt darüber war der Satz »e=2,718281« mit Bleistift auf die Tapete geschrieben.

Es war sehr ruhig. Normalerweise fuhren auf der Straße unterhalb seines Kinderzimmerfensters immer Autos entlang in Richtung Stadtzentrum. War heute vielleicht Sonntag?

David zuckte zusammen, als er ein leises Räuspern auf der anderen Seite neben sich hörte. Er kannte dieses Geräusch seit frühester Kindheit. Sein Vater pflegte morgens in sein Zimmer zu kommen, wenn es für David Zeit war, aufzustehen. Diese Zeiten waren lange vorbei, und doch hatte sich das Geräusch tief in Davids Gedächtnis eingebrannt.

»Hallo, Dad!«

David erschrak. War dieses heisere Krächzen wirklich seine eigene Stimme? Langsam, wie in Zeitlupe, drehte er den Kopf.

Tatsächlich saß dort sein Vater neben dem alten Kleiderschrank. Gemütlich hatte er sich in dem braunen Ledersessel zurückgelehnt, in dem David immer zum Lesen seiner geliebten Science-Fiction-Romane gesessen hatte. Sein Vater lächelte schwach und schaute ihn gütig durch seine randlose Brille an. Der alte Mann hatte schon immer etwas Professorales an sich gehabt, was sicher seinem Beruf als Dozent der Geschichte am örtlichen College zu verdanken war. Das fortschreitende Alter, die grauen Haare und der sorgfältig gestutzte Vollbart in Kombination mit dem hellgrauen Jackett, das er selbst im Sommer im Haus trug, taten ihr Übriges, ihn als eine Art »Elder Statesman« erscheinen zu lassen, der immer mit einem guten Rat oder einer intelligenten Frage zur Stelle war, sich aber niemals aufdrängte.

»Wie lange sitzt du schon hier?«, fragte David. Seine Stimme war wirklich heiser. Er hustete und stellte fest, dass seine Kehle völlig ausgetrocknete war. Er griff hinüber zu dem Nachttisch, auf dem wie immer eine kleine Plastikflasche mit stillem Wasser stand. Er schraubte den Deckel mit zitternden Händen ab und trank mit gierigen Schlucken. Das Wasser war überraschend kühl.

»Schon eine ganze Weile«, antwortete sein Vater leise.

David stellte die Flasche zurück auf das Tischchen. Langsam richtete er sich im Bett auf, was sein Kopf mit einem verstärkten Dröhnen beantwortete. Er hustete wieder.

»Was ist denn geschehen?«

»Du hast im Schlaf geschrien«, antwortete sein Vater.

»Bin ich krank?«

Sein Vater wiegte langsam den Kopf. »Wie fühlst du dich?«

»Schrecklich. Ein wenig wie damals, als ich das Fieber hatte.«

»Daran erinnerst du dich also?«

David nickte schwach.

»Woran erinnerst du dich noch?«, fragte sein Vater. Seine Stimme war merkwürdig emotionslos. Als hätte er die Frage gestellt, obwohl ihn die Antwort eigentlich nicht interessierte. Als ob er mit seinen Gedanken woanders war. Und doch starrte er David neugierig an.

»Ich weiß nicht. Ich fühle mich, als hätte ich einen Filmriss gehabt. Die letzte zusammenhängende Erinnerung ist ein Vormittag auf meiner Arbeit bei Centauri. Danach sind da nur Fetzen. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass ich zu euch geflogen bin.«

»Sonst erinnerst du dich an nichts?«

»Sollte ich denn?«, fragte David.

Sein Vater lächelte ihn an. »Sag du es mir.«

David schloss die Augen. Die Benommenheit hatte ein wenig nachgelassen. Aber es fiel ihm immer noch schwer, sich zu konzentrieren. Mit geschlossenen Lidern hatte er wieder das Gefühl, zu fallen. Oder als wäre er schwerelos.

Schwerelos?

Diffuse Bilder wechselten in schneller Folge vor seinem inneren Auge. Er sah das Innere eines Raumschiffes. Die Erde von der Umlaufbahn aus. Den Mond, wie er gemächlich an ihm vorbeizog.

»Ich muss geträumt haben«, sagte David und schaute seinen Vater an. »Ein sehr lebhafter Traum.«

»Was hast du denn geträumt, David?«, fragte sein Vater. In seiner Stimme fehlte wieder jede Emotion.

»Ich weiß nicht recht. Ich glaube, ich bin im Weltraum gewesen. In einem Raumschiff. Bei einer Mission meines Arbeitgebers.«

»War es ein guter Traum?«

David vermochte es nicht zu sagen und horchte in sich hinein. Zuerst war der Traum gut gewesen. Er hatte Abenteuerlust verspürt, das befreiende Gefühl der Schwerelosigkeit, die Gewissheit, Teil von etwas Besonderem zu sein und neue Entdeckungen zu machen. »Am Anfang ja«, sagte er langsam. »Aber zum Schluss wurde es schrecklich. Da war ein Gefühl der Bedrohung. Des Eingesperrtseins. Hoffnungslosigkeit. Dann Panik. Sogar Todesangst. Das Gefühl, zu ersticken. Ich dachte wirklich, ich sei tot.«

»Aber jetzt bist du wach«, sagte sein Vater. David fiel auf, dass der sich die ganze Zeit über nicht auch nur ein Stückchen in dem Sessel bewegt hatte.

»Ja«, antwortete David und nickte. »Jetzt bin ich wach.« Er nahm den Zipfel der Bettdecke und schob sie ein Stück zurück. Neben einem weißen Shirt trug er nur eine weiße Unterhose. Stöhnend zog er die Beine an und setzte sich auf der Bettkante auf. Seine Füße baumelten einige Zentimeter über dem Boden.

»Bist du sicher, dass du schon aufstehen willst?«, fragte sein Vater.

David nickte nur. Vermutlich wäre das Beste, sich wieder hinzulegen, die Augen zu schließen und sich einige weitere Stunden Schlaf zu gönnen. Aber ein unbestimmtes Gefühl drängte ihn, schnell auf die Beine zu kommen. Dieser Traum ... Er erinnerte sich an immer mehr Bilder. Und im Gegensatz zu den meisten Träumen, die nach dem Aufwachen nach und nach aus dem Gedächtnis verschwanden, wurde dieser stetig klarer, je mehr David darüber nachdachte. Er sah ein Gesicht vor sich, das ihn anklagend anblickte. Ein Mann um die fünfzig Jahre, in eine blaue Astronautenkombi gehüllt, einen Helm unter dem Arm.

»Ed«, flüsterte David. Woher kannte er diesen Mann nur? War das wirklich ein Traum gewesen?

»Woran denkst du, David?«, fragte sein Vater.

»Ich denke über diesen Traum nach. Er war so verdammt realistisch. Ich war auf einer Expedition zum Rand des Sonnensystems unterwegs. Am Ende ist alles schiefgelaufen und ich bin gestorben.«

»Was ist denn schiefgelaufen?«

David blickte seinen Vater einen Moment an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Sein Herz fing heftig an zu pochen und er hatte plötzlich den Eindruck, er träumte immer noch. Er blickte nach links zum Fenster, zu den weißen, fließenden Gardinen, die die Außenwelt abschirmten. Er hatte das beunruhigende Gefühl, dass er dahinter nur die weiße, unendliche Leere des Jenseits erblicken würde. Und dieses eigentümliche Gefühl wurde immer stärker.

Er griff an den Nachttisch, um sich abzustützen, und rutschte langsam von der Bettkante herunter.

»Ich würde das an deiner Stelle nicht tun«, sagte sein Vater.

David bekam eine Gänsehaut beim Klang der roboterhaften Stimme.

Was ist hinter den Gardinen?

Endlich stand David auf seinen eigenen Füßen. Schwerfällig richtete er sich auf. Mit bleiernen Schritten ging er auf das Fenster zu. Langsam griff er mit der rechten Hand nach der Gardine, während er sich mit der linken an der Kommode abstützte. Er wandte den Kopf zu seinem Vater, der immer noch regungslos im Sessel saß. »Warum nicht? Was ist da draußen?«, fragte er mit zitternder Stimme.

Der alte Mann lächelte nur.

Panik machte David die Brust eng. Das hier war nicht sein zu Hause. Nein, das hier war in Wirklichkeit ein ganz anderer Ort. Ein finsterer Ort, an dem man ihn gefangen hielt. Wenn er die Gardinen zurückzog, würde er die Wahrheit erfahren.

Er nahm all seinen Mut zusammen und riss den Stoff mit einem Ruck zur Seite und atmete sofort spürbar auf.

Alles war, wie es sein sollte. Da unten die Straße. Das Haus gegenüber, dessen weiße Farbe sich im Laufe der Jahre wegen der Faulheit von Mr. Dingle allmählich in ein vergilbtes, abblätterndes Gelb verwandelt hatte. Der Baum etwas links, auf dem im Winter immer Krähen saßen.

»Weil du noch sehr schwach zu sein scheinst«, sagte sein Vater endlich. »Ich möchte nicht, dass du hinfällst.«

David nickte erleichtert und wandte den Blick von der Außenwelt ab. Er blieb aber am Fenster stehen, stützte sich weiter auf der Kommode ab.

»Ich kann mich immer noch nicht daran erinnern, wie ich von Portland hierher gekommen bin.«

»Du hast lange geschlafen.«

»Das beantwortet meine Frage nicht.«

»Du hast keine Frage gestellt.« Sein Vater lächelte wieder.

»Doch, ich sagte, dass ich keine Ahnung habe, wie ich hierher gekommen bin.«

»Das ist eine Aussage und keine Frage.«

David verdrehte die Augen. Das war typisch sein Vater.

»Also schön, wie lange bin ich schon hier?«

»Etwa zwei Tage. Die meiste Zeit davon hast du geschlafen.«

David nickte. Vielleicht war er auch einfach nur überarbeitet gewesen und hatte einen Schwächeanfall gehabt. Das Arbeitspensum bei Centauri war unglaublich hoch. Meist hatte er immer noch Aufgaben mit nach Hause genommen und bis tief in die Nacht am Schreibtisch gesessen. Während des letzten Besuchs bei seinen Eltern hatte er auch den ganzen ersten Tag im Bett verbracht. Diesmal musste es besonders schlimm gewesen sein. Er sollte besser darauf achten, in der nächsten Zeit ein wenig kürzer zu treten.

»Ist Mama da?«, fragte er.

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Mama ist nicht da.«

»Wo ist sie?«

»Sie ist nicht hier.«

Wenn heute Sonntagvormittag war, dann war sie sicher in der Kirche. Danach traf sie sich meistens noch mit Tante Ruth und Onkel Herman bei O’Haras Coffee Bar. Wie spät war es doch gleich? David blickte wieder auf die Uhr und stutzte. Eben war es kurz vor halb zehn gewesen. Das war sicher schon einige Minuten her und jetzt stand die Uhr immer noch auf kurz vor halb zehn.

»Die Uhr ist stehengeblieben«, sagte er. Die Feststellung beunruhigte ihn aus irgendeinem Grund mehr, als sie sollte.

»Die Uhrzeit spielt keine Rolle«, gab sein Vater zurück.

Erneut bekam David eine Gänsehaut. Die Situation war so ... merkwürdig. Er hatte das Gefühl, einfach nicht hier sein zu dürfen.

David schob die Gardine noch ein Stück zurück. Draußen war es ruhig. Viel zu ruhig – selbst für einen Sonntag. Nicht ein einziges Auto war in der ganzen Zeit vorbeigefahren. Auch Fußgänger waren keine zu sehen. Kein Motorenlärm von dem nahegelegenen Highway, kein Hundegebell - gar nichts. Sein Blick wanderte nach oben. Nur einige Schönwetterwolken waren über den Häusern zu sehen.

Moment mal.

Die Wolken bewegten sich nicht. Sie standen am Himmel wie auf eine blaue Leinwand gemalt. Die ganze Umwelt jenseits des Fensters war tot. Wie eine Leinwand, eine Simulation.

Simulation?

Als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte, tauchten neue Bilder in Davids Gedächtnis auf. Und dieser Traum von einer Weltraummission wurde noch realer. Beängstigend real! Er erinnerte sich sogar an die Namen der drei Astronauten, mit denen er auf die Reise gegangen war: Ed, Grace und Wendy. Sie waren gemeinsam mit einem Raumschiff - wie hieß es doch gleich? - an den Rand des Sonnensystems geflogen und plötzlich waren alle Sterne weg gewesen. Und dann waren sie auf eine uralte Intelligenz gestoßen, die alle Planetensysteme der Galaxis mit Dyson-Sphären umgeben und der Menschheit den Sternenhimmel nur als Simulation wiedergegeben hatte.

Simulation!

Langsam drehte er sich um und blickte den Mann an, der da vor der Wand im Sessel saß und aussah wie sein Vater. Der erwiderte seinen Blick freundlich lächelnd.

»Du bist nicht mein Vater«, sagte David. »Stimmt’s?«

Der Fremde nickte. »Stimmt.«

»Du bist nur eine Simulation. Oder eher noch eine Illusion.«

»Das ist richtig.«

»Und das hier ist nicht mein Zimmer.«

»Du hast recht.«

David wandte den Kopf. Noch immer hatten sich die Wolken keinen Millimeter über den Himmel bewegt. »Und ich bin gar nicht auf der Erde.«

»Es ist gut, dass du dich erinnerst.«

Zögerlich ging David auf den Mann zu, der seinem Vater so sehr glich. Das Lächeln ... der leicht spöttische Ausdruck in den Augen ...

Vor dem Sessel blieb David stehen und ging in die Knie, bis er das Gesicht des Doppelgängers direkt vor sich hatte. Der blinzelte kurz und starrte David in die Augen.

David streckte die Hand aus. Er zögerte kurz und berührte dann die Wange des fremden Wesens. Er hatte erwartet, ins Leere zu greifen wie bei einem Hologramm, aber die Haut seines Gegenübers war warm und weich wie bei einem Menschen aus Fleisch und Blut.

»Warum diese Täuschung?«, fragte David.

»Die vertraute Umgebung sollte dir das Aufwachen erleichtern.«

Jetzt kehrten auch die letzten Reste der Erinnerung zurück. Sie hatten mit den Antimaterievorräten der Helios ein Loch in den systemumspannenden Schirm gebrannt, um Kontakt mit der Erde aufzunehmen. Der Plan war auch aufgegangen. Er selbst hatte auf die Taste zum Absenden der Nachrichten gedrückt. Dann war Ed in die ausströmende Antimaterie geraten und gestorben. Zuletzt hatten die Nanomaschinen des Fremden damit begonnen, ihr Raumschiff zu zerstören. Es hatte einen Bruch in der Hülle des Cockpits gegeben und das letzte, woran er sich erinnerte, war das Gefühl, zu ersticken, als der Sauerstoff des Raumschiffs in das Vakuum des Weltalls strömte. Aber offensichtlich musste die künstliche Intelligenz, die sie gefunden hatten, sie doch noch gerettet haben. Oder zumindest ihn. Er war also wohl noch irgendwo an der Sphäre. Draußen, an der äußeren Grenze des Sonnensystems.

»Wo genau bin ich hier?«

»In einem Asteroiden, den wir für dich und deine Gefährten präpariert haben.«

Sein Herz machte einen Sprung. »Wendy und Grace leben auch noch?«

»Ja.« Der Mann, der wie sein Vater aussah, nickte.

David stand auf und trat einen Schritt zurück. Seine Beine zitterten und er ließ sich auf die Bettkante nieder, bevor er das Gleichgewicht verlor. »Wo sind sie? Kann ich zu ihnen?«

»Wenn das dein Wunsch ist, werde ich dich zu ihnen bringen. Fühlst du dich denn schon kräftig genug? Hast du Durst? Hunger?«

Jetzt, da sein Gegenüber es ansprach, bemerkte David tatsächlich ein flaues Gefühl im Magen. Er musste schon seit längerer Zeit nichts mehr gegessen haben. Seinen Durst hatte er weitgehend mit der Flasche Wasser vom Nachttisch gestillt.

»Ja, ich habe Hunger«, gab er zu.

Der Doppelgänger seines Vaters stand aus dem Sessel auf. »Warte einen Moment. Ich hole dir das Frühstück.«

Frühstück ...

David nickte nur.

»Im Schrank findest du etwas zum Anziehen. Ich werde gleich wieder hier sein.«

Das Wesen ging zielstrebig zur Zimmertür. Es hatte tatsächlich denselben leicht hektischen Schritt wie Davids Vater. Als es die Tür öffnete, war es dahinter so hell, dass David nicht erkennen konnte, was jenseits des Zimmers lag. Wie auf dem Flur im Haus seiner Eltern in Athens würde es dort sicher nicht aussehen.

In einem Asteroiden … Davon gab es ja genug im äußeren Sonnensystem. Darunter einige große. Die künstliche Intelligenz musste ihn in Windeseile ausgehöhlt, eingerichtet und mit einer Atmosphäre ausgestattet haben. Vielleicht gab es diesen Raum aber schon viel länger und Q - wie sie die fremde Intelligenz genannt hatten - hatte ihn vorausschauend für eine erste Begegnung mit der Menschheit hergerichtet. Wie viel Zeit mochte seit Eds Tod und der Zerstörung der Helios vergangen sein? Stunden? Tage? Womöglich sogar Wochen? David konnte es einfach nicht sagen.

Er stand auf und ging die zwei Schritte bis zu dem massiven Eichenschrank. Beinahe wäre er gestürzt, er musste sich an der Schranktür abstützen. Er atmete kurz durch und öffnete sie dann.

In seinem richtigen Zimmer war der Schrank immer randvoll gestopft mit alten Hemden, die er nie weggeworfen hatte, weil er meinte, sie irgendwann verschenken zu können. Jacken, die sich als Fehlkauf erwiesen hatten, Unmengen an T-Shirts, Sweatshirts, Unterhosen und Socken, die unordentlich in den Fächern verteilt waren.

Dieser Schrank war leer. David öffnete auch die zweite Tür, aber dahinter bot sich das gleiche Bild. Nur in einem Fach, in dem früher immer seine Handschuhe und Schals für den Winter gelegen hatten, befand sich eine blaue Kombination. Er zog sie heraus und erkannte sofort das Logo der Helios-Expedition. Es handelte sich um die Bordkombi, die sie alle auf dem Raumschiff getragen hatten. Allerdings konnte sie nicht von der Helios selbst stammen, denn seine mitgenommenen Kleidungsstücke hatten alle zahlreiche Gebrauchsspuren aufgewiesen, während diese hier brandneu waren. Sie rochen sogar neu nach Synthetik. Es handelte sich vermutlich um Replikate.

David zog sich mühsam die Hose an. Er musste darauf achten, nicht umzufallen. Dann schlüpfte er in das Oberteil, das ihm besser passte als das Original, und zog den Reißverschluss zu.

Im selben Moment betrat der Doppelgänger seines Vaters das Zimmer. In einer Hand ein Tablett balancierend, schloss er mit der anderen die Tür hinter sich. Er ging um das Bett herum und stellte das Essen auf den Nachttisch, bevor er sich selbst wieder in den Sessel setzte.

»Danke«, sagte David und beugte sich über das graue Plastiktablett, das aus jeder beliebigen Kantine hätte stammen können. Auf einem Porzellanteller lag ein Sandwich mit weißem Toast. Neben dem Teller stand ein Glas. David griff danach und schnupperte.

»Ist das richtiger Orangensaft?«, fragte er skeptisch.

Der Fremde nickte. »Ja, ist es.«

»Gepresst aus richtigen Orangen?«

»Nein, das nicht.«

David blickte irritiert auf, zuckte aber dann mit den Schultern. War sicher irgendetwas Synthetisiertes. Auf der Molekularbasis wahrscheinlich von richtigem Orangensaft nicht zu unterscheiden. Er nippte an dem Glas und die kühle Flüssigkeit schmeckte tatsächlich wie frisch gepresst. Es sammelten sich sogar Fruchtfleischstückchen zwischen seinen Zähnen.

David stellte das Glas zurück und griff nach dem Sandwich. Er klappte die weißen Toastscheiben auseinander. Erdnussbutter! Sofort begann er zu lachen.

»Was ist so lustig?«, fragte der Doppelgänger.

»Du«, sagte David. »Du bist lustig. Mein Vater hat mir immer Erdnussbuttersandwiches gemacht, wenn ich krank im Bett gelegen habe und Mama nicht zu Hause war. Gibt es irgendetwas, was ihr nicht über mich wisst?«

»Im Grunde genommen nein.« Der Fremde mit dem Gesicht seines Vaters lächelte wieder.

»Warum habt ihr die Helios zerstört?«

»Die Anwesenheit eures Schiffes war außerhalb der Sphäre nicht vorgesehen. Die Beschädigung der Hülle durch euch wurde als Angriff gewertet und die Zerstörung eures Raumschiffes war damit eine logische Konsequenz.«

»Aber mich, Wendy und Grace hast du gerettet«, stellte David fest.

»Das ist korrekt.«

»Wieso hast du uns nicht einfach sterben lassen?«

»Leben ist im Universum unendlich kostbar. Es liegt uns fern, es ohne triftigen Grund zu vernichten.«

»Wir haben eine Nachricht an die Erde schicken können. Wir haben gewonnen. Warum hast du uns nicht einfach zurückfliegen lassen?«

Der Fremde lachte leise. So, wie sein Vater es immer gemacht hatte, wenn David als Kind etwas Drolliges gesagt oder getan hatte. »Ich muss dich leider enttäuschen. Die Erde hat eure Nachricht nicht erhalten. Allerdings mussten wir euch die Möglichkeit nehmen, weitere Sabotageakte zu begehen.«

»Darum die Zerstörung der Helios«, stellte David fest. »Und darum hast du uns jetzt in diesen Asteroiden gebracht. Ich schätze, er wird nun bis zum Ende unseres Lebens ein Gefängnis sein.«

Der Doppelgänger schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist nicht das Ziel.«

»Nicht?«

»Ihr wurdet hierhergebracht, um eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen.«

Damit hatte David nicht gerechnet. Was sollten sie schon tun können, wozu diese außerirdische künstliche Intelligenz nicht selbst imstande war? Oder sollten sie dem Bewusstsein der Sphäre als Studienobjekt dienen, stellvertretend für die Menschheit?

»Was für eine Aufgabe?«

»Dies zu erörtern, steht mir nicht zu. Das wirst du später zusammen mit deinen Gefährten erfahren.«

»Es steht dir nicht zu?«

»Nein.«

»Aber du bist doch die künstliche Intelligenz, oder etwa nicht?«

»Diese Aussage trifft nur teilweise zu. Ja, ich bin eine Instanz des Verbundes, allerdings nur mit einem limitierten Umfang und zu einem ganz bestimmten Zweck.«

»Welchem Zweck?«

»Deine Ankunft angenehmer zu gestalten, dir bei der Akklimatisierung zu helfen und ein erster Ansprechpartner für deine Fragen zu sein. Diese Aufgaben betrachte ich als erfüllt, sobald du diesen Raum verlässt. Ein anderer Repräsentant wird sich dann um euch kümmern, nachdem du mit deinen Gefährten zusammengetroffen bist.«

David schluckte den letzten Bissen des Sandwiches hinunter und rieb sich die Hände an der Hose ab. »Ich glaube, dann möchte ich jetzt gerne zu ihnen.«

Sein Gegenüber nickte und stand auf. »Folge mir.« Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, zögerte und wandte sich noch einmal um. »Hinter dieser Tür wird nicht das sein, was du erwartest.«

David nickte. »Damit habe ich schon gerechnet.« Er blickte dem Mann mit dem Gesicht seines Vaters aus nächster Nähe in die Augen. Wieder war er fasziniert von der vollkommenen Ähnlichkeit. Er bildete sich sogar ein, den typisch herben Geruch des Rasierwassers wahrzunehmen, das sein alter Herr immer benutzte. »Werden wir uns wiedersehen?«

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Aufgabe ist erfüllt, sobald du den Raum verlassen hast. Ich werde wieder mit dem Verbund assimilieren.«

Die Aussage war interessant, aber nicht das, was David gemeint hatte. »Ich meinte, werde ich meinen richtigen Vater wiedersehen?«

Der Fremde lächelte schwach. »Ich habe keine Informationen zu diesem Themenkomplex. Ich sehe mich nicht in der Lage, diese Frage zu beantworten.«

David nickte. »Schon gut.«

Sein Gegenüber wandte sich wieder der Tür zu und zog sie auf. Strahlend weiße Helligkeit fiel ins Schlafzimmer. David holte tief Luft und schritt über die Schwelle. Die Tür schloss sich hinter ihm.

2.

 

Es war wirklich nicht das, was David erwartet hatte. Dass es nicht die Diele sein würde, war ihm klar gewesen. Aber womit hatte er dann gerechnet? Wenn der Fremde nicht gelogen hatte und David im Inneren eines Asteroiden war, dann hatte er eher einen steinernen Höhlengang erwartet oder alternativ einen futuristischen Gang wie im Inneren einer Raumstation. Aber das hier? Ja, in einem Korridor befand er sich, aber der war in keiner Weise futuristisch oder höhlenhaft. Mit den glatten, weißen Wänden und der Decke mit ihren kühlen Neonlichtern sah es hier eher aus wie in einem angejahrten Krankenhaus oder einer Arztpraxis. Vier graue Plastikstühle standen vor ihm an der Wand. Daneben ein weißer Wasserspender. Langsam ging David ein paar Schritte. Der Korridor endete bereits nach wenigen Metern. Erst jetzt fiel David auf, dass es keine weiteren Türen gab. Die einzige Möglichkeit, diesen Gang zu verlassen, war die, durch die er soeben gekommen war.

Einem Impuls folgend, drehte sich David herum, ging hastig zur Tür zurück und drückte die Klinke herunter.

»Was zum ...?«, entfuhr es ihm. Die Tür war verschlossen und bewegte sich keinen Millimeter. Er war gefangen! Ein Anflug von Panik stieg in ihm auf und er wurde sich erneut schmerzhaft bewusst, dass er unter Klaustrophobie litt. Aber er erinnerte sich an seine Astronautenausbildung und die Konditionierung und sogleich gelang es ihm, sich zu beruhigen. Er war gewiss nicht hierhergebracht worden, um nun für lange Zeit in diesem bizarren Gang festgehalten zu werden. Schließlich ging er zu den Stühlen, seufzte und nahm Platz. Von der Atmosphäre her fühlte er sich tatsächlich, als müsse er auf den Beginn einer Untersuchung warten. Dabei wollte er nur seine Freunde wiedersehen. Der Fremde hatte gesagt, er würde ihn zu ihnen führen. Also, wo waren sie nun?

David schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Seine Benommenheit war inzwischen verschwunden, ebenso wie die Kopfschmerzen. Mittlerweile fühlte er sich sogar ausgeruht und dank der Mahlzeit gestärkt. Vielleicht war in dem Orangensaft mehr drin gewesen als Vitamine, aber das war reine Spekulation.

Vor seinem inneren Auge ließ er die Begegnung mit dem Doppelgänger Revue passieren. Ungastlich war er hier nicht empfangen worden. Die fremde Intelligenz hatte sich die Mühe gemacht, sein Schlafzimmer und seinen Vater zu rekonstruieren, damit David leichter zu sich fand. Das stand im Gegensatz zur sachlichen Kühle der Sphäre, mit der sie innerhalb der Helios kommuniziert hatten. Und warum diese drastische Zerstörung ihres Raumschiffes, als sie sich noch an Bord befanden? Wenn die künstliche Intelligenz ein Anliegen an sie hatte, hätten sie doch gleich zu diesem Asteroiden gebracht werden können? Warum erst warten, bis sie bewusstlos und halbtot in ihrem Raumschiff lagen? Wie hatte die fremde Intelligenz sie überhaupt aus der Helios herausgebracht? Es gab immer mehr Fragen und weniger Antworten, je intensiver er über die Situation nachdachte. Andererseits hatte der Doppelgänger ja angedeutet, dass sie über alles informiert werden würden, wenn es soweit war. Es stellte sich aber trotzdem die Frage, warum ...

David spürte einen leichten Windstoß und riss die Augen auf. Die Tür am Ende des Ganges ging auf. Hindurch trat ...

»Wendy!« David sprang auf und lief ihr entgegen.

Das Gesicht der Astronautin war verquollen, Tränen liefen ihre Wangen hinab. Ihre mittellangen, braunen Haare standen in alle Richtungen ab. Sie trug dieselbe Missionskombi wie David. Sie schluchzte, aber als sie ihn erkannte, streckte sie ihm die Arme entgegen. Hinter ihr wurde die Tür wieder geschlossen. David konnte nicht feststellen, von wem.

Weinend fiel Wendy in seine Arme. »David!«, presste sie gequält hervor.

»Ist gut!«, flüsterte David und fuhr ihr durch die Haare. Ihm war die Situation unangenehm. Er mochte Nähe nicht sonderlich. Wenn er traurig oder verängstigt war, neigte er eher dazu, sich zurückzuziehen.

Er wartete einige Minuten ab, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte, und brachte sie dann zu einem der Stühle. Sie setzte sich, ließ seine Hand aber nicht los.

»Wir waren tot!«, schluchzte Wendy. »Wir waren doch tot!«

»Offensichtlich nicht«, sagte David in einem sarkastischen Tonfall, der ihm sofort leidtat. »Aber es kann nicht viel gefehlt haben.«

Wendy schluchzte, holte dann tief Luft und atmete mehrere Male tief ein und aus. Es dauerte noch einige Minuten, bis sie sich endgültig beruhigt hatte. David schwieg und hielt geduldig ihre Hand. Schließlich entzog sie sie ihm und fuhr sich damit zitternd über ihr Gesicht. David beugte sich zum Wasserspender hinüber. Er zog einen weißen Plastikbecher aus einer Halterung und hielt ihn unter den Hahn. Er wartete, bis der Becher bis zur Hälfte gefüllt war und reichte ihn dann an seine Gefährtin.

»Danke!« Ihre Hand zitterte so stark, dass Wasser überschwappte und auf das Oberteil ihrer Kombi tropfte.

»Besser?«

Wendy atmete noch einmal durch und nickte dann. »Ein wenig.« Ihre Stimme klang immer noch sehr weinerlich.

»Wen haben sie dir zum Aufwachen geschickt?«, fragte David leise.

»Meinen Mann«, sagte Wendy knapp.

»Gerry.«

»Ja, ich dachte, ich wäre in unserem Schlafzimmer und hätte nur einen bösen Traum gehabt. Die Erinnerung kam erst nach und nach.«

»Bei mir war es ganz ähnlich. Erst als sich außerhalb des Fensters nichts bewegte, wurde ich misstrauisch.«

»Aus dem Fenster habe ich gar nicht geschaut. Ich hatte Angst vor dem, was ich vielleicht dort sehen würde.«

»Sie haben es fast perfekt simuliert«, sagte David. »Was hat dich denn misstrauisch gemacht?«

»Es war die Art, wie Gerry geredet hat. So nüchtern, emotionslos. So kannte ich ihn gar nicht. Als dann immer mehr Bruchstücke in meinem Gedächtnis auftauchten, wurde mir klar, dass ich immer noch draußen im Weltraum bin und dass mein Gegenüber nicht Gerry ist. Ich war fast überrascht, dass er es sofort zugegeben hat, als ich ihn zur Rede stellte.«

»Was hat er dir gesagt, wo wir sind?«, wollte David wissen.

»Auf einem Asteroiden. Aber wo sich der befindet, hat er nicht sagen wollen.«

»Was meinst du damit?« David war davon ausgegangen, dass sie sich auf einer Umlaufbahn um die Sonne in der Nähe der Sphäre befanden.

»Ich fand es ein wenig verwunderlich, dass wir auf einmal im Asteroidengürtel innerhalb des Schirms sein sollen.«

David lächelte schwach. »Asteroiden gibt es überall im Sonnensystem, nicht nur im Asteroidengürtel.«

»Auch so weit draußen, jenseits der Sphäre?«, fragte Wendy.

David nickte. »Sicher.« Er stutzte. »Auch wenn man die eigentlich nicht Asteroiden nennt, sondern TNOs.«

»TNO?«

»Die Abkürzung für Transneptunisches Objekt«, erklärte er. »Ist schon etwas verwunderlich, dass unser Gastgeber nicht die korrekte Bezeichnung gewählt hat, obwohl er sonst immer so gründlich ist.« Waren sie wirklich noch in der Nähe der Sphäre? Genaugenommen war es reine Spekulation.

»Ich finde, das Wesen, mit dem ich gesprochen habe, hat wenig Ähnlichkeit mit der künstlichen Intelligenz der Sphäre gehabt, wie wir sie bislang erlebt haben«, sagte Wendy.

»Ich denke, die Doppelgänger haben sich im Verhalten angepasst, um uns zu schonen. Aber ich glaube, dass wir es bald wieder mit dem alten Q zu tun haben.«

»Was mag er mit uns vorhaben?«

David zuckte mit den Schultern. »Im Grunde genommen ist es reine Spekulation, aber ich könnte mir vorstellen, ...«

Wieder öffnete sich die Tür. David und Wendy standen auf. David wusste, wer da jeden Moment über die Schwelle treten würde. Und er hatte recht. Blass, mit großen Augen, aber selbstsicher betrat Grace den Korridor. In ihrer Missionskombi und mit ihren kurzen, sorgfältig zu einem Bob geschnittenen rötlichen Haaren und den Sommersprossen um ihre Nase sah sie aus, als befände sie sich immer noch im Antriebsmodul ihres geliebten Raumschiffes. Sie blieb einen kurzen Augenblick stehen, um sich umzublicken, und ging dann zielstrebig auf David und Wendy zu. Wendy lief ihr entgegen, um sie zu umarmen, aber Grace wimmelte sie ab. »Lasst mich einen Moment, bitte ...«

Sie ging an ihnen vorbei und setzte sich auf den hintersten der freien Stühle. »Nur eine Minute«, sagte sie mit heiserer Stimme.

Wendy ließ sich neben ihr nieder, machte aber keine Anstalten, sie zu berühren. Ihr Blick fiel auf den vierten Stuhl. »Für wen mag der wohl sein?«

»Ich vermute mal, für unseren Gastgeber«, sagte David.

»Meinst du, er schickt uns wieder so einen ... Menschen?«

»Ich weiß es nicht. Es würde die Kommunikation jedenfalls erheblich vereinfachen.«

»Wie macht er das überhaupt? Wie schafft er diese Doppelgänger? Ob es richtige Menschen sind? Klone? Roboter? Verbünde aus Nanomaschinen? Hologramme?«

»Ich weiß es nicht. Hologramme sind es jedenfalls nicht. Ich habe den Doppelgänger meines Vaters angefasst und er hat sich angefühlt wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ich glaube aber nicht, dass es Klone sind.«

»Warum nicht?«, fragte Wendy.

»Weil es bedeuten würde, dass sie die Doppelgänger nur für ein einziges Gespräch gezüchtet haben, um sie danach wieder zu vernichten. Selbst wenn sie das in einer so kurzen Zeit hinkriegen, wären die Konsequenzen moralisch gesehen erschütternd.«

»Ich glaube nicht, dass die fremde Intelligenz moralische Skrupel hat«, sagte Grace bissig.

David beugte sich nach vorn und schaute ihr in die Augen. Sie schien ihren Schock inzwischen überwunden zu haben. »Oh, ich denke schon, dass die Fremden Prinzipien haben. Allerdings müssen sich diese nicht notwendigerweise mit unseren Moralvorstellungen decken. Wenigstens haben sie uns aus dem Wrack der Helios gerettet.«

Grace schnaubte. »Aber Ed ist tot. Von ihnen umgebracht. Also sag mir nicht, die Fremden hätten irgendeine Moral!«

David schüttelte den Kopf. »Ed ist gestorben, weil er in die ausströmende Antimaterie geraten ist. Es war ein Unfall.«

»Und der ist auch nur geschehen, weil der Fremde unser Raumschiff lahmgelegt hat. Q hätte uns da draußen umkommen lassen.«

»Aber er hat es nicht. Er hat uns ja schließlich gerettet.«

Grace lachte leise. »Mir hat man gesagt, man habe eine Aufgabe für uns. Also hat er das nur aus reinem Selbstzweck getan.«

»Wer war es bei dir?«, fragte Wendy. »Wer war bei deinem Aufwachen bei dir?«

»Kathy. Meine Freundin.«

David nickte. »Wie hast du es bemerkt?«

»Gar nicht. Sie hat es mir gesagt. Ich dachte zunächst, sie will mich verschaukeln. Dann setzte nach und nach die Erinnerung ein.« Ihre Stimme klang verärgert.

»Haben sie dir etwas Näheres über diese Aufgabe verraten?«

Grace blinzelte. »Was meinst du mit sie? Ist er denn jetzt Einzahl oder Mehrzahl? Wir sollten uns langsam mal einigen.«

David zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist beides richtig. Der gesamte Verbund aus den Sphären war die Einzahl. Reden wir nur von der Sphäre um unsere Sonne, wäre es auch Singular. Da sich die Intelligenz in mehrere Instanzen aufspalten kann, wie wir an unseren Doppelgängern gesehen haben, kann man aber auch im Plural sprechen.«

»Lasst uns doch beim Singular bleiben«, sagte Wendy. »Denn egal, ob andere Sphären existieren oder nicht, egal, ob es Instanzen, Inkarnationen oder was auch immer gibt, haben wir es mit der Intelligenz der Sphäre um unsere Sonne zu tun.«

»Einverstanden. Also er«, sagte David und wandte sich wieder an Grace.

»Also: Hat er dir etwas über diese ominöse Aufgabe erzählt?«

Die Ingenieurin schüttelte den Kopf. »Nein. Wir würden alles Weitere in Kürze erfahren, hat sie - ich meine, er - gesagt.«

»Also schön. Dann werden wir wohl warten müssen, bis er sich endlich zu uns bequemt.«

»Da müssen wir nicht lange warten«, zischte Wendy.

David drehte sich um. Tatsächlich. Die Tür hatte sich erneut geöffnet. Jemand fluchte. Davids Kinnlade klappte herunter. Er kannte die Stimme. Und er hatte gedacht, dass er sie nie wieder hören würde. Dann näherte sich von der anderen Seite ein Schatten der Schwelle und trat ins Licht.

Wendy schrie auf.

»Ed!«, flüsterte Grace.

3.

 

So eine Scheiße!

Das war der erste Gedanke, der nach dem Aufwachen durch Eds Bewusstsein fuhr. Er stöhnte und krächzte: »So eine Scheiße.«

Sein Kopf zersprang fast. Doch zwang er sich, die Augen zu öffnen. Sie waren verklebt und er blinzelte. Vor lauter Tränenflüssigkeit konnte er kaum etwas erkennen. Immerhin registrierte er, dass er auf dem Bauch in einem Bett lag. Mit aller Kraft, die sein geschundener Körper aufzubringen imstande war, drehte er sich auf die Seite. Wieder stöhnte er.