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Während der Arbeit an diesem Buch gestaltete ich eine Handpuppe aus Holzmehl.

Sie erinnert eindrücklich an meine Großmutter, die nach einem Schlaganfall eine Demenz entwickelte. In ihrem letzten Lebensabschnitt durfte ich sie begleiten. Sie wurde meine Lehrmeisterin dahingehend, dass es trotz Abhängigkeit von der Unterstützung anderer und trotz kognitiver Beeinträchtigung möglich ist, dem Leben das Beste abzuringen und die Tage mit Freude und Dankbarkeit zu füllen.

An Demenz erkrankten Menschen und ihren Angehörigen ist dieses Buch gewidmet.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Sabine Wöger

Illustration: Sabine Wöger

Veröffentlichung: Wolfgang Wöger

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7481-0582-4

Inhalt

EINLEITUNG

1. Ausgangslage und Problemstellungen

Sowohl eine unzureichende Symptomlinderung wie auch das Fehlen von emotionalen, tragfähigen Beziehungen bergen in sich die Möglichkeit, dass ein Mensch nicht mehr am Leben sein kann. Die nun eingangs beschriebenen Menschen und deren Bewältigung von Krankheit, führen in das Erleben der Betroffenen ein, verweisen auf Möglichkeiten und Grenzen im Umgang mit Krankheit.

Sigmund Freud erbat eine Tötung auf Verlangen

Wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1939 schrieb Sigmund Freud an Prinzessin Marie Bonaparte: „Das Radium hat wieder alles aufzufressen begonnen, unter Schmerzen und Vergiftungserscheinungen, und meine Welt ist wieder, was sie früher war, eine kleine Insel Schmerz, schwimmend auf einem Ozean an Indifferenz“ (Markus, 2006, S. 326 f.).

Die Schmerzen aufgrund eines Kieferhöhlenkarzinoms waren für Dr. Freud, trotz 33 schwerer Kieferoperationen, unerträglich geworden. Bereits 1923 war der erste operative Eingriff im Kieferbereich nötig und im Jahre 1927 hatte er prophezeit: „Am Ende scheint uns der Tod weit weniger unerträglich als die mannigfachen Bürden des Lebens“ (Markus, 2006, S. 328–330).

Insbesondere eine Goldprothese, die er als „Ungeheuer“ bezeichnete, bereitete Ulzerationen und höllische Schmerzen im Kieferbereich (Markus, 2006, S. 278, 281). Das übelriechende Geschwür hatte auch Wange und Augenhöhlenbasis ergriffen. Sogar sein treuer Gefährte, der Chow-Hund „Lün“, ertrug den Wundgeruch nicht und mied die Nähe seines Herrn. Freud fand kaum noch Schlaf, war kachektisch und verweilte fast nur noch im Bett.

Am 21. September 1939 ergriff Freud die Hand seines Arztes und sagte zu ihm: „Lieber Schur, Sie erinnern sich wohl an unser erstes Gespräch. Sie haben mir damals versprochen, mich nicht im Stich zu lassen, wenn es so weit ist. Das ist jetzt nur noch Quälerei und hat keinen Sinn mehr“ (Markus, 2006, S. 328–329). Tags darauf verabreichte ihm sein Arzt eine Injektion von 0,02 Gramm Morphium, woraufhin Freud einschlief. Nach zwölf Stunden und nach Applikation einer weiteren Morphininjektion wurde Freud komatös und starb am 23. September 1939 im Londoner Exil.

Heute sprechen wir in diesem Zusammenhang von einer Tötung auf Verlangen, wonach ein von einer bewusstseinsklaren und entscheidungsfähigen Person geäußerter Wunsch nach Tötung durch eine andere Person erfüllt wird. Diese Form der Sterbehilfe ist in Österreich nicht legalisiert. Wohl hätte sich Dr. Freud, hätte es damals die Möglichkeit eines ärztlich assistierten Suizides gegeben, sich dafür entschieden. Doch nicht etwa deswegen, weil es nicht mehr hätte leben wollen, sondern weil die Therapiemöglichkeiten der damaligen Zeit unzureichend waren und er nicht mehr leben konnte. Die Tatsache, dass Freud dennoch viele Jahre mit einer schweren und äußerst schmerzhaften Erkrankung gelebt hatte, lässt vermuten, wie sehr auch er um sein Leben gerungen hatte. Doch geriet der individuelle Lebensvollzug, unter Vorzeichen wie diesen, an die Grenzen der subjektiven Belastbarkeit.

Im Zuge von mehrjähriger Tätigkeit als diplomierte Pflegeperson auf einer Palliativstation lernte ich vielfache Möglichkeiten zur Linderung bzw. Kontrolle von quälenden Symptomen in mehrdimensionaler Hinsicht kennen: palliativmedizinisch und - pflegerisch, psychotherapeutisch, psychosozial sowie seelsorglich.

Eindrücklich waren die positiven Auswirkungen auf die Gesamtbefindlichkeit von Patienten/Patientinnen und Angehörigen, wenn Gespräche zwischen Mitgliedern des Palliativteams, Erkrankten und deren Angehörigen, auf Basis von Vertrauen und Empathie, Wahrhaftigkeit und Authentizität, geführt wurden. Hierbei konnten Ängste vorbehaltlos geäußert werden. Psychische Belastungen durch Ungewissheiten im Zusammenhang mit der Krankheitsprogredienz, etwa wenn das Risiko einer Tumorblutung im Raum stand, wurden offen thematisiert, ausführlich und ernsthaft besprochen. Wenn auch die physischen Symptome nur gelindert und nicht immer beseitigt werden konnten, so erfuhren die Erkrankten durch den menschlichen Beistand dennoch Entlastung in einer verzweifelten Lebenslage.

Fachliche und menschliche Kompetenz, die Einbindung der Angehörigen in den Betreuungs- und Pflegeprozess, ebenso die aufgewendete Zeit für Gespräche, waren wohl mitausschlaggebend dafür, dass sich in all den Jahren meiner Tätigkeit im Bereich von Palliative Care nur vereinzelt Menschen für einen ärztlich assistierten Suizid oder für einen Suizid entschieden haben.

Schon bei der Aufnahme der Schwerkranken auf die Palliativstation war spürbar, wie bedeutsam für sie ein ehrliches „Willkommen!“ war, sodass sich die Erkrankten und ihre Familien herzlich aufgenommen fühlen konnten. Zu spüren, dass sie in ihrem Kranksein keine Belastung für andere bedeuteten, sondern dass sie gewollt waren und das Leben ihrer Mitmenschen bereicherten, stärkte sie in ihrem Dasein, trotzdem dass sie pflegebedürftig waren und nicht mehr produktiv sein konnten.

Die Erfahrung zeigt, wie haltgebend eine kontinuierliche Begleitung der Erkrankten, etwa durch empathische Gespräche, aktives Zuhören, emotionalen Beistand und Trost, von den Betroffenen und ihren Angehörigen, erfahren wird. Dennoch geraten Menschen an die Grenzen des Aushaltbaren, wie die Begleitung von Frau Martha dies deutlich macht.

Frau Martha konnte nicht mehr leben

Ich betrat im Zuge eines nächtlichen Rundgangs auf der Palliativstation das Zimmer von Frau Martha, 76 Jahre alt. Ich fand die Patientin am Bettrand sitzend vor. Mit einer Hand stützte sie sich auf der Matratze ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie war sehr geschwächt. In der anderen Hand hielt Frau Martha einen Suppenlöffel, mit dem sie am exulzerierend wachsenden Tumor am Hals schabte, um sich in dieser Weise das Leben zu nehmen. Der Tumor engte die Luftröhre ein und reduzierte zunehmend den Atemstrom. Frau Martha litt an Ruhedyspnoe und Erstickungsangst, konnte nur in sitzender Position einigermaßen frei durchatmen. Auch der Kehlkopf war karzinomatös durchwachsen, was die operative Anlage einer trachealen Kanüle erforderlich machte und mit Schluckstörungen, übermäßiger Schleimbildung und mit schmerzhaften Schleimhautläsionen einherging. Zudem quoll zähes und jauchig riechendes Wundsekret aus dem Tracheostomakanal. Eine palliative Sedierung lehnte Frau Martha, aus Angst vor Bewusstseinsverlust, entschieden ab.

Als ich Frau Martha blutüberströmt am Bett sitzend vorfand, fühlte ich tiefe Betroffenheit, Traurigkeit, Mitgefühl und Verständnis für ihre verzweifelte Lage. Ich hatte Sorge, ob ich denn nun, in diesem entscheidenden Moment, das Richtige tun würde. Ihr Blick war starr, leblos, verzweifelt, und von Entkräftigung zeugte ihre ganze Gestalt. Ich setzte mich neben sie, legte meinen Arm um ihren Rücken und begann sie sanft zu wiegen: „Bitte geben Sie mir den Löffel“, sagte ich in ruhigem

Tonfall zu ihr. Mehrmals wiederholte ich meine Bitte, ehe sie nach einer Weile doch langsam den Griff lockerte, um dann der Verzweiflung ihren Lauf zu lassen. Alles in ihr weinte. Durch die körperliche Anstrengung während des heftigen Weinens ergoss sich jauchiges Sekret in Mengen über ihren Brustkorb. Ich konnte nur bei ihr bleiben, mit ihr aushalten und sie so lange in meinen Armen wiegen, bis sie eingeschlafen war.

Nachhaltig beschäftigte mich die Frage: Was wäre geschehen, wenn ich nicht zufällig in diesen Minuten das Zimmer von Frau Martha betreten hätte? Die Dame wäre wahrscheinlich an einer Tumorblutung verstorben und sie wäre frei gewesen von jeglicher qualvollen Symptomlast. Darüber nachsinnend, was Frau Martha wohl veranlasst hatte, mir den Löffel zu geben, halte ich es für möglich, dass sie den Löffel vielleicht meinetwegen, also für mich, losgelassen hatte. Gewiss können das Bewusstsein und die Entscheidung, für jemanden am Leben zu bleiben, über eine momentane Verzweiflung hinweghelfen. Doch was, wenn niemand oder nichts mehr da ist, für den oder für das es sich noch lohnen würde zu leben, trotz widrigster Lebensumstände?

Die Begegnung mit Frau Martha war für mich zutiefst berührend, und sie zeigt auf, dass entgegen der Möglichkeiten der Palliativmedizin und trotz medikamentös-therapeutischer Symptomkontrolle dennoch eine Krankheitssituation für die Betroffenen derart leidvoll und überwältigend erlebt werden kann, dass die Kraft zum Leben nicht mehr ausreicht.

Frau Erikas Ressourcen erschließen sich prozesshaft

Bei Frau Erika, 43 Jahre alt, wurde im Jahr 2004 die Diagnose einer Multiplen Sklerose gestellt. Ich besuchte die Patientin drei Jahre lang in ihrem Zuhause und in meiner Rolle als Psychotherapeutin. „Sollte mir einmal jemand den Hintern im Bett putzen müssen, weil ich nicht mehr gehen kann, fahre ich in die Schweiz (um dort ärztlich assistierten Suizid in Anspruch zu nehmen), so die Patientin. Über die Jahre hinweg galt es viele Reduktionen hinzunehmen, und ein jeder Abschied von einer körperlichen Fähigkeit löste schmerzhafte Trauerprozesse aus. Jede Reduktion ging mit Klage, einem bitteren Hadern mit dem Schicksal sowie mit einem Ringen um Haltung einher.

Doch immer wieder kam der Zeitpunkt, wo sie es neuerlich geschafft hatte, sich auf einer für sie gefühlt niedrigeren Stufe an Lebensqualität wieder einzufinden und trotz all der Einschränkungen dem Tag wieder etwas Sinnvolles abzuringen. Frau Erika verwirklichte zunehmend auch Erlebens- und Einstellungswerte. Gemeinsam betrachteten wir beispielsweise die jahreszeitlichen Veränderungen in der Natur, lauschten den Vogelstimmen, hörten Musik, wählten gezielt Filmmaterial, woraufhin wir tiefgehende wie auch humorvolle Gespräche führten. Trotz begrenzter Lebenszeit schien sich die Wahrnehmung ihres Lebens zu vertiefen und zu intensivieren, ebenso das ihrer Angehörigen und auch mein eigenes.

Diese Begleitung zeigt, dass mit einer existenziellen Krise mitunter auch enorme Kräfte wachsen können, nicht körperlicher Natur, sondern vielmehr geistiger. Jedoch entwickeln sich diese prozesshaft. Da gibt es einen Punkt, wo jemand beispielsweise sagt: „Ich kann nicht mehr leben“. Doch muss dieser Punkt nicht das Ende des Prozesses darstellen. Angesichts solcher Lebenserfahrungen werden seelisch-geistige, spirituelle Ressourcen mobilisiert, zu denen die Betroffenen vor einer schicksalhaften Erkrankung oftmals noch gar keinen Zugang hatten, eben aufgrund der Einmaligkeit der Lebenssituation. Es vollzieht sich eine Art `innerseelische Adaption`. Bei Frau Erika gab es allerdings ein liebevolles und fürsorgliches soziales Umfeld, das ihre Klage geduldig und empathisch ausgehalten hatte, wenn auch unter Auslotung der Belastbarkeitsgrenzen auf beiden Seiten.

Auf Basis dieser und ähnlicher Begleitungen konnte ich beobachten, dass sich die Möglichkeiten, Einstellungen und Sichtweisen hinsichtlich des Umgangs mit einer existenziellen Lebenserfahrung erst mit der Krise, mit der jeweiligen Herausforderung, ausbildeten. Daher sind die Entwicklung und innerseelische Weise der Bewältigung am Beginn eines Weges nicht, oder nur sehr bedingt, vorhersehbar. Weder Frau Erika noch jemand anderer hätte voraussagen können, wie sie und ihre Angehörigen mit dieser Erkrankung würden umgehen können. Hätte sie die Entscheidung zum assistierten Suizid im Vorfeld getroffen und vollzogen, viele Sinnmöglichkeiten für sie selbst und andere hätten nicht verwirklicht werden können. Frau Erika war fünf Jahre bettlägerig, pflegebedürftig, abhängig von der Unterstützung anderer und entschied sich letztendlich gegen die Beendigung ihres Lebens durch ärztlich assistierten Suizid.

Abbildung 1: Abnahme körperlicher Fähigkeiten und prozessartig verlaufende Weitung von geistig-seelischen Ressourcen.

Abschließend sei der Krankheits- und Bewältigungsprozess von Frau Erika bildlich dargestellt: Die weißen Pfeile symbolisieren jene körperlichen Reduktionen im Zuge einer schweren Erkrankung, die mit einer subjektiv empfunden beeinträchtigten Lebensqualität einhergehen. Eine jede Reduktion löst neue Trauerreaktionen aus. Die rosa Linien stehen für das Vermögen von Frau Erika, sich auf einer gefühlt niedrigeren Stufe an Lebensqualität wieder einzufinden.

Die immer größer werdenden Blüten symbolisieren das zunehmende Wachstum innerer, geistig-seelischer Ressourcen trotz unaufhaltbarem, voranschreitendem Krankheitsprozess.

Die beiden Fragezeichen, am Beginn und am Ende des Krankheits- und Bewältigungsprozesses und den Verlauf des gelben Pfeils markierend, symbolisieren die Fragwürdigkeit, ob dieser Prozess mit seiner individuellen Charakteristik denn im Vorfeld, etwa bei Diagnosestellung bzw. beim Auftreten erster Krankheitssymptome, absehbar bzw. einschätzbar sein kann. Weiters ist zu bedenken, dass den Betroffenen und deren Angehörigen bei einer frühen Entscheidung, etwa zu einem ärztlich assistierten Suizid, jene sich erst prozesshaft entwickelnden Möglichkeiten und Bewältigungsweisen verwehrt bleiben.

Es gibt also Lebens- und Krankheitserfahrungen, die charakterisiert sind mit einer alles dominierenden und überwältigenden Anhaftung von Leid, die Außenstehenden bestenfalls nur fragmentarisch und zumeist gar nicht zugänglich sein können, da sie selbst sich in einer anderen Lebenslage befinden und die Lebens- wie auch Gefühlsgeschichten der Betroffenen nur fragmentarisch kennen.

2. Das Forschungsvorhaben

Was mich zum Verfassen dieses Buches motivierte

Anlassgebend für die Befassung mit der Thematik des ärztlich assistierten Suizides bei Demenz waren jene Menschen, die mich in meiner psychotherapeutischen Praxis bereits bei den ersten Verdachtsmomenten bzw. nachdem bei ihnen eine Demenzerkrankung diagnostiziert wurde, aufsuchten. Sie haben um die für sie und ihre Angehörigen `richtigen Entscheidungen` gerungen, ob sie einen ärztlich assistierten Suizid in Erwägung ziehen sollten oder nicht bzw. wann für einen Vollzug des ärztlich assistierten Suizides der richtige Zeitpunkt wäre. Es dominierte die Angst vor Würdeverlust und Beschämung beispielsweise aufgrund von affektiver Inkontinenz, ebenso die Sorge, eine zunehmende oder gar unerträgliche Belastung für das familiäre und soziale Umfeld zu sein. Aufgrund von kognitiver Beeinträchtigung vollkommen abhängig von der Unterstützung und Pflege anderer, von Lebensbedingungen und Strukturen zu sein, belastete die Betroffenen enorm und bildeten hauptsächliche Beweggründe für deren Überlegungen hinsichtlich eines ärztlich assistierten Suizides.

In der psychotherapeutischen Arbeit mit diesen Klienten und Klientinnen fiel mir jedoch auf, dass manche angsterfüllt, auch panisch, in eine Zukunft mit Demenz blickten, andere hingegen zuversichtlich und vertrauensvoll: „Es kommt, wie es kommen will“ oder „es wird sich für mich dann bestimmt auch das Beste ergeben“. Mich interessierte, welche Unterschiede und Besonderheiten es in den persönlichen Biographien, in der Bindungs- und Beziehungsgestaltung zu Eltern in der frühen Kindheit und späteren Lebenspartner/-innen, ebenso in der Sozialisation meiner Patient/-innen gab, ob und wie sich diese auf die Einstellung zur Demenz und zum ärztlich assistierten Suizid bei Demenz auswirkten. Ob und wie belastende Lebenserfahrungen und -krisen die Einstellung zu Demenz und ärztlich assistierten Suizid beeinflussten, war ebenfalls von Interesse. Auch wollte ich die Wahrnehmung, dass Personen mit einem intrinsisch verankerten Glauben einer Demenzerkrankung eher zuversichtlich als ängstlich begegneten, empirisch untersuchen.

Jene Klient/-innen, welche an der Radikalität der Endlichkeit litten und dadurch den Sinn des Lebens an sich schon in Frage stellten, ebenso die Personen, welche auf die Möglichkeit eines Weiterexistierens nach dem physischen Ableben weder hoffen noch daran glauben konnten, tendierten eher zu einer aktiven Beendigung des Lebens durch ärztlich assistierten Suizid, so meine Beobachtung.

Ich konnte feststellen, dass für die Mehrzahl meiner Klient/-innen ein klares Sensorium, ein wacher Geist, einhergehend mit einem intakten Kognitionsvermögen, voraussetzend für ein würdevolles Leben war. Beschämung würden sie durch körperlichen und affektiven Kontrollverlust erfahren. Auch die Tatsache, selbst nicht mehr produktiv und handlungsfähig zu sein, belastete die Hilfesuchenden. Unerträglich wäre für sie auch der Verlust der Einsichts-, Entscheidungs- und Orientierungsfähigkeit. Diese Personen bezeichneten die Demenzerkrankung als „Horrorkrankheit“, als „absoluten Wahnsinn“, bei der sie „verblöden“ würden und „wo nur noch die tödliche Spritze, die jedes Tier bekäme“, Erlösung bringen würde und somit die einzige und logische Antwort auf eine Demenzerkrankung wäre.

Als Psychotherapeutin mit der fachlichen Ausrichtung Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor Frankl und mit Wissen und Erfahrung in Palliative Care, ist mir der leidende und nach Sinn suchende Mensch ein besonderes Anliegen. Ich möchte alles erdenklich Mögliche dazu beitragen, dass Menschen sich und ihr Leben, trotz kognitiver Beeinträchtigung und trotzdem, dass sie pflegebedürftig und in dieser Weise abhängig von Lebensbedingungen und Strukturen sind, dennoch als würdevoll und lebenswert erfahren können.

Der Schutz des Lebens, das ich als ein Schöpfungsgeschenk und somit als ein zu schützendes Gut erachte, ist mir ein normatives Lebens- und Leitprinzip. Dennoch könnte ich verstehen, wenn an Demenz erkrankte Menschen zu der Ansicht kämen, dass ein Leben unter bestimmten Bedingungen für sie nicht realisierbar wäre, etwa im Falle ausgeprägter Pflegebedürftigkeit, einhergehend mit physischer bzw. psychischer subjektiv unzureichend gelinderter Symptomlast. Demütig erinnere ich Patient/-innen wie Frau Martha: Monatelang hatte sie um einen Weg im Umgang mit ihrer schweren Erkrankung gerungen. Trotz Palliativmedizin, ganzheitlicher Betreuung und liebevoller Pflege war das Leben für sie im Gesamten nicht mehr lebbar. Ich selbst war weder in einer ähnlichen, geschweige denn in derselben Lebenslage und somit konnte ich noch nie fühlen und erleben, wo ihre Möglichkeiten und Grenzen des Aushaltbaren lagen.

Und hieraus erschließt sich der Auftrag:

Die individuelle Not der Patient/-innen tiefgehend und

umfassend wahrzunehmen und Berufsgruppen,

die diese Menschen betreuen, hierfür zu sensibilisieren, damit sie im Rahmen der verfügbaren Möglichkeiten

lebensverlängernd auf die Erkrankten einwirken können.

Ein zentraler Auftrag:

Für das Leben trotz Demenz!

Forschungsinteresse und Zielsetzungen

Untersucht wurde, welche Erfahrungen und Wirklichkeitskonstruktionen jenen Menschen zugrunde liegen, die zuversichtlich und vertrauensvoll oder besorgt und angsterfüllt in eine von Ungewissheiten geprägte Zukunft blicken, in der sie an einer Demenz erkranken könnten, einhergehend mit Pflegebedürftigkeit und Abhängigkeit von anderen Menschen wie auch von Lebensbedingungen und Strukturen. Von Interesse waren der Bindungsstil der Probandinnen und Probanden zu den Eltern, prägende Lebenserfahrungen, die persönliche Glaubenshaltung bzw. Spiritualität, das gegenwärtige Leben und die Möglichkeit eines Weiterexistierens nach dem physischem Tode, die Weisen des Umgangs mit Ungewissheiten, welche die Untersuchungsteilnehmer/-innen in ihrer Kindheit und im Zuge ihrer Sozialisation erlebt und geprägt haben. Weiters bestand ein Forschungsinteresse dahingehend, ob eine liebende Beziehung bzw. Bindung zu einem Partner/zu einer Partnerin im Erwachsenenleben, eine in der frühen Kindheit erfahrene unsichere, unsicher-vermeidende bzw. unsicher-ambivalente und desorganisierte Bindung der Proband/-innen, ausgleichen bzw. korrigieren könnte.

Wie diese Themenfelder die Einstellung der Proband/-innen zum Krankheitsbild Demenz und zum ärztlich assistierten Suizid bei Demenz beeinflussen, sollte empirisch untersucht werden.

Diese Studie soll Mitarbeiter/-innen interdisziplinärer Palliativteams, Hausärzt/-innen und Psychotherapeut/-innen, die Möglichkeit zur vertiefenden Auseinandersetzung mit der Thematik des ärztlich assistierten Suizides bei Demenz bieten. Diese fachlich geschulten Personen werden von den Erkrankten und/oder deren Angehörigen dann aufgesucht, wenn sie mit der Frage ringen, wie sie auf die Herausforderung Demenz antworten sollen, wenn sie Angst und Beschämung, Ohnmacht und Verzweiflung fühlen. Fachkräfte sollen ein Mehrverständnis dahingehend erhalten, welche Prägungen und Erfahrungen die Einstellung zu Demenz und ärztlich assistierten Suizid bei Demenz beeinflussen können, denn darin liegen zugleich die Ressourcen um einer Einstellungsmodulation in Richtung Leben den Weg zu bahnen.

Die intensive Befassung mit dem Krankheitsbild Demenz und dem Erleben der Betroffenen, eröffnet erfahrungsgemäß neue Sichtweisen. Mein Buch mit dem Titel „Demenz, Wissenswertes für Betroffene, Angehörige und Betreuende“ entstand infolge der vorliegenden Studie. Darin kommen an Demenz Erkrankte und Angehörige zu Wort, wodurch die Leser/-innen Einblicke in die Erlebens- und Gefühlswelt der Betroffenen erhalten. Auf Basis von Erfahrungsberichten wird aufgezeigt, wie Beziehung zwischen Angehörigen und Erkrankten gestaltet und erhalten werden kann, vom Beginn der Erkrankung bis hin zu fortgeschrittenen Phasen der Demenz.

Literaturanalyse

In der Literaturanalyse bilden die Themenfelder Demenz und -forschung, die innerseelische Abwehr von Angst (Freud, 1926d [1925] & 1940a [1938] & Freud, 1989) sowie ärztlich assistierter Suizid als eine Form der Sterbehilfe, thematische Schwerpunkte. Vertiefende Themenfelder bilden weiters bindungstheoretische Aspekte (Bolwby, 1999), Glaube und Spiritualität im Angesicht von Sterben und Tod sowie die Frage nach dem Lebenssinn trotz unheilbarer Krankheit.

Eine qualitative und tiefenpsychologisch angeregte Studie

Mit zehn Frauen und zehn Männern, von ihnen waren zehn Personen im Alter zwischen dem 70. und dem 96. Lebensjahr, wurden narrative Interviews nach Schütze (1977) geführt. Die Proband/-innen, alte Menschen und Angehörige von an Demenz erkrankten Personen, wurden wiederum in vier Fallgruppen unterteilt: Untersuchungsteilnehmer/-innen mittleren und hohen Lebensalters, welche noch keine direkte persönliche Erfahrung mit einer emotional nahe stehenden Person, die an einer Demenz erkrankt war, gemacht haben und Untersuchungsteilnehmer/-innen mittleren und hohen Lebensalters, welche bereits eine direkte persönliche Erfahrung mit einer emotional nahe stehenden Person, die an einer Demenz erkrankt war, gemacht haben.

Die Auswertung der Interviews erfolgte qualitativ, tiefenpsychologisch angeregt und mit Zugängen aus den integrativen Gesundheitswissenschaften.

Ergebnisse

Eine direkte Begegnung, beispielsweise mit an Demenz erkrankten Elternteilen und sofern die (früh)kindliche Bindung zu ihnen eine stabile war, fördert einen ressourcenorientierten Zugang zum Krankheitsbild und ebenso positive Zuschreibungen. Weiters spiegelt sich eine (früh)kindliche sichere Bindung zu wenigstens einem Elternteil, samt den übermittelten Bewältigungs- bzw. Abwehrweisen von Angst, in der Entwicklung einer intrinsischen Glaubenshaltung der Proband/-innen wieder und beeinflusst dementsprechend den Umgang mit der Ungewissheit im Hinblick darauf, möglicherweise selber an Demenz zu erkranken. Ärztlich assistierter Suizid wird dann eher abgelehnt.

Historisch und biographisch prägende Erfahrungen werden nur dann und oftmals erst im hohen Alter als traumatisierend bewertet, wenn die Proband/-innen keine sinnvollen Aufgaben mehr erfüllen können und sich in kein soziales Netz eingebunden fühlen und einsam fühlen. Sie leiden dann eher an depressiver Verstimmung und erachten ärztlich assistierten Suizid oder Suizid als Erlösung von der Einsamkeit.

Jene Proband/-innen deren elterliche Bezugspersonen, insbesondere wenn es die Mütter waren, im Zuge des Ersten oder Zweiten Weltkrieges mit existenzieller Angst bzw. Not in Berührung gekommen sind, erleben seltener Angst in Bezug auf die Möglichkeit, selber an Demenz zu erkranken. Sie greifen eher auf Bewältigungsweisen wie Annahme, Unterwerfung und Bedürfnisverzicht zugunsten anderer, zurück und weisen eine bedeutend höhere Toleranz in Bezug auf eine Demenzerkrankung auf.

THEORETISCHE ANALYSE

3. Krankheit, Sterben und Tod bedeuten
existenzielle Herausforderungen

In den letzten Jahrzehnten kam es in den westlichen Industriestaaten zu einer radikalen Veränderung im Umgang mit Sterben und Tod. Gegenwärtig wird der Tod häufig als Endpunkt multimorbider Krankheitsverläufe alter Menschen erfahren. Mit dem wachsenden Bedürfnis nach Hygiene und Komfort verringerte sich in der Gesellschaft die Bereitschaft, den Anblick und die Gerüche von Krankheit und Sterben zu ertragen (Wasner, 2012, S. 82).

Wenn auch das Alter zu den Grundverfasstheiten eines Lebens gehört und Menschen noch nie zuvor ein so hohes Lebensalter erreichen konnten wie seit Beginn des 20. Jahrhunderts, stellt doch die Tatsache, dass die Wahrscheinlichkeit, mit steigendem Lebensalter an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken, sich erhöht, dieses Krankheitsbild in das Blickfeld des öffentlichen Interesses (Wetzstein, 2005, S. 28).

Die Möglichkeit, an einer Demenz zu erkranken, pflegebedürftig und abhängig von der Hilfe anderer Menschen zu werden, wird von der Bevölkerung zunehmend als ein Risiko wahrgenommen, vor dem beispielsweise ein hoher Prozentsatz der deutschen Bürgerinnen und Bürger sich in hohem Maße zu fürchten müssen glaubt (DAKGesundheit, 2010; Info.Center der R+V Versicherung, 2015). Medien berichten von der Belastung der Gesellschaft durch die zunehmende Anzahl pflegebedürftiger, an Demenz erkrankter Menschen im Zuge des demografischen Wandels, was laut Förstl (2008) zu einer antizipatorischen Selbstverachtung im Krankheitsfalle führt angesichts der hohen Ansprüche des freien Kulturmenschen an sich selbst und unter dem Eindruck gesamtgesellschaftlicher ökonomischer Interessen. Damit eng verwandt sind die Angst vor dem Würdeverlust und die Scham im Kontext des antizipierten Verlustes sozialer Kompetenzen (Koller, 2015, S. 155).

Insbesondere demenzerkrankte Menschen können ihre Bedürfnisse oft nicht mehr verbalisieren, leiden an Affektinkontinenz und befinden sich mitunter in einem Zustand suboptimaler Körperpflege, was nach Ansicht von Koller (2015, S. 154) die Angst der Bevölkerung vor einer Demenzerkrankung verständlich macht. Die größte Belastung erfährt ein kranker bzw. sterbender Mensch allerdings dann, wenn er inmitten all jener Menschen, die ihn versorgen, sich dennoch alleingelassen fühlt (Engelke, 1979, S. 26). Feldmann (1990) bezeichnet Formen des sozialen Ausschlusses Kranker als deren „sozialen Tod“. Dieser tritt dann auf, wenn Menschen einen ausgeprägten Verlust ihrer sozialen Rolle erleben oder wenn Kranke nach Bewusstseinsverlust ihre Bezugspersonen nicht mehr erkennen können.

Die emotionale Verfassung der Erkrankten wird vom konkreten sozialen Umfeld beeinflusst, in dem sie leben. Die Position der Betroffenen ändert sich zumeist unmittelbar nach der Diagnosestellung, sodass die einen in der ständigen Angst leben, Fehler zu begehen, was zu Bedeutungsverlust oder gar Freiheitsbeschränkung führen kann, andere hingegen auf ein humorvolles und tolerantes Umfeld hoffen dürfen (Koller, 2015, S. 157).

Nach Bracht (2015, S. 339) ist es nur wenigen Menschen möglich, ihr Altsein mit der damit verbundenen Einsamkeit, Gebrechlichkeit und Abhängigkeit von anderen als solches zu akzeptieren. Die meisten Menschen erfahren sich als ohnmächtig, entmündigt, überflüssig, als Objekte von Handlungen und Beschämungen und diesen ausgesetzt. Der deutsche Industrielle Gunter Sachs beispielsweise suizidierte sich im Alter von 79 Jahren schon bei der Verdachtsdiagnose Morbus Alzheimer und tat dies möglicherweise aus einer depressiven Stimmungslage heraus.

Am 6. Mai 2011 schrieb er: „[] Ich habe durch die Lektüre einschlägiger Publikationen erkannt, an der ausweglosen Krankheit A. (Alzheimer) zu erkranken []. Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe, entschieden entgegenzutreten“ (Spiegel Online, 2013). Lebensmüdigkeit, Abhängigkeit und Bedrohung der Autonomie, Verlusterlebnisse, Einschränkungen der kognitiven und motorischen Fähigkeiten wie auch schwere Erkrankungen werden von vielen Menschen für nachvollziehbare und wesentliche Gründe angesehen, die insbesondere alte Menschen bewegen, ihr Leben zu beenden. Demnach ist beispielsweise in Deutschland eine Steigerung der sozialen Akzeptanz und moralischen Toleranz, den Alterssuizid betreffend, zu beobachten (Müller-Busch, 2015, S. 8). Pflegebedürftige Menschen erfahren die Folgen von Personalengpässen. Bezugspflege, wie in zahlreichen Pflegekonzepten beschrieben (Bauer, o. J.; Böhm, 2004; Kooij, 2010, & Walper, 2012), kann in der Praxis nur ansatzweise verwirklicht werden. Trotz hohen Engagements seitens der Pflegenden bleibt zu wenig Zeit für die Einzelnen (Bracht, 2015, S. 340 f.). Ridder (2015, S. 25) erachtet den Mangel an Zeit und Zuwendung für die Erkrankten als bedenkliche Fehlentwicklung.

Jedoch können Erkrankte, gerade durch eine brutale Konfrontation mit Lebensproblemen und auch dann, wenn diese zuvor erfolgreich vergessen wurden, auch einen persönlichen Reifeprozess durchleben, so der Mediziner Tournier (1983, S. 49).

Vom Wissens- und Entwicklungsbedarf der Betreuenden und Begleitenden

Betroffene, Angehörige, Ärztinnen und Ärzte, Pflegende, Seelsorgerinnen und Seelsorger, Politikerinnen und Politiker und nicht zuletzt die Gesellschaft sehen sich mit einem immer weiterwachsenden Problem konfrontiert. Angesichts fehlender kausaler Therapiemöglichkeit und der mit fortschreitender Demenz einhergehenden Pflegebedürftigkeit steigt im Hinblick auf die gegenwärtige Ressourcenverknappung in der medizinischen und pflegerischen Versorgung der gesellschaftliche Druck, sich mit dem Krankheitsbild der Alzheimer-Demenz intensiv zu befassen (Wetzstein, 2005, S. 28). Professionelle und Angehörige reagieren gegenüber an Demenz erkrankten Menschen oftmals hilflos und ohnmächtig. Aus Sicht der Palliativmedizinerin Bausewein (2011, S. ix/Vorwort) besteht aufgrund der Unwissenheit über die Möglichkeiten der Palliativen Geriatrie die Gefahr, dass Betreuende sich emotional von den Betroffenen distanzieren und sie durch Machtausübung in die eigenen Vorstellungen zu pressen versuchen. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist die Abwehr einer von Ungewissheit geprägten Zukunft, welche nach Ansicht von König von einem jeden Menschen andauernd erfolgen muss, „da ein Leben ohne Abwehrmechanismen nicht denkbar ist“ (König, 1997, S. 11).

An- und Zugehörige sind in besonderer Weise informations-, unterstützungs- und einbindungsbedürftig. Kommen sie durch die über Monate oder Jahre dauernde Pflege an ihre Grenzen, erleben sie zusätzlich Schuldgefühle den Erkrankten gegenüber. Die erschwerte Kommunikation mit an Demenz erkrankten Menschen wird von Angehörigen als große Belastung erfahren (Wasner, 2012, S. 85 f.). Pflegende Angehörige haben eine Doppelrolle inne: Zum einen bilden sie eine Ressource für die Patienten/Patientinnen und andererseits sind sie ebenfalls Betroffene mit eigenen Bedürfnissen und Trauerprozessen (ebd., S. →). Ärztinnen und Ärzte, so Ridder (2015, S. 22), benötigen zusätzlich zur Ausbildung über das Physikum begleitend eine über das Philosophikum.

4. Bedeutsame Termini

Menschen, welche an einer degenerativen Demenz erkrankt sind, erfüllen jene Kriterien, welche die WHO (2002) im Hinblick auf die ganzheitliche Behandlungs- und Betreuungsbedürftigkeit von Palliativpatientinnen und -patienten definiert hat. Es handelt sich um eine lebenslimitierende Erkrankung, die eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Endlichkeit menschlichen Lebens, mit Lebensqualität und Würde, Autonomie und Selbstbestimmung, mitunter auch mit einem gesteigerten Todeswunsch, einhergeht. Begriffsdefinitionen und -bedeutungen sind daher grundlegend für die Begleitung von an Demenz erkrankten Menschen und ihren Angehörigen.

WHO-Definitionen von „Palliative Care“ (1990, 2002)

Mit dem Begriff „palliativ“ verbindet sich ein Grundverständnis medizinischen Handelns, welches bereits eine lange Tradition hat, jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde. Die Begrifflichkeit „palliativ“ wird auf das lateinische Wort „pallium“ (Mantel, Umhang) bzw. „palliare“ (bedecken, lindern) zurückgeführt (Müller-Busch, 2012, S. 100). Da Heilung den an Demenz Erkrankten verwehrt bleibt, haben sie bereits vom ersten Augenblick an Anspruch auf Palliative Care, wie dies in der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1990 und insbesondere in jener vom Jahr 2002 festgelegt wurde.

Jene im Jahr 1990 von der WHO vorgelegten Definition von Palliative Care fand breite Zustimmung in der Literatur (Husebø & Klaschik, 1998, S. 177–185). Demnach ist Palliative Care „The active, total care of patients whose disease no longer responds to curative treatment. Control of pain, of other symptoms, and of psychological, social and spiritual problems is paramount. The goal of palliative care is achievement of the best possible quality of life for patients and their families“ (WHO, 1990, S. 11). Die Definition der WHO aus dem Jahr 2002 versteht Palliativmedizin bzw. Palliative Care als einen Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten/Patientinnen und deren Familien, die mit Problemen im Zuge einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind (Sepulveda, Marlin, Yoshida & Ullrich, 2002).

Palliative care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problem associated with life-threatening illness, through the prevention and relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psychosocial and spiritual. Palliative care:

  • provides relief from pain and other distressing symptoms;
  • affirms life and regards dying as a normal process;
  • intends neither to hasten or postpone death;
  • integrates the psychological and spiritual aspects of patient care;
  • offers a support system to help patients live as actively as possible until death;
  • offers a support system to help the family cope during the patients illness and in their own bereavement;
  • uses a team approach to address the needs of patients and their families, including bereavement counselling, if indicated;
  • will enhance quality of life, and may also positively influence the course of illness;
  • is applicable early in the course of illness, in conjunction with other therapies that are intended to prolong life, such as chemotherapy or radiation therapy, and includes those investigations needed to better understand and manage distressing clinical complications (WHO, 2002).

Demnach ist Palliative Care nicht auf Krebserkrankungen beschränkt, und das einzige Kriterium, das die WHO in Bezug auf die Zielgruppe der Patienten/Patientinnen anführt, lautet „Unheilbarkeit der Erkrankung“. Des Weiteren handelt es sich bei Palliative Care um ein Versorgungskonzept, das prinzipiell in allen Strukturen, z. B. stationär oder ambulant, umgesetzt werden kann (Pleschberger et al., 2002, S. 16). Zusätzlich zur Linderung körperlicher Symptome erscheint die individuelle Begleitung der Betroffenen und deren Angehörigen, das Verständnis des Leidens sowie die Zeit und die Bereitschaft zu Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen des Kranksein und Sterbens bedeutsam (Müller-Busch, 2012, S. 98).

Die 1994 gegründete Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) umschreibt in Anlehnung an die WHO-Definition Palliativmedizin als Behandlung von Patienten/Patientinnen mit einer nicht heilbaren, progredienten und fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung, für die das Hauptziel der Begleitung in der Erhaltung bzw. in dem Erreichen einer bestmöglichen Lebensqualität liegt. Palliativmedizinische Maßnahmen beschränken sich nach Ansicht der DGP nicht nur auf maligne Erkrankungen (Husebø & Klaschik, 2006, S. 2 f.).

Nach Doyle, Hanks, Cherny und Calmann (2004) umfasst Palliative Care etwa 90 % Haltung und 10 % Wissen. Die Haltung beinhaltet Fähigkeiten wie menschliche Wärme, Einfühlsamkeit und eine wohltätige Einstellung.

Lebensqualität

Eingebettet in die Definition von Palliative Care erachtet die Weltgesundheitsorganisation Lebensqualität als ein zentrales Konzept und zugleich als das oberste Behandlungsziel aller Bemühungen eines interdisziplinären Teams (WHO 1990, 2002).

Der Begriff der Lebensqualität wurde 1997 von der WHO wie folgt definiert:

Lebensqualität ist die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertesystemen, in denen sie lebt, und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Maßstäbe und Anliegen. Es handelt sich um ein breites Konzept, das in komplexer Weise beeinflusst wird durch die körperliche Gesundheit einer Person, den psychischen Zustand, die sozialen Beziehungen, die persönlichen Überzeugungen und ihre Stellung zu den hervorstechenden Eigenschaften der Umwelt (Renneberg & Lippke, 2006, S. 29).

Laut Kayser, Kieseritzky und Sittig (2009, S. 60) wird die Lebensqualität von Palliativpatienten/-patientinnen durch Ärztinnen und Ärzte und Pflegende niedriger eingeschätzt als durch die Patientinnen und Patienten selbst und stellt laut Steffen-Bürgi (2007, S. 32) ein individuelles, situatives und somit immer auch individuell veränderbares Konzept dar.

Bullinger (2002, S. 311) betrachtet gesundheitsbezogene Lebensqualität als ein multidimensionales Konstrukt, das körperliche, emotionale, mentale, soziale und verhaltensbezogene Komponenten des Wohlbefindens und der Funktionsfähigkeit aus Sicht der Erkrankten beinhaltet, wobei die Betroffenen die alleinigen Experten/Expertinnen für die Einschätzung ihrer Lebensqualität sind.

Würde

Immanuel Kant prägte maßgeblich das Verständnis des Begriffs der Würde, wonach sich die Würde durch die Autonomie des Menschen in seiner Fähigkeit zur moralischen Selbstgesetzgebung konstituiert: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (Kant, 2013, S. 436). Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden. Was hingegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde (Kant, 2013, S. 434). Dieser konzeptuelle Nucleus prägt den Würdebegriff Kants bis in die heutige Zeit. Menschenwürde erscheint als eine vom Menschsein untrennbare Qualität, welche dem Menschen unabhängig von speziellen Eigenschaften oder Leistungen einen allen Abwägungen enthobenen Eigenwert zuschreibt (Pieper, 2007, S. 12). Wesentliche Eckpfeiler sind dabei die Unteilbarkeit, Unveräußerlichkeit sowie Unableitbarkeit von Würde:

Menschenwürde ist unteilbar, da jeder Mensch diese Qualität ganz besitzt. Sie ist unveräußerlich, insofern es sich um einen Wert handelt, der auf nichts und niemand anderen übertragen werden kann. Er ist schließlich unableitbar, denn ein höherrangiger Wert, aus welchem die Menschenwürde abgeleitet werden könnte, ist nicht vorstellbar (Pieper, 2007, S. 12).

An Demenz erkrankte Menschen empfinden angesichts der vorhersehbaren Krankheitsentwicklung ihr Schicksal als einen Frontalangriff auf ihre persönliche Würde. Abhängigkeit, Hilfebedürftigkeit und der Verlust des kognitiven Bewusstseins angesichts einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung werden als würdelos erachtet. Demgegenüber wird die Meinung vertreten, dass selbst im Stadium schwerer Demenz die menschliche Würde nicht verloren geht, diese gleichsam eine unverlierbare Daseinsverfassung des Menschen darstellt, welche immer auch über ein interaktionelles Geschehen sichtbar gemacht werden kann (Wetzstein, 2005, S. 35).