Volker Ebersbach
Der gestohlene Selbstmord
Parabeln
ISBN 978-3-96521-584-9 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien 2004 im Boldt-Verlag, Winsen/Luhe.
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Sieben Flaschen wurden in einer Einkaufstasche durch die Straßen getragen. Aufrecht schepperten sie miteinander, sooft der Einkäufer, der es eilig hatte, denn er war durstig, die Tasche schwenkte.
Als eine Tür hart ins Schloss gefallen war und die Tasche sich senkte, bis sie den Boden berührte, klirrte die eine Flasche: „Lasst uns aufrecht stehenbleiben! Sonst purzeln wir unsanft durcheinander.“
„Ja, ja!“, klapperten zwei andere Flaschen. „Wir bleiben stehen. Auch wir sind aufrechte Flaschen!“
Aber die vier anderen Flaschen ließen sich fallen, wie sie fielen, und da sie alle vier in dieselbe Richtung kippten, zerrte ihr Gewicht die ganze Tasche auf diese Seite und riss von den drei aufrechten Flaschen zwei mit. Der Durstige aber, der nur eben den Flaschenöffner aus der Schublade genommen hatte, griff sich gerade die einzige noch aufrecht stehende Flasche heraus, brach ihr den Hals und leerte sie mit einem Zug.
Der große weißliche welsförmige Fisch schwamm mit gespreizten Barteln in dem trüben Wasser unruhig hin und her. Umrahmt von tropischen Treibhausgewächsen hatte die weiß gekleidete Kommission sich am Rande des Beckens feierlich zu einer Gruppe aufgebaut. Der Vorsitzende räusperte sich, bat um Verständnis dafür, dass der Preisträger sein Element nicht verlassen könne, und verlas die Urkunde mit der Begründung, wofür der Fisch ausgezeichnet werde: Der Fisch hatte bewiesen, dass es auch unter Wasser regnen könne.
Als sie wieder ins dunkle Zimmer kam und leise die Tür hinter sich abschloss, sah sie neben dem irdenen Krug, in dem alles vorbereitet war, einen Zettel liegen. Sie war noch einmal zur Toilette gegangen und hatte sich lange von ihrem Spiegelbild verabschiedet.
Im matt durch Laub und Gardine sickernden Schein der Straßenlampe erkannte sie seine Schrift:
Du hast nicht bemerkt, dass ich in der Ecke saß; das Straßenlicht fällt in die andere. Ich sah dich ein Pulver in den Krug schütten und darin verrühren. Ich ahnte, was es war, ich wollte, als du hinausgegangen warst, eigentlich nur daran schnuppem.
Nun habe aber ich es ausgetrunken.
Ein Ehepaar, dessen Wunsch nach Kindern unerfüllt blieb, adoptierte ein kleines Mädchen aus Afrika. Eines Tages stellte das Mädchen im Spiegel fest, dass seine Hautfarbe viel dunkler war als die der beiden Menschen, die es als seine Eltern kannte. Nun konnte es sich erklären, warum es auf der Straße die Blicke vieler Leute auf sich zog, weshalb diese Blicke zwischen ihm und den Eltern hin und her gingen. Da sah es im Fernsehen Bilder aus einem Land, in dem alle Menschen eine dunkle Hautfarbe hatten, wo es offensichtlich ganz selbstverständlich war. „Ich möchte gern nach Afrika“, sagte das Mädchen, „wo alle Menschen schwarz sind.“
„Aber sieh doch“, entgegnete der Vater, „wie schlecht es den Kindern dort geht!“
„Die Leute haben dort nicht genug zu essen“, fügte die Mutter hinzu.
„Und wenn ich von euch immer genug zu essen bekomme“, fragte das afrikanische Mädchen, „werde ich dann weiß?“
Am Rande einer Tagung hörte ein Künstler zwei Journalisten zu, die sich darüber unterhielten, was bisher zur Sprache gekommen war. Die Tagung behandelte die Rolle der Kunst in der Marktwirtschaft, und man saß bei einem leckeren Frühstück. Der eine Journalist fragte, die Klagen der Künstler zusammenfassend: „Was wollen diese Künstler eigentlich? Mozart ist doch auch arm gestorben!“
Da fragte der Künstler, der geschwiegen hatte: „ Wer war eigentlich Mozart?“
Er wollte nicht mehr leben. Alle Arten, sich umzubringen, waren ihm zuwider. Sich aufzuhängen war ihm schändlich, auf Eisenbahnschienen sah er sich als geköpften Hampelmann, Gift schien ihm nicht zuverlässig genug. Die Pulsadern aufschneiden – ach, das viele Blut, und es würde lange dauern, man würde ihn zu früh finden. So oft er darüber nachdachte, fand er, es sei eines der schwierigsten Vorhaben im Leben, sich selbst zu töten, wenn nicht überhaupt das schwierigste. Aber er wollte sterben.
Sterben? Hier lügt die Grammatik, dachte er, die es möglich macht, zu sagen, als wäre das etwas, was man selbst tut: Ich sterbe. Da hörte er eine Stimme hinter seinem Ohr sagen: Du hast doch einen Schalter! Du kannst dich einfach ausknipsen. Schau nach, unter der linken Achsel hast du einen Schalter. Damit kannst du es mit der rechten Hand tun.
Er zog sein Hemd aus und schaute sich unter die linke Achsel. Tatsächlich! Warum war ihm das noch nicht aufgefallen? Wieso hatte er davon noch nichts gespürt? Zwischen den Achselhaaren ragte aus seiner Haut ein hornartiger Auswuchs, gebettet in eine ovale Falte. Der Auswuchs erwies sich der Fingerkuppe als hart, und bei leichtem Druck wackelte er ein wenig in der Weise von Schaltern, die nur auf einen stärkeren Druck warten, um mit dem Klick in die andere Stellung zu kommen, von Ein nach Aus. Zugleich erschrak er. Der Schalter hätte ja nachgeben können. Er hätte längst aus Versehen sterben können, durch irgendeine unachtsame Bewegung. So schnell wollte er das aber nicht abgemacht haben. Wer sagte ihm denn, ob er sich wieder anknipsen könne, wenn er sich einmal ausgeknipst hatte? Überhaupt! Wie leicht ließe sich womöglich der Schalter auch künftig ungewollt betätigen, wenn er den Arm ruckhaft bewegte oder sich in der linken Achselhöhle kratzte?