Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Notruf
  7. Nebel
  8. Fieber
  9. Geisterstunde
  10. Im Hexenhaus
  11. Ein Mysterium
  12. Tod in den Dünen
  13. Ängste
  14. Ein neuer Gast
  15. Spiele
  16. Neuigkeiten
  17. Erinnerungen
  18. Frost
  19. Am Kliff
  20. Ein Winterabend
  21. Letzte Vorbereitungen
  22. Heiligabend
  23. Albträume
  24. Häusliche Geschäfte
  25. Die Heilige Nacht
  26. Weihnachtsmorgen
  27. Leseprobe – Möwenschrei

Über dieses Buch

Hochspannung unterm Weihnachtsbaum: Ein Krimi von der Küste

Der Flensburger Hauptkommissar John Benthien freut sich auf erholsame Feiertage. Gemeinsam mit seinem Vater möchte er auf Sylt ein ruhiges Weihnachtsfest verbringen, fernab von Stress und Arbeit.

In ihrem Kapitänshaus auf der Nordseeinsel steht plötzlich die neue Nachbarin Annelie Jansen im Wohnzimmer. Die verängstigte ältere Dame berichtet von einem Einbruch in ihrem Haus und dass sie sich verfolgt fühlt. Bereitwillig nehmen die Benthiens ihre Nachbarin bis zu den Festtagen bei sich auf.

Kurz vor Weihnachten kehrt Annelie vollkommen aufgewühlt von einem Dünenspaziergang zurück. Sie habe den Mord an einem als Weihnachtsmann verkleideten Mann mitansehen müssen. Wenig später erschüttert ein weiterer mysteriöser Todesfall die Inselbewohner. Und dann wurde ja auch der entflohene Gewalttäter Luca Meinhardt auf Sylt gesichtet. Steckt er etwa hinter den Verbrechen?

Beste Krimi-Unterhaltung an dunklen Winter-Tagen und in langen Advents-Nächten, nicht nur für Fans von Eva Almstädt und Theodor J. Reisdorf.

Über die Autorin

Nina Ohlandt wurde in Wuppertal geboren, wuchs in Karlsruhe auf und machte in Paris eine Ausbildung zur Sprachlehrerin, daneben schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. Später arbeitete sie als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Marktforscherin, bis sie zu ihrer wahren Berufung zurückfand: dem Krimischreiben im Land zwischen den Meeren, dem Land ihrer Vorfahren.

Nina Ohlandt

Ist so kalt der Winter

Nordsee-Krimi

beTHRILLED

Notruf

Heide in Holstein, 30. November, 10:14 Uhr.

Die schrille, angstvoll verzerrte Stimme stach Inken ins Ohr wie ein scharfkantiges Messer. „Schnell, kommen Sie, um Gottes willen“, rief die Frau voller Panik – zumindest nahm Inken an, dass es sich um eine Frau handelte –, „er hat sie niedergestochen, ich glaube, sie ist tot … Hier ist so viel Blut … und es kommt immer noch mehr und mehr, und ich kann ihr nicht helfen … dann ist auch noch der Wärter da, und ich …“ Die Stimme der Anruferin endete in einem Weinkrampf.

Inken Ingwersen, die seit zwei Stunden Dienst in der Notrufzentrale in Heide tat, vierzig Kilometer südlich von Husum, reagierte ruhig, souverän und unaufgeregt, wie man es ihr beigebracht hatte. Sie erfragte die Adresse des Einsatzortes, den Namen der Anruferin, meldete der Leitstelle zwei Schwerverletzte, veranlasste, dass Polizei und Notarztwagen in die Stettiner Straße fuhren, und sprach weiterhin beruhigend auf die Anruferin ein.

„Er war da“, schluchzte die Frau, „und es gab sofort einen Riesenstreit, ich habe ihn durch die Wand schreien gehört. Ich wohne nebenan und kenne Eva seit Jahren. Wir sind befreundet. Sie wusste nicht, dass ihr Sohn kommen wollte. Auf einmal war er da, klingelte Sturm und trat wie ein Verrückter mit den Füßen gegen die Tür. Eva hat immer Angst vor Luca gehabt, wissen Sie.“

Sie weinte, und Inken erlaubte sich den Gedanken, dass Eva Meinhardt wohl besser sofort die Polizei gerufen hätte, statt ihrem Sohn die Tür zu öffnen. Die Geschichte von Luca Meinhardt, 42, war ihr, wie fast jedem in der Region, bekannt. Er war ein gefährlicher Gewalttäter, der sich jahrelang der Justiz entziehen konnte, nun aber seit acht Jahren wegen verschiedener Delikte in der JVA Itzehoe einsaß, unter anderem wegen Körperverletzung mit Todesfolge und einer Vergewaltigung mit Strangulation. Dass die Frau überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. In der Lokalpresse war Meinhardt immer wieder ein Thema gewesen.

Die Tatsache, dass er sich während der Haft zu einem Bilderbuchhäftling gewandelt, sogar eine Lehre zum Bäcker gemacht und abgeschlossen hatte, hatte ihm einige Vergünstigungen eingebracht, zum Beispiel, wie offenbar heute, einen eintägigen Hafturlaub. Den hatte er anscheinend bei seiner Mutter verbringen wollen, dabei war es zu der Bluttat gekommen. Tragisch, fand Inken, aber durchaus vorhersehbar. Warum fielen Psychiater nur immer wieder auf scheinbar friedliche und geläuterte Häftlinge herein und merkten nicht, wie sie manipuliert wurden?

„Wir wollten heute Abend ins Kino gehen, Eva und ich“, schluchzte die Anruferin, „und vorher wollten wir beim Griechen essen. Und jetzt liegt sie da in ihrem Blut …“

Inken beschloss, auch noch einen Psychologen anzufordern.

Itzehoe, 13:14 Uhr.

Drei Stunden später war Eva Meinhardt notoperiert worden, die Ärzte meinten, es sei zweifelhaft, ob sie durchkäme. Die Begleitperson von Luca Meinhardt, ein Aufseher aus der JVA Itzehoe, war mit einem Messerstich in den Hals getötet worden. Trotz der sofort eingeleiteten Fahndung war der Flüchtige wie vom Erdboden verschwunden.

Itzehoe, 2. Dezember, 17:05 Uhr.

Nach einem Fahndungsaufruf im Radio und in den regionalen Fernsehnachrichten ging in der Polizeidirektion Itzehoe die Meldung ein, Luca Meinhardt sei von mehreren Personen in Westerland auf Sylt gesehen worden. Was nicht so unwahrscheinlich war, denn laut Aussage eines Zellengenossen sollte er dort Bekannte haben. Hauptkommissar Cord Andresen von der Kriminalpolizei Itzehoe verständigte die Kollegen in Westerland. Man beschloss, auch in den Abendnachrichten, in der Sylter Rundschau und anderen Presseorganen der Region einen Fahndungsaufruf zu bringen. Darin warnte man die Bevölkerung allerdings dringend, sich dem Mann zu nähern. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass Meinhardt inzwischen bewaffnet sei.

Nebel

Drei Wochen später, 21. Dezember

Die alte Frau hinter dem Dünenausläufer sah, wie der Mann fiel. Erst hatte er noch ein paar unsichere Schritte getan, dann schlug sein Kopf auf dem Stein auf, der so tückisch unter dem Dünengras verborgen lag. Fast schien es ihr, als hörte sie die Knochen splittern, so fein und leicht wie die Schale eines Frühstückseis. Der weiße Bart war verrutscht und hing ihm schief im Gesicht …

Der Weihnachtsmann war tot.

Annelie stopfte sich die behandschuhte Hand in den Mund, um nicht zu schreien. Ihre Augen saugten sich entsetzt an dem jämmerlichen Etwas fest, das etwa zehn Meter von ihr entfernt lag und bis vor kurzem noch ein lebender Mensch gewesen war. Nun lag es traurig wie ein Bündel alter, roter Stofffetzen im nassen Sand der Sylter Dünen.

Was sollte sie jetzt tun?

Was konnte sie tun?

Ein Handy hatte sie nicht dabei.

Ein leiser, fast erstickter Jammerlaut erklang neben ihr, als sich ein Mann hinter dem Toten langsam aus dem Nebel schälte. Er beugte sich über den Weihnachtsmann, richtete sich auf und blickte um sich.

Annelie begriff, dass sie selbst es war, die den Jammerlaut hervorgebracht hatte. Ihr Herz setzte für ein paar Schläge aus, bevor es ihr aus der Kehle zu springen drohte. Sie zwang sich, langsam und geduckt rückwärtszugehen. Langsam, damit der Mann nicht durch die Bewegung auf sie aufmerksam wurde. Rückwärts, damit sie ihn im Auge behalten konnte, wenn auch nur als Umriss im Nebel. Fast wäre sie über ein Büschel Heidekraut gestolpert. Auf Knien kroch sie weiter durch die harten Riedgräser, bis der Ausläufer einer hohen Graudüne sie den Blicken des Mannes entzog.

Aber – hatte er sie gesehen? Wie dicht war der Nebel, wie weit konnte man blicken? Sie hatte den grauen Star und sah sowieso nicht mehr gut, schon gar nicht im Nebel, aber bei dem Mann mochte es anders sein. Sie musste weg hier, daher rannte sie, so schnell ihre alten Füße sie trugen, hinein in den Nebel, in die Dünen. Doch die Richtung war falsch. Ihr bescheidenes kleines Haus lag auf der östlichen Seite, nur war ihr da der Mann im Weg – sie konnte einzig und allein nach Westen fliehen, in Richtung Strand, in Richtung Meer.

Sie keuchte und schnappte nach Luft. Das Atmen wurde ihr schwer, und in der Seite begann es zu stechen. Ausgerechnet jetzt fiel ihr der Häftling ein, Meinhardt, den sie immer noch nicht geschnappt hatten. Ob er noch auf Sylt war? Aber wie absurd, zu denken, dass er nun hier in den Dünen herumspazierte und ein altes Frauchen jagte … er, der an jungen Mädchen interessiert war …

Trotzdem weiter, immer weiter! So viele Dünen, Senken, Hügel, Ansammlungen von Strandhafer, Heidekrautbüschel und hin und wieder tiefer Sand, in dem ihre Füße bis zu den Knöcheln versanken … nein, das war zu viel, sie konnte nicht mehr. Sie blieb stehen, der Brustkorb und die Seite taten ihr zu weh. So gerannt war sie seit mindestens zwanzig oder dreißig Jahren nicht mehr, sie war völlig aus der Übung.

Obwohl ein übler Seewind blies und der Nebel ihr mit kalten Fingern in den Kragen kroch, glühte sie, vielleicht hatte sie sogar Fieber. Ihr Herz schlug wie ein Gong, überall spürte sie sein Echo, im Kopf, im Bauch, in den Füßen, aber vor allem in den Ohren.

Sie ließ sich mit zitternden Knien auf einem kleinen Sandhügel nieder, der im Schatten einer hohen Düne lag. Traute sich nicht, sich umzudrehen. Hatte er sie überhaupt gesehen? Oder hatte er nur Augen für den Toten gehabt? Vielleicht war auch er geflohen, vor Angst, vor Entsetzen oder Scham? War bereits weit weg, in Kampen oder Westerland?

Sie drehte sich um. Der Nebel war inzwischen so dicht, dass sie nur ein paar Meter weit sehen konnte. Das war gut so, denn dann würde auch ihr Verfolger sie nicht so leicht entdecken können. Auf der anderen Seite verlief man sich in dem kilometerweiten Gewirr von Dünen sehr leicht, und bei Nebel war es richtig gefährlich, da konnte man stundenlang im Kreis gehen, ohne es zu merken. Damals, als Georg noch bei ihr war, in einer anderen, schöneren Zeit, waren sie oft über die Bohlenwege gewandert. Ach, Georg … mit ihm wäre all das nicht passiert.

Jetzt nur nicht sentimental werden, du Heulsuse, ermahnte sich Annelie, sie musste sehen, dass sie ans Meer kam. Allmählich setzte die Dämmerung ein, und nur vom Strand aus würde sie sich einigermaßen zuverlässig orientieren können.

Als sie sich eine der letzten hohen Stranddünen hinaufgequält hatte und plötzlich ein Nebelloch entstand, entdeckte sie voller Schrecken, dass die ominöse Gestalt, aus Dunst und Nebel geboren, ihr unbemerkt wieder ganz nahe gekommen war. Sie stand auf der Nachbardüne, ein Stück weiter nördlich. Hatte er sie gesehen? Auch er schien bemüht, den Strand zu erreichen.

Vor Entsetzen ließ sich Annelie in eine Dünenmulde fallen. Sie schloss die Augen, denn wer nichts sieht, wird nicht gesehen … Ach, so ein Quatsch! Als Kind hatte sie daran geglaubt, doch nun war sie alt und auf der Flucht vor einem Menschen, der wesentlich jünger und sportlicher war als sie selbst. Zumindest schien es ihr so.

Sie rappelte sich wieder auf, lief geduckt durch die Mulde nach Süden, jetzt nicht mehr in Richtung Meer. Auf dem leeren Strand wäre sie sofort zu sehen gewesen, wie auf einem Präsentierteller.

Sie lief kreuz und quer wie ein Hase durch die Dünen, durch den Nebel, der Gespinste um jede kleine Krüppelkiefer, jede Silberbirke wob. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, als sie blindlings durch ein Wäldchen lief, hin und wieder trat sie in ein Kaninchenloch in der Heide und fiel auf die Knie. Dann bildete sich jedes Mal ein, den pfeifenden Atem ihres Verfolgers zu hören, seine Hand zu spüren, die sie an der Schulter streifte.

Schluchzend rappelte sie sich auf und lief weiter, immer weiter. Irgendwann, dachte sie voller Panik, würde er sie einholen. Meinhardt, oder wer immer es auch sonst war.

Fieber

3 Tage vorher, 18. Dezember

„Junge, Junge, du siehst aus wie ausgespuckt.“

John Benthien, Erster Hauptkommissar bei der Flensburger Kripo, derzeit bettlägerig mit einem fiebrigen Infekt, nahm seinen Vater nur wie durch einen Schleier wahr.

„Danke“, krächzte er, wobei er versuchte, das Stechen in seinen Bronchien zu ignorieren, „vielen Dank für deine aufmunternden Worte!“

„Da nicht für.“ Benthien senior, trotz seiner 77 Jahre munter wie ein Fisch in der Nordsee, die nicht weit entfernt von dem alten Kapitänshaus an die Sylter Ostküste brandete, ließ sich auf den Bettrand fallen und zückte seinen Notizblock. „Da du dir ja unbedingt eine Grippe einfangen musstest – du isst zu wenig Vitamine, Junge! –, werde ich unsere Weihnachtseinkäufe wohl allein erledigen müssen.“

„Glaub mir, ich hab’s nicht mit Absicht getan“, murmelte John kratzbürstig. „Und hör auf, mich ständig zu bevormunden. Ich bin kein kleines Kind mehr!“

Er fühlte das Fieber schon wieder steigen. Die Energie seines Vaters ließ ihn sich noch kränker vorkommen, als er ohnehin schon war. Benthien angelte unter dem Kopfkissen nach einem Taschentuch, fand aber nur fünf feuchte Papierkugeln, die er angeekelt auf den Boden fegte. Seine Bemühungen, sich ein neues Päckchen Papiertaschentücher vom Nachttisch zu angeln, waren nicht von Erfolg gekrönt. Das Päckchen fiel herunter.

„Könntest du vielleicht mal …?“

Ben sprang behände auf, reichte seinem Sohn die Taschentücher und ließ sich erneut auf die Bettkante plumpsen. Auf nervtötende Weise klickte er mit dem Kugelschreiber. „Dann lass uns mal überlegen, was wir an Weihnachten essen wollen. Also. Wir sind zu dritt – oder kommt Tommy Fitzen auch? – na egal, ich werde ein bisschen auf Vorrat einkaufen …“

„Wieso sind wir zu dritt?“, krächzte John und kratzte sich wild mit allen zehn Fingern in seinem dichten braunen Haarschopf, weil es ihn überall kribbelte, juckte und brannte. Das Fieber natürlich. Er fühlte sich durch und durch heiß an.

Sein Vater guckte unschuldig drein. „Habe ich dir nicht gesagt, dass Thyra uns an Weihnachten besucht? Sie kommt an Heiligabend oder am ersten Weihnachtsfeiertag. Sie ist ja auch allein, genau wie wir.“

„Was? Thyra? Warum weiß ich davon nichts? Vater! Hast du schon wieder irgendein Techtelmechtel im Sinn? Seit wann trefft ihr euch denn?“ John, angetrieben von einem heftigen Adrenalinschub, der ihm kurzfristig ungeahnte Kräfte verlieh, hatte sich abrupt aufgerichtet. Der Effekt war, dass sich sein trockener Husten in Gang setzte, der alle weiteren Vorhaltungen erstickte. In der Brust und im Hals brannte es wie Feuer. Ben nutzte derweil die Gunst des Augenblicks. „Du weißt genau, dass ich Thyra gut kenne, sie war ja eine Freundin deiner Mutter. Und auch wenn sie Oberstaatsanwältin und in gewissem Sinn deine Vorgesetzte ist, seid ihr ja irgendwie befreundet, jedenfalls lädt sie dich regelmäßig jedes Jahr zu ihrer Weihnachtsparty ein. Was also hast du gegen Thyra?“

„Gar nichts“, sagte John und kratzte sich erneut am Kopf, auf den Armen, im Nacken. „Ich bin nur überrascht, dass du dich jetzt auch noch für Thyra interessierst. Hast du nicht schon genug Freundinnen?“

Ben beobachtete John etwas genauer. „Sag mal, hast du Läuse? Weil du dich überall kratzt.“

„Ich habe Fieber, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest!“

Ben legte die Hand auf die Stirn seines Sohnes, doch John wischte sie augenblicklich weg.

„Du bist ganz rot im Gesicht, Junge. Soll ich dir ein paar Wadenwickel machen?“

„Untersteh dich!“

„Als Kind haben wir dir immer …“

„Ich bin kein Kind mehr! Ich nehme lieber Tabletten gegen das Fieber. Und nenn mich nicht immer Junge!“ Mühsam angelte John nach seinen Aspirin-Tabletten auf dem Nachttisch, legte sich eine auf die Zunge und trank einen Schluck Wasser. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Hals innen in der Kehle zu einem kleinen, entzündeten Hügel angeschwollen, an dessen Fuß die Tablette strandete wie ein Schiff auf der Sandbank. Er trank das Glas aus und konnte sie endlich hinunterspülen, was ihn wiederum zum Husten reizte.

Gleichzeitig wurde ihm klar – er war zwar krank, aber deswegen nicht blöd –, dass sein Vater ihn erfolgreich vom Thema Thyra abgelenkt hatte. Doch er fühlte sich zu heiß und zu elend, um noch einmal darauf zurückzukommen.

„Äpfel“, zählte sein Vater auf, der sich einen herumliegenden Bildband als Unterlage für seinen Schreibblock geschnappt und ihn auf seine Knie gelegt hatte. „Mandarinen, Weintrauben, Rotkohl, Lachs, Knusperschmalz, Oliven, Beifuß, Gebäck – oder soll ich selber backen, John? Könnte ich ja mal versuchen … aber weiter: Preiselbeeren, Lebkuchen, Oblaten, Christbaum sowie einen Christbaumständer …“

„Vater! Wir haben mindestens drei davon im Keller!“

„Das weiß ich, und die geraten mir auch das ganze Jahr über, wenn ich im Keller etwas suche, ständig zwischen die Füße, nur an Weihnachten, da verkriechen sie sich. Das ist jedes Jahr dasselbe. Und ehe ich das ganze Haus auf den Kopf stelle …“

„In fünf Jahren werden wir neun Stück haben“, murmelte John leise vor sich hin. Er freute sich, dass er trotz des Fiebers doch noch so weit rechnen konnte.

„… Knoblauch, einen Topf Basilikum, was brauchen wir noch? Gänsekeulen, saure und süße Sahne, Hefe …“

„Du willst doch die Keulen nicht etwa selbst machen? Wir könnten eine fertige Gans bestellen … oh Gott, ich kann nicht an Essen denken, davon wird mir augenblicklich schlecht!“

„Graupen“, zählte Ben weiter auf, ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten seines Sohnes zu nehmen. „Ich könnte dir ein schönes Graupensüppchen kochen!“

„Ben! Willst du mich umbringen? Du weißt genau, dass ich Graupen hasse! Schon beim Gedanken daran kommt’s mir hoch.“

„Irgendwie bist du heute auf Krawall gebürstet“, stellte Ben fest.

John legte sich bequemer hin, schloss die Augen und blendete die Stimme seines Vaters aus. Bunte Kreise und ein Rauschen in den Ohren wiegten ihn in einen fiebrigen Dämmerschlaf.

Als er erwachte, war der Nachmittag ein Stück weiter fortgeschritten. Im Haus war alles still. Sein Vater war offensichtlich noch beim Einkaufen. Eine milde, kalte Wintersonne lugte ab und zu zwischen den Wolken hervor, umwoben von grauen Schleiern, die Nebel versprachen.

Die Hitze und das Fieber waren verschwunden, dafür war das Bett sehr ungemütlich geworden, heiß und klebrig vom Schwitzen. John stellte sich kurz unter die Dusche, hüllte sich in einen frischen Pyjama und einen dicken Bademantel und bezog das Kopfkissen neu. Das Laken zu wechseln war ihm zu mühsam, ihm schwindelte schon wieder von der Anstrengung des Duschens. Sein Vater hatte ihm eine Kanne Pfefferminztee hingestellt, den er jetzt gierig trank.

Nachdem John sich wieder eine Weile ins Bett gelegt hatte, beschloss er, nach unten ins Wohnzimmer umzuziehen. Dort fühlte er sich weniger ausgeschlossen, irgendwie näher am Leben. Anscheinend ging es ihm doch schon ein wenig besser. Er zog zwei T-Shirts und eine Jogginghose über den Pyjama, nahm sein Kissen und eine Decke und machte es sich auf dem Sofa mit dem karamellfarbenen Leder bequem, das im Lauf von Jahrzehnten butterweich geworden war. Nur das Feuer im Kamin, das sein Vater vorausschauend entzündet hatte, erhellte den Raum in der anbrechenden Winterdämmerung.

Auf der kleinen Dünenterrasse bogen sich die Hecken der Kamtschatka-Rosen im Wind, und hinter den Dünen rauschte eintönig das graue Dezembermeer. Es rauschte John erneut in den Schlaf.

„… irgendjemand muss etwas tun!“, rief eine körperlose Stimme so dicht neben Benthien, dass er erschrocken erwachte.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Die Holzscheite im Kamin glühten noch, und draußen herrschte diffuses Zwielicht.

Vor ihm im Zimmer stand eine fremde Frau.

John, erhitzt und verschlafen, fuhr hoch; hastig überlegte er, wo und wer er war und welche Tageszeit gerade herrschte: graute schon wieder ein neuer Morgen? Oder ging der alte Tag zu Ende? Und wieso lag er auf dem Sofa?

Er blinzelte, aber die Frau war immer noch da. „Irgendjemand muss etwas tun!“, wiederholte sie, nachdem sie ihn eine Weile angestarrt hatte.

Benthien dämmerte es langsam, dass mit „irgendjemand“ er gemeint war. Inzwischen kam sie ihm auch vage bekannt vor. Zumindest kannte er sie vom Sehen, wenn er auch noch nicht mit ihr gesprochen hatte. Die grauweiß melierten Haare standen ziemlich zerzaust von ihrem Kopf ab, als hätte sie verzweifelt darin gewühlt. Ihr Gesicht glühte rosig im Schein des Feuers. Was ihn seltsam berührte, waren ihre Augen: Sie wirkten wie die einer Blinden, mit einer ganz hellen, fast weißen Iris. Ansonsten war sie ziemlich alt, sicherlich an die siebzig oder darüber, aber, wie es schien, noch gut beieinander und vernünftig bekleidet mit einer karierten Flanellhose, einem Fleecepulli und einer dicken Wolljacke, in der sie fast ertrank.

Er wunderte sich, dass sie bei der Kälte keinen Mantel trug. Und wie war sie überhaupt ins Haus gekommen? Und wo war sein Vater?

Benthien fuhr sich übers Gesicht und durch die Haare, sodass sie in alle Richtungen abstanden. „Entschuldigung, aber … kenne ich Sie?“

Geisterstunde

„Der Weihnachtsmann liegt in der Badewanne und die Turbanfrau ist weg!“ Die alte Frau stach mit dem Zeigefinger nach ihm, wie um ihre Worte zu unterstreichen, und sah ihn mit ihren seltsam hellen Augen eindringlich an. „Verstehen Sie das? Irgendjemand will mich in den Wahnsinn treiben!“

Benthien versuchte, sich zu sammeln. Hatte sie das eben wirklich gesagt? Und wer war der ominöse „irgendjemand“, von dem sie dauernd sprach? Sie hatte sich inzwischen auf den niedrigen Wohnzimmertisch gesetzt, ihm gegenüber, viel zu nah, fast berührte sie ihn. Sie hörte nicht auf, ihn anzustarren.

„Welche Turbanfrau?“, stotterte er.

Die Frau seufzte. „Ich bin Annelie Jansen, Ihre neue Nachbarin. Ihren Vater habe ich schon kennengelernt. Er erzählte mir, dass Sie bei der Polizei sind.“

Das glaubte John sofort. Sein Vater erzählte immer allen, dass er bei der Polizei war. Darauf war er stolz. Und natürlich hatte Ben die neue Nachbarin bereits kennengelernt, wer, wenn nicht er! Einer, der bei Wattwanderungen mitlief, um – allerdings harmlose – Frauenbekanntschaften zu machen, hatte keine Berührungsängste.

„Eine sympathische Frau“, hatte Ben ihm erzählt. „Wohnt seit ein paar Wochen im Häuschen schräg gegenüber. Ihr Mann ist tot. Sie ist von irgendwo aus Süddeutschland ans Meer gezogen, weil sie als Kind ihre Ferien hier verbracht hat. Pure Nostalgie, sage ich dir. Wenn das mal gutgeht und sie nicht zu viel erwartet. Wahrscheinlich ist sie ziemlich einsam. Wir könnten sie einmal zum Kaffee einladen, was meinst du?“

Doch dazu war es, soweit John wusste, bisher nicht gekommen. Er hatte in den letzten Wochen vor Weihnachten selten die Zeit gefunden, in sein Haus auf Sylt zu fahren, in dem schon einige Generationen der Familie Benthien aufgewachsen waren. Unter der Woche teilte er sich neuerdings mit seinem Vater eine Wohnung in Flensburg, seitdem seine Lebensgefährtin Karin nach sechs Jahren behauptet hatte, sie brauche eine Auszeit, und er ihr die Wohnung überlassen hatte. Über Weihnachten besuchte sie für einige Wochen ihre Schwester in Amerika. John, der fühlte, wie er sich innerlich längst von ihr getrennt hatte, war es egal gewesen. Über die Feiertage hatte er keinen Dienst, da wollte er in aller Ruhe die Zeit genießen, ein paar Bücher lesen, sich den Nordseewind um die Ohren wehen lassen, gut essen und trinken und lange schlafen. Die Grippe hatte er nicht eingeplant. Und eine unbekannte Nachbarin, die einfach bei ihm hereinschneite und von verschwundenen Weihnachtsmännern und Turbanfrauen faselte, auch nicht.

„Jansen, Annelie!“, wiederholte die Frau in einer Lautstärke, als wäre er taub oder begriffsstutzig. „Können Sie nicht vielleicht mit mir rübergehen und sich das mal ansehen? Es ist beängstigend, richtig unheimlich! Allein trau ich mich nicht mehr ins Haus. Sie sind doch die Polizei, oder?“

Benthien versuchte, sich zu sammeln und zu sortieren. Erst einmal Ordnung und Struktur in die Geschichte zu bringen. Und das bedeutete, ganz von vorne anzufangen.

„Entschuldigung, aber wie sind Sie eigentlich hier reingekommen?“

„Spielt das eine Rolle? Die Seitentür war nicht abgeschlossen.“ Sie warf ihm einen Blick zu. „Ihr Herr Vater ist zu vertrauensselig. Er sollte die Türen abschließen, wenn er aus dem Haus geht! Erst recht, wenn ein entflohener Straftäter hier herumstrolcht.“

Das fand Benthien allerdings auch. Aber das war kein Thema, das er jetzt mit Frau Jansen diskutieren wollte. „Wer ist die Turbanfrau? Und wieso ist sie weg? Und warum schwimmt der Weihnachtsmann in der Badewanne?“

Frau Jansen seufzte. „Können Sie sich nicht was überziehen und mitkommen? Irgendjemand war bei mir im Haus …“

„Der Weihnachtsmann?“

„Sie nehmen mich nicht ernst.“ Eindringlich blickten ihre hellen Augen ihn an. Augen hell wie Bergkristalle … die Zeile eines alten Schlagers ging ihm durch den Sinn. „Aber ich habe Angst, verstehen Sie das nicht?“, wiederholte sie leise.

So langsam wurde John richtig wach. Er sah, dass die Frau wirklich verängstigt war. Ihre seltsamen Augen, starr wie Puppenaugen, ließen ihn nicht los. Panik, Entsetzen, eine Art Grauen konnte er darin lesen. Zweifellos glaubte diese Frau Jansen, was sie ihm erzählte, und wenn er feststellen wollte, was an ihrer Geschichte dran war, musste er wohl oder übel mit ihr rübergehen, Grippe hin oder her.