RLF
Das richtige Leben im falschen
Roman
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4443
Originalausgabe
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Umschlag: Moritz Ahlert/Projektbüro Friedrich von Borries
eISBN 978-3-518-73041-6
www.suhrkamp.de
Dieser Bericht beruht auf Angaben und Unterlagen, die Mikael Mikael mir zur Verfügung gestellt hat. Ich habe sie meinen Möglichkeiten entsprechend überprüft. Einige Orte und Namen habe ich geändert, um die für das Gesamtprojekt »RLF« notwendige Anonymität der Beteiligten zu wahren.
Berlin, Mai 2013
Friedrich von Borries
»Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«
Theodor W. Adorno, Minima Moralia
»Revolution geht nur, wenn du Teil eines Systems bist. Du musst es von innen aushöhlen.«
Oliviero Toscani, Süddeutsche Zeitung, 21. Juli 2011
»Das einzige, was man vielleicht sagen kann, ist, daß das richtige Leben heute in der Gestalt des Widerstandes gegen die von dem fortgeschrittensten Bewußtsein durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines falschen Lebens bestünde.«
Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie
»In der wirklich verkehrten Welt ist das Wahre ein Moment des Falschen.«
Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels
»Pronto?«, grummelt Kommissar Volcare ins Telefon. »Im Hotel Bauer? Ja, ich mach mich auf den Weg. Ja, ich ruf da gleich an.«
Wenn die Dienststelle ihn vor Sonnenaufgang aus dem Bett klingelt, kann es sich eigentlich nur um eine Leiche mit ungeklärter Todesursache handeln. Er holt ein frisches Hemd aus dem Schrank und sucht seine Hose. Seit er wieder alleine lebt, räumt er abends seine Kleider nicht mehr ordentlich zusammen. Volcare fasst sich an die Stirn, setzt sich wieder auf die Bettkante und zündet sich eine Zigarette an. Langsam knöpft er das Hemd zu. Er hat Kopfschmerzen, vor ein paar Stunden war er noch in einer Kneipe. Einer der Vorzüge, wenn man geschieden ist, denkt Volcare.
Er nimmt das Handy vom Nachttisch und ruft den Concierge im Hotel an.
»Hallo. Hier Kommissar Volcare. Sie haben die Polizei gerufen?«
»Oh ja. Ein Mann ist heute Nacht aus dem Fenster gesprungen.«
»Okay. Ich bin gleich da.« Volcare legt auf.
Die Aussicht auf eine Leiche macht ihm schlechte Laune. Erst die entsetzten Gesichter. Dann die langatmigen Verhöre. Und am Ende kommt nichts dabei raus. Zum Glück ist Mord in Venedig ein eher seltenes Verbrechen. Venedig ist eine ruhige Stadt, nur hin und wieder kommt es zu unnatürlichen Todesfällen – ein Selbstmord, ein Totschlag nach einem Streit unglücklicher Liebespaare, die extra nach Venedig gereist sind, um sich an einem romantischen Ort zu versöhnen. Volcare hat schon in einigen dieser tragischen Fälle ermittelt.
Drei Jahre noch, seufzt Volcare, dann hab ich meine Ruhe.
RLF handelt nicht von Volcare. Er ist nur eine Nebenfigur. RLF handelt von Angélique, Jan, Slavia und Mikael, die sich, jeder auf eine eigene Art und Weise, mal mit-, mal gegeneinander, auf die Suche nach dem richtigen Leben im falschen gemacht haben. Was auch immer das ist.
Als Volcare in sein Boot steigt, dämmert es schon. Wahrscheinlich ein Deutscher, denkt Volcare, das passiert immer wieder - Tod in Venedig. Er fährt den Canal Grande entlang, passiert die Rialto-Brücke. Hinter den Giardini geht die Sonne auf, die Strahlen blitzen auf dem Wasser. Keine Wolke steht am Himmel. »Wenigstens schönes Wetter«, sagt Volcare leise vor sich hin.
Das Handy klingelt. Der Hotelmanager fragt, ob alles geklärt werden könne, bevor die ersten Gäste aufwachen, schließlich sei man das erste Haus am Platze, man wolle Unruhe vermeiden. »So oder so eine unangenehme Geschichte, das werden Sie ja vor Ort sehen.«
»Leichen sind immer unangenehm«, entgegnet Volcare.
»Ja, aber die Leiche liegt mitten auf der Terrasse. Er hat sich umgebracht!«
Volcare kennt das schon, immer war es Selbstmord, wenn schon eine Leiche, dann soll es wenigstens zum melancholischen Image von Venedig passen. Und ansonsten gilt bei Hotels: Diskretion, Diskretion, Diskretion. Immerhin keine Wasserleiche. Er hasst die aufgedunsenen Gesichter von Ertrunkenen.
Auf dem Canal Grande sind nur wenige Boote unterwegs. Noch zu früh für Touristen, denkt Volcare. Zum Glück. Die glauben sonst wieder, dass ein Film gedreht wird. Leiche vor Palazzo. Wie aufregend. Dann werden die Kameras gezückt und Fotos geschossen.
Volcare legt mit seinem Boot an. Der Hotelmanager eilt ihm entgegen. »Bitte so wenig Unruhe wie möglich«, fleht er. »Die Begleitumstände, nun ja, sie passen nicht ganz zum Stil unseres Hauses.«
Auf der Terrasse sind Stühle und Tische weggeräumt. In der Mitte steht ein Paravent, der zusätzlich mit weißen Laken abgedeckt ist.
»Der Mann ist Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig«, rapportiert ein junger Polizist von der Nachtstreife aufgeregt. »Fesselspuren an Hand- und Fußgelenken.«
Wahrscheinlich seine erste Leiche, denkt Volcare.
»Die Leute vom Hotel sagen, er sei aus dem Fenster gesprungen.«
»Gesprungen?«
»Ja, so haben die das gesagt.«
»Hmh«, brummt Volcare.
»Geile Party!«, ruft der Gerichtsmediziner, »mindestens 2,5 Promille, enorm geweitete Pupillen. Sieht nach Drogen aus.«
»Danke«, ruft Volcare zurück. »Und die Todesursache?«
»Der Aufprall.«
»Weitere Auffälligkeiten?«
»Fesselspuren. Und zwei Tattoos, sollten beim Identifizieren helfen. Hab Fotos davon gemacht.«
»Gut.« Volcare wendet sich wieder dem jungen Polizisten zu. »Zeugen?«
»Ja, sie warten oben im Zimmer.«
»Mehrere also?«
»Es sind zwei ...«, er stockt einen Moment, »... es sind zwei ... zwei Damen.«
Der Hotelmanager wippt nervös auf und ab.
»Der Tote war nicht allein«, beginnt wieder der junge Polizist. »Die beiden Frauen sind oben.«
Volcare schaut zum Hotelmanager. »Dann gehen wir mal hoch.«
Der Manager führt Volcare und den jungen Polizisten in den dritten Stock.
»War das sein Zimmer? Oder besser: Seine Suite?«, fragt Volcare.
Auf dem Boden liegen Kleider, Strapse, Slips, BHs herum. Neben dem Bett zwei leere Champagnerflaschen. Volcare tritt zum Fenster. Kleiner Balkon, toller Ausblick. Er sieht nach unten. Zwölf, vielleicht auch vierzehn Meter.
»Wir haben nichts angerührt«, erklärt der Hotelmanager. »Es gibt einen Abschiedsbrief.«
»Dann geben Sie den mal her.«
Er schaut auf den Brief. »Wusst ich’s doch. Ein Deutscher.« Er überfliegt den Brief, versteht aber nicht alles. »Kann jemand das hier lesen?«
Im Wohnzimmer sitzen zwei Frauen in Bademänteln auf dem Sofa. Volcare grinst. Das meinte der Typ vom Hotel also mit »Begleitumständen, die nicht zum Stil des Hauses passen«. Er betrachtet die beiden Frauen, die eine blond, die andere schwarzhaarig. Beide tun gelangweilt. Die Blonde hat sich weit zurückgelehnt, fast lasziv. Sie schaut aus dem Fenster. Die Schwarzhaarige betrachtet ihre Fußnägel.
Volcares Blick bleibt am tiefen Ausschnitt der Blonden hängen. Die Haut an Dekolleté und Hals sieht glatt aus. Nicht schlecht, denkt er. Ich hab einfach den falschen Beruf. Er stellt sich vor die beiden Frauen, die ihn aber nicht sonderlich beachten.
»Ziehen Sie sich was an.«
»Danke«, zischt die Schwarzhaarige. Die Blonde geht wortlos an Volcare vorbei.
»Scheint ja eine nette Orgie gewesen zu sein«, grummelt der Polizist und schaut auf seine Uhr. Schon sechs, um sieben ist er auf einen morgendlichen Kaffee verabredet.
Die Frauen kommen aus dem Badezimmer, die Blonde hat eine kleine Tasche dabei.
»Was ist da drin?«, fragt Volcare.
»Klamotten, Schminkzeug.«
»Aufmachen, bitte.«
Volcare kramt in der Tasche rum. Pillen, Schminkzeug, Notizbücher. Er holt ein weißes und ein schwarzes iPhone heraus. »Zwei Telefone?«
Die Blonde nickt.
Volcare zieht die Augenbrauen hoch.
»Eins privat, eins geschäftlich«, antwortet die Frau.
Volcare grinst. »Manche Dinge soll man nicht vermischen, nicht wahr?«
Er steckt die beiden Telefone zurück in die Tasche und winkt den jungen Polizisten zu sich. »Nehmen Sie ihre Personalien auf. Geben Sie ihnen einen Termin fürs Präsidium. Dann können die beiden erst mal gehen.«
Der junge Polizist nickt.
»Und machen Sie ein paar Fotos. Das Protokoll will ich heute Mittag haben. Verstanden?«
»Das heißt, Sie sind hier fertig?«, fragt der Hotelmanager.
»Ich brauche nur noch die Adresse von dem Deutschen«, sagt Volcare, »wir müssen die Angehörigen benachrichtigen.«
Er blickt sich noch mal im Zimmer um, die Kronleuchter, das breite Bett, die Spiegel an den Wänden. Die Frauen mit den goldenen Ohrringen und den rot geschminkten Lippen. »Scheiß Party«, sagt er, schüttelt den Kopf und verlässt den Raum.
Blende.
Das weiße iPhone. Fast ein Jahr ist es her, dass Mikael mir das Telefon mit den Daten gegeben hat. Voll mit Bildern, Tonaufnahmen, Videos. Paris, London, Berlin. Und natürlich das Hotelzimmer in Venedig. Der Moment, als er mir das Telefon in die Hand drückte, ja der ganze merkwürdige Überraschungsbesuch steht mir noch deutlich vor Augen. In diesem Moment war etwas Neues in mein Leben getreten. Aber der Reihe nach.
Es war ein sonniger Tag. Ich saß im Garten, als es an der Haustür klingelte. Ich öffnete die Tür, und vor mir stand Mikael.
Er begrüßte mich so unbefangen, als ob wir uns erst vor ein paar Tagen getroffen hätten. Dabei hatten wir in den letzten Monaten nur unregelmäßig per Mail Kontakt gehalten. Er habe ein neues Projekt begonnen und deshalb wenig Zeit. Was es mit diesem Projekt, das er immer nur »RLF« nannte, auf sich hatte, wusste ich nicht. Jedenfalls sagte Mikael nach einer Sekunde des Zögerns: »Entschuldige, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Hast du einen Moment?«
»Klar, komm rein«, antwortete ich.
Während ich einen Tee aufsetzte, lief Mikael unruhig im Wohnzimmer auf und ab.
»Und, was macht RLF?«
»Deshalb bin ich ja hier.«
Ich goss uns Tee ein.
»RLF kann losgehen. Eigentlich ist alles schon am Start, aber einige Sachen sind anders gelaufen, als ich es erwartet hatte.«
»Schiefgegangen?«
»Ja, so kann man das auch sehen. Vielleicht passt ›haben sich verselbstständigt‹ besser. Egal.« Hastig schluckte Mikael seinen Tee herunter. Dann zog er ein weißes iPhone aus seiner Tasche.
»Kuck dir mal alle Daten an, die da drauf sind. Mails, Fotos, Filme, und vor allem die Voice-Recordings. Außerdem hast du Zugriff auf die Cloud, da ist noch mehr Zeug.« Er reagierte sofort auf meinen fragenden Blick. »Ja, das ist alles mit dem Telefon aufgenommen. Ja, natürlich, ohne dass es der Benutzer gemerkt hat.«
»Warum? Und wem gehört das Telefon überhaupt?«
»Das kann ich dir jetzt nicht erklären, das ist ja Teil dessen, was aus dem Ruder gelaufen ist. Kuck’s dir einfach an, dann bekommst du auch den Durchblick. Und ein paar andere Sachen über RLF habe ich dir auch noch draufgepackt, dann siehst du, wie weit wir damit sind. Wenn du damit durch bist, setzen wir uns zusammen und besprechen, wie es weitergeht, okay?«
Ich zögerte einen Moment. »Ich nehm mal an, die Daten wurden mit irgendeiner Spyware gesammelt?«
Mikael zuckte mit den Schultern. »Komm, stell dich nicht so an. Du wirst bestimmt nicht enttäuscht sein.«
iPhone. Mobiltelefon der Firma Apple, am 9. Januar 2007 erstmals der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Vermeintliche Revolution der Kommunikation, die permanent erneuert wird. Seitdem verstecken sich hinter den glatten, sachlich-neutralen Oberflächen (Glas und Aluminium, als Farben: Schwarz, Weiß, Silber) die neuesten Tricks des unterhaltungsindustriell-militärischen Komplexes. Die Ortungsfunktion des aktuellen iPhone, als praktische Service-Dienstleistung angepriesen, sammelt Informationen über den Nutzer: Wie bewegt er sich im Tages- und Wochenrhythmus? An welchen Orten hat er welche Webseiten besucht, was hat er bei Google recherchiert, was, wann und wo im Netz gekauft? Die neueste iPhone-Generation verfügt für die vermeintlich »intuitive« Bedürfniserkennung über ein Sprachsystem. Das Telefon wird zum Gesprächspartner, zum persönlichen Freund – der alle Geheimnisse an die unsichtbare Zentrale weitergibt.
Zur Diebstahlsicherung, so ein von Apple angemeldetes Patent, soll das iPhone der Zukunft an der Stimme, dem Herzschlag oder an Verhaltensmustern erkennen, ob der Eigentümer oder jemand anderes das Gerät nutzt. Irgendwann wird das Telefon in der Lage sein, die Stimmung des Nutzers zu analysieren. Auf Basis aller gesammelten Informationen können Apps entwickelt werden, die das situative Nutzerinteresse ermitteln – und dann die perfekt passenden Produkte und Dienstleistungen anbieten.
Ein Telefon als Symbol und Agent für die Lebenslügen der heutigen Konsumgesellschaft. Bis Ende 2012 wurden rund 300 Millionen Exemplare verkauft.
Spyware sind Spionage-Apps für Smartphones, mit denen man unbemerkt Daten über den Benutzer eines Telefons und sein Umfeld abrufen kann. Das unter anderem vom amerikanischen Militär entwickelte Programm PlaceRaider beispielsweise löst alle zwei Sekunden die Handykamera aus. Ist das Telefon in Benutzung oder liegt offen auf dem Tisch, sendet das Programm Fotos der Umgebung an einen Server. Dort werden sie automatisch zu einem dreidimensionalen Panorama zusammengesetzt.
Das Programm mSpy übermittelt ein noch umfassenderes Datenpaket an den Server des Herstellers: den Standort des Smartphone-Nutzers, Aufnahmen von Umgebungsgeräuschen und über das Internet geführten Telefongesprächen, Kontaktliste, Fotos, SMS- und E-Mails. Die gesammelten Daten können nach Eingabe eines Passworts auf der Hersteller-Webseite eingesehen werden. Die Nutzung ist laut Hersteller legal, sofern der Smartphone-Nutzer darüber informiert ist. So zumindest die offizielle Erklärung des Herstellers, denn sonst wäre es datenschutzrechtlich nicht einmal in den USA erlaubt. Allerdings gibt es genügend Tricks, solche Datenschutzbedingungen elegant zu unterlaufen. Spionage-Apps werden häufig in attraktiven Anwendungen wie kostenlosen Spielen »versteckt«. Wenn der Nutzer den Download-Button drückt, wird unbemerkt auch das Spionageprogramm installiert. Nach der Installation läuft mSpy übrigens unsichtbar im Hintergrund, der Nutzer kann es also nicht als geöffnetes Programm erkennen. mSpy kann unter http://www.mspy.com zu Preisen zwischen 39,00 Euro pro Monat und 119,00 Euro pro Jahr erworben werden.
Etwas widerwillig nahm ich das Telefon in die Hand. Als Mikael mir das letzte Mal Daten übergeben hatte, war ich danach ein Jahr mit seiner abenteuerlichen Geschichte beschäftigt gewesen.* Außerdem fand ich es absurd, dass Mikael ausgerechnet auf ein iPhone vertraute – nach allem, was er in Sachen Überwachung hinter sich hatte. Ich fuhr mit meinem Finger über das Display. Das Telefon als mobile Überwachungseinrichtung. Mikael wippte unruhig in seinem Sessel. Schließlich überwog meine Neugierde alle Bedenken.
»Wie lautet die PIN?«
Die 64 GB Speicherplatz des Telefons waren komplett ausgenutzt, weitere Daten waren in der iCloud abgelegt. Die Anrufprotokolle waren gelöscht. Dafür gab es mehrere Ordner, die mitgeschnittene Telefonate enthielten, benannt mit »Hamburg«, »London«, »Berlin«, »Paris« und »Venedig«. In einem anderen Ordner war eine Sammlung von Ortungsdaten und eine Liste aller abgerufenen Webseiten, inklusive Ort und Datum. Im Ordner »RLF« die Dokumente »Businessplan«, »Orgastruktur« und »CI«. In »Notizen« Fotos von Zeitungsartikeln und Buchseiten, Weblinks, tagebuchartige Textfragmente. Eine digitale Loseblattsammlung, dank iPhone versehen mit Datum und Ortsangabe.
Ich brauchte vierzehn Tage, um alle Dokumente durchzugehen und die mitgeschnittenen Telefongespräche anzuhören. Genügend Material, um das Leben von Jan, dem ursprünglichen Besitzer des Telefons, zu rekonstruieren. Man könnte auch sagen: um in sein Leben einzudringen. In den zwei Wochen, in denen ich mich mit den Daten auf seinem Telefon beschäftigte, lernte ich ihn sehr gut kennen, und zwar besser, als mir lieb war.
Ich erkannte an seiner Stimme, ob er gerade siegesgewiss war oder unsicher. Ich hörte, ob er am Abend zuvor zu viel getrunken hatte oder ob er bloß erkältet war. Ich wusste, in welchen Läden er was eingekauft hatte (bei Paul Smith in London war er innerhalb von zwei Monaten allein drei Mal gewesen, Adidas Original Stores besuchte er regelmäßig in verschiedenen Städten, und Comme des Garçons schien er auch zu mögen). Ich wusste, welche Webseiten er sich gerne anschaute und wie viel Zeit er mit Internetflirts verbrachte. Ich wusste, welche Bücher er bei Amazon bestellt hatte, und wie es um seine körperliche Fitness stand – das erfuhr ich aus seiner Nike-Running-App. Seine sexuellen Vorlieben waren mir ebenfalls bekannt – er schickte seinen Bekanntschaften regelmäßig entsprechende SMS. So ein Telefon speichert eben recht viel.
Anhand der Daten und des Archivs rekonstruierte ich die Entwicklung von RLF. Denn Jan, der Besitzer des Telefons, war einer der Köpfe dieser, wie soll ich sagen, Organisation. Nach einigen weiterführenden Recherchen, Reisen zu den Orten des Geschehens und Gesprächen mit direkt und indirekt Beteiligten stand mir vor Augen, was RLF wirklich war. Oder sagen wir es so: Ich hatte zumindest halbwegs den Überblick.
RLF, so könnte man, kurz gefasst, sagen, ohne damit zu viel vorwegzunehmen, ist ein Kunstprojekt, aber auch ein Unternehmen, ein politisch-ökonomisches Komplott, ein Geheimbund, kurzum: ein komplexes Vorhaben, dem ein ebenso perfekter wie perfider Plan zugrunde liegt.
Damit dieser gelingen konnte, durfte keiner der Beteiligten das Projekt als Ganzes überblicken. Von einer Ausnahme abgesehen. Doch die wird noch nicht verraten, ich habe das auch erst ganz am Ende verstanden.
Aber wie gesagt: Am besten der Reihe nach.
*So entstand 1WTC, ein Bericht über Mikael Mikaels Erlebnisse rund um das neue World Trade Center in New York. Sie sind der Grund, warum er nicht in der Öffentlichkeit auftritt.
»Nichtraucher, bitte. Nicht zur Straße, wenn es geht.« Jan steht an der Rezeption im Town Hall, einem angesagten Design-Hotel in London. Gut, denkt er, hier können die Vertriebsleute dann schon mal in Stimmung kommen. Der vorabendliche Drink an der Bar ist oft genauso wichtig wie die Präsentation. Jan ist müde, er hat in den letzten Wochen zu viel gearbeitet. Das Projekt ist in einer entscheidenden Phase. Das Meeting muss unbedingt erfolgreich verlaufen.
Der Auftraggeber, ein deutscher Sportartikelhersteller, will eine neue Schuhserie auf den Markt bringen. Die Konzeptstudie ist fertig, seit einem halben Jahr arbeiten Jans Team und die Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Unternehmens daran. Die dazugehörige Kampagne steht, fehlt nur noch das »Go« vom Vorstand des Auftraggebers. Vorher will der noch das Votum der Vertriebsleute hören, die wissen am besten, was sich auf den verschiedenen globalen Märkten verkauft – und was nicht. Normalerweise finden die Präsentationen im Global Headquarter statt, aber das liegt in der deutschen Provinz. Wegen der Termindichte der Vertriebsleute musste das Ganze nach London verlegt werden, da kommen die Vertreter aus den USA und Asien schneller hin.
Für Jan ist das zwar mehr Arbeit, aber eigentlich ist es ihm ganz lieb. So konnte er für die Präsentation eine wirklich passende Location aussuchen. Sie hätten den Konferenzraum im Hotel nehmen können, aber das hätte nicht zum Schuh gepasst. Die Event-Abteilung der Agentur hat das Atelier eines Künstlers in einer ehemaligen Fabrik in East-London angemietet und die Räume für die Präsentation etwas umgebaut. Jan hat vor dem Abflug erste Fotos gesehen, er ist sehr zufrieden. Trotzdem will er sich das Ganze vor Ort anschauen, denn Jans Motto ist, frei nach Lenin: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Er ist gerne perfekt vorbereitet, und dazu gehört auch, den Raum besichtigt zu haben, in dem er etwas präsentieren wird. Und meist fällt ihm dann doch noch ein Detail auf, das verbessert werden muss.
Jan ist 39 Jahre alt. Er arbeitet als Kreativdirektor in einer Hamburger Werbeagentur. Die Agentur ist eine der größten Europas, eine Aktiengesellschaft mit mehreren Subfirmen. Nach außen flache Hierarchien und lockerer Stil, im Inneren straff organisiert und hoch effizient. Jans Spezialgebiet ist Trendforschung. Er weiß vor allen anderen darüber Bescheid, was morgen »in« sein wird. Und für dieses Morgen entwickelt er die passenden Produkte.
Jan führt ein angenehmes Leben. Ob er damit glücklich ist, ist eine andere Frage. Er wohnt in Hamburg-Blankenese, wo er ein kleines Einfamilienhaus gekauft hat. Frühes 20. Jahrhundert, Backstein, typisch Hamburg. Er fährt einen 5er BMW, ist seit zwölf Jahren verheiratet und hat zwei Kinder. Er hat alles, was er sich immer gewünscht hat – außer dem Porsche, von dem er schon lange träumt.
Jan arbeitet gern. In der Woche verlässt er die Agentur in der Hafencity meist erst um 22 Uhr. Er ist viel im Ausland unterwegs, wichtige Kunden und Kooperationspartner sitzen in Los Angeles, London und Amsterdam.
Die Agentur ist keine normale Werbeagentur, sie bietet ihren Kunden eine breite Palette an Services, nicht bloß Werbung, sondern jeden Schritt von der Produktentwicklung bis zum Event und anderen Promoaktionen.
Integrative Konzepte sind im Trend. Scholz & Friends, eine der größten Werbeagenturen Europas, bezeichnet sich als »Orchestra of Ideas«. Die »Rolle des Dirigenten« wird von der jeweiligen »Idee« übernommen. Neben klassischer Werbung nennt die Webseite des Unternehmens achtzehn weitere »Instrumente« des Orchesters, darunter »Consulting«, »Branded Entertainment« und »Corporate Responsibility«. Sie sollen in »reibungslosem Zusammenspiel« für die von der Agentur betreuten Unternehmen und Marken zum Einsatz kommen. Dies will Scholz & Friends mit »strategischer Kompetenz«, »kreativer Exzellenz« und dem Einsatz seines weltumspannenden, interdisziplinären Netzwerks erreichen. Gegründet wurde die Agentur 1981 in Hamburg, die Hauptsitze befinden sich heute am Hackeschen Markt in Berlin und im Hanseatic Trade Center in der Hamburger Speicherstadt.
Das neue Projekt soll Jans ganz großes Ding werden. Und wenn alles klappt, kann er sich vom Bonus endlich den Porsche kaufen.
Jans Frau Valerie arbeitet als Grafikerin in derselben Werbeagentur. Dort haben sie sich kennengelernt, fünfzehn Jahre ist das jetzt her. Praktikantenglück. Inzwischen arbeitet sie nur noch halbtags, wegen der Kinder. In der Agentur sehen sie sich kaum, sie arbeiten in unterschiedlichen Abteilungen, außerdem ist es für die Beziehung ganz gut, Berufliches und Privates zu trennen, findet Jan.
Die beiden haben zwei Kinder. Julia ist zwölf Jahre alt, Tim neun. Kinder aus anderen Beziehungen gibt es nicht, dafür haben sie einen Golden Retriever. Valerie hatte eine Affäre mit dem Nachbarn, die inzwischen beendet ist. Nach zwei Jahren Paartherapie geht es Jan und Valerie ganz gut. Allerdings haben sie kaum noch Sex miteinander. Valerie findet das normal, Jan nicht. Aber er hat kein großes Problem damit, er vergnügt sich halt anderweitig.
Valerie macht gerne Yoga, und auch Jan versucht, gesundheitsbewusst zu leben. Er trinkt aber, wie Valerie findet, zu viel Alkohol. Vor allem, wenn er in anderen Städten unterwegs ist und mit Geschäftsfreunden essen geht. Illegale Drogen nimmt er nur selten. Ab und an putscht er sich vor wichtigen Terminen etwas auf. Aber nur, wenn es unbedingt sein muss. Wenn er in Hamburg ist, geht er zweimal die Woche ins Fitness-Studio und joggt morgens an der Elbe und im Jenischpark.
Alles in allem ist Jan ein ganz normaler Typ.
»Cool«, sagt Jan. Die rohen Backsteinwände sind mit Graffitis in grellen Farben besprüht, ansonsten ist der Raum komplett in Schwarz gehalten: der Boden, die spiegelnde Oberfläche der Tische, die Stühle aus glänzendem Kunststoff. Nur die verchromten Tischgestelle leuchten hell dazwischen auf. Genau diesen Kontrast zwischen glossy und abgerockt wollte Jan haben. Denn eine Präsentation funktioniert nun mal wie ein Blind Date: Die ersten Sekunden sind entscheidend. Davon ist Jan überzeugt. Wenn der Auftraggeber nicht gleich in die richtige Stimmung kommt, das Ganze nicht sofort sexy findet, wird er nicht auf seine Argumentation einsteigen.
»Könnt ihr hier nicht noch ein bisschen Neongelb reinbringen?«, fragt Jan eine der Assistentinnen, die für die Deko zuständig sind, mehr aus Prinzip als aus Unzufriedenheit mit den Graffitis. »Und das Catering, klappt das alles?« Er hat seinem Team eingeschärft, dass es auf die richtige Inszenierung ankommt. Und heute geht es eben um Widersprüche. Trash trifft auf Glamour, Armut auf Reichtum, Freiheitskampf auf Kapitalismus. Deshalb hat Jan das Essen bei einem indischen Restaurant in der Gegend bestellt.
»Wir brauchen Migrantenatmo, richtig trashig. So Curryzeugs, aber nicht zu scharf, okay? Und Plastikgeschirr, genau, das Essen in billigem weißem Plastikgeschirr, das sieht gut aus auf den schwarzen Tischen. Aber ich will ordentliches Besteck, aus Silber, was Englisches, wir sind ja in London. Und viel Schampus, damit wir anstoßen können. Champagner in Plastikbechern, das ist geil, oder?«
Den Abend verbringt Jan an der Hotelbar, der Vertriebsexperte aus Japan ist schon da. Vorbereitende Gespräche. Am Ende ist eine Flasche Whisky leer. Und auch wenn das Meiste davon der Japaner trinkt, ist Jan betrunken, als er die Hotelbar verlässt. Vor dem Schlafen checkt er noch kurz seine E-Mails. Er hat in den Städten, in denen er beruflich häufiger unterwegs ist, unregelmäßige Bekanntschaften. New York, Amsterdam, Los Angeles. Seit einiger Zeit flirtet er mit einer Frau aus London, die er auf einem Online-Single-Portal kennengelernt hat. Angélique. Sie ist Mitte dreißig, eigentlich zu alt für Jans Geschmack. Seine anderen Bekanntschaften sind eher im Studentinnenalter. Ihr Online-Pseudonym, Angélique, passt auch nicht wirklich zu ihr, sie sieht eher indisch aus als französisch. Aber egal. Die Chats mit ihr waren sehr witzig, ein guter kleiner Spaß nebenher. Was Kurzes, dann geht er auch nicht das Risiko ein, dass die Affäre in eine richtige Beziehung ausartet. Damit hat er in letzter Zeit schlechte Erfahrungen gemacht. Enttäuschte Hoffnungen, unerwünschte Telefonanrufe, wütende Mails. Das kann Jan sich nicht leisten, schließlich ist er verheiratet und hat Kinder, das setzt man nicht wegen irgendwelcher Sentimentalitäten aufs Spiel. Geregelte Familienverhältnisse sind gut fürs Geschäft.
Jan durchsucht seine Mails nach einer neuen Nachricht von Angélique. Erleichtert findet er ihre Antwort, sie schlägt für den nächsten Abend einen Pub in Tottenham vor. Er war noch nie dort, aber warum nicht mal was Neues ausprobieren. Jan schläft erwartungsvoll ein, seine Träume springen zwischen der morgigen Präsentation und dem Abend mit Angélique hin und her.
Am nächsten Morgen schmeißt Jan zwei Aspirin ein und geht ins Fitness-Studio des Hotels. Der Whisky mit dem Japaner hat ihm stärker zugesetzt als erwartet. Nach einer Stunde Work-out fühlt er sich besser. Die Kopfschmerzen sind verflogen. Jan ist bereit, der Tag kann beginnen.
Alles ist vorbereitet. Im Vorraum stehen die Vertriebsleute und Manager an den Stehtischen. Small Talk, Tratsch über Firmeninterna, manche haben sich seit Wochen nicht gesehen. Die Stimmung ist gelöst.
Jan bittet in den Hauptraum, jeder sucht sich einen Platz. Es wird ein wenig getuschelt, über die Graffitis geredet, auch die schwarzen Möbel sind Gesprächsstoff, doch als Jan abdunkelt, wird es still. Alle starren auf die Leinwand, auf der aber nur ein Bild des Raums zu sehen ist, in dem sich die Gruppe gerade befindet. Kein Schriftzug, kein Logo, einfach nur der Ort. Natürlich ohne Menschen, der Raum ist leer. Jan liebt solche Selbstreferenzen, es ist sein Kommentar zu der alten Regel, die Leute da abzuholen, wo sie sind.
Für Präsentationen hat Jan ohnehin einen festen Ritus. Dazu gehört Kleidung, die zum Produkt passt, eine Art Einstimmung oder Einfühlung in das zu behandelnde Thema. Dieser Tick ist so eine Art Markenzeichen von ihm, er kennt keinen anderen Werber, der das so macht. Heute ein weißer Trainingsanzug, natürlich von Adidas, darunter ein weißer Kapuzenpullover. Auf der Brust die Worte »Freedom Fighter«. Ein bisschen gangmäßig, aber einen Turnschuh kann man eben nicht im schwarzen Anzug verkaufen. Das wäre unglaubwürdig, findet Jan.
Die eigentliche Show beginnt er mit einer allgemeinen Frage. »Meine Damen und Herren, was heißt es heute, ein neues Produkt auf den Markt zu bringen?« Und bevor sich die Zuhörer eine Antwort überlegen können, platziert er seine erste Botschaft. »Ich glaube, es geht zuallererst um Werte. Denn das ist es, wonach alle Konsumenten suchen. Halt, Identität. Moralische Werte. Und unser neues Produkt steht für den wichtigsten Wert, den wir im Leben haben.«
Jan schaut jeden der Zuhörer genau an. Den Mann aus Japan, mit dem er am Abend vorher die Whiskyflasche leergetrunken hat, die Managerin aus den USA, mit der er bei den letzten Begegnungen heiß geflirtet hat, die Marketingexperten aus dem Headquarter. Jan will gleich am Anfang rüberbringen, worum es geht. Er hat nur zehn Minuten, um die Grundidee vorzustellen, der Rest der Zeit gehört dem Design und den Marktchancen.
»Das Wichtigste, was wir haben, ist Freiheit. Und der Kampf um Freiheit. Denn Freiheit bekommt man nicht geschenkt. Das bewegt die Menschen in der ganzen Welt, ob in New York, Rio, Shanghai oder Athen. Die neue Sportschuhreihe steht für Freiheit und den Kampf gegen Ungerechtigkeit.«
Die Gruppe hört ihm gebannt zu. Jetzt kommt der essenzielle Moment: die Kernaussage. Die Sätze, die locker und spontan wirken sollen, hat er vorher mehrfach einstudiert. Die Gesten, die Betonung, alles muss sitzen.
»Der Urban Force ist ein Schuh für Freiheitskämpfer.«
Auf der Leinwand sind jetzt verschiedene Bilder von Che Guevara zu sehen: historische Fotos, Andy Warhols Porträt, T-Shirts auf Touristenmärkten in Spanien, Thailand, Australien.
»Lassen wir uns von Che inspirieren. Er ist eine globale Marke. Überall präsent. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Kapitalismus und Revolution, im Gegenteil: Kapitalismus ist permanente Revolution, und deshalb ist der Revolutionssneaker auch der ideale Ausdruck für das Lebensgefühl unserer Gesellschaft.«
Jan kuckt kurz in die Runde. Seine Worte sind angekommen. Die europäischen Vertreter grinsen, die Manager aus China und den USA geben Szenenapplaus.
An der Wand jetzt eine Folie, auf der man hinter einem an Nebelschwaden erinnernden Grauschleier die verschwommenen Umrisse eines Schuhs erkennt; darüber verteilt, als zersplitterte Fragmente, einige schwarz glänzende Oberflächen, raue Texturen und glattgeschliffenes Metall.
»Es geht also um einen Schuh«, setzt Jan noch mal nach, »den Che Guevara getragen hätte. Das ist Ihr Schuh. Der Urban Force. Bevor wir zum Design kommen, ein paar Worte zum Image, okay? Wer trägt den Urban Force? Ein Stadt- und Straßenkämpfer. Und er ist unbesiegbar. Wir alle erleben Stadt heute als etwas Gefährliches. Komisch, oder? Stadt ist doch eigentlich das große Versprechen von Freiheit. Also: Diesen Widerspruch kennt jeder, vor allem aber unsere wichtigste Zielgruppe: die Fünfzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen.«
Jan zeigt ein Chart, das die Unzufriedenheit von Jugendlichen darstellt. Die Agentur hat ein Marktforschungsinstitut beauftragt, Jugendliche in zwanzig verschiedenen Ländern wurden befragt.
»Der Urban Force steht für den Kampf zwischen einfachen Stadtbewohnern und den unsichtbaren Mächten, die Politik und Wirtschaft in der Stadt bestimmen. Darauf spielt auch unser Slogan an.« Jan zeigt die nächste Folie. Eine Hochhauskulisse in Schwarz-Weiß, mit einer Körnung versehen, die dem Bild einen Retrolook verleihen soll. Darüber läuft ein Schriftzug in changierenden Neonfarben: »Power to the People. Be a Freedom Fighter.«
Jan wartet einen Moment, um den Schuh und den Slogan etwas wirken zu lassen.
»Ja«, setzt er wieder an. »›Be a Freedom Fighter.‹ Das ist es, wovon die Kids in allen Städten der Welt träumen. Und der Schuh gibt ihnen das Gefühl, dass sie die Macht und die Kraft dazu haben.« Jan geht einen Schritt auf seine Zuhörer zu. »Aber dieses Gefühl von eigener Kraft wollen die Kids auch wirklich erleben. Und dafür brauchen sie Vorbilder. Und das können ja keine echten Freiheitskämpfer sein.« Er lacht. »Das ginge dann doch etwas zu weit. Außerdem könnten wir uns global wohl kaum auf eine Person einigen, oder?«
Jetzt lachen auch die europäischen Vertreter.
»Wir haben deshalb nach etwas anderem gesucht, etwas, das aus der urbanen Alltagskultur stammt. Trendsport, verstehen sie, aber natürlich Trendsport, der auch breitenwirksam ist.«
Jan zeigt das nächste Chart, ein Foto von einem Mann, der in artistischer Pose von einem Hausdach springt.
»Wir haben uns für Parkour entschieden. Auch Free Running genannt. Immer geradeaus, egal welche Hindernisse im Weg sind. Freiheit eben. Kennt jeder, macht aber kaum jemand. Ideale Projektionsfläche, vor allem hat das Ganze einen kriegerischen Hintergrund, durch die subversive Überformung aber auch was Rebellisches, ist voll Gegenkultur. Das kommt bei den Kids an.«
Parkour. Urbaner Sport, bei dem es darum geht, den kürzesten Weg zu einem selbst gewählten Ziel zu meistern. Die Traceure (von französisch: traceur, dt.: der den Weg ebnet; der eine Spur legt) des Parkour überklettern Autos, springen über Mauern, machen selbst vor Häusern nicht halt. Sie sind virtuose Praktiker einer Ideologie der Effizienz.
Erfunden hat Parkour der Franzose David Belle (geboren 1973). Er versteht die Sportart als eine Methode, die von Umwelt und Körper gesetzten Grenzen zu erkennen – und sie gleichzeitig zu überwinden. Als Kind hatte er von seinem Vater, einem Vietnamkriegsveteranen, die sogenannte méthode naturelle gelernt, eine Kunst der Bewegung durch die Natur, die auf Körperbeherrschung durch physisches und mentales Training basiert. Sie ist das Basistraining für die Elitesoldaten des französischen Militärs.
Im Sommer 2012 zeigte der Automobilkonzern VW in seinem Automobil Forum Unter den Linden in Berlin in einer Kooperationsausstellung mit dem Medienkunstnetzwerk Ars Electronica ein Parkour-Video der spanischen Künstlergruppe Democracia, in dem sich, so die Konzern-Webseite, »die Akteure den urbanen Raum auf subversive Art und Weise aneignen«.
Das Landgericht Leipzig verurteilte im April 2012 einen jungen Mann zu siebzig Sozialstunden, weil er zwei Jahre zuvor in angetrunkenem Zustand als Traceur über neunzehn Autos gelaufen war, unter anderem einen VW. Der Sachschaden belief sich auf über 20 000 Euro.
Einer der gegenwärtigen Stars der Szene ist der 21-jährige Jason Paul. Er versteht Free Running nicht als Sport, sondern als »künstlerische Handlung«.
»Natürlich begreifen die Kids nicht, warum das bei ihnen so gut ankommt«, fährt Jan fort, »aber wir wissen es.« Er schaut in die Runde, lässt sich Zeit, bis Spannung im Raum entsteht. »Es ist der Traum von Freiheit. Parkour ist nämlich nicht nur artistisch, sondern auch ein Ausbruch aus dem Alltag, weil es ja darum geht, sich seinen eigenen Weg durch die Stadt zu bahnen. Freiheit durch Sport, okay?«
Jan zeigt ein Video, auf dem David Belle quer durch die Stadt rennt, über Autos läuft, Mauern überwindet, von Dach zu Dach springt.
»Außerdem gibt es in fast jeder größeren Stadt ein paar Parkour- oder Free-Running-Aktivisten, die Sie für Events engagieren können. Die Sache wird wahrscheinlich nie echter Mainstream werden, dafür ist es zu, na ja, zu artistisch. Das kann einfach nicht jeder. Es bleibt für viele unerreichbar, und das ist gut so. Aber es ist mehr als ein Trend. Uns geht es ja eh um ein Feeling, nicht darum, den Sport wirklich auszuüben. So. Und wissen Sie was? Es gibt noch keine Schuhe dafür. Dabei braucht man die sogar, wenn man kein Parkour-Typ ist: Ist doch immer gut, über Hindernisse rennen zu können, oder? Und wenn Sie dafür den richtigen Schuh haben, sind Sie …«, Jan richtet einen Zeigefinger auf die Zuhörer, »… die Spitze der Bewegung.«
Der Einführungsteil ist zu Ende. Jan sieht zufriedene Gesichter. Alles läuft glatt. Die Idee kommt an. Als Nächstes muss er sein Publikum noch für den Look des Schuhs begeistern.
»Ich erkläre Ihnen jetzt Detail für Detail, was der Schuh kann und warum er so aussieht, wie er aussieht.«
Drei Assistentinnen geben jedem der Vertreter einen goldenen Schuhkarton.