1


Es war ein trüber leipziger Morgen. In der Nacht hatte es stark gewittert. Kühle Nebelschwaden zogen langsam in den Himmel und verliehen der Luft den typischen Gewitterduft. Obwohl es Mai war, herrschte herbstliche Stimmung im Plattenbauviertel Grünau. Das Grau der Betonkästen verschmolz mit dem Grau des Himmels.

Langsam erwachte das Arbeiterviertel. Man sah vereinzelte Lichter in den viereckigen Häusersilhouetten aufleuchten. Sie wirkten wie goldgelbe Kacheln, die verzweifelt versuchten gegen die Tristesse zu kämpfen. Es war kein Vogelgezwitscher zu hören, nur das Knattern der ersten Trabanten, welche die Luft mit ihrem Benzin-Öl-Gemisch würzten.

In Grünau gab es einen gigantischen Schulkomplex, der vom Grundschüler bis zum Abiturienten jedes Alter enthielt. Die Gebäude dieser Einrichtung sahen absolut identisch aus. Optisch unterscheiden konnte man sie nur anhand der sozialistischen Mosaike, welche ihre Seiten zierten. Darauf waren Mütter heldenhaft, Arbeiter kämpferisch, Soldaten engelgleich und Lenin übermenschlich. Schüler zogen gackernd an dem großen Idol vorbei, ohne ihn nur eines Blickes zu würdigen. Gruppenweise oder allein wanderten sie ihrem Ziel entgegen. Einer dieser einsamen Wanderer durch die tiefen Häuserschluchten war Peter Winter.


Wie viele Kinder hatte der Neunjährige große Angst vor Gewittern. Wenn es nachts donnerte, wachte er meist auf und Blitze warfen unheimliche Schatten in seinem Zimmer. Groteske Wesen der Dunkelheit, welche ihn scheinbar in ihre Schattenwelt ziehen wollten. Letzte Nacht war es jedoch anders. Das Gewitter konnte ihm nichts anhaben. Peter wurde zwar wach durch den lauten Knall eines Donnerschlags, der wahllos in eines der Hochhäuser einschlug. Er war aber zu glücklich, als dass ihm das Himmelsgrollen und die Schattenfratzen etwas ausmachen konnten. Voller Vorfreude hatte er an den kommenden Tag gedacht. Denn dann würde von seiner Lehrerin bekannt gegeben werden, wer Englisch oder Russisch lernen darf. Er hatte sich für Englisch beworben. 

Die angelsächsische Sprache hatte es ihm angetan und er schwärmte schon lange von England. Die Entscheidung lag aber nicht bei ihm oder seiner Mutter, sondern bei der Obrigkeit. Dies war bei vielen Entscheidungen in der Deutschen Demokratischen Republik der Fall. An seiner Schule beriet ein Komitee darüber, wer Englisch lernen durfte oder in den Genuss von Russischunterricht kommen sollte und fällte den endgültigen Entschluss. 

Die Regentropfen, die an Peters Fenster klopften, wirkten auf ihn beruhigend und wiegten ihn, wie beim Schafezählen, in den Schlaf. Denn er hatte von seiner Mutter Sarah gehört, dass es in England viel regnete. Kurz vor dem Einschlafen hatte er noch ein zartes »Yes« gesäuselt. Das einzige englische Wort, welches er kannte.


Mit ordentlich Anlauf sprang Peter in eine Pfütze. Wasser sprang an seinen Beinen empor und durchnässte den unteren Teil seiner Hose. Es machte ihm überhaupt nichts aus und zauberte ein Schmunzeln in sein Gesicht. In seiner Phantasie bestand diese Lache aus englischem Regen. Er tagträumte sich in seinen Gedanken in eine englische Landschaft mit grünen saftigen Hügeln. Plötzlich wurde er durch das laute Hupen eines Wartburgs aus seinen Träumen gerissen. Erschrocken schnellte Peter einen Schritt zurück. Beinahe wäre er von diesem verbeulten Auto, aus dem ein wütender Wortschwall schoss, erfasst worden. Doch mit dem Abgasgestank verzog sich auch der Schrecken.

Der Schulkomplex streckte seine Mosaiktracht dem jungen Schüler entgegen. Peter schaute sich die glücklichen Gesichter darauf an. Noch nie hatte er Menschen gesehen, die so viel Glück auszustrahlen schienen. Er wunderte sich aber auch, warum Lenin als Einziger so ernst drein schaute und war etwas eingeschüchtert vor dieser ernsten Miene. In der Schule wurde es ihm eingehämmert, dass Lenin die Arbeiterklasse befreit hatte. Nachdenklich fragte er sich, warum Lenin dann nicht so glücklich wie seine Mosaikgenossen war.

Peter hörte die Schulglocke und musste sich nun beeilen, wenn er noch pünktlich kommen wollte. Er überholte ältere trödelnde Schüler, welche sich scheinbar um Pünktlichkeit nicht besonders scherten. Er rannte vorbei an einer golemartigen Skulptur, deren Züge extrem grob und steif gehauen waren. Man musste schon genauer hinsehen, um Karl Marx darin erkennen zu können. Kunst ist relativ. Durch die Eingangstür eilte Peter und sprang, flink wie eine Gazelle, die Treppe hinauf. Immer drei Stufen gleichzeitig. Sein viel zu großer kunstlederner Rucksack flog dabei beinahe davon. Im vierten Stock der Schule bog er nach rechts ab und rutschte über den PVC-Fußboden durch die Tür des Klassenraumes. In der dritten Reihe neben Boris war sein Platz. Rote Fähnchen waren massenweise im ganzen Raum verteilt, wie Fliegen auf dem Pferdedung. Über der Tafel prangte eine riesige Flagge, die den ganzen Raum einzunehmen schien. Sie zeigte Hammer und Zirkel. Das Wappen der Deutschen Demokratischen Republik. Links davon war eine etwas kleinere Flagge. »Die Flagge des großen Bruders«, wie die Lehrer der Klasse oft erzählten. Unter ihr war ein Kartenständer. Er hielt eine Karte die anscheinend vergaß, dass es eine westliche Welt gab. Sie zeigte nur den Ostblock. Die UdSSR, »der große Bruder«, war rot markiert und schien fast zu glühen. Auf der rechten Seite der Vorderwand grinste den Schülern ein eingerahmter Kopf von Erich Honecker entgegen.

Die Klasse stand auf, als die Lehrerin Frau Glasunow mit einem kühlen »Guten Morgen« den Raum betrat. Artig antworteten sie und setzten sich, nach der Erlaubnis von Frau Glasunow. Die erste Stunde am Montag war Geschichte. Das Thema der letzten Zeit war der Zweite Weltkrieg. Eines der Lieblingsthemen der Klassenlehrerin, die immer ein rotes Tuch um ihren Hals trug.

»Die Urheber dieses Weltkrieges«, versicherte Frau Glasunow, »waren die Kapitalisten, die daraus Profit schlagen wollten. Sie bestachen Hitler, um ihren Absatz von Waffen und Kriegsmaschinerie zu vermehren.« Nur Hitler und die Kapitalisten schienen an dem Krieg Schuld gehabt zu haben. Der einfache deutsche Bürger galt in diesem Geschichtsunterricht als unschuldig.

»Die Faschisten«, dies benutzte sie auch gerne als Synonym für Kapitalisten, »sitzen heute in der BRD und vor allem in Amerika.« Irritiert durch diese Aussage merkte Peter an: »Aber dann hätte ja Hitler gegen die eigenen Leute gekämpft. Schließlich kämpfte er doch auch gegen die Amis.« Die Wangen der Lehrerin wurden sichtbar rot, passend zu ihrem Halstuch und den Fähnchen. »Red nicht so einen Unsinn! Außerdem habe ich dich nicht dran genommen. Zur Strafe musst du fünfzehn Minuten stehen!«, fuhr die nun wirklich rote Lehrerin den sichtlich verwirrten Peter an.

Stehen war eine häufige Bestrafung. So ziemlich jeder aus der Klasse hatte dies schon machen müssen. Hierzu musste man auf seinem Platz stehend zehn bis zwanzig Minuten verweilen. Die Steigerung war, dass der kleine Sünder in der rechten Ecke des Klassenraumes, mit dem Rücken zur Klasse und dem Gesicht zu Erich Honecker, büßte. Wenn es Peter traf, kam es ihm so vor, als würde ihn dann der grinsende Erich auslachen. Erst letzte Mathestunde hatte er die zweifelhafte Ehre dem Staatsrat Gesellschaft zu leisten.

Die Lehrerin fuhr mit ihrem theatralischen Monolog fort. Geschichte wurde in diesem Klassenraum im Sinne des real existierenden Sozialismus interpretiert. Epochen wurden ausradiert, Diktatoren zu Befreiern und Verbrechen zu Heldentaten. Nachdem sie die faschistischen Gräueltaten farbvoll den Kindern dargestellt hatte, sodass manchen Mädchen und Jungen das Herz in die Hose gerutscht war, fragte sie den Lebenslauf Chruschtschows ab. Boris Tscheljuskin, Peters bester Freund, meldete sich. Sein Vater stammte aus Moskau und wurde als Soldat in Leipzig stationiert. Hier heiratete er eine Frau aus Zwickau, deren sächsischer Dialekt stark ausgeprägt war. Für Peter war es manchmal recht kompliziert sie zu verstehen. Ihr Russisch hingegen war perfekt. Boris wuchs bilingual auf und sprach fließend Russisch. Nun schien Boris im Geschichtsunterricht wohl eine der häufigen Lücken bemerkt zu haben und fragte, als er an der Reihe war keck: »Was ist mit Stalin? Er war doch der Vorgänger von Chruschtschow. Mein Papa sagte mir, dass er viele von seinen eigenen Landsleuten umbringen ließ.« Frau Glasunow behagte diese Frage nicht. Da konfrontierte sie doch glatt jemand mit der Wahrheit. Das gehörte sich doch nicht. Sie versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen. »Stalin war nicht wirklich der Vorgänger von Nikita Chruschtschow. Er war nur ein kleiner unwichtiger Verbrecher«, versuchte sie ihre Klasse zu überzeugen. Wie die großen Genossen versuchte sie das Andenken an Stalin auszuradieren. Die Genossen änderten Straßennamen, sie änderte etwas Geschichte. Schon wieder wurde sie rot.

Als Boris mit einem »Aber« ansetzen wollte, wiegelte sie ab und änderte das Thema: »Die Stunde ist gleich zu Ende. Hausaufgabe sind die Aufgaben zwei bis vier auf der Seite vierunddreißig ... Nun werde ich bekannt geben, wer Russisch oder Englisch lernen wird«.

Das Herz von Peter schlug schneller. Voller Anspannung wartete er schon die ganze Stunde auf diesen Moment. Frau Glasunow nahm einen Zettel aus ihrer Aktentasche. In alphabetischer Reihenfolge las sie die Namen der Anwesenden vor und ergänzte mit »Russisch« oder »Englisch«. Voller Erwartung starrte er auf diesen allmächtigen Zettel. »Der nächste Name ist meiner«, wusste er. »Peter Winter - Russisch«, ratterte die Lehrerin wie eine Kalaschnikow. Dieser Schuss traf und durchbohrte Peters Herz. Für ihn brach eine Welt zusammen. Er fragte sich, wieso er nicht Englisch lernen durfte. Russisch wollte er überhaupt nicht lernen. An seinen Noten konnte es nicht gelegen haben. Er war seinen Mitschülern immer weit voraus und hatte nur in Sport eine Drei. Es wollte ihm nicht in seinen Kopf. Seine Umwelt nahm er nicht mehr wahr und konnte seine Tränen kaum unterdrücken.

Er war nicht der Einzige, der nicht das lernen durfte, was er wollte. Vier weitere Schüler wollten die angelsächsische Sprache lernen und wurden enttäuscht. Ihre Betrübung war aber nicht so groß, wie die Peters. Zweien war es sogar egal. Sie hatten sich nur für Englisch gemeldet, weil es ihre Eltern wollten. Aus dieser Klasse durften nur drei Schüler Englisch lernen. Sie waren die Kinder von braven Genossen. Man erhoffte, dass sie ihre Englischkenntnisse zum Wohle des Staates einsetzen würden, als Dolmetscher oder vielleicht als Spitzel der Staatssicherheit. Der Wunsch all jener die Russisch lernen wollten wurde erfüllt.

Peter wusste nicht, dass seine Familie im sozialistischen System als Risikofaktor angesehen wurde. Ein Mitglied dieser Familie durfte auf keinen Fall eine westliche Sprache lernen. Peters Vater verschwand vor vier Jahren, bei seinem ersten Versuch Menschen in den Westen zu schleusen. Er war LKW-Fahrer gewesen und hatte extra einen doppelten Boden in seinen Transporter gebaut. Die nächste Fuhre sollte seine Familie sein. Was mit ihm geschah blieb ungewiss. Viele Menschen hörten am Grenzstreifen, dem Niemandsland, auf zu existieren. Vor anderthalb Jahren wurde Sarah Winter für zwei Wochen verhaftet und musste zahlreiche Verhöre über sich ergehen lassen. Vier Männer führten die junge zierliche Frau damals gewaltsam von der Kinderkrippe ab, in der sie als Erzieherin arbeitete. Ihr Sohn wurde derweil zu seinen Großeltern geschickt. Sarah Winter schrieb oft Briefe an ihre Westverwandtschaft. Wenn man in der DDR telefonierte oder Briefe schrieb, musste man vorsichtig sein. Man kommunizierte nicht nur mit seinem Partner, sondern ein unbekanntes Ohr oder Auge folgte meist auch der Konversation. Schnell sah die Staatssicherheit in den unbedeutsamsten Sätzen höchsten Staatsverrat. Nach dem gescheiterten Schleusversuch ihres Gatten war es selbstverständlich, dass die Stasi ihr besondere Aufmerksamkeit schenkte. Man vermutete damals in einem ihrer Briefe an eine 83jährige Tante Andeutungen für einen Fluchtversuch. Peters Mutter dachte seit dem Verschwinden ihres Mannes keineswegs mehr an Flucht. Viel zu groß war die Sorge, ihrem Jungen könnte dabei etwas geschehen.




2


Die Wochen vergingen, Peters Trübsinn blieb. Jeder Versuch seiner Mutter ihn aufzuheitern scheiterte kläglich. Selbst seine Lieblingsspeise, Milchreis mit Apfelmus, aß er lustlos und ohne Appetit. Sarah Winter war von Anfang an klar gewesen, dass die Teilnahme Peters am Englischunterricht mehr als unwahrscheinlich war. Sie hatte ihm aber nicht die Hoffnung nehmen wollen. Er war schon lange nicht mehr so glücklich gewesen, wie in den Wochen vor der Bekanntgabe. Nun machte sie sich Vorwürfe, ihm nicht Englisch ausgeredet zu haben.

Am letzten Schultag vor den Sommerferien nahm Peter mit der gleichen melancholischen Stimmung am Unterricht teil, die er schon in den letzten Wochen an den Tag legte. Teilnahmslos starrte er vor sich hin. In der Pause versuchte Boris ihn aufzuheitern. Boris wusste, dass Peter enttäuscht war. Allerdings verstand er es überhaupt nicht. Für Boris war Russisch, nach Deutsch, die zweitschönste Sprache der Welt. Boris schwärmte für Moskau und machte Peter darauf aufmerksam, dass man nicht so einfach nach England reisen konnte. Peter war dies durchaus bewussst. »Englisch interessiert mich einfach viel mehr. Ich weiß auch nicht wieso« und verwirrte Boris damit nur.

»Manchmal müssen die Menschen zu ihrem Glück gezwungen werden, sagt mein Vater. Das ist das Gleiche mit dem Sozialismus«, äußerte Boris mit besserwisserischem Blick. »Gut, die kyrillischen Buchstaben sind vielleicht etwas schwer. Aber wenn du Probleme mit dem Lernen hast, dann können meine Eltern und ich dir helfen.«

»Du verstehst mich nicht«, stöhnte Peter und blickte verzweifelt in den Himmel.

»Nö«, stimmte Boris zu und schüttelte den Kopf.


Nach der Pause versammelte sich die ganze Schule auf dem großen Platz vor dem Schulgebäude. Es wurde eine der häufigen Zeremonien abgehalten. Jede Klasse nahm ihren vorbestimmten Platz ein. Die Schüler wussten genau, an welche Stelle sie sich stellen mussten. Oft genug wurden Feierlichkeiten abgehalten, die irgendjemanden oder irgendetwas ehren sollten. Die FDJ-Pioniere trugen ihre blau-roten Uniförmchen und positionierten sich sichtbar für jedermann. Nachdem der Platz mit hunderten von Schülern voll gepackt war, wurde die Hymne der DDR gesungen. Anschließend hielt der Direktor eine langweilige, nicht enden wollende Rede über die Bedeutsamkeit des Schülers im sozialistischen System. Orden wurden an vorbildliche junge Genossen verteilt. Diese Blechorden waren anscheinend das am häufigsten hergestellte Produkt. Man wurde geradezu damit überhäuft. Auch Peter bekam einen, für gute Leistung im Lesen. Was für eine Heldentat! Weitere revolutionäre Lieder mussten im Anschluss von der ganzen Schule gesungen werden. Peter langweilten diese Veranstaltungen immer und in der prallen Sonne fiel ihm das lange Stehen schwer.

Endlich war die Zeremonie zu Ende. Die Schüler gingen in ihre Räume und die Zeugnisse wurden verteilt. Peters Zeugnis war eines der besten in der Klasse, das von Boris eines der schlechtesten. Beiden merkte man die Qualität ihrer Noten nicht an. Peters Laune war anhaltend traurig und Boris machte sich nichts aus seinen schlechten Noten. Boris freute sich, wie die meisten, auf die großen Ferien. Acht Wochen keine Schule waren für Boris das Paradies auf Erden.

Über die große unbebaute Wiese, die zwischen dem Wohnviertel und der sowjetischen Kaserne lag, schlurfte Peter tief versunken in seine Gedanken den weitest möglichen Weg nach Hause. Den blechernen Orden schmiss er wütend weg. Über ganz Leipzig schien die Sonne, nur über Peter Winter schwebte eine dunkle Regenwolke.


Boris, Peter und ein paar andere Kinder spielten in den Maisfeldern neben der sowjetischen Kaserne. Peter hatte eigentlich keine Lust aufs Spielen, doch seine Mutter schickte ihn raus. In letzter Zeit war er ein richtiger Stubenhocker geworden und saß schmollend in seinem Zimmer. Er konnte und wollte die Willkür der Schule nicht verstehen. Sarah Winter hoffte, Boris und die anderen könnten Peter ablenken und endlich etwas aufheitern.

Der Mais war mannshoch und überragte die Sprösslinge bei weitem. Sie spielten in dem riesigen Labyrinth fangen, rannten querfeldein und knickten aus Spaß ein paar Pfade in das Maisfeld. Boris war der schnellste und sprintete als würde er bei der Olympiade gewinnen wollen. Nur Peter ließ sich leicht fangen. Er gab sich keinerlei Mühe schnell wegzurennen. Trotz der Gesellschaft von dem immer gut gelaunten Boris verschwand der Trübsinn von Peter nicht. Es verging keine Sekunde, in der er nicht an seinen Wunsch Englisch zu lernen dachte.

Die kleine Truppe kam langsam an den Rand der sowjetischen Kaserne. Mit einer dicken Betonmauer und einer Unmenge Stacheldraht wurde der Stützpunkt vor der leipziger Bevölkerung abgeschirmt. Ein Staat im Staat. Boris entdecke ein paar herumliegende Patronenhülsen. Es kam des Öfteren Mal vor, dass bei militärischen Übungen ein paar Blindgänger das Gelände verließen und auf dem Maisfeld landeten. Am Rand des Militärbereiches zu spielen war deshalb nicht ganz ungefährlich. Sarah Winter hatte Peter eigentlich immer davor gewarnt dort zu spielen. Doch die Warnung einer Mutter wird oft gerne überhört. In der Bevölkerung erzählte man sich, dass ein Jahr zuvor ein Junge eine verloren gegangene Granate gefunden hatte. Als er damit spielte, soll sie ihn zerfetzt haben. In der Zeitung wurde über diesen Vorfall niemals berichtet. Peter rief sich diese Schreckensgeschichte bei dem Anblick der Patronen wieder in das Gedächtnis. Auch den Gesichtern der anderen sah man eine gewisse Ehrfurcht gegenüber der Munition an. Boris hingegen war fasziniert und sammelte die Hülsen sorglos auf.

Es waren laute Stimmen zu vernehmen, die über die Kasernenmauer drangen. Ein paar junge Soldaten unterhielten sich auf Russisch. Boris konnte übersetzen: »Sie reden über Schießübungen, die sie gerade gemacht haben. Einer ist voll stolz, weil er ins Schwarze traf und ärgert einen anderen damit. Den bezeichnet er als Blindschleiche ... Jetzt beschwert sich einer über das ständige Rumkriechen auf dem Boden. Er würde lieber über seine Freundin ... oh ... «

»Was ist?«, wollte Peter wissen.

»... Äh ...«, errötet brach Boris die Übersetzung ab und führte, leicht verstört, das Trüppchen weiter weg. Die anderen Kinder mussten über Boris, dessen Kopf knallrot geworden war, lachen.

Auf den Weg nach Grünau kam ihnen eine Panzerkolonne entgegen. Die Straße zur Kaserne war durch die vielen Kettenfahrzeuge, die sie über sich ergehen lassen musste, schon schwer beschädigt. Tiefe Löcher und Risse zeugten von starker Inanspruchnahme. Die Kolonne bestand aus acht Panzern. Auf dem ersten Panzer flackerte eine kleine Fahne der UdSSR im Wind. Aus jedem Panzer sah mit stolzem Blick ein Soldat heraus, wie eine festgeklebte bewegungslose Figur. Dieser Trupp wirkte wie eine kleine Parade. Boris blieb fasziniert stehen, als das schwere Kriegsfahrzeug mit ohrenbetäubendem Lärm an ihnen vorbeiratterte. Als der erste Panzer in das Tor einfuhr, brüllte der Soldat oben auf dem Panzer laut und unverständlich in militärischer Art und Weise ein russisches Kommando. Selbst Boris konnte es nicht verstehen. Hinter dem letzten Kettenfahrzeug knallte das große Eisentor zu. Die Kaserne war Peter und seinen Freunden unheimlich, bis auf Boris natürlich. Dieser wunderte sich über seine Freunde »Was schaut ihr denn so feige? Die Kaserne ist doch nur da, um uns zu beschützen.«




3


Über die Sommerferien fuhr Peter zu seinen Großeltern, Esther und Frank Hartmann, in die kleine thüringische Stadt Apolda. Vor dem Zweiten Weltkrieg war diese Stadt in ganz Deutschland bekannt durch ihr Glockengießer-Handwerk und die dort gezüchtete Hunderasse Dobermann. Der Ruhm der Vergangenheit jedoch war längst verblasst. Selbst in der DDR kannten nur noch wenige diese Ortschaft. Apoldas neuer wirtschaftlicher Schwerpunkt war nun die Textilindustrie. In den Straßen am Rande des Stadtzentrums hörte man überall das Rattern der Nähmaschinen, wenn es nicht gerade durch das Knattern eines Trabanten überlagert wurde.

Die Bauwerke in Apolda trugen eher schwarzgraue Kolorierung, anders als die helleren nebelfarbenen Plattenbauten Leipzigs. Hier heizte man noch mit Kohle, die oft bergeweise auf den Gehwegen lag und die Passanten zu Ausweichmanövern auf die Straßen zwang. Die Schornsteine qualmten genussvoll ihren Tabak aus den Tiefen der Erde. Bei genauerer Betrachtung eines Hauses fiel auf, dass es mit einem reichen Ornament geschmückt war. Im Bereich des Erdgeschosses war es leicht braungrau durch den Staub der Kohlehaufen gefärbt, im oberen Bereich zeigten sich die schwarzen Rußablagerungen der Schornsteine und Automobile, quer über das ganze Haus verteilt blieben runde Einschusslöcher als vergessene Mahnmale des letzten Weltkrieges erhalten und aufgelockert wurde diese Fassadenkomposition durch Farbflecken abgebröckelten Putzes. Für einen Fremden mag dies die Inkarnation von Tristesse sein, für Peter war dies aber eine Stadt des Spaßes, des Abenteuers und der Erholung von der großstädtischen Strenge.

Das Haus von Peters Großeltern wurde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut. Obwohl als Einfamilienhaus konzipiert, war es voll gestopft wie ein Bienenkorb. Ehepaar Hartmann wohnte im ersten Stock des Hauses. Auf dem Dachboden befand sich das Zimmer von Frau Kaiser, einer zurückgezogen lebenden Witwe von über siebzig Jahren. Das Erdgeschoss war der Bereich von Familie Pankwart mit ihren zwei Kindern. Küche und Bad, welche sich auf der Etage von Peters Großeltern befanden, wurden von allen Bewohnern gemeinsam genutzt. Im Keller gab es noch eine zusätzliche Dusche. Dieses voll gepackte, noch niemals renovierte Häuschen kam Peter so vor, als wäre es ein Schloss. Es war nicht eine der anonymen Wohnburgen, wie sie nun errichtet wurden.

Herr Hartmann holte seinen Enkel immer vom Bahnhof ab. Gemeinsam liefen sie dann quer durch Apolda. Eine Taxifahrt war teuer und laut Peters Opa hat etwas Bewegung noch keinem geschadet. Zu Hause wartete ein leckeres Hähnchen von seiner Oma auf ihn, prall gefüllt mit Apfelstücken und mit ihrem Geheimtrick wurde die Haut im Römertopf immer so schön knusprig. Der Trick bestand eigentlich nur darin, dass sie die Haut mit Honig bestrich.

Peters Großeltern stammten beide aus Breslau und schwärmten ihm häufig von ihrer alten Heimat Schlesien vor. Frank Hartmann wurde schon als junger Mann politisch und trat der SPD bei. Dies missfiel seinem konservativen Vater sehr, der eine Manufaktur zur Herstellung von Ikonen betrieb. Zunehmend divergierten ihre politischen Ansichten auseinander und Frank Hartmann wurde von seiner streng katholischen Familie verbannt. Ein Freund und Genosse, bot ihm eine Stelle in seinem Buchladen an. Dann begann der Krieg und obwohl alle Parteien bis auf die NSDAP verboten worden waren, existierten manche dennoch im Untergrund weiter. Der Buchladen wurde zur heimlichen Zentrale einer sozialistischen Widerstandsgruppe. Auf den ersten Blick konnte man nur arisches Schriftgut erwerben. Doch in dem Lager wimmelte es nur von sozialistischen Pamphleten und verbotener Literatur. Dank einer Rückenverletzung aus seiner Kinderzeit konnte Hartmann die Nazis überzeugen, dass er als Buchverkäufer für Deutschland viel nützlicher war. Als Widerstandskämpfer im Untergrund war er das auch. Sein Freund, der Besitzer des Buchladens, versteckte bei sich zu Hause eine junge Jüdin. Esther Silberstein hatte ihre ganze Familie an Auschwitz verloren und verbarg sich damals im Keller des Buchhändlers. Die Tochter aus einer reichen Handelsfamilie half als Gegenleistung im Haushalt. So lernten sich Peters Großeltern kennen.

Als die Nationalsozialisten das Wirken der Widerstandstruppe bemerkten, stürmten sie die Bücherei und legten alles in Schutt und Asche. Frank Hartmanns Freund wurde vor den Resten seines Buchladens mitten auf der Straße erschossen. Peters Großeltern flohen vor dem Wüten der Nazis nach Apolda und fanden auf einem Bauernhof Unterschlupf.

Peter konnte sich nicht vorstellen, dass seine Großmutter, die immer ein fröhliches Gemüt an den Tag legte, so viel Leid erlebt hatte.

»Was ich immer noch nicht verstehe ist, wie die Nazis sich Nationalsozialisten nennen konnten. Sozialisten waren sie nun wirklich nicht«, gab Peters Opa zu bedenken und schob sich ein großes Stück Kartoffelkloß in den Mund.