Marthas Rache

Thriller

von Thomas Herzberg

Text Copyright © 2020 Thomas Herzberg

Alle Rechte vorbehalten

Fassung: 2.0

Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, dazu auffordert oder auch nur dazu ermuntert!

Ein großes Dankeschön geht an:

Meine liebe Bärbel, die sich bei der neuen Überarbeitung wieder richtig reingekniet hat Danke!


Inhalt:

Der Vätternsee: beschauliches Paradies, mitten im Herzen Schwedens.

Der Teufel hat seine Netze ausgelegt‹, berichtet die Lokalpresse geschockt, nachdem eine junge Frau nach der anderen spurlos verschwindet. Ihre verstümmelten Leichen werden in immer kürzeren Abständen ans Ufer des Sees gespült. Mehr tot als lebendig gelingt der jungen Martha die Flucht aus dieser Hölle. Als sie nach Wochen endlich aus dem Krankenhaus entlassen wird, sinnt sie nur auf eines: Rache! Hilfe erfährt sie dabei von Krister, dessen seltsames Einsiedlerdasein sie jedoch zunächst durchbrechen muss. Eine blutige Jagd beginnt, bei der nicht feststeht, wer der Jäger und wer der Gejagte ist …

Hinweis: »Marthas Rache« ist mein Thriller-Debüt, das ich zuvor schon unter meinem Pseudonym ›Thore Holmberg‹ veröffentlicht habe. Jetzt wird das Buch ein Teil der ›Herzberg-Familie‹ … die läuft einfach besser.

Achtung: Einige Szenen enthalten explizite Gewaltdarstellungen. Wer zart besaitet ist, sollte lieber ein anderes Buch (möglichst von mir) lesen :)

Prolog

Wieder so ein Abend, an dem der Kerl bereits high war, bevor er mit seinen perversen Spielchen begann. Dieses Mal fing er mit der Rothaarigen an, die am Fleischerhaken gegenüber hing. Ihr Gesicht war schon seit einigen Tagen von eitrigen Entzündungen übersät.

Daggi! Diesen Namen hatte sie ihnen genannt, als sie noch sprechen konnte … oder besser gesagt: wollte.

Danach war die Blonde dran, direkt links daneben. Ihr bellender Husten riss Martha jede Nacht mindestens ein Dutzend Mal aus dem Schlaf. Falls man es unter diesen Umständen überhaupt Schlaf nennen konnte. Wenn der kranke Typ seine Mädchen abends vom Haken nahm, bettete er sie zärtlich auf Strandmatten und kettete sie mit Handschellen an daumendicke Stahlringe, die rundherum im Boden verankert waren.

Offensichtlich hatte der Verrückte zum üblichen Koks oder Crystal auch noch einen Bluechip eingeworfen, der seinen mickrigen Schwanz in einen wahren Dauerständer verwandelte. Ilse, so hieß die Blonde, stöhnte matt. Ein Stöhnen, das jedoch keineswegs von Lust oder Verlangen herrührte, sondern lediglich Schmerz und Ekel widerspiegelte. Angetrieben vom verzweifelten Wunsch, dass es endlich vorbei sein möge.

Auch wenn Martha es stets zu verhindern versuchte, schaute sie jetzt doch einen kurzen Moment rüber und zuckte innerlich zusammen. Ilse hatte – das war sogar im Halbdunkel zu erkennen – ihre Augen fest zusammengekniffen. Garantiert wollte sie darauf verzichten, ihren Peiniger bei seinem Teufelswerk auch noch anzusehen. Wobei allein der Anblick einer Handvoll verfaulter Zähne und einer Frisur, die einem ausrangierten Handfeger glich, auch in jeder anderen Situation abschreckend gewirkt hätte.

Am Anfang hatten sie oft flüsternd philosophiert, wie alt der Kerl sein mochte. Manches Mal erschien er ihnen wie ein Greis, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ein anderes Mal, wenn er eine von ihnen packte, sie wie einen trockenen Strohballen über seinen Kopf hievte und anschließend mühelos in eine Ecke warf, glich er eher einem Leistungssportler, dessen nächster Wettkampf unmittelbar bevorstand.

Ilse stöhnte auf. Ihre Bluse hing schon seit Ewigkeiten nur noch in Fetzen herunter, die von ein paar Fasern zusammengehalten wurden. Bis vor Kurzem hatte sie – selbst an einem Fleischerhaken hängend oder zusammengekrümmt am Boden – überaus attraktiv gewirkt. Aber von dieser natürlichen Schönheit war heute nichts mehr übrig. Nicht mal ein Funken!

Martha war die Nächste in dieser eher zufälligen Reihenfolge, die niemals an zwei aufeinanderfolgenden Abenden dieselbe war. Noch vorgestern hätte das Schwein als Nächstes auch über Viola herfallen können, aber das war nicht mehr möglich. Es sei denn, dieses Monster würde sich – zu allem abartigen Überfluss – auch noch an Leichen vergehen.

Viola klagte schon seit langem über permanente Unterleibsschmerzen. Ausgelöst von den Verletzungen, die ihr der Kerl mit seinen schmutzigen Werkzeugen beigefügt hatte – wenn er an manchem Abend, trotz zahlreicher Potenzpillen, keinen mehr hochbekam.

Vor einigen Tagen hatte es dann angefangen. Und wenn sich Martha an eines der widerwärtigen Details mehr als lebhaft erinnern konnte, dann war es der Gestank. Selbst heute noch glaubte sie, ihn oft genug wahrzunehmen, fast zu schmecken. Eine Pfütze – die Mischung aus Eiter, Blut und Sekreten aller Art – wuchs unter Violas Platz fast stündlich.

Violas Platz! Martha lachte verbittert in sich hinein. Jeden Morgen kam das Monster in seinen Keller heruntergewankt, fesselte alle Frauen mit rauen Stricken und hängte jede von ihnen an einem der Fleischerhaken auf. Hunderte dieser Haken hingen in einer fest verankerten Stahlschiene von der Decke. Früher, so vermutete Martha zumindest, hatten hier tatsächlich Schlachtungen stattgefunden. Wobei es sich bei den Opfern dieser Taten mit Sicherheit um Vieh gehandelt hatte; vielleicht Schweine, Rinder oder Schafe. Aber ganz bestimmt nicht um junge Frauen, die in diesem feuchten, kalten Loch von Stunde zu Stunde ein kleines bisschen mehr starben.

Grinsend zog der Dreckskerl jetzt seinen unverändert harten Schwanz aus Ilse heraus, die nur noch wie betäubt in ihren Fesseln baumelte und leise vor sich hin stöhnte. Martha konnte Blut erkennen, das in dünnen Rinnsalen an ihren Unterarmen in Richtung Ellenbogen hinablief. Die Stricke waren derb und schmutzig. Jede noch so kleine Bewegung glich dem Hieb mit einer brennenden Peitsche. Jedes Strecken oder Aufbäumen führte sofort zu mehr oder minder großen Verletzungen.

Wieder – auch wenn Martha permanent versuchte, es nicht zu tun – starrte sie auf sein krummes Ding. Mit seinem typischen ekelerregenden Grinsen machte der Perverse ein paar erste Schritte auf sie zu und rieb sich dabei genüsslich die Hände. »Du bist dran, Sugar«, flüsterte er in einem Ton, der kaum zu seiner widerwärtigen Visage passte. »Du bist heute mein Nachtisch, und ich werde mir besonders viel Zeit mit dir lassen. Versprochen!« Bereits mit diesem letzten Wort riss er Martha die schmutzige Decke herunter, mit der er sie am Morgen – vermutlich, weil sie am ganzen Leib wie Espenlaub zitterte – direkt nach dem Aufhängen umhüllt hatte.

Danke!

Sein nächster Blick fiel auf seinen mickrigen Schwanz, der sich, aller Hilfsmittel zum Trotz, immer mehr in südliche Richtung orientierte. Fluchend knetete er mit seinen dreckigen Händen daran herum, bis sein Arbeitsgerät wieder zaghaft erste Einsatzbereitschaft signalisierte. Gerade als er Martha grob zu sich heranriss, um in sie einzudringen, klingelte sein Handy, das er wie üblich auf der chaotischen Werkbank zurückgelassen hatte, inmitten abgebrochener Schraubendreher und stumpfer Sägen.

»Scheiße!«, entfuhr es ihm, was einen ganzen Schwall von Sabber in Marthas Gesicht spritzen ließ. »Ausgerechnet jetzt!« Er zog seine ausgebeulte Cordhose ein Stück hoch und schlurfte in Richtung Tür davon, während es seinem Nachtisch vor lauter Erleichterung fast den Atem raubte.

Die Tür zum Keller hatte er nur angelehnt. Deshalb konnte Martha ein paar Fetzen verstehen. Klingt nach Ärger, dachte sie und schmunzelte gehässig. Kurz darauf hörte sie, wie er mit seinen schweren Arbeitsstiefeln die Kellertreppe hochstapfte, um weiter oben schon die nächste Tür ins Schloss zu donnern.

Danach war alles still, zumindest für einen Moment. Als oben vor dem Haus der Motor des Pick-ups mit lautem Dröhnen zum Leben erwachte, klang das für Martha wie eine Art Engelsgesang, eine himmlische Symphonie, die Ruhe versprach. Wenigstens für diesen Abend ... oder auch nur für ein paar Stunden.

Einige Minuten vergingen, bis sich Marthas Verstand wieder anderen Dingen widmen konnte, die nicht von grenzenloser Erleichterung verschleiert wurden. Sie schaute zu Ilse und Daggi hinüber, die beide wie tot in ihren Fesseln hingen und kein Geräusch mehr von sich gaben. Bloß, weil sich Ilses Brust unter ihrer zerfetzten Bluse in unregelmäßigen Abständen hob und wieder senkte, konnte sie in ihrem Fall sicher sein, dass sie noch lebte. Bei Daggi hingegen hätte sie keine Krone mehr gewettet, dass ihr Herz noch schlug. Wofür auch? Nur, um das Elend unnötig zu verlängern?

Zum ersten Mal spürte Martha fast so etwas wie Neid in sich aufsteigen, wenn sie daran dachte, endlich tot zu sein. Diesen ganzen Horror, die Schmerzen und Schändungen hinter sich zu lassen – einfach weg von hier! Selbst wenn man dafür die Fahrkarte ins Jenseits lösen musste.

1

Schon seit Ewigkeiten ließ Krister kochend heißes Wasser über den Teller laufen, aber trotzdem wollten sich die Verkrustungen nur zögerlich davon lösen. Er konnte nicht einmal sagen, wie lange es her war, dass er die hölzerne Spülbürste in der Hand gehalten hatte. Ihre Borsten zeigten in alle Richtungen, bloß nicht nach unten.

Endlich, nachdem sich jetzt auch ein Messer und eine Gabel widerwillig von ihren Essensresten getrennt hatten, konnte er den Wasserhahn wieder zudrehen. Mit zwei Blättern Küchenrolle trocknete er das Geschirr ab. Kurz darauf öffnete er die Mikrowelle, aus der ihm ein Gestank entgegenschlug, als wäre darin ein Murmeltier oder ein Eichhörnchen verendet. Er legte die zwei Tiefkühlburger auf den Teller, schloss eilig die verschmierte Glastür und drehte den Schalter auf fünf Minuten.

»Sollte reichen oder was meinst du, Lasse?«

Sein Labradormischling hob nur flüchtig den Kopf und sackte dann wieder in seinem Korb zusammen, als hätte ihn jemand mit einer doppelläufigen Schrotflinte niedergestreckt.

»Du bist ja eine schöne Hilfe!« Krister schaute in die Mikrowelle und beobachtete, wie der Drehteller sein Abendessen ruckelnd durch die Strahlen manövrierte. »Wenn du nicht antwortest, bekommst du auch nichts ab. Also überleg es dir, alter Junge!«

Lasse, ein elfjähriger Rüde mit einem unerreichten Dickkopf, stellte letztendlich die einzige positive Erinnerung dar, die Krister mit seiner Vergangenheit verband. Selbst die drei Häuser, ein Haufen Wertpapiere und – was man nicht unerwähnt lassen sollte – über zehn Millionen Schwedenkronen in bar für ihn als Alleinerben wollten kein vergleichbares Gefühl in ihm wecken. Einzig dieser Hund war es, der die Verbindung aufrechterhielt zu dem, was er früher leichtfertig als sein Leben bezeichnet hatte.

Das metallische Klingeln der Mikrowelle riss Krister aus seinen trüben Gedanken. Vorsichtig zog er den Teller heraus, auf dem sich Ketchup und Mayonnaise großflächig verteilt hatten. Kaum saß er am Tisch, da hockte auch schon Lasse neben ihm. Dem lief der Sabber in Bächen zwischen den Lefzen hinaus.

»Du kriegst die Hälfte vom zweiten ab«, versprach ihm Krister, was der Hund schwanzwedelnd dokumentierte. »Wird Zeit, dass ich neues Futter für dich hole – für uns. Der Tiefkühler ist auch leer. Das waren die letzten …« Er deutete auf die beiden matschigen Gebilde vor sich, von denen er das erste schon zur Hälfte vertilgt hatte. »Schmeckt zum Kotzen!«

Sein nächster Blick fiel auf das massive Küchenbuffet, an dem schon Jahrzehnte zuvor seine Großmutter die Hausarbeit verrichtet hatte. Schmutzige Teller, Tassen und Schüsseln stapelten sich bedrohlich. Nicht mal für ein weiteres Glas oder auch nur einen Eierbecher wäre dort noch Platz gewesen. In der Ecke daneben häuften sich Geschirrtücher, deren ursprüngliche Farbe bestenfalls noch zu erahnen war.

»Außerdem müssen wir beide mal aufräumen«, stellte Krister nüchtern fest, während er Lasses Kopf mechanisch kraulte.

Über ein halbes Jahr lag der Unfall seiner Eltern zurück, aber noch immer spürte er eine seltsame Leere in sich, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Keinerlei Antrieb, keine Ideen oder gar Ziele. Sein Leben war wie ein Loch, auf dessen Grund ihn der Zufall mal in die eine und mal in die andere Ecke spülte. Sein letzter Tag an der Uni kam ihm vor, als läge er Jahre und nicht nur Monate zurück. Schon am Morgen nach dem Unfall hatte er den Dekan über den Abbruch seines Studiums informiert. Vielleicht ein Fehler?

Nach einem kräftigen Rülpser ließ Krister den kompletten zweiten Burger in Lasses Napf klatschen. Gierig stürzte sich der Hund darauf und verschlang das gute Stück mit lediglich zwei Hapsen. Wie ein Präzisionswerkzeug fand seine schlabbernde Zunge hinterher auch noch die letzten Ketchup-Reste, die sich an den Rändern seiner Schüssel versteckt hatten.

»Was wollen wir zwei Hübschen heute Abend eigentlich machen?«, flüsterte Krister frustriert, während seine Augen erneut die allgegenwärtige Unordnung musterten. »Also ich schau mir den Krimi auf TV8 an, und du …?«

Lasse kratzte aufgeregt an der Küchentür. Womöglich spürte er bereits Druck in seinen Eingeweiden aufsteigen, der von dem Burger verursacht wurde. Krister erhob sich müde und schlurfte in seine Richtung. Kurz darauf standen die beiden nebeneinander auf der hölzernen Veranda, die gerade mal zwanzig Meter vom Ufer des Vätternsees entfernt lag. In der Abenddämmerung war ein Schwarm junger Gänse zu erkennen, die mitten auf dem Wasser das Starten und Landen übten. Am gegenüberliegenden Ufer konnte Krister ein paar Häuser ausmachen, in denen schon die ersten Lichter angingen.

An seiner breitesten Stelle, zwischen Karlsborg und Motala, misst der Vätternsee rund dreißig Kilometer. Hier, am südlichsten Ende, nur etwa zehn Minuten von Jönköping entfernt, sind es gerade mal gute sechs. An klaren Tagen kann man mit bloßem Auge sogar die Farbe der Wäsche erkennen, die auf der anderen Seite des Sees auf der Leine hängt.

»Wird kalt heut Nacht«, stellte Krister fest und gab Lasse einen kräftigen Klaps aufs Hinterteil, was ihn regelrecht nach vorne schießen ließ. »Komm wieder rein, bevor es ganz dunkel wird! Und lass die Gänse in Frieden!« Er schaute dem Hund hinterher, der in diesem Moment bereits ins Unterholz tauchte. Bald war von ihm nichts mehr zu hören oder zu sehen. Erneut starrte Krister auf die spiegelglatte Oberfläche des Sees, der die letzten Strahlen der Sonne bis in die höchsten Baumkronen reflektierte.

»Wird kalt … verdammt kalt!«

2

Noch immer konnte es Marthas Verstand kaum fassen, dass ihr ein weiteres Martyrium erspart blieb, zumindest an diesem Abend. Vor ein paar Minuten war Ilse aufgewacht. So seltsam es in diesem Augenblick auch erscheinen mochte, lächelte sie zaghaft, als sie ihre Augen aufschlug. Wenig später gab dann sogar Daggi ein röhrendes Husten von sich, das auf der einen Seite Erleichterung in Martha auslöste, am Ende dieser Gedanken jedoch nur Mitleid zurückließ.

Ich hab‘s dir so gegönnt! Du Arme!

Ilses Mund öffnete sich wie in Zeitlupe: »Ist er weg?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

Martha nickte zuerst nur träge, spürte aber, dass sie ihre Freude einfach teilen musste: »Mit dem Auto – der kommt heut nicht mehr wieder!« Immer, wenn der Kerl mit seinem röhrenden Monstrum davonfuhr, dauerte es anschließend mindestens einen halben Tag, bis sie das nächste Mal den Achtzylinder seines Pick-ups hören konnten.

»Helfen wird uns das auch nicht«, stellte Ilse nüchtern fest. »Es verlängert die ganze Scheiße nur ...«

Marthas Verstand wollte ihrer Leidensgenossin zwar Recht geben, aber ihr Mund weigerte sich beharrlich. Stattdessen ließ sie ihren Blick wiederholt in alle Ecken des schmutzigen Kellers wandern. Die einzige trübe Glühbirne schaffte es kaum, den letzten Spinnweben verhangenen Winkel zu erreichen. Alles war wie immer. Überall standen Fässer, Kartons oder Maschinen herum, die teilweise bis in ihre Einzelteile zerlegt waren. An den Wänden hingen Gartenwerkzeuge, Tüten, Taschen oder Säcke, die jeden möglichen Unrat beherbergten.

Eine Sache jedoch, das stand definitiv fest, war anders: Dieser verdammte Psychopath hatte die erste Tür nur angelehnt. In seiner Aufregung schien er vergessen zu haben, sie wie sonst zu verriegeln.

Und wie soll dir das helfen? Wenn du gefesselt an einem Stahlhaken hängst, könnte die Tür auch genauso gut sperrangelweit offen stehen. Mach dir keine Hoffnungen, Schätzchen!

Martha hasste die gehässige Stimme in ihrem Hinterkopf, die sich immer häufiger zu Wort meldete. Als sie zu Ilse rüberschaute, fiel ihr ein weiteres Detail. Etwas, das auch anders war als sonst: Zwischen den beiden – etwa mittig – stand ein Blecheimer, den der Kerl benutzt hatte, um notdürftig die Pfütze unter der toten Viola aufzuwischen. Am Gestank änderte diese Heldentat kaum etwas. Wohl auch, weil er den Eimer nur über dem Bodenabfluss ausgeleert, und danach einfach achtlos stehen gelassen hatte.

Marthas Verstand beschäftigte sich in diesem Moment mit Kurvenberechnungen und insbesondere damit, ob es Ilse gelingen könnte, den Blecheimer mit der Fußspitze in ihre Richtung zu stoßen. Das Ergebnis der weiteren gedanklichen Simulation jagte ihr einen regelrechten Schauer über den Rücken.

Es könnte passen! Bitte … lass es passen!

Martha spürte, wie sich von jetzt auf gleich jede Feuchtigkeit aus ihrem Mund verabschiedete. Fast so, als wollte der sich weigern, das Resultat ihrer Berechnungen mit den anderen zu teilen. Sag’s den anderen! Wieder die Stimme in ihrem Hinterkopf. Jetzt sag’s Ihnen schon! Das könnte passen.

»Seht ihr den Eimer da?«, krächzte Martha heiser. Ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor.

Ilse nickte und sogar Daggi gab ein seltsames Grunzen von sich. Seitdem ihr der Kerl den Stiel eines Vorschlaghammers bis zu Hälfte in den Unterleib gerammt hatte, gab sie nur noch selten einen artikulierten Laut von sich.

»Du kommst ran. Er steht ein kleines Stückchen dichter bei dir als bei mir«, keuchte Martha aufgeregt. Was doch Hoffnung und blanker Überlebenswille in einem Menschen auslösen können.

Ilse kniff die Augen zusammen. Langsam schien sie zu verstehen, was gemeint war.

»Du gibst ihm einen Stoß in meine Richtung und ich erledige dann den Rest. Okay?«

Ilse nickte müde. Ihre Fesseln spannten sich sogar schon ein Stück, was sie jedoch sofort mit einer schmerzverzerrten Grimasse dokumentierte. »Es geht nicht!«, stammelte sie keuchend. »Die Scheißdinger schneiden in meine alten Wunden.«

Martha konnte erkennen, wie sich der grobe Strick abermals tief in das Fleisch der spindeldürren Handgelenke grub. »Du musst, Ilse! Du musst einfach ...« Ihre Stimme erstarb. Sie spürte schon, wie ihr vorher gefasster Mut der gewohnten Aussichtslosigkeit und Verzweiflung Platz machen wollte. »Du musst ...« Völlig desillusioniert ließ sie den Kopf hängen und starrte auf einen riesigen schillernden Käfer hinab, der eilig den Keller durchquerte.

Ein weiteres, noch heftigeres Stöhnen riss sie endlich aus ihrer Lethargie und brachte sie in die Realität zurück. Ilse hatte sich erneut aufgebäumt. Ihr ganzer Körper schien von neuer Kraft erfüllt zu sein, die ihr Martha vor wenigen Augenblicken nicht einmal ansatzweise zugetraut hätte. Die Stricke ächzten unter der Spannung, die Ilses baumelnder Leib verursachte. Wieder und wieder schwang sie von einer Seite zur anderen, bis sie endlich das rechte Bein so weit wie möglich streckte.

Es klang fast wie ein Donnerschlag, als ihre Fußspitze den Blecheimer traf und diesen mit voller Wucht in Marthas Richtung katapultierte. Scheppernd landete er vor ihren Füßen, um am Ende seiner kurzen Reise, mit der Öffnung nach unten, einfach stehenzubleiben.

Wie in Zeitlupe legte sich der Staub. Als Martha hinabsah, konnte sie den Käfer erkennen, den der Eimer auf seinem Flug getroffen und ihm dabei den Hinterleib zerschmettert hatte. Verzweifelt kämpfte der Rest seiner unversehrten Beine um ein Vorankommen und das, obwohl sein baldiger Tod zweifellos beschlossene Sache war. Dieser Glückspilz!

Durch einen Schleier von Freudentränen erkannte Martha zuerst gar nicht, welche weiteren Spuren diese zurückliegende Heldentat hinterlassen hatte. Erst als sich ihr Blick wieder geschärft hatte, konnte sie Ilse klarer erkennen, die nur noch keuchend in ihren Fesseln hing. Waren es kurz zuvor lediglich dünne Rinnsale von Blut an den Unterarmen gewesen, so sah Martha jetzt regelrechte Sturzbäche, die sich bereits in einer schnell größer werdenden Pfütze unter ihren Füßen sammelten.

Martha erinnerte sich an Ilses Geschichte, also daran, wie sie diesem Monster in die Fänge geraten war. Ein Stück hinter Mölltorp – so hatte sie es ihnen an einem Morgen erzählt, kurz bevor das Ungeheuer die Treppe hinuntergetorkelt kam – war sie mit ihrem Kleinwagen liegen geblieben. Zuerst hatte sie sich noch gefreut, dass so schnell jemand anhielt, um ihr zu helfen. Dass diese Hilfsbereitschaft mit dem kürzlich frei gewordenen Platz an einem der Haken endete, konnte sie damals natürlich nicht ahnen. Fest stand nur, dass Ilses Reise, an diesem Ort und in dieser Sekunde ihr trauriges Ende erreicht hatte.

Nach zwei rasselnden Atemzügen trafen sich ihre Blicke erneut. Und wieder war es ein Lächeln, das sich völlig unerwartet in Ilses Gesicht breitmachte. Sie nickte kraftvoll, bevor sie noch ein letztes Mal den Mund öffnete. »Es ist gut so«, flüsterte sie. »Viel Glück!«

3

Vermutlich hatte Lasse schon eine Ewigkeit vor der Tür ausgeharrt, bevor Krister in einer Werbepause endlich sein verzweifeltes Kratzen hörte. Zurück im Wohnzimmer, ließ sich der Hausherr erneut wie ein nasser Sack auf sein Sofa fallen, während sich der Hund erleichtert neben ihm niederließ und vor sich hinbrummte.

»Sei ruhig, alter Kumpel! Jetzt wird’s spannend.«

Irgendwann war Krister eingeschlafen, begleitet von den üblichen trüben Gedanken, die sich – wie immer in letzter Zeit – mit seinen verstorbenen Eltern beschäftigten. Zeit seines Lebens hatte er sie abgrundtief gehasst. Allen voran seinen Vater, der ihn tagein und tagaus mit beschissenen Weisheiten und Moralpredigten nervte. Dazu seine Mutter, die ohnehin zu allem Ja und Amen sagte, was der Alte Sinnentleertes von sich gab. Heute, nachdem die beiden schon einige Monate tot waren, drehte sich in seinem Kopf fast alles nur um sie. Er weinte ihnen zwar keine Träne nach, aber ihr Tod hatte eben ein riesiges Loch in sein Leben gerissen. Und ganz gleich, was er auch versuchte, es schien kein Weg aus diesem Gefängnis hinauszuführen.

Mitten in der Nacht war Krister wie in Trance in sein Bett umgezogen, ohne sich vorher seiner Klamotten zu entledigen. Völlig verschwitzt und atemlos erwachte er dann ein weiteres Mal, als Lasse in der Küche wie von Sinnen bellte. Ein Blick auf das grell leuchtende Display seines Radioweckers verriet ihm, dass es nicht mal vier war. Viel zu früh, um auch nur ans Aufstehen zu denken. Reflexartig schoss seine Hand unter das Bett, wo sie sofort eine alte Unterhose fand. Nachdem er sie über das nervende Ding gestülpt hatte, konnte sich diese verdammte Anzeige 03:49 nicht noch weiter in seine Netzhaut brennen.

Lasse wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Gerade als Krister beschlossen hatte, aufzustehen und ihn nach draußen zu jagen, fiel er wieder in unruhige Träume, in denen ihn eine ganze Horde kläffender Mischlinge durch finstere Wälder jagte.

***

Martha war wie gelähmt. Auf der einen Seite drängte sich die Freude nach vorn. Mit ihr ein Hoffnungsschimmer, dass es am Ende dieser billige Blecheimer sein könnte, der die langersehnte Rettung brachte oder zumindest einen Fluchtversuch möglich machte. Auf der anderen Seite waren es die Bilder von Ilse, die ihr Leben hier, direkt vor ihren Augen, vor wenigen Minuten ausgehaucht hatte. Mittlerweile hing sie schlaffer denn je in ihren Fesseln, die Arme weit gedehnt, ihre Beine auf seltsame Weise abgeknickt. Sogar die Blutung hatte aufgehört, was kein Wunder war. Ihr Herz hatte es geschafft – bevor es jeden weiteren Dienst versagte – ihren gesamten Lebenssaft auf den schmutzigen Boden vor ihr zu pumpen.

Martha schüttelte den Kopf und versuchte, sich damit auch dieser trüben Gedanken zu entledigen. Ilse sollte nicht umsonst gestorben sein. Auf keinen Fall! Sie war es sich selbst und ebenso dieser tapferen Frau schuldig, es zumindest zu versuchen; alles daran zu setzen, dass wenigstens Daggi und ihr die Flucht gelänge.

Ohne weiteres Zögern zog Martha mit beiden Füßen gleichzeitig den Eimer zu sich heran. Die brennenden Schmerzen an ihren Handgelenken ignorierte sie unterdessen schlichtweg. Viel zu groß war die von Euphorie angepeitschte Hoffnung, dass es klappen könnte. Gleich darauf hatte sie es geschafft, den Eimer direkt unter sich zu manövrieren. Als sie gerade zum ersten Mal versuchte draufzusteigen, war es Daggis Stimme, die sie völlig unerwartet erstarren ließ: »Streng dich an, Baby!«, flüsterte die mit einem Grinsen, das absolut nicht zu einer solchen Situation passte. »Du schaffst es!«, fügte sie hinzu, zweifelsfrei von grenzenloser Zuversicht getrieben.

Martha suchte den Blick ihrer Gefährtin und tankte in Daggis hoffnungsvollen Augen weitere Energie, um sich auf den nun folgenden Kraftakt vorzubereiten. Einige Male holte sie noch tief Luft, bevor sie ihren ersten Fuß auf den Eimer setzte … dann auch den zweiten. Den Lohn für diese erste Etappe durfte sie sofort in Empfang nehmen. Sie spürte augenblicklich, wie das Reißen an ihren Handgelenken nachließ und fühlte, dass das Blut wie entfesselt durch ihre Adern floss; wie bei einem jahrzehntelang gestauten See, dem endlich die Schleusen geöffnet wurden.

Triumphierend sah Martha erneut zu Daggi hinüber, deren Grinsen noch breiter wurde. Man hätte fast denken können, dass die Freiheit in diesem Moment lediglich ein paar Schritte entfernt lag.

Nur noch durch die Tür! Draußen wartet ein Wagen, der Sie zum Flughafen bringt. Gute Heimreise!

Die Realität sah allerdings ganz anders aus. Martha stand mit gefesselten Händen auf einem wackeligen Blecheimer, ihre Muskeln von Hunger und Kälte bestenfalls zu nutzlosen Statisten degradiert.

Da war wieder die Stimme in ihrem Hinterkopf: Na, wie soll‘s weitergehen, Schätzchen? Du stehst mit weichen Beinen auf diesem Eimer … Glückwunsch! Aber damit hast du den Krieg noch lange nicht gewonnen, nicht mal eine Schlacht.

Martha betrachtete den massiven Stahlhaken, an dem noch bis vor wenigen Augenblicken ihr gesamtes Gewicht baumelte. Sie erinnerte sich an das, was dieser Wahnsinnige regelmäßig vor sich hin nuschelte, wenn er sie aufhängte: ›Eure Füße dürfen niemals komplett den Boden erreichen‹, flüsterte er jedes Mal mit einem Unterton, als handle es sich um eine Liebeserklärung. ›Ihr dürft nicht auf den Hacken stehen, sonst kommt ihr mir noch auf komische Gedanken ...‹

In ihrer ersten Nacht in diesem Kerker hatte Martha nur geweint und unentwegt auf ein junges Mädchen gestarrt, das gegenüber hing. Das arme Ding wirkte mehr tot als lebendig. Nicht mal an ihren Namen erinnerst du dich. Erbärmlich, findest du nicht?

Wieder schaute Martha auf den Haken, der – von unten betrachtet – bei Weitem nicht so stabil gewirkt hatte, wie jetzt, wo ihr Kopf ihn fast berührte. Insbesondere die Öffnung, versperrt durch einen massiven Federmechanismus, ließ ihre Zuversicht wie Butter in der Sonne dahinschmelzen. Selbst in gesundem Zustand, ohne wochenlanges Dahinvegetieren, wäre es ihr kaum gelungen, den Sicherungshebel zu bewegen, geschweige denn, ihn komplett zu öffnen. Jegliche Hoffnung erstarb, als ihr das ebenso stabile Sicherheitsschloss auffiel, mit dem die gesamte Konstruktion zusätzlich verriegelt war. Verdammt! Wieso sind dir Schlösser nie aufgefallen?

Alles, was kurz zuvor noch so positiv und ermutigend gewirkt hatte, löste sich blitzartig in Luft auf. Machte Platz für die gewohnte Trostlosigkeit, die sich mit bleierner Verzweiflung mischte.

Martha wollte schon wieder vom Eimer hinabsteigen und sich ihrem Schicksal ergeben, da fiel ihr ein Spalt zwischen zwei der dicken Knoten auf. Sogar ein wenig Licht schimmerte durch die schmale Lücke zwischen den Stricken.

Wie ein Feuer, das durch ein offenes Fenster gierig neue Luft inhaliert, flammte ihre Hoffnung erneut auf. Begleitet vom unbedingten Willen zu entfliehen. Koste es, was es wolle!


4

Einige Wochen zuvor

Bis kurz nach zehn hatte sich Martha mit ihren Eltern gestritten. Dann konnte sie sich endlich in ihr Bett verabschieden.

›Du liegst uns schon viel zu lange auf der Tasche‹, hatte ihr Vater nicht zum ersten Mal gebrüllt. Sie solle endlich entscheiden, welche Richtung sie beruflich anstrebe, aber vor allem solle sie eins tun: ausziehen! Was für ein wundervoller Vater, der seiner Tochter derlei Kommentare an den Kopf wirft.

In ihrem Bett angekommen, hatte Martha dann einen Entschluss gefasst, der längst überfällig war. Seit Monaten plante sie eine Rundreise quer durch Schweden, ihr wunderschönes Heimatland. Diesen letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, verstand sie als eine Art Startschuss. Endlich raus aus dieser scheiß Spießigkeit, die sich durch nichts anderes außer penibler Sauberkeit, sozialer Isolation und pünktlichen Mahlzeiten definierte.

Jahrelang hatte sie all die kleinen Scheine beiseite gepackt, die sie von ihrer Großmutter bei fast jedem Besuch bekam. Im Laufe der Zeit war ein schöner Batzen zusammengekommen, den Martha wie ihren Augapfel hütete. Das Geld dürfte für mindestens zwei bis drei Monate reichen. Wenn sie sparsam damit umging, vielleicht sogar länger.

Das Frühstück am nächsten Morgen verlief wie jedes andere zuvor. So war es schon, solange Martha denken konnte. Ihr Vater führte ein eisernes Regime, das keinerlei Ausbrüche oder kleinste Entgleisungen duldete. Ihre Mutter – eine Frau mit rauen Händen und vergleichbarem Gemüt – hatte sich vermutlich schon vor Jahrzehnten von jedweder eigenen Meinung verabschiedet. Sie tat einfach, was ihr Mann sagte oder anordnete und widersprach bestenfalls, wenn etwas gründlich mit ihren eigenen Interessen kollidierte.