Peter Schmitt ist Musiker und promovierter Philosoph. In Musik und Schrift verarbeitet er den Weltzustand Technik und dessen Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische
Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.
eISBN (ePub) 978-3-7873-3950-1
eISBN (PDF) 978-3-7873-3949-5
Bildnachweis
Umschlag: shutterstock (Shany Muchnik)
Seite 3: creazilla.com
© Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH
Prolog
1_Individualität
Verkehrsknotenpunkte des Allgemeinen
Digital verwaltete Welt
Beobachtung und Transparenz
2_Emotionen
Mediale Emotionen
Fear Of Missing Out
Scham und Verdinglichung
3_Technik
Das technische Unbewusste
Verzifferung
Mythos
4_Freiheit
Zellen im Gewissheitshaus
Suggestion von Wahlfreiheit
Formbestimmtheiten
5_Wissen
Digitales Wissen
Extended minds/augmented humans
Big Data und das Ende der Theorie
6_Bildung
Von der Halbbildung zur Unbildung
Microsoft 365 und Covid-19
Der postliterale Mensch
7_Medien
Sprache
Bilder
Musik
8_Gesellschaft
Digitale Öffentlichkeit
Corona und Agenda-Setting
Desinformation
9_Ideologie
Gamifizierung
Memifizierung
Radikalisierung
Epilog
Literatur
Anmerkungen
Der Leiter des Persuasive Tech Labs der Stanford Universität stellte kürzlich folgende Prognose via Twitter ins Netz: »A movement to be ›post-digital‹ will emerge in 2020. We will start to realize that being chained to your mobile phone is a low-status behavior, similar to smoking«1.
›Postdigital‹ verweist in dieser Prognose nicht auf eine nachdigitale Zeit ohne Computer und Internet – im Gegenteil. Es geht um ein neues Verständnis des Digitalen und ein damit zusammenhängendes neues Selbstverständnis der Anwender. Bildung (respektive »High-status«-Verhalten) der Zukunft wird zu einem beträchtlichen Teil auf dem kritischen Umgang mit den Bildschirmen beruhen. Das »Low-status«-Verhalten hingegen wird sich bei denen weiterhin festigen, die sich nicht auf die Entwicklung hin zu mehr kritischer Auseinandersetzung einlassen. Zwei grundlegende Charakteristika werden dem Postdigitalen vorausgesagt: ein technisches – das Verschwinden der Computer als Apparaturen und deren Implementierung in die Umwelt – und ein geistiges – das zu sich kommende Bewusstsein einer Gesellschaft über die unwahrscheinliche Lage, in die sie sich manövriert hat. Letzteres ist Thema des vorliegenden Buches. Es versammelt die wichtigsten Aspekte einer zeitgemäßen Medienkritik.
Der kritische Umgang selbst ist sicherlich keine Neuheit, in weiten Teilen der Gesellschaft jedoch unterschiedlich ausgeprägt und akzentuiert. Er folgt zumeist einer vagen Vermutung, einer diffusen Ahnung, dass etwas nicht stimmen könnte. Das ist nicht zufällig so, denn der Verdacht, dass etwas grundlegend falsch läuft, wird genährt durch die allgegenwärtigen und zur Normalität avancierten Absurditäten des digitalen Alltags: Das gruselige Bild der massenhaft gesenkten Köpfe über den Bildschirmen, die vereinheitlichenden Massenapps, die endlose und leere Selbstbespiegelung ihrer Anwender, der Wegfall von informationeller Autonomie, die black-box-artigen Hochleistungsrechner in den Händen von Heranwachsenden und nicht zuletzt die Echtzeitvernetzung gewaltbereiter Milieus: sie verweisen letztlich auf einen Trend, an den sich viele – höchst nachvollziehbar – nicht gewöhnen wollen. Ziel dieses Buches ist aber nicht primär die Verurteilung, das Monieren eines negativen Zustandes. Vielmehr geht es um den unverstellten Blick, das genaue Hinsehen und die nachvollziehbare Analyse. Die Wirkungen der verlockenden und gleichzeitig unheimlichen Apparate, die wir so tief in unser aller Leben integriert haben, müssen rational beurteilt werden. Es geht also nicht primär darum, etwas (wie das Rauchen oder die Smartphonesucht) als schlecht darzustellen. Das wäre zu einfach. Keine Verteufelung der uns umgebenden Technik und keine ängstliche Schutzhaltung werden empfohlen, sondern eine fundierte kritische Haltung. Denn erst im Zuge einer tiefen Auseinandersetzung lässt sich eine selbstbewusste Einschätzung vornehmen, die uns als Menschen und als Gesellschaft weiterbringt.
Die Artikulation von Kritik selbst ist aus medientheoretischer Sicht vor allen Dingen eines: die Parteinahme für unser primäres Medium, die »Sprache«. Sie befindet sich schon seit einiger Zeit in der Defensive. Ein Grund ist der Siegeszug der binären Codierung. Diese umgibt uns heute wie eine zweite Natur und ihre Wirkung ist in allen Bereichen der Gesellschaft, bis in unsere intimsten Regungen hinein, zu spüren. Aus ihr folgt die Auflösung von semantischem Gehalt. Begriffe gehen nicht mehr in einer bestimmten Bedeutung auf. Die digitale Verrechnung löst zum Beispiel »das Besondere« auf und streut es überall hin. Paradigmatisch hierfür sind – wie in jeder Phase der kulturellen Umbrüche – die Künste: »Musik heute ist wie Gas, Wasser oder Strom. Wir drehen den Hahn auf und haben, was wir wollen. Der Gedanke, dass etwas interessant ist, weil es selten ist, verschwindet. Fast nichts ist besonders.«2
Erst langsam, dann immer schneller werdend rotieren Besonderheiten aller Art um ein hochfrequent rechnendes Vakuum, das alles zerkleinert und zur Zahlenkolonne schreddert. Emotionen verlieren sich darin, Freiheit wird zu invertierter Freiheit. »Jeden Tag erleben wir mehr Vielfalt als jemals zuvor. Aber sie ist nicht wirklich vielfältig.«3 Nicht nur Musik, sondern alles medial Aufgearbeitete wird zwar virtuell facettenreicher, verliert real aber gleichzeitig an Kontur und Substanz. Als würde die Entwicklung sich selbst überspielen wollen, strahlt und schreit alles grell und laut aus den Bildschirmen und Lautsprechern. Vielfalt stürzt in ihr Gegenteil. Sie ist zwar da, aber eben nur als Ergebnis von Rechenleistung. Analoge Besonderheiten gibt es auch noch (und sie werden bleiben), verlieren aber in der Verrechnung automatisch an idiosynkratischer Qualität. Individualität steht zur Disposition, Gedächtnisleistung, Erkenntnis, Liebe.
Die totale Computerisierung entwickelt schon seit Jahren eine mahlstromartige Dynamik. Sie ist aber mittlerweile so unnachgiebig wie ein Schwarzes Loch. Sie zerrt uns alle in eine Existenzweise hinein, für oder gegen die wir uns nicht entscheiden können. Inhalte und die Wahrnehmung selbst wirbeln darin unaufhaltbar in die 0-te Dimension. Die Möglichkeiten sind darin unendlich und zugleich negiert. Nichts ist in ihr von Bestand. Der Satz lässt sich in Zeiten von juristischen Erwägungen zu maschinellem »Vergessen« aber auch umkehren. Einmal hochgeladen, bleibt es für immer bestehen. In solchen Widersprüchen bündelt sich die Gewalt des Umbruchs. Kann man überhaupt noch semantisch fassen, was passiert? Viele Begriffe verweisen mittlerweile sogar auf ihr Gegenteil: Gefühl wird zur Logik, Information zur Desinformation, Freiheit zum Zwang, Technik zum Mythos, Individualität zur Anpassung. Was hat das zu bedeuten?
Im Folgenden wird diese in vielerlei Hinsicht denkwürdige Entwicklung unter die Lupe genommen. Hierbei soll keine verstiegene Sprachphilosophie anvisiert werden. Es geht um die konkrete Situation des Einzelnen und der Gesellschaft mit den zu jeder Zeit perfekt funktionierenden Maschinen. Letztere werden nicht nur genutzt. Ihre Programme werden nicht nur angewandt. Sie haben – auch wenn viele von uns das nicht wahrhaben wollen – einen massiven Einfluss auf unser Denken und Fühlen. Sie wirken mit ihrer bloßen physischen Präsenz. Sie prägen mit ihrer inneren Struktur. Sie machen uns, ohne dass wir es wollen, zu technoiden Wesen. Wichtig (oder mittlerweile vielmehr überlebenswichtig) ist es, hier, so oft es geht, einen Schritt zurück zu machen und sich das gesamte Bild anzuschauen. Die psychologische wie emotionale Notwendigkeit dieser Distanzierung macht die Erarbeitung einer fundierten Medienkritik wichtiger denn je.
Der Begriff »Medienkritik« selbst erscheint wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Er wird gegenwärtig reduziert auf die populistische Verurteilung von Medienhäusern. Insofern üben Donald Trump und die AfD Medienkritik, wenn sie die Berichterstattungen großer Medienhäuser rügen.4 Das eindimensionale Verständnis wird hier zum Anlass genommen, in die Tiefen der eigentlichen Bedeutung von Medienkritik vorzudringen. Dies beinhaltet den Rückbezug auf primäre Medien wie Sprache, Bilder und Musik. Dabei geht es nicht so sehr um die Inhalte, sondern um das eigentümliche Verhältnis des Menschen zu seinen Medien. Medienkritik – wie hier vorgestellt – bewegt sich in einem freien Feld zwischen Medientheorie, Anthropologie, Emotionsanalyse und Gesellschaftstheorie. Sie versteht sich als progressiv, obwohl (oder gerade weil) sie dort konservativ ist, wo es um die letzten Residuen von Freiheit geht. Was bedeutet eigentlich Freiheit im Zeitalter der fremdbestimmten Datenwolken?
Medienkritik ist Rückzugspunkt aus dem umfassenden digitalen Abhängigkeitsverhältnis, das heute jedem apriorisch zukommt. Sie ist Aufforderung zum Neinsagen. Sie ist Einladung zur genauen Analyse, zum gedanklichen Verweilen vor der Unwahrscheinlichkeit der Situation. Sie ist auch humanistische Philosophie und getragen von der Neugier auf die verborgenen Qualitäten des menschlichen Geistes selbst. Die werden leider immer mehr von dem computerisierten Wahnsinn, der uns umgibt, verdrängt. Ohne es zu wollen, befindet sich der sensible Einzelne im permanenten Kampf mit der Maschinerie. Der Kampf, die Tragik selbst werden überstrahlt von den stets verabreichten, bunt bewegten Verheißungen. Dabei geht es um nicht weniger als die Verteidigung des Menschen als souveränes und aufgeklärtes Wesen. Denn die umfassende Implementierung der digitalen Maschinen erzeugt eine neue Bedingung unseres Daseins. Sie wirft konkrete Fragen auf, die an unser Selbstbild und an unsere Emotionen rühren. Wie fühlen wir uns inmitten der totalen Verrechnung unseres Lebens? Was bedeutet Freiheit in permanenter digitaler Koexistenz? Welchen Wert hat heute noch ein Bild? Welchen Wert hat Musik? Ist der Mensch überhaupt noch das Subjekt der Geschichte? Oder wohnt er der technologischen Entwicklung nur noch ko-substantiell bei? Können wir beim Anwender der Massenprogramme noch vom Individuum sprechen?
Individualität zeichnete sich schon immer durch die Unterscheidung vom Allgemeinen aus. »Das Individuum, das sich entfaltet und differenziert, indem es von dem Allgemeinen immer nachdrücklicher sich scheidet«5, wird gegenwärtig ohne Pause in die Mechanismen der computergestützten Lebensführung eingeschliffen. Jeder streicht mit uniformer Lässigkeit über Touchscreens. Jeder installiert die identischen Apps, die identischen Updates. Das Besondere, »Nichtidentische« verschwindet sukzessive hinter den Benutzeroberflächen, den wesensgleichen Funktionen der Programme. Der Versuch, sich vom Allgemeinen zu scheiden, scheitert jäh mit dem gesenkten Blick auf den allzeit bereiten Bildschirm. Aus einem einfachen Grund: weil es jeder macht. Dabei generiert sich Individualität per Definition aus dem Rückzug von dem, was jeder macht. Der Mensch wird erst zum Individuum, wenn er sich von der un- bzw. überindividuellen Masse löst und sich seine unterscheidenden Merkmale bewusst macht. Der Grad der Bewusstheit bei der Loslösung von kulturellen Zwängen macht die Qualität seiner Individualität aus. Zum kulturellen Zwang, der von der Totaldigitalisierung ausgeht, lässt sich jedoch kaum Distanz aufbauen. Im Gegenteil: Die Maschinerie ist ein dem Individuum a priori zukommendes Moment.
Das Individuum als Einzelwesen, das sich als einmalige Kombination von Merkmalen begreifen, das auf eine komplexe und widersprüchliche Genese seiner selbst zurückblicken darf, gerät mit den flächendeckend genutzten Apparaten in einen Strom technologischer Gleichschaltung. Hier findet es sich ohne Körper und ohne Geruch wieder. Würde man die Körperfunktionen der digitalen Menschen in ihrer Proportionalität darstellen wollen, so käme eine Zeichnung heraus, auf der ein winziger Körper mit verkümmerten Gliedmaßen, mit gewaltigen Augen und Ohren abgebildet wäre. Augen und Ohren, auf einen virtuellen Kosmos gerichtet, in dem drei Gebote zu befolgen sind: 1. Produziere und konsumiere so viele Bilder, wie du kannst! 2. Höre ohne Unterlass online gestreamte Musik! 3. Mache dich bildhaft den anderen gleich! Und tatsächlich: Aus sicherer Entfernung mutet das Internet wie ein großes, wahnwitziges Projekt der audiovisuellen Gleichschaltung an. Ein Blick in ein beliebiges Profil eines beliebigen Anbieters genügt, um sich der streng algorithmisierten Monokultur zu vergewissern: Jeder verwendet das identische Programm auf identische Art und Weise.
Die bloße Tatsache des angewendeten Programms macht den Einzelnen ad hoc weniger individuell. Denn mit den zur Verfügung gestellten bunten Bausätzen gehen automatisch dieselben Nutzungsweisen einher, die im besten Fall gefühlsbetont und spontan (also ohne lästige gedankliche Reflexionsleistung) vonstattengehen. Schon früher zielten die Inhalte und Formate des Fernsehens und des Radios nur selten auf gedankliche Reflexion ab (»Individuum wird es erst als Denkendes«)6, sondern direkt auf die Gefühlswelt. Die fast hypnotische Wirkung der sauberen Benutzeroberflächen, die angenehme Glätte des Touchscreens, die gefälligen Töne beim Klicken der Symbole, die Programme selbst, gespickt mit traumartig animierten Videosequenzen. Nicht die ratio, die kritische Distanz zum Gerät ist der Adressat der Inhalte, sondern die Emotionen, das Unbewusste. Gerade die distanzminimierenden Elemente, der »intuitive Gebrauch«, gelten als besonderes Zeichen von Qualität. Auch hier sind die Menschen scheinbar alle gleich. Jeder wendet gleich intuitiv die Geräte an. Nicht nur die Inhalte – also der über Spotify gestreamte romantische Popsong oder das geschmeidig animierte Game via Steam – laden die Anwender emotional auf, sondern auch die Apparatur selbst. Sie fühlt sich gut an, sieht gut aus. Sie liegt gut in der Hand, sauber und glatt. Sie funktioniert immer einwandfrei. Der Mensch hingegen erscheint vor dem digitalen Alleskönner wie ein tölpelhafter Saurier, wie ein veraltetes und makelbehaftetes Wesen aus einer anderen Zeit. Auf mehreren Ebenen wird dieses archaische Geschöpf in seiner kreatürlichen Befangenheit emotionalisiert. Zum einen bei der intuitiven Nutzung selbst, zum anderen über die hoch emotionalisierten Inhalte, die zu jeder Tages- und Nachtzeit konsumiert werden, und schließlich unterschwellig beschämt vor der Makellosigkeit der Apparate. Er selbst ist bedauernswert einzigartig und widersprüchlich. Insofern kann es dem unperfekten Einzelnen nur recht sein, dass die ihm apriorisch innewohnenden Eigenarten im digitalen Furor verschwinden. Wie von Geisterhand nivellieren sich dort Unterschiede nicht nur im konkreten Miteinander via Instagram.
Die Grundfunktion des Computers, die Verzifferung, steht für den Transfer von höchst diversen Inhalten in die 0-dimensionale, nackte Zahlenkolonne. Big Data steht insofern für das Sichauflösen von Grenzen, die einst zwischen einzelnen Sachgebieten klar zu ziehen waren. Geographie, Finanzen, Ästhetik, Kommunikation, Biologie – die GPS-Daten des Sommerurlaubs, die zuvor getätigten Online-Käufe, die nebenher gehörte Musik, die Kontodaten, der Chat mit der Nachbarin, der geschaute Porno, das Spielverhalten im Game, die unzähligen gescheiterten Selfie-Versuche, die Pränatalfotos, die gefilmte Geburt – alle Inhalte verschwimmen zu einem Datenkonvolut, das immer weiter anwächst und auf unabsehbare Zeit online steht. Der Mensch verliert hier an Individualität, ohne dass er es merkt. Die etymologische Perspektive auf lat. individuum – ›Unteilbares‹, ›Einzelding‹ – verweist in diesem Zusammenhang auf die geschlossene Einheit des einzeln Seienden. Sie wird über die hypostatische feinpixelige Visualität und komprimierte Akustik zerteilt. Zudem degeneriert die wertvolle Reifezeit hin zu realen Alleinstellungsmerkmalen zu fortschrittlicher Versiertheit bei der Maschinenbedienung. Das ausgehöhlte Konzept heutiger Individualität selbst wird zum Faktor sogenannter digitaler Identitätsarbeit. Nicht mehr vom Individuum ist dabei die Rede, sondern bezeichnenderweise vom Anwender. Wie sehr der Begriff Anwender indes auf ein höchst unindividuelles Reagieren verweist und wie wenig die digitale Individualisierung noch mit wirklich individuellem Agieren zu tun hat, muss bei der Annäherung an eine zeitgemäße kritische Medientheorie betont werden. Denn das vermeintlich freie und individuelle Hantieren mit vorgegebenen Profilbaukästen und Kommunikationsbausteinen entspricht gegenwärtig noch viel mehr der Tendenz der Kulturindustrie, »das Bewusstsein des Publikums von allen Seiten zu umstellen und einzufangen«7. Individualität wird in dieser lückenlosen, ja hermetischen Umstellung des Bewusstseins des Einzelnen erst heute wirklich zu der Pseudoindividualität, von der Theodor W. Adorno vor gut sechzig Jahren sprach. Die bescheidet sich gegenwärtig mit oberflächlicher Verschiedenheit bei der Wahl des Fotos und der exaltierten Sprachnachricht auf WhatsApp. Hier wird immer deutlicher, dass die »Individuen gar keine mehr sind, sondern bloße Verkehrsknotenpunkte der Tendenzen des Allgemeinen«8.
Und diese Äußerungen des Allgemeinen werden in jeder Serverfarm, jeder Cloud sauber gelistet, gespeichert und verwaltet. Mitte des letzten Jahrhunderts erkannten Adorno und sein Freund Max Horkheimer bereits eine eigenartige Verschwisterung der Kulturindustrie mit den Institutionen der Verwaltung. »Der Generalnenner der Kultur enthält virtuell bereits die Erfassung, Katalogisierung, Klassifizierung, welche die Kultur ins Reich der Administration hineinnimmt.«9 Die Übersichtlichkeit der Profile, die lückenlose statistische Erfassung aller eingegebenen Daten, die geordnete Chronik, die exakten Uhrzeiten zu den banalsten Äußerungen, die saubere Auflistung der Kontakte verweisen heute auf einen neuen Modus der totalen Verwaltung. Kritik an der umfassenden Bürokratisierung des Lebens in modernen Industrienationen war bis vor kurzem noch allgegenwärtig. Seit Kafkas Urszene des Ausgeliefertseins vor einer anonymen und übermächtigen Verwaltung haben sich unzählige Autoren und Regisseure an ihr abgearbeitet. Das hat bis heute auch seinen nachvollziehbaren Grund. Die sachliche Distanz und gleichzeitige unmittelbare Nähe der behördlichen Erfassung hatte schon immer etwas Kaltes, Entwürdigendes an sich. Das Individuum vor der namenlosen und gewaltigen Maschinerie, ohnmächtig vor dem endlosen Arbeitsbetrieb der Administration, in der es nur noch Nummer, nur noch Bestandteil des unpersönlichen Ganzen ist.
Das Thematisieren der Absurdität bürokratischer Verfahren, deren immenser Einfluss auf das Leben der Vielen, hat merkwürdigerweise über die letzten Jahrzehnte immer weiter nachgelassen. Und dies, obwohl der Mensch heute mit seinen Geräten stets eine Käseglocke der Verwaltung mit sich herumträgt. In ihr wird unentwegt erfasst, katalogisiert, klassifiziert. Eine streng algorithmisierte Datenwolke umgibt jeden Anwender und aus ihr auszubrechen ist de facto nicht mehr möglich. Es gibt in der frühen Fernsehära bereits kein Ausweichen, keinen »Standort außerhalb des Getriebes«10. Die lückenlose Vernetzung der Kanäle der Kulturindustrie (bestehend aus dem heute harmlos anmutenden dreikanaligen Schwarz-Weiß-Fernsehen, dem analogen Radio und dem Printbereich) lässt damals schon alle möglichen Schlupfwinkel verschwinden. Das damalige Verschwinden der Schlupfwinkel mutet heute jedoch fast lächerlich an, vergegenwärtigt man sich die zu jeder Zeit mitgeführten Überwachungsgeräte mit Ultra-HD-Kamera und GPS. Die bis in die entlegensten Winkel der Welt sich real zutragende Vernetzung und sich gleichzeitig verwirklichende Gläsernheit der Anwender gibt dem Bild der verschwindenden Schlupfwinkel neue Konturen. Die »verwaltete Welt« – ursprünglich als reine Bürokratiekritik vorgetragen – hat sich über das Internet und den Computer restlos verwirklicht.
Kein Kulturpessimismus der Vergangenheit kann es mit der heutigen Situation mehr aufnehmen. Evgeny Morozov zufolge fristet der Anwender sein Dasein zwischen »Sensoren, Filtern und Profilen«11. Für ihn gilt der Einzelne bereits als digital determiniert, und zwar in dem Maße, wie die Bestandteile seiner technischen Umwelt programmiert sind. Ihm kommt der Lebensmodus der Überwachung (über Sensoren) und der Datenspeicherung (in Form von Profilen) zu. In diesem Zusammenhang werden die prominent diskutierten Theorien postmoderner Soziologen fragwürdig. Ihnen gemäß kommt es gerade über die sich bietenden Möglichkeiten der Technik zu immer weiter fortschreitenden Individualisierungen hin zu höchst diversen Lebensstilen, die in einer pluralistischen Gesellschaft nebeneinander existieren. Der sogenannte digital akzelerierte Pluralismus erfährt über die monokulturellen GAFA-Profile seine Aufhebung.
Slavoj Žižek ventiliert in diesem Zusammenhang Gedanken zum Wegfall echter Individualität in Anbetracht der allgegenwärtigen »Cloud«. Gerade wo wirklich individuell gehandelt wird – also »nichtentfremdet, spontan« –, wirkt das unsichtbare Netzwerk der privaten Unternehmen als quasi objektives Regulativ.12 Mit folgender rhetorischer Frage verweist er auf die totalitäre und nivellierende Wirkung des Cloud-Computing als neuer Noosphäre: »[…] are we not all becoming involved in something comparable, insofar as our ›cloud‹ functions in a way not dissimilar to the Chinese state?«13 Hieran lassen sich weitere einfache Fragen knüpfen: Wie divers ist eine Gesellschaft, die flächendeckend WhatsApp, Google und Apple verwendet? Wie individuell ist ein Mensch, der seine Alleinstellungsmerkmale über Instagram kommuniziert? Wie viel Eigensinn, wie viel Persönlichkeit lassen die identischen Bausätze der sogenannten »Sozialen Medien« tatsächlich zu? Die Fragen lassen vermuten, dass es nicht Individualität ist, die über die »Massen-Apps« gefördert wird, sondern vielmehr die technische Bürokratisierung und die mediale Gleichschaltung. Die Filter, allen voran der Google-Algorithmus, stellen zwar vordergründig die Möglichkeit bereit, auf schnelle und reichhaltige Suchergebnisse zugreifen zu können, geben aber hintergründig auch eine hierarchisierte Auswahl vor, die den Einzelnen wiederum limitiert. Inmitten seiner sich immer weiter ausdifferenzierenden technisierten Umgebungen gleicht der Mensch sich über die Algorithmisierung durch die digitalen Dienstleister immer weiter einer Art nivelliertem Bewusstsein nach Adorno an. Der Bereitstellung von Benutzeroberflächen, den Suchmaschinen, den sozialen Portalen, der sukzessiven Infiltration des Lebens über »Sensoren, Filter und Profile« steht der Einzelne gegenüber wie einer neuen Architektur eines digitalen Gebäudes, das ihn umgibt und einschließt. Das Leben mit Smartphone legt ihn so gesehen auf mehreren Ebenen in seiner Lebensweise fest. Individualität entwickelt sich hier über den Umgang mit limitierten Optionen innerhalb eines vorgegebenen Koordinatensystems. In ihm herrscht folgendes Gesetz: Poste emotional und persönlich und dir soll Viralität zuteilwerden.
In der verwalteten Welt herrschen weitere Gesetze. Eines hat sich unmerklich in jede menschliche Beziehung eingeschlichen: das Gesetz der wechselseitigen Kontrolle. Da heute jeder ein Smartphone mit sich herumträgt und sein Leben digital dokumentiert, sprich: Fotos und Filme von den banalsten Momenten, bis hin zu den wichtigsten, den ersten Schritten des Kindes beispielsweise, anfertigt und teilt, findet eine fast umfassende Form der privaten gegenseitigen Überwachung Eingang in den Alltag der Anwendercommunity. Es ist in der Tat nicht mehr ohne weiteres möglich, alltäglichen Aktivitäten ohne potentielle digitale Aufzeichnung beizuwohnen. Sobald man sich in Gesellschaft begibt, läuft man Gefahr, fotografiert oder gefilmt zu werden. Die Rede ist von nicht weniger als einer neuen Facette unseres Daseins, die mit den geteilten Bildern der Geburt beginnt. Die gegenseitige Aufzeichnung birgt Gesetzmäßigkeiten der strukturellen Überwachung in sich, die Foucault als »pausenlos überwachte Überwacher […] in einer Maschinerie, die funktioniert«14 charakterisierte. Die Effekte, vor allem für diejenigen, die eine lückenlose Smartphonenutzung des »always on« kultivieren, sind beträchtlich. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass hier ganze Facetten ihres Lebens nach der digitalen Aufzeichnung ausgerichtet werden. »We are« – um es mit den Worten des italienischen Künstlers Alessandro Ludovico zu sagen – »kind of voluntary agents of surveillance. And […] there is this absolutely crazy social mechanism of mutual surveillance«15.
Die von Foucault beschriebenen Beziehungsnetze der sich gegenseitig Überwachenden umgeben dabei den Einzelnen und stellen so etwas wie eine zweite soziale Umwelt dar. Bei genauerem Hinsehen findet diese in der Kultur der Offenheit samt Modus des »always on« eine erschreckend lapidare Verwirklichung. Über die beständige Verbindung via WhatsApp wird eine Lebensform der durchgehenden Kontrolle kultiviert, die den Einzelnen mehr oder weniger in eine stringente reaktive Haltung zwingt. Wer nicht antwortet, befindet sich umgehend im Rechtfertigungszwang. Das pausenlose, über den ganzen Tag ausgedehnte kommunikative Moment wird zu einem infiniten Regress. Der homo communicans in der denkbar radikalsten Form findet sich in einer Endlosschleife der Beobachtung von Beobachtenden wieder, könnte man sagen. Wer nicht mitmacht, wird zu einer ganz eigenen Art von »Mängelwesen«, zum reduzierten »homo medialis«, zu einer Kreatur, die sich nicht auskennt, die nicht medienkompetent ist und – was letztlich entscheidend ist – nicht an der neuen Lebensform des sharing teilnimmt. Der Mensch ist auf sonderbare Weise in seiner medial-»exzentrischen Positionalität« nicht mehr wirklich exzentrisch, wenn er nicht Zugang zu einem Touchscreen hat, mit dem er seine Mitmenschen beobachten kann. Er entwickelt dabei – wie im Kontext anderer Medienentwicklungen – ein Selbstbild, das dieser speziellen medialen Situation entspricht. Die Kultur des pausenlosen Beobachtens ist auch eine Kultur des ständigen Bewertens. Der Mensch ist ein ständig beobachteter und bewerteter Beobachter und Bewerter.
Ein weiteres Gesetz der totalen verwalteten Welt ist das der Offenheit. Während für viele bereits Privatheit ein Begriff der Vergangenheit ist und wir in einer Ära der »Transparenz« leben, nimmt sich die tatsächliche Praxis einer offenen Lebensführung im Alltag der Menschen oft nicht ganz so freiheitlich aus, wie vielleicht ursprünglich gedacht. Ein Beispiel: Das Erstellen eines Accounts bei beliebigen Social-Media-Plattformen, Nachrichtendiensten oder Messenger-Apps setzt die Eingabe der persönlichen Grunddaten (Name, Alter, Telefonnummer) voraus. Offenheit erfüllt hier offensichtlich den einfachen Zweck des Zugangs. Der Deal ist simpel und mittlerweile in das gesamtgesellschaftliche Grundverständnis in Form einer hinzunehmenden digitalen Kosten-Nutzen-Rechnung bei der Inanspruchnahme des Internets eingegangen. Einmal im sozialen Netzwerk angekommen, setzt sich für gewöhnlich die vielleicht an sich gut gemeinte Idee der digitalen Offenheit in die Unzulänglichkeiten der alltäglichen Praxis fort. Dabei kommt zunächst die oben beschriebene Gesetzmäßigkeit erfolgreicher Posts in Gang: Je persönlicher, je emotionaler und je geschickter kontextualisiert, desto größer die Resonanz. Mit diesem Wissen im Hinterkopf verkehrt sich die vielleicht anfangs tatsächlich zweckunabhängig praktizierte Offenheit schnell in ihr Gegenteil. Das Posten persönlicher Inhalte wird von da ab auf die antizipierte Resonanz in der Community abgestimmt. Auch hier ist der Akt genuiner Offenheit nicht wirklich das eigentliche Thema. Es ist vielmehr ein Handel, auf den sich der Einzelne einlassen muss (gesetzt den Fall sie/er möchte erfolgreich kommunizieren). Es entstehen dabei die berüchtigten Like-und-Kommentar-Kartelle. Wer viel »liket«, erwartet auch viele Likes als Gegenleistung.
In diesem Zusammenhang festigt sich aber auch eine besondere Form des Aufmerksamkeitskapitalismus: Wer viel hat, dem wird viel gegeben. Wer wenig hat, dem wird wenig oder nichts zuteil. Genuine Offenheit kann vor diesem Hintergrund schnell etwas Unangenehmes werden. Äußerungen von persönlichen Momentaufnahmen, die unkommentiert bleiben, deuten unterschwellig auf eine zweifelhafte Stellung in der Online-Peergroup hin. Oder, was noch schlimmer ist, die Banalität eines »Posts« führt einen Abstieg im Anerkennungskontinuum des Sozialen Mediums herbei. Was bei sich weltweit verbreitenden Techniken aus einem bestimmten Teil der Erde nicht ausbleibt, ist die Mitverbreitung einer bestimmten regionalen Mentalität.
Offenheit gilt in Kalifornien als Lebensform, als way of life. Man wird sich in San Francisco an jeder Straßenecke mit jemandem unterhalten können. Und man wird insbesondere als Deutscher überrascht sein, wenn die Tiefen des Gesprächs bisweilen bis in die persönlichsten und tragischsten Details des Lebens des jeweiligen – beliebig gewählten – Gesprächspartners hineinreichen. Was immer man davon halten mag – die weltweit digital verbreitete Mentalität steht plötzlich mit den regionalen Landesmentalitäten in direkter Konkurrenz. Diese hochinteressante Entwicklung, die McLuhan mit seiner Theorie des Global Village antizipiert hatte, legt zunächst nahe, auf den allseits postulierten Wert der Offenheit mit einem Verständnis für Hintergründe der genutzten Programme samt ihrer Formbestimmtheiten und der Herkunft der Programmierer zu reagieren. Chris Kelty – ein kalifornischer Anthropologe – beschreibt die ambivalente Situation hinsichtlich des Wertes der Offenheit folgendermaßen: »Offenheit tendiert zur Vernebelung. Jeder (Kalifornier Anm. d. Verf.) behauptet, offen zu sein, jeder möchte etwas mitteilen, alle (Kalifornier Anm. d. Verf.) stimmen darin überein, dass es wichtig ist, offen zu sein […]. Aber obwohl sie so klar erscheint, ist ›Offenheit‹ vielleicht der komplexeste Aspekt von freier Software.«16 Kelty ahnt, dass die naive Mentalität der konsequenzlosen Offenheit im Internet neu bewertet werden muss, und stellt im Sinne Immanuel Kants die wichtige Frage nach der Motivation zu Offenheit. »Ist Offenheit gut an sich, oder ist Offenheit ein Mittel, um etwas anderes zu erlangen – und wenn ja, was?«17
Der entscheidende Moment in der Lieblingsserie, die euphorische Sequenz im Game, die Verfolgung des viral gehenden Posts wird jäh unterbrochen von einem dringenden Anliegen einer realen Person. Die mediale Emotion steht urplötzlich in direkter Konkurrenz mit den Affektkonventionen der realen Welt. Und obwohl das echte Bedürfnis der realen Person im unmittelbaren Umfeld objektiv gesehen als wichtiger einzuordnen ist als die eigene mediale Sentimentalität, kann man sich – für den Moment zumindest – emotional vom Medium nicht lösen. In den meisten Fällen folgen die Überwindung und das dämmernde Pflichtbewusstsein der realen Interpersonalität. Das scheint aber oft nur oberflächlich vonstatten zu gehen. Man gibt zwar dem Insistieren nach, das emotionale Sicheinlassen will aber nicht wirklich gelingen.
Das hat seinen Grund: Mediale Emotionen können zum einen sehr mächtig sein und zum anderen die in der Realität erzeugten Emotionen verdrängen und verhindern. Heutige Erkenntnisse aus der Emotionsforschung bestätigen die Idee der sich selbst verstärkenden medialen Emotionen. Die emotionale Aufladung der medialen Situation – egal ob romantischer Liebesfilm im Fernsehen oder der spannende Ego-Shooter – erzeugt ihr Korrelat im Menschen. Je intensiver und regelmäßiger die Immersion, desto radikaler und nachhaltiger die morphologische Veränderung neuronaler Netzwerke im Gehirn.18 Zur Gewöhnung an eine neue virtuelle Umwelt in Social Media bspw. entstehen neue Gefühlsnuancen, die für sich stehen können und auch müssen.19