Die Autorin

Alexandra Zöbeli lebt gemeinsam mit ihrem Mann im Zürcher Oberland in der Schweiz. Sie bekennt sich selbst als Britoholikerin — verrückt nach allem, was von der Insel kommt. Für Alex gibt es kaum etwas Schöneres, als die verschiedenen Ecken Großbritanniens zu entdecken und sich dabei vorzustellen, welche Geschichte sich an Ort und Stelle gerade abspielen könnte. Seit sie das Schreiben für sich entdeckt hat, leidet zwar der Haushalt, aber zumindest hat ihr Kopfkino endlich ein Ventil erhalten. Unter der Aufsicht ihres Katers Noah, der mit Vorliebe neben Alex' Laptop schläft, sind bisher sieben Romane entstanden.

Das Buch

Drei Mal ganz große Gefühle in Wales!

Emma erbt von ihrer Großtante eine Farm am Fuße der Black Mountains. Sie wagt das Abenteuer und haucht der alten Farm neues Leben ein. Unterstützung erhält sie dabei unter anderem vom smarten Polizisten Jack.
Nach dem Tod ihres Sohnes haben sich Sam und Hannah völlig voneinander entfernt. Da kommt Sam das Angebot, eine Auszeit in dessen Cottage im kleinen Ort Dinorwig in Wales zu nehmen, gerade recht. Im örtlichen Pub Zur guten Hoffnung zwischen grünen Hügeln und kauzigen Dorfbewohnern findet er wieder Mut und eine neue Liebe...
Krimi-Autorin Caitlin flüchtet nach einer reichlich misslungen Lesung in die walisischen Black Mountains um endlich wieder Zeit und Ruhe zum Schreiben zu finden. Doch dann kommt alles ganz anders. Nicht zuletzt wegen des gut aussehenden Tierarzt Ben...

Von Alexandra Zöbeli sind bei Forever erschienen:
Ein Bett in Cornwall
Ein Ticket nach Schottland
Die Rosen von Abbotswood Castle
Der Himmel über den Black Mountains
Der Pub der guten Hoffnung
Die Sterne über den Black Mountains
Ein Schotte im Gepäck

Alexandra Zöbeli

Liebe in Wales

Drei Romane in einem Bundle

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Sonderausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juli 2020 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95818-585-2

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Der Himmel über den Black Mountains

1. Kapitel


Die Wolken hingen tief über dem Golden Valley, das heute seinem Namen alles andere als gerecht wurde. Es schien, als hätte sich der Himmel den Trauernden auf dem Friedhof in Michaelchurch Escley angepasst. Die Worte des Priesters gingen beinahe unter im stetigen Prasseln des Regens auf den zahlreichen Regenschirmen. Doch die Menschen hatten sich vom Wetter nicht abhalten lassen, einer von ihnen die letzte Ehre zu erweisen. Emma war erstaunt, wie viele Leute ihre Tante gekannt haben musste. Bereits in der Kirche war jeder Platz besetzt gewesen, und die Trauer, die sie in den Gesichtern gesehen hatte, war echt gewesen und nicht gespielt wie jene, die sie im Gesicht ihres Freundes Richard sah, der an ihrer Seite stand. Richard hatte ihre Tante noch nicht mal gekannt, aber er war Schauspieler von Beruf, und es lag ihm wohl einfach im Blut, sich der Situation anzupassen. Vermutlich war er in Gedanken bereits wieder in London, bei einem seiner nächsten Auftritte im Queens Theatre, wo er eine der Hauptrollen in einem Musical besetzte. Nur ungern hatte er sie zu der Beerdigung begleitet. Die Reise an die Grenze Englands zu Wales dauerte von London immerhin gute drei Stunden, die er zum Schlafen hätte nutzen können, nachdem er erst gestern noch einen Auftritt gehabt hatte. Emma hatte all ihre weiblichen Waffen einsetzen müssen, damit er sie nicht hatte allein fahren lassen. Der Notar, der sie vor wenigen Tagen angerufen hatte, um sie über den Tod ihrer Tante zu informieren, meinte, sie wäre die letzte Verwandte von Milly. Kein Wunder, dass sie sich da bereits allein mit dem Priester vor Millys Grab hatte stehen sehen. Doch wenn sie jetzt in die Runde blickte, war klar, dass diese Furcht unbegründet gewesen war. Milly schien sehr beliebt gewesen zu sein im Dorf. Das tröstete Emma ein wenig, denn seit sie von dem Tod ihrer Tante erfahren hatte, machte sie sich große Vorwürfe, nicht früher den Kontakt gesucht zu haben. Es sollte niemand allein und einsam sterben müssen. Emma verdankte Milly ihre schönsten Kindheitserinnerungen. Als ihre Eltern noch nicht getrennt gewesen waren, hatte die kleine Emma ihre Ferien immer auf Millys Farm verbringen dürfen. Das war mittlerweile über dreißig Jahre her, aber sie erinnerte sich noch an die Zeit, als wäre es erst gestern gewesen. Sie musste sich eine Träne aus den Augenwinkeln wegwischen, als sie sich daran erinnerte, wie Milly sie eines Nachts geweckt hatte, um sie in das Wunder des Lebens einzuweihen. Sie hatte sie mit in den Stall genommen, wo gerade ein Lämmchen zur Welt gekommen war. Staunend hatte sie sein noch feuchtes Fell gestreichelt und zugeschaut, wie es zum ersten Mal versucht hatte, auf seinen dünnen, wackligen Beinchen zu stehen. Milly war mit ihr auf die Hügel der Black Mountains gewandert und hatte ihr die Schönheit dieser Gegend gezeigt. Aber ihre Tante ließ sie auch auf der Farm mitarbeiten, was Emma mit Stolz erfüllt hatte. Sie war dafür verantwortlich gewesen, dass die Hühner gefüttert waren, dass ihr Stall sauber war und die Eier in der Küche landeten. Einmal war Emma gestolpert, dabei waren ihr einige Eier aus dem Körbchen und auf den Boden gefallen. Sie hatte bereits ein Donnerwetter befürchtet, aber Milly hatte nur gelacht und ihr geholfen, den Küchenboden wieder sauber zu wischen. Emma hatte Milly geliebt, und sie hatte gedacht, ihre Tante hätte diese Liebe erwidert. Der Bruch kam, als Emmas Eltern sich im Streit getrennt hatten. Warum genau, das hatte ihre Mutter ihr nie verraten. Aber als ihr Vater die Wohnung verlassen hatte, kehrte er nie wieder zurück. Er sei ein Herumtreiber und ein Nichtsnutz, hatte ihre Mutter danach immer behauptet, aber darunter konnte sich Emma damals noch nichts vorstellen. Nach der Trennung war noch kein Jahr vergangen, als ihr Vater in Mexiko tot aufgefunden worden war. Milly war die Schwester von Emmas Vater gewesen, und sie hatte seine Frau für den Tod ihres Bruders verantwortlich gemacht. Ihre Tante wolle mit ihnen nichts mehr zu tun haben, hatte ihre Mutter erklärt, als Emma gequengelt hatte, um wieder die Ferien bei Milly verbringen zu dürfen. Für das damals zehnjährige Mädchen war eine Welt eingestürzt. Nicht nur hatte sie ihren Vater verloren, sondern auch noch ihre geliebte Tante. Mit der Zeit waren die Erinnerungen an Milly verblasst. Das Leben war weiter gerollt, hatte ihre Aufmerksamkeit auf anderes gelenkt: Die Schule, die erste große Liebe, ihre Ausbildung zur Bankkauffrau, die erste eigene Wohnung und später dann die schlimme Krankheit ihrer Mutter, die mit nur zweiundfünfzig Jahren den Kampf gegen den Krebs verlor.

Erst als der Notar Emma angerufen hatte, wurden alle Erinnerungen an die schönen Zeiten mit ihrer Tante in den Black Mountains wieder wachgerüttelt. Sie seufzte und blickte traurig auf das Grab vor ihr. Warum nur hatte sie ihre Mutter nie nach der Adresse ihrer Tante gefragt, um den Kontakt wiederherzustellen? Jetzt war es zu spät, und Emma war endgültig allein auf dieser Welt. Sie fröstelte und rückte etwas näher an Richard heran. Doch der verstand nicht, dass sie etwas mehr gebraucht hätte als nur seine Hand, die nach ihrer griff. Sie hätte sich gewünscht, er würde den Arm um sie legen, ihr Sicherheit und Halt geben. Erneut scannten ihre Augen die Gesichter der anderen Trauernden, in der Hoffnung, jemanden wiederzuerkennen. Wie hatte der Name des Jungen gleich noch mal gelautet, mit dem sie damals immer herumgerannt war? Gabriel … nein, Gavin? Gareth. Ja, Gareth war es gewesen. Doch würde sie ihn wiedererkennen? Wohl eher nicht, dreißig Jahre waren eine lange Zeit, in der man sich mehr als nur ein bisschen veränderte. Bestimmt war der kleine, freche Junge mit den leuchtend blauen Augen, der damals mit ihr barfuß durch die Bäche gewatet war, inzwischen auch weggezogen. Gareth hatte ihr gezeigt, wie man Fische fing, sie ausnahm und dann über dem Feuer knusprig briet. Ihr hatten die Fische immer leidgetan, aber wenn sie dann über dem Feuer hingen und ihr Geruch Emmas Nase erreichte, dann konnte sie der Versuchung doch nicht widerstehen. Nie hatte sie besseren Fisch gegessen als jenen damals am Ufer des Baches.

Der Priester hatte das Grab gesegnet, und nun zogen die Trauergäste einzeln daran vorbei und warfen je eine weiße Rose auf den Sarg. Als Emma an der Reihe war, gab sie ein Küsschen auf ihre Rose und bat die Tante still um Verzeihung, dass sie sich nicht mehr bemüht hatte, den Kontakt wiederherzustellen.

»So, das hätten wir«, sagte Richard hörbar erleichtert neben ihr, als sie den Friedhof verließen. »Und was machen wir nun bis morgen in diesem Kaff?«

»Emma?«, hörte sie plötzlich eine männliche Stimme hinter sich. Sie drehte sich um und blickte in ein ihr unbekanntes Gesicht. »Du bist doch Emma, oder?«, fragte der Typ mit der Schirmmütze nach.

»Ja, aber …« In dem Moment lächelte der Mann, und Emma erkannte dieses schiefe Grinsen sofort wieder. »Gareth!« Freudig umarmte sie ihn.

»Du hast uns also nicht ganz vergessen«, stellte er lächelnd fest und erwiderte die Umarmung. »Das hätte Milly gefreut.« Emma wartete darauf, dass ein Vorwurf folgen würde, aber der kam nicht. Vielmehr meinte Gareth, dass sie alle gleich ins Pub gehen würden, um auf das Leben von Milly anzustoßen. »Ihr kommt doch auch, oder?«

»Wir wollen nicht stören …«, begann Emma, doch Gareth wischte ihre Bedenken einfach weg. »Nun benimm dich nicht wie eine Städterin, und komm einfach mit.« Er stellte ihr seine Frau Lynn und seine drei Kinder vor und begleitete sie dann zum River Inn. Es war dasselbe Pub, in dem Emma und Richard ein Zimmer für die Nacht gemietet hatten, weil sie am folgenden Tag nach Hay-on-Wye mussten, wo der Notar Millys Testament verlesen würde.

Im Pub spielte bereits eine Band, und es wurde für die Erwachsenen Whisky, Cider und Bier ausgeschenkt, während die Kinder Limonade bekamen. Ganz anders als bei der Trauerfeier, die Emma für ihre Mutter ausgerichtet hatte, ging es hier fröhlich und laut zu. Es wurde gelacht, und lustige Anekdoten von Milly wurden ausgetauscht. Emma war beruhigt zu erfahren, dass sie ein gutes Leben geführt hatte. Sie war sehr beliebt gewesen im Dorf, hatte bei jedem Fest mitgewirkt, war da gewesen, wenn jemand sie gebraucht hatte, aber auch dann, wenn sie vielleicht mal nicht erwünscht gewesen war. Wie zum Beispiel damals, als Gareth seine erste Freundin gehabt hatte. Er war gerade mit ihr in Millys Scheune zu Gange gewesen, als Milly einen Eimer kaltes Wasser über sie gegossen hatte. »Du solltest dich schämen, Gareth Baker!«, hatte sie ihm nachgerufen, als er mit der Hose unter dem Arm davongerannt war. Geschämt hatte er sich tatsächlich, aber nicht wegen dem, was er mit seiner Freundin gemacht hatte, sondern weil Milly ihn nackt gesehen hatte. »Ich habe mich bestimmt vier Monate lang nicht getraut ihr in die Augen zu schauen, wenn ich ihr begegnet bin«, erzählte Gareth lachend. »Aber Milly hat dichtgehalten und mich nicht bei meinen Eltern verpetzt.«

»Und was ist aus deiner ersten Freundin geworden?«, fragte Emma schmunzelnd.

»Meine erste und einzige Frau.« Gareth beugte sich zu Lynn und gab ihr einen Kuss, was seinem Jungen, Sam, der neben ihm saß, ein lautes »Iiiih« entlockte, während der älteste Spross, Jason, nur mit den Augen rollte. Doch Gareth und Lynn lachten nur und schienen keineswegs verlegen zu sein. »Habt ihr auch Kinder?«, erkundigte sich Lynn, mit ihrer einjährigen Tochter im Arm, bei Richard und Emma.

»Nein, wir sind beruflich zu eingespannt«, antwortete Richard etwas überheblich.

»Aha.« Gareth schien das nicht zu beeindrucken, und er grinste ihn an. »Was hält dich denn so Wichtiges von der schönsten Sache der Welt ab?«

»Ich spiele eine tragende Rolle in einem Musical im Queen’s Theatre in London.« Emma hätte vor Scham im Boden versinken können. Warum musste er damit immer so herumprahlen?

»Wirklich?«, fragte Sam mit vor Aufregung glänzenden Augen. »Du stehst auf der Bühne und gibst Autogramme? Darf ich auch eines haben?«

»Sam«, wies ihn Lynn sanft zurecht. »Lass den armen Mann in Ruhe.«

»Das macht mir nichts aus. Ich gebe dir gerne ein Autogramm.« Schon zückte Richard aus seiner Jackentasche einen Stift und signierte einen Bierdeckel, den er dem Jungen hinhielt. Dieser sah die Unterschrift mit leuchtenden Augen an. »Wow! Danke! Das werde ich in der Schule erzählen, dass ich einen Star kenne.«

Emma verdrehte die Augen. Richard war weit entfernt davon, ein Star zu sein, aber er schien sich in der Rolle ziemlich gut zu gefallen. Doch sie konnte ihm nie lange böse sein, denn Richard war nun mal einfach Richard.

»Und was hast du all die Jahre über gemacht?«, wollte Gareth von Emma wissen. So fasste sie die letzten dreißig Jahre in wenigen Sätzen zusammen, was nicht gerade schwer war, denn ihr Leben war nicht besonders aufregend gewesen. Lachend tauschten sie danach weitere Erinnerungen aus ihrer Jugendzeit aus. Richard, der da nicht mitreden konnte, fühlte sich bald gelangweilt und zog sich aufs Zimmer zurück. Als Lynn mit den Kindern ebenfalls den Heimweg angetreten hatte, erkundigte sich Emma bei Gareth, wie Milly gestorben war. Er fühlte, dass sie sich Vorwürfe machte, und legte daher tröstend seine Hand auf die ihre. »Sie ist ganz plötzlich gestorben. Der Arzt meinte, dass sie wohl abends ins Bett gegangen und am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufgewacht wäre. Ein schöner Tod, einfach ein bisschen früh. Siebzig ist ja noch kein Alter heutzutage.«

Emma nickte. »Ich hätte mich auf die Suche nach ihr machen sollen.«

»Du hast nicht gewusst, wo wir wohnen?«, fragte er erstaunt.

»Ich war damals zehn oder elf Jahre alt, Gareth!«, brachte sie zu ihrer Verteidigung vor. »Meine Mutter hat mir gesagt, Milly wolle keinen Kontakt mehr zu uns.« Dann berichtete sie ihm von dem Streit in ihrer Familie. Er hörte zu, und als sie geendet hatte, meinte er nur: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Milly dich nicht mehr hier haben wollte. Sie hat dich sehr gern gehabt. Trotzdem, mach dir keine Vorwürfe! Auch Milly hätte schließlich den Kontakt zu dir suchen können. Wie hast du überhaupt von ihrem Tod erfahren?«

»Ein Notar hat mich angerufen. Wir haben morgen einen Termin zur Testamentseröffnung bei ihm.«

»Schön, dann sehen wir uns wieder. Lynn und ich wurden ebenfalls eingeladen.« Er hob sein Glas, trank einen Schluck und sah sie dann amüsiert an. »Wie hältst du es bloß in der Stadt aus? Ich würde da keinen Tag sein wollen.«


Am nächsten Morgen fuhren Richard und sie nach Hay-on-Wye. Die Straßen waren so schmal, dass Richard mehrmals schimpfend in die Hecke ausweichen musste, um entgegenkommenden Fahrzeugen auszuweichen. Und das, obwohl Richards Wagen lediglich ein kleiner VW Polo war. Die Hecken aus Weißdorn, Geißblatt und Heckenbuche waren so hoch, dass man oftmals nur erahnen konnte, ob man freie Fahrt hatte oder nicht. »Warum können die auf dem Land keine vernünftigen Straßen bauen?«, wetterte Richard, als er erneut einem Lieferwagen ausweichen musste. Der Fahrer winkte ihnen freundlich zu.

Emma winkte gut gelaunt zurück. »Ich dachte immer, du magst das Risiko? Schau mal, da vorne!« Sie zeigte mit dem Finger auf einen Hasen, der gerade über die Straße hoppelte.

Das entlockte selbst Richard ein versöhnliches Lächeln. »Ich glaub, ich hab noch nie einen Hasen in freier Wildbahn gesehen.«

Emma gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Vielleicht sollten wir mal einen Urlaub auf dem Land einplanen. Dann kann ich dich in die Geheimnisse des Landlebens einführen.«

Richard manövrierte den Wagen wieder auf die Fahrbahn. »Sagt die Frau, die ihr bisheriges Leben in London verbracht hat«, neckte er sie gutmütig. »Aber so eine Nacht mit dir im Heu könnte schon ihren Reiz haben.«

Hay-on-Wye war ein verträumtes, kleines Städtchen am Fluss Wye. Es war gerade Markttag, und sie mussten lange suchen, bis sie einen Parkplatz gefunden hatten. Hand in Hand liefen sie durch die schmalen Straßen, vorbei an einem alten Fachwerkhaus, in dem ein Buchladen untergebracht war, der gebrauchte, aber auch neue Bücher verkaufte. So was hatte Emma noch nie gesehen, am liebsten wäre sie hineingegangen, um darin etwas zu stöbern. Dazu blieb aber keine Zeit, wenn sie nicht zu spät zu ihrem Termin erscheinen wollten. Das Büro des Notars befand sich ebenfalls in einem alten Fachwerkhaus, das nur unweit des Flusses lag. Im Gegensatz zu seinem Äußeren war es im Hausinneren sehr modern eingerichtet. Viel Glas, weiße Möbel und Spotlichter verliehen dem Notariat einen edlen Touch. Eine Sekretärin führte sie gleich in das Sitzungszimmer, wo der Notar, der sich als Thomas Finch vorstellte, und Gareth und Lynn bereits auf sie warteten. Nach der Begrüßung bat Finch sie, ebenfalls an dem langen Besprechungstisch Platz zu nehmen. »Dann wären wir bereits vollzählig und können mit der Verlesung des Testaments beginnen.«

Emma blickte zu Gareth, der ihr gegenübersaß und ihr aufmunternd zulächelte. Sie hatte das Gefühl, nicht wirklich hierher zu gehören. Nachdem sie all die Jahre über keinen Kontakt zu ihrer Tante gehabt hatte, hatte sie doch kein Recht, auch nur irgendetwas von ihr zu erben. Bestimmt war sie nur pro forma eingeladen worden oder bekam allerhöchstens ein Teeservice vererbt.

Mr Finch setzte sich seine Lesebrille auf und öffnete die Aktenmappe, die vor ihm lag und Millys letzten Willen enthielt. Er nahm das Dokument in die Hände und begann mit seriöser Stimme vorzulesen.

Milly bedankte sich zuerst bei Gareth für all seine Hilfe und die jahrelange Freundschaft der beiden Familien. Sie vermachte ihm ein Stück Land, das an seines angrenzte. Ebenfalls erhielt er zehntausend Pfund für die Versorgung von Millys Tieren, bis für diese eine Lösung gefunden werden konnte. Die nächsten Zeilen waren an ihre Nichte gerichtet:

Liebe Emma,
ich weiß und bedaure es sehr, dass sich unsere Familien so zerstritten und wir uns daher aus den Augen verloren haben. Immer habe ich mir gewünscht, dass Du irgendwann den ersten Schritt machst, obwohl Du ja für den Zwist gar nichts konntest. Dumm und stur war ich. Ich hoffe, dass Du es mir verzeihst.
Die Zeit, die Du bei mir auf der Farm verbracht hast, war für mich ganz besonders. Deine Freude an der Natur und Deine Liebe zu den Tieren, die hat uns verbunden. Erinnerst Du Dich noch? Ich weiß, dass meine Farm bei Dir gut aufgehoben wäre. Bestimmt hast Du aber mittlerweile ein Leben aufgebaut, in das eine Farm vielleicht nicht passt, oder Dein Mann und Deine Kinder wollen nicht aufs Land ziehen. All
das kann ich sehr gut verstehen. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass die Farm im Familienbesitz bliebe. Daher biete ich Dir an, die Farm während eines Jahres zu bewohnen und zu bewirtschaften und Dich erst dann zu entscheiden, ob Du sie erben möchtest oder nicht. Wenn Du sie annimmst, geht auch mein restliches Gespartes, vollumfänglich an Dich. Für die Auslagen der Farm während des Probejahres wird Dir Mr Finch ein Kapital von vierzigtausend Pfund überweisen. Solltest Du bereits jetzt wissen, dass Du die Farm nicht möchtest, wird er sie einer Tierrettungsorganisation überschreiben. Dies wird auch geschehen, wenn Du Dich nach dem Jahr gegen die Übernahme entscheidest. In dem Fall wird mein gesamtes Vermögen ebenfalls an die erwähnte Organisation gespendet.
Liebe Emma, es ist
verständlich, wenn Du Dich nicht gleich entscheiden kannst, was Du mit dieser vielleicht etwas eigenartigen Erbschaft tun sollst. Daher räume ich Dir eine Bedenkzeit von drei Monaten ein. Wenn Du bis dahin keinen Entschluss gefasst hast, wird Mr Finch meinen Anweisungen folgen und die Farm der Tierrettung überschreiben. Es würde mich aber sehr freuen, wenn Du es mit der Rosebud Farm versuchen möchtest, und bestimmt werden Dir Gareth und Lynn am Anfang zur Seite stehen.

Als der Notar geendet hatte, blieb es einen Moment mucksmäuschenstill im Raum. Emma versuchte zu verstehen, was sie eben gehört hatte. Sie sollte hierherziehen und die Farm übernehmen?! Aber das ging doch gar nicht! Sie hatte einen Job und eine Wohnung in London! Was sie definitiv nicht hatte, war eine Ahnung vom Leben auf einer Farm! In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken umher wie wildgewordene Wespen.

»Wie hoch ist das Vermögen von Emmas Tante?«, erkundigte sich Richard nüchtern beim Notar.

»Tut mir leid. Das darf ich Ihnen nicht sagen. Sollten Sie sich nach einem Jahr für die Farm entscheiden, werden Sie es erfahren.« Mr Finch legte seine Lesebrille ab und schaute Emma erwartungsvoll an. Irgendwie erinnerte er sie mit seinen graumelierten Haaren und der schlanken Statur an Paul Newman im Film Mr & Mrs Bridge.

»Ich würde die Farm gerne sehen, bevor wir zurück nach London fahren. Geht das?«, fragte Emma ihn.

»Aber natürlich, Miss Fitzgerald. Ich fahre gerne mit Ihnen raus.«

Eine Dreiviertelstunde später folgten Richard und sie in ihrem Wagen dem Jaguar von Finch die schmalen Straßen zurück nach Michaelchurch Escley. Sie fuhren durch das Dorf hindurch, weiter den Hügel hinauf und dann die Kuppe entlang, bis sie zu einem hölzernen Tor gelangten. Finch hielt vor ihnen an, stieg aus und öffnete das Tor, damit sie hindurchfahren konnten. Die gekieste Straße führte nun wieder etwas den Hügel hinab. Als das Haus dann endlich auftauchte, raubte es Emma schier den Atem. Es sah alles noch so aus, wie sie es aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte. Das Hauptgebäude war aus massivem Stein gebaut, und eine Kletterhortensie wuchs daran empor. Das Dach war mit Schieferschindeln gedeckt, die Fensterrahmen waren weiß lackiert, und die Haustür leuchtete fröhlich in zartem Mint. Kaum hatte Richard den Wagen auf dem großen Kiesplatz neben dem von Finch geparkt, stieg Emma auch schon aus. Ihr Blick wanderte über die sanften Hügel und die Felder, die mit den ortsüblichen Hecken abgetrennt waren. Sie hörte die Schafe in der Ferne blöken, ansonsten herrschte absolute Stille.

»Schön, nicht?«, unterbrach Finch die Stille.

»Na ja, ein bisschen sehr still«, meinte Richard.

Emma war im Moment nicht in der Lage, zu sprechen. Zu viele Erinnerungen stürmten auf sie ein. Das Einzige, was fehlte, waren die Hunde, Hühner und Laufenten, die damals immer frei auf dem Hof herumgelaufen waren.

Finch hatte inzwischen die Haustür aufgeschlossen. »So, bitte. Schauen Sie sich in aller Ruhe um. Ich setze mich so lange in die Sonne.«

Emma betrat den Flur, wo an der Garderobe noch immer Jacken an Haken hingen und Stiefel aufgereiht standen. Die Türe zu ihrer linken Seite führte in die Küche, erinnerte sich Emma, und rechts ging es ins Wohnzimmer mit dem großen, steinernen Kamin. Sie betrat zuerst das Wohnzimmer. Im großen Kamin stand jetzt ein kleiner Ofen, das war bestimmt ökologischer, und es ging weniger Wärme verloren. Aber Emma erinnerte sich nur zu gerne an die großen Feuer, die Milly am Abend oftmals entfacht hatte. Sie meinte förmlich, den Rauch riechen und das Feuer noch knacken hören zu können. Der Boden bestand hier wie in den restlichen Räumen im Untergeschoss aus großen Kalksteinplatten, über die bei den Sitzgelegenheiten Teppiche gelegt waren. An die Einrichtung konnte Emma sich nicht mehr erinnern. Gut, bestimmt hatte ihre Tante in den vergangenen Jahren das eine oder andere Teil ausgetauscht. Sie trat zu den großen Flügelfenstern, die einen herrlichen Ausblick über die Hügel boten und viel Licht in das Wohnzimmer ließen. Dicht gefolgt von Richard ging sie weiter in die Küche.

»Mann, Mann, Mann. In das Haus müsstest du ziemlich viel Geld investieren, um es zu modernisieren.« Richard blickte verächtlich auf den alten Aga-Herd und die verschnörkelten Wasserhähne. Emma lächelte nachsichtig. Sie wusste, dass Richard noch nie was für den Landhausstil übriggehabt hatte. »Du irrst dich, Richard. Die Küche ist nur auf alt gemacht. Sie scheint mir erst vor wenigen Jahren eingebaut worden zu sein. Schau dir nur den Aga-Herd an, der wird mit Strom und nicht mit Holz betrieben. Das Belfast Sink hat noch kaum einen Kratzer.« Emma war total begeistert. Auch darüber, dass der alte Eichenholztisch noch immer in der Küche stand. Sie hatte als Kind oft an dem Tisch gesessen und gemalt, während ihre Tante kochte. Sanft strich sie über die Tischplatte, die einige Kratzer und Dellen aufwies, die davon zeugten, dass der Tisch schon viele Jahre auf dem Buckel hatte und einiges zu erzählen gehabt hätte, wenn er könnte. Eine weitere Tür führte von der Küche direkt auf die Terrasse, wo ihre Tante früher Tomaten und Kräuter in Töpfen wachsen ließ.

»Komm, zeig mir, wo du geschlafen hast, wenn du bei deiner Tante warst.« Richard wollte möglichst bald das alte Haus verlassen und den Rückweg nach London antreten. Im oberen Stock fand Emma schnell ihr Zimmer und war verblüfft, wie beengt es tatsächlich war. Sie hatte es viel geräumiger in Erinnerung. Noch immer stand ein Gästebett darin, aber der Raum war nicht mehr so hübsch wie damals, als es sozusagen ihr Zimmer gewesen war. Jetzt war er für Erwachsene und nicht wie damals für ein kleines Mädchen eingerichtet. Doch der Blick aus dem Fenster war derselbe geblieben. Man sah direkt auf den Hofplatz hinunter. Emma erinnerte sich daran, wie sie von hier oben oftmals die Hunde beobachtet hatte. Es war wirklich seltsam die Farm ohne die Tiere zu sehen.

Richard holte sie aus ihren Erinnerungen zurück, als er vom Familienbadezimmer aus rief: »Emma, das musst du dir ansehen!«

Als sie neben ihn trat, musste sie schmunzeln. Das Bad war wirklich etwas speziell: Die Badewanne mit Löwenkopf-Füßchen stand vor einem Fenster, von wo man über die Weiden blicken konnte. Natürlich waren alle Armaturen im Antik-Look, was Richard nur den Kopf schütteln ließ. »Es gibt noch nicht mal eine vernünftige Dusche in diesem Haus! Wie kann man nur ein Badezimmer ohne Dusche bauen?! Und schau dir mal die Armaturen an, noch nicht mal einen Mischer haben die!«

Emma musste über sein Entsetzen laut lachen. »Ja, es grenzt an ein Wunder, dass Tante Milly überhaupt ihr Alter erreicht hat«, zog sie ihn auf.

»Haha, sehr lustig. Du musst doch zugeben, dass das nicht praktisch ist, ebenso wenig wie das Parkett. Holz in einem Badezimmer?! Das weiß man doch mittlerweile, dass das nicht gut geht.«

»Hmm, aber es fühlt sich unter nackten Füßen bestimmt viel angenehmer an als Fliesen. Schau mal aus dem Fenster! Es muss absolut herrlich sein, hier bei dieser Aussicht in der Badewanne zu entspannen.«

Richard knurrte etwas Unverständliches. Auf diesem Stockwerk gab es ansonsten nur noch ein Zimmer, in dem Milly ihr Büro eingerichtet hatte, und ihr riesiges Schlafzimmer. Irgendjemand hatte die Bettwäsche abgezogen, nachdem Milly darin gestorben war, aber ansonsten sah der Raum aus, als würde derjenige, der ihn benutzt hatte, gleich wieder zurückkommen. Auf dem kleinen Schminktischchen standen noch immer verschiedene Cremes und Töpfchen. Kleider lagen über dem Stuhl, in die Milly wohl am nächsten Morgen wieder hatte schlüpfen wollen. In diesem Raum duftete alles noch so sehr nach ihrer Tante, dass Emma die Tränen in die Augen traten. Wie hatte sie diesen Duft nach Maiglöckchen, der ihre Tante immer umgeben hatte, nur vergessen können?

»Komm, lass uns gehen, bevor du noch rührseliger wirst«, drängte Richard zum Aufbruch.

Auf dem Hofplatz verabschiedeten sie sich von Finch, und dann machten sie sich auf den Rückweg nach London. Während der Fahrt meinte Richard: »Deine Tante muss ziemlich verrückt gewesen sein, wenn sie glaubt, dich zwingen zu können, in diesem Kaff zu leben. Du solltest dir einen Anwalt nehmen und das Testament anfechten.«

Emmas Kopf schnellte zu ihm herum. »Das werde ich mit Sicherheit nicht tun! Das Testament ist ihr letzter Wille, und den respektiere ich.«

»Du überlegst dir doch nicht wirklich ernsthaft, ein Jahr da draußen zu leben, oder? Wie sollte das gehen? Du hast einen Job in London.«

»Ich weiß, Richard! Das ist mir durchaus bewusst. Aber ihr Testament anzufechten kommt für mich definitiv nicht in Frage. Ich hatte über Jahrzehnte keinen Kontakt zu Milly. Wieso sollte ich da überhaupt etwas von ihr erben?«

»Weil du mit ihr verwandt warst. Du hast ein Recht darauf!«

»Das sehe ich anders. Wenn ich ihrem Wunsch nicht nachkommen kann, dann soll das Grundstück den Tieren zugutekommen. Tiere waren für sie damals schon das Wichtigste, und das scheint sich nicht geändert zu haben.«

»Aber …«, wollte Richard ansetzen, doch Emma unterbrach ihn gleich aufgebracht: »Nichts aber, Richard! Ich setze mich ganz bestimmt nicht über den Willen einer Toten hinweg.«

Die weitere Fahrt legten sie schweigend zurück, bis Richard sie vor ihrer Wohnungstür in London absetzte und sich mit einem Kuss verabschiedete.