Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Widmung
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
Copyright
Das Buch
Wir schreiben das Jahr 2065. Seit sieben Jahren hängt ein fremdes Raumschiff im Orbit über der Erde. Auf Kontaktversuche reagiert es nicht. Ohne sich um die Menschheit zu kümmern, schickt es Kundschafter in das Sonnensystem aus und schürft Rohstoffe. Mit jedem Monat wächst das Raumschiff, mit jedem Monat stößt es Dutzende von Artefakten aus, die in den Pazifik stürzen.
Was hat die Aliens zur Erde geführt? Welchem Zweck dienen die Artefakte? Und: Kommen die Aliens in friedlicher Absicht oder als Invasoren?
Fragen, die niemanden unberührt lassen. Fragen, auf die es womöglich eine Antwort gibt: Von jenen Aliens, die sich in Menschen zu manifestieren versuchen …
Der Autor
Frank Borsch, geboren 1966, lebt in Freiburg. Seit 1997 arbeitet er – mit wechselndem Schwerpunkt – als Übersetzer, Journalist, Autor und Redakteur. Er übersetzte zahlreiche Superheldencomics wie Daredevil oder Hulk ins Deutsche, publizierte zu diversen Internet-Themen und etablierte sich als Stammautor der PERRY RHODAN-Serie. Mit ALIEN EARTH wendet er sich nun der nahen Zukunft der Erde zu.
Mehr zu Frank Borsch und der Trilogie ALIEN EARTH finden Sie unter www.alienearth.de.
Für Geli und Tim
14. März 2058
Astronomen entdecken ein Objekt auf Höhe der Pluto-Bahn.
20. Juni 2058
Das Objekt passiert den Mars. Es ist ein Raumschiff.
3. August 2058
Das Raumschiff erreicht die Erde. Es bezieht Position über dem
Pazifik.
- AlienNet Unterforen /Statistik und /Chronologie
Stand: 1. 1. 2065
KAPITEL 1
Ekin hatte den Alien im Visier ihres G5. Er stand in seinem Badezimmer, putzte sich die Zähne und gab sich als Mensch aus.
»Sieh dir die Fliesen an!«, sagte Paul von rechts. Sie hörte seine Stimme doppelt: über Funk aus den Ohrhörern und durch den Helm. Paul lag neben ihr auf dem rostfleckigen Beton des Flachdachs. Unangenehm nahe. Die beiden Hunter hatten das ganze Dach für sich, ein halbes Fußballfeld. Und Paul suchte sich den Platz unmittelbar neben ihr aus. Typisch.
»Bah! Sind ein Verbrechen an der Menschheit, die Dinger. Allein diese Farbe!«
Paul berührte Ekin beinahe. Gegen die Regeln. Konzentrieren – nein, streuen – ja. Kein einfaches Ziel bieten. So simpel, dass es jedem Menschen mit einem Abklatsch von Gehirn einleuchtete. Paul nicht.
»He, weißt du was? Wieso drücken wir nicht einfach ab? Dieses Kotzgelb – rote Spritzer wären die perfekte Ergänzung. Ein Dienst an der Menschheit! Dazu sind wir doch hier, nicht?« Paul lachte bellend. Er hätte sich auf die Schenkel geklopft, wäre er nicht flach auf dem Bauch gelegen.
Sein Ellenbogen stach ihr in die Seite, als er lachte. Anmache. Sex. Beziehungsmist. Verstrickungen. Die Wand, gegen die die meisten Teams irgendwann rannten. Es kam zu Sex oder eben nicht, aber auf jeden Fall krachte es, und wieder waren mehrere Millionen Steuergelder verpufft. So viel kostete es, ein Hunter-Team auszurüsten, ihm eine Tarn-Identität zu verschaffen, es ins Geschäft zu bringen und zu halten.
Paul nervte. Sie sollte ihm den Ellenbogen in die Seite sto ßen, zwischen die Aramidfaserplatten seines Körperpanzers. Die Lektion hätte ihm gut getan.
»He, bist so still, Mädchen – was ist los?«
Mädchen. Provozieren. Pauls Lieblingsspiel. Sein Lebenselixier. Ekin dachte an Trixie, daran, was sie besprochen hatten. Reg dich nicht auf! Das will er doch nur. Lass ihn machen. Du weißt, was du wert bist. Du stehst doch über so was, nicht?
»Nichts.« Ekin holte tief Luft und achtete darauf, dass der Brustkorb des Aliens nicht aus dem Fadenkreuz verschwand, als er gurgelte, ausspuckte und sich wohlig reckte. »Du weißt genau, dass wir hier sind, um zu sichern. Feuern nur im äu ßersten Notfall. Außerdem versuche ich mich zu konzentrieren.«
»Auf den da? Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Wir haben unsere Befehle.«
»Der Kerl geht nirgendwo hin. Höchstens zum Kacken, wenn die anderen ihn noch lassen. Und danach gehört er dem Korps.«
Die anderen. Ekin hörte den Atem mehrerer Hunter, der aus den Ohrhörern kam, ihre knappen, regelkonformen Kommandos. Ruhig, ohne ein überflüssiges Wort. Ekins Datenbrille zeigte ihre Positionen an. Es waren insgesamt drei Teams, sie und Paul eingeschlossen. Im und um den Wohnblock verteilt, Gefechtsmodus, G5-Gewehre, Körperpanzer, Vernetzung, Masken – so wie man Hunter in den Rekrutierungskampagnen des Korps sah. Zwei Teams stießen auf getrennten Wegen zu dem Alien vor. Und eines, sie und Paul, hielt Abstand, um den Überblick zu behalten und sicherzustellen, dass kein UFO auftauchte und den Alien abholte, wie Paul immer bemerkte. Haha. Ein Glück wenigstens. Den einen Pseudo-Witz hatte er ihr heute bislang erspart.
»He, ich habe eine Idee. Wir wetten!«
»Paul, ich …«
»Komm schon! Sei nicht immer so verdammt verklemmt. Steht nirgendwo in den Regeln, dass Wetten verboten ist, oder? Also, was meinst du? Lassen sie ihn noch kacken?«
»Paul, verdammt! Lass mich endlich in Frieden, sonst nehme ich dich ins Visier und drücke ab, kapiert?«
Paul sagte nichts. Kapiert.
Der Alien stellte den Zahnputzbecher ab. Er hieß Werner Mittenraiter. Mitte 50, gesuchter Innenarchitekt, Reisefreiheitserlaubnis des Alien-Ministeriums der Stufe BIII für die Verteidigungsbezirke Süd, Südwest und Südost. Ein Mann von Gewicht und gewissem Einfluss und – sollte man denken – Geschmack. Eigentlich. Die Fliesen waren wirklich scheußlich, in dem Punkt musste Ekin Paul recht geben, so sehr es ihr gegen den Strich ging. Mehr noch: Die Fliesen waren sogar abgrundtief scheußlich. Die Geschmacksverirrung musste ein Symptom der Alien-Manifestation sein. Man wusste nie, welche verrückten Wege eine Manifestation gehen würde. Alles konnte ein Symptom sein, auch schlechter Geschmack bei der Fliesenauswahl. Es kam immer darauf an.
Bei Mittenraiter passte es. Er musste gut in seinem Fach sein, sonst hätte er unmöglich so viel Geld in seine Wohnung stecken können. Sie hockte auf dem Wohnblock wie ein fetter Wohlstandspickel. Ein Traum aus Licht, viele große, bodentiefe Fenster, nein, eigentlich nur Fenster. Das Ganze von den ersten Strahlen der in Ekins und Pauls Rücken aufgehenden Sonne durchflutet, als stünde er im Freien. Vielleicht gab es ihm das Gefühl, näher bei seinen Kameraden im Orbit zu sein, vielleicht brauchte er die maximal mögliche Nähe zu den Sternen über sich einfach wie die Luft zum Atmen. Vielleicht war es einfach ein Zufall. Andere, Spezialisten wie Trixie, würden das herausfinden. Das war nicht Ekins und Pauls Aufgabe. Sie waren Hunter. Sie brachten das Wild zur Strecke, den Rest erledigten andere.
Neben ihr knackte etwas. Ekin sah nicht hin. Genau das wollte Paul bestimmt.
Der Alien wandte sich ab, zog die Unterhose herunter und setzte sich auf das Klo.
Kein Kommentar von Paul. Was war los?
Ekin drehte den Kopf. Paul glotzte durch seine Datenbrille ins Leere – und quatschte. Er hatte den Funk abgeschaltet. Sie schob den rechten Ohrhörer etwas zur Seite, um ihn besser zu verstehen.
»Das klingt ja interessant«, sagte Paul. »Genau das, was ich brauche. Wissen Sie, mein Nachbar, er ist nämlich ein Alien. Ich weiß es genau, auch wenn das Hunter-Korps sich weigert, sich um ihn zu kümmern.«
»Paul!«
»Er benimmt sich so seltsam. Besser gesagt, völlig daneben. Pflanzt in seinem Garten einen Baum. Um Schatten zu haben, sagt er. Und was macht der Trottel? Sucht sich eine Stelle, an der sein Schatten nur einem die Sonne klaut – nämlich meinen Tomaten! Und jetzt weigert er sich, ihn wieder auszugraben.«
»Paul, das geht nicht!« Sie zischte die Worte, ohne es gewollt zu haben.
»Wie blöd kann man sein, frage ich Sie? Verdammt blöd, sage ich Ihnen. Ich sag ihm, was Sache ist, und er glotzt mich so an, als wär ich ein Alien. Ausgerechnet mich! Ich und meine Frau lassen uns zweimal im Monat durchchecken, doppelt so oft, wie es die Alien-Gesetze verlangen. Auf eigene Kosten! Wie …«
»Paul, wir sind im Einsatz!«
»Einen Augenblick, bitte«, sagte Paul freundlich. »Meine Frau. Sie will mich etwas fragen.« Er hob die Datenbrille an und hakte sie an den Gummi-Alienfühlern ein, die er sich auf den Helm geklebt hatte. Gegen die Regeln, natürlich. Aber das hatte Paul nicht gekümmert, natürlich. »Was ist los? Siehst du nicht, dass ich im Gespräch bin?«
»Was soll das? Keine Privatgespräche im Einsatz! Wir brauchen volle Konzentration für den Zugriff!«
»Das ist kein Privatgespräch. Ich eruiere neueste Alien-Detektions- und Abwehrtechnologien.«
»Paul, der Zugriff erfolgt jeden Moment!«
»Na und? Ich habe unser Freundchen im Visier. Eine falsche Bewegung, und die Fliesen kriegen endlich ein anständiges Muster.«
»Du bist mit den Gedanken woanders. Du …«
»Soll ich es dir beweisen?« Er rückte das G5 demonstrativ einen Fingerbreit herum. »Hirnrot auf Kotzgelb – hast du schon unsere Wette vergessen?«
»W... wir haben keine Wette, Paul. Hör auf mit diesem Mist, oder ich muss dein Verhalten in meinem Bericht erwähnen!«
»Tu dir keinen Zwang an. Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigst – es ist unhöflich, jemanden so lange in der Leitung hängen zu lassen. Auch Verkäufer sind Menschen.« Paul zog die Datenbrille wieder herunter. »Da bin ich wieder. Entschuldigen Sie. Meine Frau ist manchmal unmöglich«, flötete er. »Fragt mich jeden Morgen, wie ich mein Ei haben will. Immer bemüht um mich. Dabei weiß sie doch genau, wie ich es am liebsten habe. Wachsweich, natürlich. Das Leben ist hart genug. Haha … ach ja, Ihr Spray … nur 99,99, sagen Sie?«
Dann eben ohne Paul. Ekin kam klar damit.
Der Alien, Mittenraiter, stand auf, zog die Unterhose hoch und spülte. Kein Zugriff. Gut, dass sie nicht gewettet hatten. Ekin hätte einen Monatssold darauf gegeben, dass eines der beiden anderen Teams ihn auf der Kloschüssel hochnehmen würde. Es gab keinen besseren Moment für einen Zugriff, als wenn jemand die Hosen runterließ.
Die Nachbarn hatten den Alien auffliegen lassen. Es musste der Neid gewesen sein, der sie auf die Idee gebracht hatte. Mittenraiter saß ihnen einfach zu aufreizend im Nacken. Der Wohnblock, zehn Stockwerke zerbröselnder Beton aus den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts, großflächig von Alienisten mit Alienkreuzen und Friedenssymbolen besprüht, diente ihm als Fundament für seinen Aussichtspunkt. Ein chinesischer Spezialhubschrauber, der früher dazu gedient hatte, in Asien tonnenschwere Betonfertigteile zu Staudämmen zu schaffen, hatte seine Wohnung komplett auf dem Dach abgesetzt. Ein gepanzerter Fahrstuhl fuhr exklusiv für Mittenraiter aus seiner exklusiven Tiefgarage zu seinem exklusiven Nest. Und exklusiv war der Blick tatsächlich, das musste Ekin ihm lassen. Im Westen sah Mittenraiter an einem klaren Tag wie diesem bis zu den Vogesen, im Osten zum Schwarzwald, und im Süden glaubte Ekin die schneebedeckten Gipfel der Alpen zu erkennen.
Fragte sich nur, was ein Alien mit dem Blick anfing. Das würden ihn später bestimmt die Vernehmungsspezialisten fragen. Wenigstens hätte Ekin es an ihrer Stelle gefragt. Und wäre damit bestimmt nicht weitergekommen. Trixie plauderte nicht viel über ihren Job aus, aber eines hatte Ekin sich bereits zusammengereimt: Der gerade Weg führte bei Aliens nie zum Ziel. Zumindest nicht der, der einem normalen Menschen gerade erschien.
Ekin und Paul hatten auf dem Nachbargebäude Position bezogen. Eine verlassene Ruine. Die Stadt hatte es als Zwischenlager für Überschussmenschen genutzt, bis es so weit heruntergelebt war, dass es nicht einmal mehr dazu taugte. Jetzt wartete die Stadt darauf, dass es von selbst in sich zusammenstürzte, um die Kosten für die Sprengung zu sparen. Ein kleines Wunder, dass Mittenraiter nicht seine Brieftasche gezückt hatte, um den alten Klotz pulverisieren zu lassen. Ekin hätte es an seiner Stelle getan. Aber vielleicht gab der Klotz Mittenraiter erst die Würze. Ein Sprengsel Elend half, nicht den Blick dafür zu verlieren, wie gut man es hatte. Zumindest konnte es sich Ekin vorstellen, die keine Ahnung hatte, wie sich Reichtum anfühlte.
»… und Ihr Spray vertreibt Aliens zuverlässig?«
Der Alien wusch sich die Hände. Gründlich. Die Finger griffen ineinander, als kneteten sie Teig, drückten Seifenschaum heraus.
Immer noch kein Zugriff. Was war los? Ekin holte sich die Statusdaten der Teams auf die Datenbrille. Sie steckten fest. Eines im Fahrstuhl, zum Glück ohne dass Mittenraiter es merkte. Die Einsatzrechner der Hunter lieferten sich eine Schlacht mit dem Wohnungsrechner Mittenraiters. Illegal, alarmierend und höchst verdächtig. Hunter-Rechner hatten Vorrang. Mittenraiters Rechner hätte längst kooperieren müssen. Was er nicht tat. Der Alien musste ihn manipuliert haben. Das würde ihm nicht gut bekommen, selbst wenn er sich als Mensch herausstellen sollte. Die Gerichte verstanden keinen Spaß, wenn sich jemand Huntern in den Weg stellte.
»Nicht wie Pfefferspray? Ich muss es also nicht direkt ins Gesicht sprühen?«
Das zweite Team war dabei, sich durch den gepanzerten Boden der Wohnung zu bohren, und wurde von den Bewohnern des zehnten Stocks massiv behindert. Sie waren nicht begeistert darüber, dass man einen Zwei-Meter-Durchlass in ihre Decke fräste. Typisch. Erst beklagte man sich darüber, dass die Alien Hunter nicht kamen, und waren sie erst da, dann war es auch nicht recht. Die Leute keiften und schrien so laut, dass Ekin glaubte, sie durch die geschlossenen Fenster zu hören. Ekin hätte liebend gern auf diese Komplikationen verzichtet, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie und Paul auf dem Dach der Ruine wenigstens davor sicher waren, von Alienisten überrascht zu werden.
Vor einigen Monaten war es ihnen passiert. Ein Zugriff in einer engen Altstadt, unübersichtlich, verworren. Der Alien hatte Verdacht geschöpft und war geflohen. Ekin und Paul hatten ihm nachgesetzt. Ekin hatte alles um sich herum vergessen, bis auf das Wild, ihren rasenden Puls und das langläufige G5, das ihr bei jedem Schritt im Weg war. Schließlich hatten sie den Alien in eine Sackgasse gedrängt. Ekin hatte angelegt, sich gefragt, wieso die Augen des Aliens plötzlich freudig leuchteten und …
… die Falle der Alienisten war zugeschnappt. Ein Eisenrohr hatte Ekin am Knie erwischt und hätte es zertrümmert, hätte der Protektor ihres Körperpanzers sie nicht geschützt. Der Schlag hatte sie gefällt, und im Fallen hatte sie ein Dutzend Menschen gesehen, die sich aus ihren Verstecken gelöst hatten, mit Knüppeln auf sie zugerannt waren und …
… und dann waren die Schüsse gekommen. Von Paul, der sie ihrem Schicksal hätte überlassen können. Die Hälfte der Alienisten hatte Paul betäubt, die Übrigen hatte er mit dem Gewehrkolben abgewehrt, bis das Backupteam eingetroffen war, und dann …
… dann hatte er sich über sie gebeugt und »Ekin?« geflüstert. »Ekin, alles okay? Sag doch was! Bitte!«
Die Worte klangen in Ekins Gedanken immer noch nach. Aber sie hatten keinen leichten Stand.
»Ähnlich wie Verpiss-dich-Pflanzen gegen kackende Katzen?«, hörte sie Paul. »Nur, dass man nicht ständig gießen muss? Ha, ha, Sie sind gut! Jemanden wie Sie könnte ich bei uns in der Kanzlei auch gebrauchen. Wissen Sie, Sie sind nicht so verbissen wie diese ganzen Juristen. Locker. Lassen mal fünf gerade sein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Kommt man doch viel weiter mit im Leben, wenn man nicht ständig auf Paragraphen und Regeln herumreitet, nicht?«
Mittenraiter kämmte sich. Er hatte nicht viel, was sich kämmen ließ, aber umso mehr kümmerte er sich um jedes Haar. Er schmierte sich Gel ins Haar, zwirbelte es selbstverliebt zu kleinen Zöpfen. Ekin sah ihm verwundert zu, während sie gleichzeitig auf der Datenbrille die beiden anderen Teams im Auge behielt. Mittenraiter brauchte sich nicht zu wundern, dass man ihn angezeigt hatte. Es war keine gute Idee, der Welt seinen Erfolg mit der Brechstange vorzuführen. Es machte die Leute wütend, brachte sie dazu, genauer hinzuschauen, eine Anzeige bei HunterNet einzureichen. Man geriet ins Visier. Noch nicht in das eines G5, aber der Anfang war gemacht.
»Also, verstehe ich Sie richtig? Ich sprühe einfach auf den Boden, so aus zwanzig Zentimetern Entfernung? Vor die Tür, auf die Fensterbretter oder entlang des Grundstücks?«
Eine Akte wurde angelegt. Die Kommunikation überwacht, aufgezeichnet, ausgewertet. Beobachtungen wurden korreliert, Wahrscheinlichkeiten errechnet. Und irgendwann überschritten sie den Schwellenwert. Eine Nichtigkeit genügte. Dreimal hintereinander Hundefutter eingekauft, ohne einen Hund zu besitzen oder Umgang mit einem zu haben. Ein wirres politisches Statement in der Kantine. Eine ziellose, Benzin verschwendende Fahrt mit einem Mietwagen.
Und Ding-dong: Die freundlichen Alien Hunter standen vor der Tür …
»Jetzt muss ich doch mal fragen: Ist das auch bestimmt nicht giftig? Wissen Sie, wir haben ein Kind in der Nachbarschaft und ein paar Katzen. Teure GenMods, Designerstücke. Nicht, dass so ein Kind oder eine Katze an dem Spray schnüffelt und grün anläuft und …«
Die Hunter-Rechner hatten gewonnen. Der Fahrstuhl setzte sich wieder in Bewegung. In Mittenraiters Bad ging die Leuchte über dem Spiegel aus. Der Alien hörte auf, das Gel einzumassieren, klopfte gegen die Lampe. Er schüttelte unwillig den Kopf, wütend über sich selbst, als er den Gelfleck auf der Lampe bemerkte, und wusch sich die Hände. LED durchgebrannt, musste er denken. Ekin wusste es besser.
»Sie garantieren die Unbedenklichkeit? Wirkt ausschließlich auf Aliens? Bestens. Ich will nämlich keinen Ärger. Wissen Sie, eine gute Nachbarschaft ist viel wert. Das will man nicht so einfach aufs Spiel setzen. Aber man darf sich auch nicht kaputtmachen lassen, von irgend so einem dahergelaufenen Alien. Sollen sie doch alle auf den Mars. Oder nach Alpha Centauri oder sonst wohin. Hat ja Platz genug für alle. Aber eben jeder an seinem Platz, sage ich immer.«
Mittenraiter hantierte an der Lampe. Gut. Er würde nichts von den Teams mitbekommen, so lange er beschäftigt war. Ekin hielt ihr G5 ausgerichtet und betete, dass die Teams endlich zugriffen. Ihr linkes Bein war eingeschlafen und kribbelte wie die Pest, und die Sonne schickte sich an, den Inhalt ihres Körperpanzers zu rösten.
»Bestellen? Ja, schon, aber eine Frage habe ich doch noch. Na ja … woher wissen Sie das? Sie wissen schon, das mit der Wirkung nur auf Aliens. Ist ja … ah, verstehe. Sie haben Zugang zu Korps-Laboratorien. Top-Secret-Erkenntnisse. Mann! Aber sagen Sie mal, ist das auch legal?«
Ein dumpfer Knall, als hätte jemand eine Betonplatte von einem Hubschrauber abgeworfen. Laute Schreie. Wütend. Einer durchdringend und hell. Klagend. Eine Statusmeldung flammte auf Ekins Datenbrille auf. Ein Hunter verletzt. Mist! Die Panzerplatte musste sich vorzeitig gelöst haben.
»Geld-zurück-Garantie bei Nichtgefallen? In Ordnung, Sie haben mich überzeugt, ich nehme gleich einen Kanister!«
Mittenraiter zuckte zusammen, als hätte die Platte ihn im Nacken getroffen. Er blickte sich ängstlich um. Als suche er einen Ausweg. Doch es gab keinen.
»Schicken Sie die Sendung an meine Kanzlei, zu Händen Herr Morlock.«
Ekin verfolgte durch die Fensterflächen, wie sich die Tür des Aufzugs öffnete und das Hunter-Team herausstürzte. Sie sah nur huschende Schatten, unmöglich schnell. Die Rechner ihrer Körperpanzer mussten ihnen auf dem Weg nach oben eine Injektion verpasst haben. Neurobeschleuniger. Die Hunter bewegten sich durch eine erstarrte Welt, in der ein fallender Apfel in der Luft zu schweben schien, G5-Kugeln in gemächlichem Schritttempo den Lauf verließen. In diesem Augenblick waren die Hunter schneller als der schnellste, auf Geschwindigkeit getrimmte GenMod.
»Ich habe Ihnen zu danken. Und denken Sie an mich, wenn Sie genug vom Telefonieren haben. Gute Leute kann ich immer gebrauchen.«
Sie waren nicht schnell genug. Mittenraiter schrie auf, als die Tür des Badezimmers unter dem Ansturm der Hunter in zwei Hälften barst. Er wirbelte herum – und mit einem Satz sprang er durch das offene Fenster.
»Einen schönen Tag und gutes Gelingen!«
Ekin hatte ihn im Visier, folgte ihm. Sie musste nur abdrücken. Aber dann würde er den Halt verlieren und die elf Stockwerke hinunter auf das Pflaster stürzen. Ein blutiges Stück Fleisch. Ein nutzloser, toter Alien. Ihr Finger auf dem Abzug schloss sich fester um das Metall. Aber wenn sie nicht abdrückte, würde er sowieso … Was sollte sie nur …
Bamm!
Der Alien überschlug sich im Sprung, wickelte sich halb um den Pfosten des Geländers, kam zum Liegen. Der Schock der Kugel hatte seine Glieder bretthart gemacht. Ein Bein hatte sich im Geländer verfangen, bewahrte den Körper vor dem Absturz. Aus dem anderen spritzte Blut in einer hohen Fontäne bis auf die Fliesen. Dann waren die neuro-beschleunigten Hunter heran. Sie rissen den Alien hoch, fesselten und sicherten ihn.
Mit einem Klicken rastete die Sicherung von Pauls G5 ein.
»Was habe ich dir gesagt? Blutrot kommt gut auf Kotzgelb.« Er montierte das Gewehr auseinander, verstaute es im Transportkoffer. »Lass uns verschwinden. Mir wird langsam heiß in der Sonne.« Er stand auf und ging. An der Treppe, die nach unten führte, blieb er stehen und rief zu Ekin: »Ach ja, das mit dem Abdrücken sollten wir noch einmal üben, Mädchen. Wer zögert, den bestraft das Leben.«
Dann war Paul verschwunden.
»Fürchtet euch nicht!«
- Funkbotschaft des Alienschiffs, gesendet kontinuierlich in
372 Sprachen seit dem 10. Januar 2059, 14 Uhr 31 GMT
Einschlagszeitpunkt des ersten Alien-Artefakts
in den Pazifik, 200 km nordöstlich von Guam:
10. Januar 2059, 15 Uhr 06 GMT
KAPITEL 2
Rudi war jung, die Nacht war jung – und die Nacht rief ihn.
Rudi ließ sich nicht zweimal bitten. Viel zu lange hatte er in dem Company-Flugzeug gesessen, in dem er mit einer Hundertschaft aufgekratzter Flyboys um die halbe Erde gekarrt worden war, bei Laune – oder im Zaum? – gehalten von endlosen Clips über die Bergung von Alien-Artefakten. Mit steifen Gliedern wankte er die Gangway hinunter und trank die feuchtwarme, würzige Luft eines fremden Kontinents.
Sie schmeckte ihm.
Über ihm leuchteten die Sterne der Subtropen, vor ihm die Scheinwerfer des Suvarnabhumi Airport, dahinter die Lichter Bangkoks und dahinter wiederum, ein fernes, lockendes Glitzern, die Lichter Neo-Bangkoks.
Ein Bus brachte sie in das Hotel am Rand des Flughafens. Rudi verabschiedete sich von Beatrice, die den Flug im Sitz neben ihm verbracht hatte und keine Anstalten machte, von seiner Seite zu weichen, mit der Entschuldigung, er wolle schlafen, um für den großen Tag ausgeruht zu sein. Er ging auf sein Zimmer, zog die Uniform mit dem Alienkreuz aus und Shorts, T-Shirt und Sandalen an. Dann rannte er das verlassene Treppenhaus die zwölf Stockwerke zur Lobby hinunter, lächelte dem Angestellten an der Rezeption freundlich zu und lächelte wieder, als er die Wache am Tor des Hotels passierte.
»Cigarettes?«, sagte er, hob zwei Finger vor den Mund und paffte. Kein illegaler Wunsch, auch wenn es im Company-Hotel natürlich keine gab. Die Wache war zwei Köpfe kleiner als er, hatte glattes, dunkles Haar, das vor Pomade glänzte, ein Plastikgeschossgewehr – das Äußerste, was die Company sich an Gewalt zugestand – über der Schulter hängen und Augen wie Schlitze. Aber sie war ein Mensch wie er.
»Ah, cigarettes!«, machte die Wache und zeigte die Straße hinunter. »There!«
»Thanks!« Rudi trabte los. Locker. Entspannt. Ein Mann, der Zigaretten holte. Und wie es von Zeit zu Zeit geschieht, bei Männern, die mal schnell Zigaretten holen gehen: Er kam nicht zurück. Rudi war kaum um die Ecke, als er nach einer Rikscha pfiff. Eine Hand voll von ihnen bremste quietschend. Genau, wie Jonathan es ihm im Camp prophezeit hatte. Rudi brauchte einen Augenblick, bevor er seiner Wahrnehmung traute. Er kannte nicht viel von der Welt: Himmelsberg und sechs Monate Ausbildungscamp im Norden Norwegens. Entschlossen schüttelte er die Befangenheit ab, stieg in die nächste Rikscha, wobei er den Fahrern der leer ausgegangen Rikschas entschuldigend zuwinkte, und sagte: »Neo-Bangkok, please.«
»Nee-bankek?«, kam es zurück.
Der Fahrer roch nach Schweiß. Rudi störte es nicht. Eine weitere Würze in einer Nacht, auf die er lange gewartet hatte. Und der Schweiß beruhigte ihn. Schweiß kannte er.
Rudi beugte sich vor. »N-E-O-B-A-N-G-K-O-K«, sagte er langsam und deutlich. So gut er es hinbrachte. Also ziemlich gut, fand er. Sie hatten es ihm im Company-Camp eingetrichtert. Langsam sprechen, jede Silbe betonen. Mehrfach wiederholen. Es fiel schwer, nicht die Geduld zu verlieren, aber die Ausbilder hatten in dieser Hinsicht keinen Spaß verstanden. Die Aufgabe der Company war zu wichtig. Jeder der Flyboys konnte der erste Mensch sein, der das entscheidende Artefakt barg. Die Chance war gering, aber irgendwann würde der Fall eintreten, und dann …
»Ah, Nee-bankek!«, machte der Fahrer jetzt. »Island of Angels?«
»Yes.« Ging doch. Die Insel der Engel, von der ihm der bedächtige Jonathan erzählt, nein, vorgeschwärmt hatte. Genau dorthin wollte er. Zu den Wesen, die so zart waren, dass sie nicht von dieser Welt stammten. Das Nächstbeste zu Aliens.
Die Rikscha fuhr los, tauchte in das Meer des unmotorisierten Verkehrs ein. Rudi lehnte sich zurück, ließ andere Rikschas, Passanten und Straßen an sich vorbeiziehen, als sähe er einen Film, zu aufgewühlt, um mehr zu tun. Endlich. Es ging los. Er war unterwegs. Frei. Heute Neo-Bangkok, morgen der Flug nach Funafuti und danach …
Die Rikscha bremste scharf. Sie standen.
»Neo-Bangkok?«, fragte Rudi den Fahrer.
Der schüttelte den Kopf. »No. Here, boat! Klongs, then Chao Praya, then Island of Angels!«
Jetzt bemerkte Rudi das Glitzern zu seiner Rechten. Natürlich. Klongs. Kanäle. Jonathan hatte ihm auch von ihnen erzählt. Und natürlich musste Rudi ein Boot nehmen, um nach Neo-Bangkok zu kommen. Es war eine Insel.
Rudi bezahlte den Fahrer, fürstlich, nach den allzu überschwänglich ausfallenden Dankesbezeigungen des Mannes zu urteilen, und kletterte in das Boot. Rudi kümmerte es nicht. In Himmelsberg hatte es kein Geld gegeben. Es bedeutete ihm nichts. Für Rudi waren es nur bunte Papierblätter oder sinnlose Zahlen in einem Computersystem.
Das Boot war offen und vielleicht fünf Meter lang. Ein Frachtkahn mit Elektromotor, der die Engel der Insel belieferte. Rudi fand einen Platz zwischen den Paletten und quetschte sich hinein. Der Mann, dem das Boot gehörte, kletterte mit traumwandlerischer Sicherheit zu ihm, als kenne er – im Gegensatz zu Rudi – keine Übelkeit, nahm ihm einige der hiesigen bunten Scheine ab und machte das Boot los.
Die matten Lichter Bangkoks blieben hinter Rudi zurück, während sich die grellen Lichter Neo-Bangkoks vor ihm aus dem Dunst und den Wellen schälten. Jonathan hatte nicht gelogen. Sie waren heller als alles, was Rudi je erblickt hatte. Die Amerikaner mussten hinter Neo-Bangkok stecken, es mit Strom und Öl versorgen. Das Boot hüpfte auf und ab, als sie den Fluss, der Bangkok durchzog, hinter sich ließen und auf das offene Meer des Golfs von Thailand steuerten. Rudi hielt sich an den Paletten fest und konzentrierte sich auf die Etiketten der Waren, um sich von der Übelkeit abzulenken, die ihn überkam. Das Meer war kein guter Ort für Rudi. Er war weder seefest noch konnte er schwimmen. Der einzige Tümpel Himmelsbergs war nicht tief genug gewesen, als dass es sich gelohnt hätte, es zu lernen. Und im Sommer trocknete er sowieso aus. Rudi, der Nichtschwimmer. Es hatte ihn beinahe das Lebensglück gekostet. Ein Flyboy musste seefest sein. Die Luft war das Element des Flyboys. Darunter … kam noch mehr Luft. Nur, irgendwann kam das Wasser, zu 99,999999 %. Zumindest im Revier der Flyboys. Früher oder später, hatte man ihnen eingetrichtert, würde es jeder von ihnen zu schlucken haben.
Hätte Rudi am entscheidenden Tag des Tests im dunklen Polarmeer, das für den tropischen Pazifik hatte herhalten müssen, seinem Innenohr nicht mit einem halben Dutzend verschiedener Pillen auf die Sprünge geholfen, und hätte Jonathan die Ausbilder nicht im entscheidenden Augenblick mit einer seiner tief schürfenden Fragen abgelenkt, dann wäre es um ihn geschehen gewesen. Sie hätten gemerkt, dass Rudi nur marginal besser schwamm als ein Stein, den man ins Wasser warf. Die Company hätte ihn niemals antreten lassen, ein Stellvertreter hätte für Rudis Platz geboten, ein Millionärssohn wie Jonathan vielleicht, und ihm das Ex-Glückslos ausbezahlt. Und Rudi wäre die Wahl geblieben, auf welche Weise er sich hätte lebendig begraben lassen wollen: auf demütige Weise mit einer Rückkehr nach Himmelsberg, um zu schuften, bis erst sein Geist und schließlich sein Körper tot umfiel, oder auf die großkotzige Tour, als Neureicher, der an den dahinschwindenden Pools der Welt herumlümmelte und wehmütig in den Nachthimmel glotzte, welcher einst ein einziges Versprechen gewesen war, und sich mit teuren Cocktails zuschüttete, bis jede Sehnsucht in ihm abgesoffen war.
Eine Welle warf das Boot hoch, ließ es einen Augenblick schwerelos in der Luft schweben, dann klatschte es hart auf das Wasser.
Rudis Magen wand sich. Gut, dass er den Gratis-Drinks im Flugzeug widerstanden hatte. Blöd, dass er die angebrochene Pillenschachtel im Lager vergessen hatte.
»Big boat!«, rief der Bootsmann von seinem Platz am Heck und zeigte auf einen riesigen Umriss, der wie eine Wand neben dem Boot aufragte. Im Licht eines vereinzelten Scheinwerfers konnte Rudi den Fuß zweier Masten erkennen. »No worry!«
Rudi winkte dem Mann zu, um ihm anzuzeigen, dass er den Frachter gesehen hatte, und las zum zehnten Mal die Etiketten der Waren. Papiertücher und Bier waren es, was die Engel der Insel verlangten. Chlorfrei gebleicht das Erstere, aromatisiert beide.
Und dann, er hätte die Etiketten bereits auswendig vorsingen können, lag endlich Neo-Bangkok vor ihm. Die Insel der Engel – errichtet aus Stahl, Bauschutt und Müll. Begonnen als schwimmende Plattform in den späten Zehnern, um den damals dritten internationalen Flughafen der schrankenlos wachsenden Stadt zu beherbergen. Eine Bauruine, als der zivile Flugverkehr im Feuer schultergestützter Boden-Luft-Raketen zusammenbrach, danach – lange Zeit – eine praktische Müllkippe für Bangkok, dann eine Zuflucht für alle, für die sich in der Multimillionenstadt kein Platz fand, und auch für diejenigen, die dort keinen Platz finden wollten, und – schließlich – der Ort, an den die Konfuzius-Puritaner, kaum waren sie an der Regierung, den ungeliebtesten Gewerbszweig der Stadt trieben. Neo-Bangkok nannten es die hartnäckig nach Thailand vorstoßenden Touristen rasch und vergaßen das alte. Insel der Engel nannten die Einwohner Neo-Bangkoks selbst ihre Stadt, in Anspielung auf Krung Thep, die Stadt der Engel, aus der man sie vertrieben hatte.
Das Boot legte an. Rostgeruch vermischte sich mit dem Salz in der Luft. Ein Heer stählerner Pfeiler verschwand vor Rudi in der Dunkelheit. Was er sah, war nur die Spitze des Eisbergs. Der überwiegende Teil der Insel der Engel verbarg sich unter der Wasseroberfläche, reichte fünfzig Meter tief bis zum Meeresboden. Die Insel war die Mutter aller Flyboy-Basen. Eine künstliche Insel, die den Namen verdiente. Nicht an eine schützende Küste angehängt, sondern auf sich allein gestellt den Stürmen und den Wellen ausgesetzt, denen der Golf von Bangkok gehörte. Eine Welt für sich. Die Erfahrungen, die hier gemacht worden waren, hatten den Weg für die Basen geebnet. Europäer und Amerikaner hatten damals den Anfang gemacht, Spezialisten für Ölbohrplattformen. Sie hatten das Geld, das reichlich geflossen war, eingesteckt und hatten sich abgesetzt, als der Geldstrom versiegte, um auf bessere Zeiten zu warten. Sie waren nicht gekommen. Thai-Ingenieure, ihre vormaligen Lehrlinge, hatten übernommen, als wieder Geld geflossen war, ein schmales Rinnsal wenigstens. Zu wenig, um die Weißen zurückzulocken. Und als die Aliens gekommen waren, hatten die Thai-Ingenieure ihr Wissen teuer an die Company verkauft.
»Sir?«
Der Thai stand vor ihm, bedeutete ihm, sein Boot zu verlassen. Rudi tat es – ungeschickt – und wankte feuchte, merkwürdig feste Stufen hinauf.
Rudi betrat die Insel der Engel.
Sie leuchtete heller, als es seine Augen ertrugen. Er zog die Sonnenbrille aus der Hemdtasche, setzte sie auf und machte sich mit klopfendem Herzen auf den Weg zu den Engeln.
Bald erreicht er den ersten der Paläste aus Licht, in denen die Engel residierten. Ein Turm aus hunderten LED-Schlangen – er allein musste mehr Strom verschlingen als ganz Himmelsberg benötigte – schraubte sich über dem Palast in die Höhe und formte Worte: »World of Pleasures.«
Rudi blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und betastete den Turm aus Licht mit Blicken. Er war wunderschön, vielleicht das Schönste, was er je gesehen hatte. Jonathan hatte recht.
Rudi staunte, minutenlang.
Dann winkte ihm einer der Engel zu. »Come here! Come here!« Es dauerte einige Augenblicke, bis Rudi verstand, dass der Engel ihm zuwinkte. Ausgerechnet ihm. Rudi ging los, stolperte beinahe über einen größeren Stein, der aus dem Schotter hervorstand. Er fing sich ab, stellte im Fallen fest, dass der Schotter der Engelsinsel mit den Scherben von Bierflaschen vermischt war – und dass es ihm nichts ausmachte. Das Licht der Türme spiegelte sich in ihnen wider.
Zwei Stufen führten in den Palast. Der Engel erwartete ihn schon an seinem Rand. »Come! Come!«, rief er.
Rudi hatte den Fuß auf der ersten Stufe, als er zögerte.
Der Engel trug einen Bikini. Er war klein und dünn, als bekäme er nie genug zu essen, und auf dem Oberschenkel hatte
er einen Bluterguss, so groß wie eine Hand.
Der Engel streckte ihm die Hand entgegen. »Come on!« Er lächelte. Die Zähne waren braun. Make-up zerfloss in der subtropischen Nacht unter den Augen.
Rudi starrte dem Engel für einen Augenblick ins Gesicht, dann rannte er los, verfolgt von einem Chor von Engelsgelächter.
Rudi rannte schneller. Er rannte über den Schotter, aus dem die Straßen der Engel-Insel bestanden, über die Scherben, die sich in seine dünnen Sohlen gruben. Er rannte zwischen den Palästen her, die eigentlich Bars waren und die, sah man genauer hin, aus Abfällen errichtete, windschiefe Hütten waren. Er rannte zwischen den Männern hindurch, die die Straßen Neo-Bangkoks bevölkerten und sich nicht daran zu stören schienen, dass die Paläste keine Paläste und die Engel keine Engel waren, machte sich, wenn es notwendig war, mit seinen starken Armen den Weg frei.
Und während er rannte, fragte er sich, was Jonathan, den stillen, nachdenklichen Jonathan, der den Dingen immer auf den Grund gehen musste, dazu bewogen haben konnte, die Insel der Engel nicht so zu sehen, wie sie tatsächlich war. Er musste zu viel getrunken haben. So etwas in der Art.
Schließlich hielt Rudi an. Wo war er?
Er wollte weg, nur weg. Aber wie? Vor ihm waren Bars, hinter ihm waren Bars, nirgends war ein Ende abzusehen. Nirgends die Schwärze, die das Meer bedeutete. Das Meer schien Rudi unendlich weit weg. Er konnte es nicht einmal mehr riechen. Die Luft war nicht mehr salzig frisch, sie stank nach Schweiß und Alkohol.
Wo ging es zurück zu den Booten?
Rudi rannte weiter. Er schwitzte. Nordnorwegen war eine schlechte Vorbereitung für subtropische Nächte gewesen.
Durst regte sich in Rudi, erst leise, dann quälend, schließlich fordernd.
Rudi hielt an, links und rechts Bars und »Come here! Come here!«-Rufe.
Weg, nur weg. Ja. Aber erst etwas trinken. Nachdenken. Zur Ruhe kommen. Dann würde er weitersehen.
Er überwand sich und betrat eine Bar. Die Engel, die keine waren, ließen ihn in Ruhe. Sie sahen ihm an, dass er nichts von ihnen wollte. Rudi suchte sich den Barhocker mit maximalem Abstand zu den Engeln und ihren Kunden aus und bestellte Wasser. Einfaches Wasser. Er trank zwei Krüge, bestellte einen dritten. Es half. Der Durst klang ab, so wie der Drang, einfach nur wegzurennen. Das führte nirgendwo hin. Er würde den Barkeeper nach dem Weg fragen – wenn nötig, würde er ihn für die Auskunft bezahlen, die Scheine in seiner Tasche bedeuteten ihm nichts – und dann …
»He, Flyboy!«
»Woher …?«
Ein Mann lehnte neben ihm an der Bar. Ein Thai, unmöglich zart gebaut, wie es hier alle Menschen zu sein schienen. Er trug einen Klimaanzug, der nur Hände und Kopf unbedeckt ließ. Er musste vernetzt sein, wie Rudis Ausbilder. Die Drähte der Antennen schimmerten durch den Anzug wie ein zweites Aderngeflecht.
»Du fragst dich, woher ich dein Geheimnis weiß?«, sagte er auf Englisch. Mit Akzent und merkwürdig hoch, aber fehlerfrei.
Rudi wollte, dass der Mann ihn in Ruhe ließ, hätte ihm am liebsten gesagt, er solle verschwinden. Aber Rudi war allein und fremd hier. Also sagte er: »Ja, schon.«
»Man sieht es dir an.«
»Wirklich?« Rudi blickte an sich herunter. Hatte er vergessen, einen Teil der Company-Uniform auszuziehen?
»Nicht die Kleider. Wie du dasitzt. Gerade. Flyboys haben Haltung. Sie haben etwas. Sie sind keine gewöhnlichen Menschen.«
Rudi fiel keine Entgegnung ein. Niemand hatte ihm je gesagt, er sei etwas Besseres als die anderen.
»Darf ich?« Der Mann wartete seine Antwort nicht ab. Er rutschte auf den Barhocker neben Rudi, bestellte zwei Bier. Eines hielt er Rudi auffordend hin. »Trinkst du eines mit?«
Rudi zögerte. Eigentlich sollte er nicht … aber der Barkeeper hatte beide Flaschen vor seinen Augen geöffnet. Was konnte schon passieren?
»Ja. Danke.« Er nahm die Flasche, stieß mit dem Thai an und trank einen Schluck. Es schmeckte wie Bier, etwas wenig Kohlensäure vielleicht, aber gekühlt. Es tat gut.
»Gefällt dir die Insel?«, fragte der Thai.
»Ja«, log Rudi. Er wollte keinen Ärger. Er wollte nur weg.
»Und die Engel?«
»J… ja, natürlich …«
»Ich kann dir einen Engel besorgen. Ein Mädchen.«
Rudi kapierte. Ein Zuhälter. Natürlich. Das musste es sein. Die Engel hier waren keine Engel, sondern Prostituierte. Und wo es Prostituierte gab, gab es auch Zuhälter. Das wusste sogar ein Himmelsberger wie er. Deshalb konnte sich der Thai den Klimaanzug leisten. »Danke für das Angebot«, sagte Rudi, ohne sich etwas anmerken zu lassen. »Aber das ist nichts für mich.«
»Verstehe. Du suchst etwas anderes. Jungen?«
»Nein.«
»Dann GenMods? Hast du es je mit einer Katzenfrau gemacht? Nein? Unglaublich. Sollte jeder Mann einmal im Leben gemacht haben. Wenn man sie gebändigt bekommt. Aber du bist ja ein Flyboy, du bekommst das hin. Ihre Krallen …«
»Nein, danke!«, sagte Rudi. Etwas lauter.
»Okay, okay.« Der Zuhälter hob beschwichtigend die Hände. »Nur ein Angebot.« Er nahm einen langen Schluck von seinem Bier. Rudi hoffte, ihn los zu sein, aber der Thai stellte die Flasche ab und sagte: »Gefallen dir unsere Mädchen nicht?«
»Das ist es nicht.«
»Du kannst es ruhig sagen. Die Geschmäcker sind verschieden.« Der Thai nahm die Flasche und deutete mit ihr ans andere Ende der Bar, an dem sich die Prostituierten versammelt hatten. »Sind alle gleich, wenn du mich fragst. Gewöhnlich. Gewöhnliche Mädchen für gewöhnliche Männer.«
Rudi hatte genug. Er sah demonstrativ auf die Uhr. »Ich muss los.«
»Aber du bist kein gewöhnlicher Mann«, ließ sich der Thai nicht beirren. »Du bist ein Flyboy.«
Rudi leerte die Flasche in einem Zug. Das Bier schmeckte plötzlich scheußlich. Es musste daran liegen, dass er es zu lange hatte stehen lassen. »Nichts für ungut«, sagte er. »Aber …«
»Du hast etwas Besseres verdient. Hier!« Der Junge zog ein zerknittertes Foto hervor.
Im Aufstehen streifte Rudis Blick das Bild.
Er hielt abrupt inne, sank langsam zurück auf den Hocker.
Die Hitze war vergessen, der Ekel, sein Wunsch, einfach nur hier wegzukommen.
Auf dem Bild war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Kein Nacktfoto, wie er erwartet hatte. Ein Porträt. Kein Make-up. Helle, wache Augen in einem makellosen Gesicht. Nicht von dieser Welt. Ein Engel. Und die Augen des Engels sahen ihn an. Nur ihn. Sahen in ihn hinein. Fanden sein Innerstes, griffen es und … und …
»Wer ist das?«, fragte er. Keuchte er.
»Dein Engel, Flyboy.«
»Kann … kann ich sie treffen?« Der Puls schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Sein Engel! Mit einem Schlag verstand er Jonathan.
»Natürlich. Sie wartet auf dich.«
»Wo?« Sie wartet …
»Gleich hier in der Nähe. Soll ich dich zu ihr bringen?«
»Ja!« … auf mich.
»Dann komm!«
Der Thai führte Rudi durch die Straßen Neo-Bangkoks, bog in eine Gasse zwischen zwei Bars ab. Rudi folgte ihm ohne zu zögern. Er kannte nur eine Angst: zu spät zu kommen, seinen Engel zu verpassen.
Der Thai klopfte an eine Tür, wechselte einige Worte mit dem Mann, der sie öffnete. Er und Rudi wurden hereingewunken. Vor der dritten Tür hielt der Thai an und flüsterte Rudi zu: »Sie wartet auf dich, Flyboy!« Er öffnete die Tür, machte einen Schritt zur Seite und lud Rudi mit einer Handbewegung ein, einzutreten.
Rudi ließ sich nicht zweimal bitten und stürzte los. Da war sie. Sie saß auf dem Bett, das beinahe das ganze Zimmer einnahm, lehnte mit dem Rücken an der Wand und lackierte sich die Fingernägel. Als sie ihn hereinkommen hörte, blickte sie auf und sah ihn an. Sie lächelte.
Sein Engel.
»Da bist du ja endlich«, sagte sie. »Komm!« Sie streckte ihm einen Arm entgegen.
Rudi trat ein. Hinter ihm schloss sich die Tür. Er ging bis an das Bett, streckte seinem Engel beide Arme entgegen …
… und aus dem Augenwinkel raste ein langer Schatten auf ihn zu. Er traf ihn am Kopf. Hart. Einen Moment lang stand Rudi noch, sah seinem Engel in die großen Augen, die eigenen Augen mehr vor Überraschung als vor Schmerz geweitet, dann knickte er weg.
Rudis Nacht war zu Ende.
»Verpisst euch!«
- An das Alienschiff gerichtete Funkbotschaft.
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KAPITEL 3
Katzen.
Säckeweise Katzen.
Wieselflink stand mit Fleischberg an der Rampe und sah dem Dicken zu, wie er eine der Zigaretten paffte, die unfehlbar ihren Weg in die Fabrik fanden, als existierten weder Zäune noch Stacheldraht.
»Mist, sind zu früh dran!« Das automatische Innentor der Schleuse öffnete sich quietschend. Fleischberg zog noch einmal an der Kippe, ließ sie beiläufig fallen, als handle es sich um ein unschuldiges Kaugummipapier, und setzte den bloßen Fuß darauf. »Ist doch reine Schikane. Als wenn die blöden Viecher es eilig hätten!« Dem Dicken war nichts von der glühenden Kippe unter der Sohle anzumerken, gewöhnlicher Schmerz schien ihm nichts anhaben zu können.
Der Laster rollte durch das Tor, ein ausrangierter Müll-LKW mit der Aufschrift TIERHEIM KASSEL-WEST. Die Fahrerkabine war leer, dennoch behielt Fleischberg den Fuß auf der Kippe. Die Nomaden hatten das interne Überwachungssystem der Fabrik im Lauf der Monate penetriert, sich Freiräume geschaffen, in denen sie unbeobachtet blieben, darunter die Rampe. Die Steuerung des Lasters entzog sich ihrem Zugriff. Sie war unmodifiziert. Jeden Augenblick würden die beiden Männer in den Erfassungsbereich der Kameras des Lasters geraten.
Der Laster kam heran, schlug ein und setzte zurück.
»Scheiße, die Mistkarre kenn ich!«, rief Fleischberg über das hupende Warnsignal des Lasters für die Rückwärtsfahrt hinweg. »Die Hydraulik ist hin, schon seit Wochen. Wetten, die Schweine haben sie immer noch nicht repariert?«
Wieselflink sagte nichts. Er sagte nie etwas auf Fleischbergs Geschimpfe. Es wäre sinnlos gewesen – und außerdem stellte sein Schweigen die Basis ihres Arrangements dar. Er und Fleischberg bildeten ihr eigenes Pack. Fleischberg schimpfte, fluchte und beklagte sich. Wenn ihm beim Zerteilen das Messer abrutschte – was öfters vorkam, weil sie ohne Ausnahme stumpf waren -, wenn er sich über die Füße pinkelte – was öfters vorkam, weil sein Bauch ihn daran hinderte zu sehen, wohin er zielte – oder wenn ihm gerade danach war – was öfters vorkam, weil Fleischberg nie zufrieden war, außer vielleicht, wenn er sich gerade den Wanst vollgeschlagen hatte.
Und Wieselflink schwieg.
Es war kein übles Pack. Fleischberg war kein schlechter Mensch, niemand, der wie viele andere Bahnnomaden Geschmack daran gefunden hatte, der Welt die Grausamkeiten zurückzuzahlen, die man ihnen angetan hatte. Fleischberg wollte nur in Ruhe gelassen werden, sich so wenig wie möglich bewegen, schimpfen und jemanden haben, der zumindest den Anschein gab, seinem Geschimpfe zuzuhören.
Andere hielten für den Schutz eines Packs den Hintern hin, Wieselflink die Ohren. Und das mit der beharrlichen Ausdauer, die er sich in seinem vorherigen Leben angeeignet hatte, in dem er Worte wie »Scheiße« nur in Filmen gehört hatte. Ihr Zweierpack hielt sich seit Monaten, seit man Wieselflink mit einer Hand voll anderer Nomaden aus ihrem Zug geholt und in der Fabrik abgeladen hatte. Ersatz für Leute, die nicht mit Messern, Beilen und Knochensägen hatten umgehen können oder nicht hingesehen hatten, wohin sie den Fuß setzten, und herausgefallen waren. Aus dem Leben an sich oder aus der Arbeitsfähigendatei des Ministeriums. Wieselflink wusste nicht, ob es einen großen Unterschied machte: Beide Gruppen wurden von den Bahnpolizisten abgeholt, und man hörte nicht mehr von ihnen.
Monate – eine halbe Ewigkeit nach den Begriffen der Nomaden, die selten lange an einem Ort oder in einem Zug blieben. Zu lange, wie es Wieselflink dämmerte. Auch Ohren hatten Grenzen. Es war Zeit, sich von Fleischberg zu trennen, bevor er die Beherrschung verlor und den furchtbaren Zorn des Dicken auf sich zog. Noch fehlte die passende Gelegenheit, aber die würde sich finden. Wieselflink gab viel darauf, eine feine Nase für die Gelegenheiten des Lebens zu haben. Flink zu sein war wichtig. Zu rennen, wenn es darauf ankam, war wichtig. Aber wichtiger noch war es, rechtzeitig loszurennen. Und in die richtige Richtung. Er musste nur herauskommen. Sobald es ihm gelungen war, Kontakt zu seinen alten Freunden aufzunehmen, würde sich alles Übrige für ihn ergeben.
Bis dahin … Fleischberg hatte jemanden, der ihm zuhörte. Wieselflink fand so viel Sicherheit, wie man sie in der Fabrik finden konnte. Niemand ertrug Fleischbergs ewiges Gezeter, aber niemand traute sich, sich mit ihm anzulegen. Der Dicke hatte riesige Metzgerhände, mit denen er ein Tier in der Mitte auseinanderreißen konnte, einfach so. Kein Nomade war scharf darauf auszuprobieren, ob das auch auf einen Menschen zutraf. Also ging man Fleischberg aus dem Weg, ließ ihn machen, was immer ihm einfiel. Ihm und seinem Burschen Wieselflink.
»Was sag ich dir?« Der Laster hielt an der Rampe, das Warnsignal brach ab. Fleischberg drückte die Knöpfe am Heck. Nichts regte sich. »Kaputt. Schweine! Als wenn wir’s nicht schon schwer genug hätten. Nichts von wegen ›die Ladung einfach auf die Rampe kippen‹! Jetzt müssen wir schuften!«
Schuften machte Fleischberg nervös. Er glaubte daran, dass sich die Halsbänder durch die Bewegungen ihrer Träger aufluden. Je mehr man sich bewegte, desto schlimmer die Schläge, die das Band einem verabreichte. Also sah Fleischberg zu, dass er stillhielt.
Der Dicke schlurfte fluchend und jammernd in die Halle und kam mit zwei langen Metallstangen wieder. Wieselflink nahm seine Handschuhe aus dem Rucksack und streifte sie über.
»Mach schon!« Fleischberg hielt ihm eine Stange hin. »Haben nicht den ganzen Tag Zeit. Hab keine Lust, wegen dir überfeinem Lahmarsch’nen Schlag abzukriegen, klar?« Er langte sich an das Halsband.
»Ich bin ja schon dabei.« Zeit, den Mund aufzumachen, dem Dicken ein Signal zu geben, dass er sich anstrengte. Sonst drehte er durch. Fleischberg, der wuchtige Fleischberg, dem keiner schräg zu kommen wagte, fürchtete sich vor den Schlägen des Halsbands wie ein kleines Kind. Vielleicht aß er deshalb so viel. Essen hielt die Angst im Zaum. Und vielleicht verband Fleischberg damit eine uneingestandene Hoffnung: Sein Hals wurde zusehends dicker. Irgendwann musste er das Band sprengen – oder Fleischberg würde ersticken. Auch ein Weg nach draußen. Aber nicht der von Wieselflink.
Die beiden Männer postierten sich links und rechts am Heck des Lasters und packten mit jeweils einer Hand die Griffe.
»Auf drei. Eins, zwei, drei!«
Die Klappe flog mit Wucht hoch und riss Wieselflink um ein Haar mit.
»Ziehen, hab ich gesagt, Kleiner, nicht festhalten!« Fleischberg stützte die Klappe mit der Stange ab und glotzte in den Frachtraum.
»Scheiße!«, sagte er. »Was für ein Scheißtag. Erst kommt der Laster zu früh, und eine gute, kaum angerauchte Kippe geht drauf, dann ist die Hydraulik am Arsch, und wir dürfen schuften – und jetzt kommen die mit so was.«
»Was hast du?« Wieselflink trat neben den Dicken. »Sind doch nur Säcke.«