Buch
1912: Seit Jahren schon steht die 18-jährige Tess Davies in den Diensten der reichen Familie Lisle – und sie hat jede Minute davon gehasst. Als die Lisles planen, nach Amerika auszuwandern, sieht Tess ihre Chance, dort endlich ihren Dienstherren zu entkommen. Sobald das Schiff – die RMS Titanic – den sicheren Hafen erreicht, wird sie fliehen und sich ein eigenes Leben aufbauen! Aber auf der Titanic trifft sie Alec Marlow, einen gut aussehenden Passagier der ersten Klasse, der sie sofort in seinen Bann zieht und sie von ihren Sorgen und Nöten ablenkt. Sie kann nicht ahnen, welch düstere Geheimnisse Alec mit sich herumträgt. Er muss Europa schnellstmöglich verlassen – und Gerüchte, die auf dem Schiff herumgehen, besagen, dass er aufgrund des tragischen Endes seiner Affäre mit einer französischen Schauspielerin auf der Flucht ist, die unter grausamen und mysteriösen Umständen starb.
Tess erfährt bald, wie dunkel Alecs Vergangenheit wirklich ist: Werwölfe verfolgen Alec – und nun auch Tess. Ihre wachsende Liebe zu Alec bedeutet für Tess ein ungeheuerliches Risiko. Und dann gerät die Titanic in gefährliches Gewässer.
Autorin
Bevor Claudia Gray sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete sie als Anwältin, Journalistin und DJ. Seit ihrer Kindheit interessiert sie sich für Filmklassiker, die Stile vergangener Epochen und Architektur. Ihr dadurch erworbenes Wissen ließ sie sanft in die Welt ihrer Bestsellersaga Evernight einfließen.
Außerdem lieferbar:
Die Evernight-Saga: Evernight – Tochter der Dämmerung – Hüterin des Zwielichts – Gefährtin der Morgenröte
Balthazar
Claudia Gray
In weite Ferne
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch
von Marianne Schmidt
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Fateful«
bei HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, USA, New York.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2014
bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House Gmbh, München.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Amy Vincent
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Redaktion: Werner Bauer
Lektorat: Urban Hofstetter
Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-12398-7
www.blanvalet.de
9. April 1912
Es ist noch nicht zu spät, wieder umzukehren, sage ich mir.
Als mir einige Matrosen, die in einer Gruppe beisammenstehen, begehrliche Blicke zuwerfen, verschränke ich die Arme vor der Brust und wünsche mir, mein Mantel sähe nicht so schäbig aus. Auch wenn die Frühlingstage inzwischen warm sind, ist es in den Nächten doch noch kalt, und der beißende Wind vom Meer schneidet durch den dünnen Stoff meiner Kleidung.
In den Straßen von Southampton wird es langsam dunkel. Nicht dass man die Sonne hätte sehen können oder etwas anderes Aufheiterndes zwischen all diesen Gebäuden, die rings um einen herum aufragen. Meine Füße, die nur an die unbefestigten Wege meines Heimatdorfes und die polierten Böden von Moorcliffe gewöhnt sind, stolpern auf dem Kopfsteinpflaster. Ich halte mich gerne für ein Mädchen, das so leicht nichts erschüttern kann, aber alles und jeder um mich herum ist mir unvertraut, und das bringt mich aus dem Gleichgewicht. Die Stadt wirkt gefährlich, und die Dämmerung hier erscheint mir bedrohlicher als Mitternacht zu Hause.
Ich könnte zur Hotelsuite zurückkehren, wo mich die Frauen der Familie, bei der ich im Dienst stehe, erwarten. Ich könnte behaupten, dass das Geschäft schon geschlossen gewesen sei und dass ich keine Schnürsenkel habe kaufen können. Miss Irene wäre das vollkommen egal; sie war ohnehin dagegen, dass ich ganz allein losgeschickt wurde.
Aber Lady Regina würde gewiss vor Wut schnauben, auch wegen etwas so Belanglosem, keine Schnürbänder für die bevorstehende Reise erstanden zu haben. Und Lady Reginas Zorn würde auf Mrs. Horne überspringen, die ihrerseits mich dann bestrafen würde. Ich fürchte mich zwar davor, hier allein draußen in der Stadt zu sein, aber noch mehr Angst habe ich davor, entlassen zu werden, ehe ich nach Amerika gekommen bin.
Also nehme ich meine Schultern zurück und haste weiter durch die Straßen. Ich trage die Uniform eines Dienstmädchens: ein langes schwarzes Kleid, eine weiße Schürze und eine bauschige Leinenhaube, die mich als Angehörige der unteren Klasse und damit als bedeutungslos ausweisen. Aber mein Erscheinungsbild verrät auch, dass ich in einem Haushalt angestellt bin, der wohlhabend genug ist, um sich Bedienstete zu leisten, die man zu Botengängen losschicken kann. Vielleicht sorgt dieses Wissen für meine Sicherheit. Die Männer um mich herum können sich sicher sein, dass ich für feine Herrschaften arbeite und dass ebendiese Leute aufgebracht wären und eine Bestrafung verlangen würden, sollte mir etwas zustoßen.
Glücklicherweise kennen diese Männer Lady Regina nicht. Ihre einzige Reaktion auf meinen Tod würde die Verärgerung sein, ein neues Mädchen finden zu müssen, dem meine Uniform passt, sodass die Familie kein Geld für eine neue würde ausgeben müssen.
Über unsere Köpfe fegt etwas hinweg. Zunächst halte ich es für eine Möwe und hebe eine Hand, um meinen Kopf zu schützen. Vor diesem Nachmittag habe ich noch nie eine Möwe zu sehen bekommen, und doch bin ich bereits jetzt so weit, diese lauten, gierigen Viecher zu verabscheuen. Aber es ist gar keine Möwe. Zwar kann ich bei diesem schnellen Flug kaum etwas erkennen, aber ich sehe die spitzen Flügel und das rasche Flattern. Es ist eine Fledermaus, denke ich. Was noch schlimmer ist, denn das erinnert mich an die Schauerromane, die ich klammheimlich in der Bibliothek der Lisles gelesen habe: Mary Shelleys Frankenstein, Bram Stokers Dracula, Ann Radcliffes Der Italiener und all diese anderen gruseligen Geschichten. Es hat so viel Spaß gemacht, sie in einem warmen, hell erleuchteten Zimmer zu verschlingen. Nun jedoch, da ich ganz allein draußen bin, während die Dunkelheit hereinbricht, erscheint mir das alles viel realer.
Ich hätte nicht erwartet, eine Fledermaus durch Southampton fliegen zu sehen, doch was weiß ich schon von der Welt jenseits von Moorcliffe und meinem Heimatdorf? Nur ein einziges Mal in meinem ganzen Leben bin ich jemals woanders gewesen, und das auch nur einen Tag lang, weil Daisy mich so dringend gebraucht hatte.
Und nun plane ich eine so viel größere Reise …
Du darfst jetzt nicht an solche Dinge denken. Du kannst dir darüber Sorgen machen, wenn du erst mal auf dem Schiff bist. Wenn es zu spät ist, noch umzukehren.
Entschlossen setze ich meinen Weg zum Geschäft fort. Hier sind etwas weniger Seeleute unterwegs, auch wenn mir die Straßen immer noch dicht bevölkert vorkommen. Ich weiß, dass ich mich daran gewöhnen muss, weil wir nach New York City reisen werden, und soweit ich es verstanden habe, wird mir im Vergleich dazu Southampton wie eine kleine Stadt vorkommen.
Nichtsdestoweniger ist es eine Erleichterung für mich, von der Hauptstraße in einen Seitenweg abbiegen zu können, den ich für eine Abkürzung zum Laden halte. Diese Gasse ist so alt und von den Jahren so verwittert, dass die Steine in der Mitte eingesunken sind wie bei einem V. Mit meinen genagelten Schuhen komme ich hier nur schwerfällig voran. Oh, was würde ich für ein Paar von Miss Irenes taubengrauen Stiefeln geben, die aus so weichem Leder gefertigt sind, dass man niemals Blasen darin bekommt, und die federleicht an den Füßen sitzen und nicht so schwer sind …
Wieder schießt die Fledermaus über meinen Kopf dahin, so nahe dieses Mal, dass ich glaube, sie habe es auf meine Haube abgesehen.
Mir läuft ein Schauer über den Rücken, aber ich lasse nicht zu, dass meine Fantasie mit mir durchgeht. Stattdessen versuche ich, die Sache praktisch anzugehen, und halte meine Haube mit der Hand auf meinem Kopf fest. Wenn mir irgendeine dumme Fledermaus Teile meiner Uniform stiehlt, dann werden die Lisles mich mit meinem Lohn für den Ersatz bezahlen lassen.
Wie spät ist es? Ich kann es nicht sagen. Natürlich besitze ich nicht etwas so Extravagantes wie eine Armbanduhr, und von hier aus kann ich auch keinen Kirchturm entdecken. Sicherlich gibt es kein Geschäft, das um diese Zeit noch geöffnet hat, aber Lady Regina ist fest davon überzeugt, dass die Dinge in der Stadt anders gehandhabt werden. Ich bekomme einen Schreck, als ich um die Ecke biege und eine Gruppe von Männern dahinschlendern sehe. Allerdings sind es keine ungehobelten Kerle wie die Matrosen, sondern Gentlemen mit feinen Hüten und Mänteln. Sie werden mich nicht belästigen.
Ich beschleunige meinen Schritt, bis ich nur noch einige Meter hinter ihnen bin. Sie scheinen ebenfalls auf dem Weg zu diesem Geschäft zu sein, wenn ich die Richtungsangaben des unfreundlichen Hotelportiers richtig verstanden habe. Wenigstens habe ich auf diese Weise ein wenig Schutz auf dem letzten Teil meines Botenganges. Das Atmen fällt mir jetzt etwas leichter, und ich lasse meine Gedanken zu der morgigen Reise schweifen. Ich werde zum ersten Mal den Ozean erblicken, zum allerersten Mal England verlassen …
Und wenn es klappt, dann werde ich mein Heimatland niemals wiedersehen.
»Du lauschst wohl gerne.«
Überrascht blicke ich hoch und sehe, dass sich einer der Gentlemen umgedreht hat und mich anschaut. Er und die anderen in der Gruppe sind stehen geblieben. Rasch mache ich einen Knicks. »Nein, Sir. Ich habe nicht gelauscht, Sir. Ich bitte um Verzeihung, Sir.«
Das ist die Wahrheit. Zu den ersten Dingen, die man als Dienstbote lernt, gehört es, Gespräche nicht zu beachten, die einen nichts angehen. Ansonsten würde man vor Trostlosigkeit vermutlich sterben.
Im Zwielicht der Schatten kann ich die Gesichtszüge des Herrn kaum erkennen. Ich sehe nur den dunklen Strich seines Van-Dyck-Bartes auf seiner viel zu weißen Haut und das unheimliche Glühen in seinen Augen. An einer Kette baumelt eine teure Taschenuhr, die vermutlich mehr als zehn meiner Jahreslöhne gekostet hat, nur: Für etwas so Wertvolles ist sie seltsam zerkratzt. Der Mann legt den Kopf schräg, während er mich mustert. »Du bittest also, ja?«
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, wiederhole ich und eile, den Blick gesenkt, an den Gentlemen vorbei, ohne auf eine Antwort zu warten. Normalerweise würde ich mich feinen Herren gegenüber nie so unhöflich benehmen, aber diese hier sind Fremde, und vermutlich sind sie darauf aus, sich einen Spaß daraus zu machen, mich vor ihnen katzbuckeln zu sehen. Nein danke, dazu habe ich es viel zu eilig.
Ich werfe einen besorgten Blick hinter mich und erwarte, dass sie entweder lachen oder sich bereits ebenfalls wieder in Bewegung gesetzt haben. Stattdessen sind sie nicht mehr da. Als ob der Erdboden sie verschluckt hat.
Beunruhigt versuche ich, mich daran zu erinnern, was sie geredet haben und was sie dazu bewogen haben könnte, so ungehalten auf den Verdacht zu reagieren, sie seien vielleicht belauscht worden. Obwohl ich nicht auf sie geachtet habe, fallen mir nun wieder einige Worte und Satzfetzen ein, die ich unfreiwillig aufgeschnappt habe: Nützlicher Einfluss, haben sie gesagt. Muss ganz hier in der Nähe sein. Ein Name: Marlowe. Und etwas wie: Lasst ihn wissen, dass man ihn beobachtet.
Das klingt tatsächlich verdächtig, aber sie wissen natürlich, dass kein Dienstmädchen der Welt sie aufhalten kann, was auch immer sie vorhaben.
Ich versuche, mich wieder auf meinen Auftrag zu konzentrieren. Wo sollte ich abbiegen? Ist dies der Name der Straße? Ich kann keine Schilder entdecken. Es wird nicht mehr länger als zehn Minuten dauern, bis die Nacht da ist, und es dürfte schwer für mich werden, im Dunkeln den Weg zurückzufinden.
Und dann höre ich Schritte, schwer und entschlossen. Sie kommen näher.
Ich sehe mich um, kann aber niemanden entdecken. Die Schritte kommen aus einer anderen Seitengasse, in die ich keinen Einblick habe. Das bedeutet: Wer auch immer dort entlanggeht, kann mich ebenfalls nicht sehen und läuft nur durch Zufall in die gleiche Richtung. Aber es beunruhigt mich doch, auch wenn ich den Grund dafür nicht weiß. Ich drehe mich wieder um, um meinen Weg fortzusetzen, und keuche entsetzt, als ich feststelle, dass ich nicht mehr allein bin.
Ein Mann steht ganz in meiner Nähe in der Gasse. Es ist keiner aus der Gruppe, der ich vor einigen Augenblicken begegnet bin. Dieser Mann ist jung, vielleicht nur ein paar Jahre älter als ich. Er hat die dicken, kastanienbraunen Locken eines Dichters und die breiten Schultern eines Bauerngehilfen. Seine Augen sind die eines gejagten Verbrechers.
Waren es seine Schritte, die ich gehört habe? Unmöglich, sie sind aus einer ganz anderen Richtung gekommen. Auch er starrt in die gar nicht so ferne Dunkelheit. Seine Wachsamkeit ist noch größer als meine.
»Komm mit mir!«, befiehlt er.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber das kann ich nicht.« Hält er mich für eine Straßendirne? Was für ein entsetzlicher Gedanke. Er sieht so wohlhabend aus in seinem schönen Anzug und mit den glänzenden Schuhen; er muss meine Uniform doch zu deuten wissen. »Ich habe einen Auftrag zu erledigen …«
»Vergiss den verdammten Auftrag.« Seine Stimme ist rau, und der Griff seiner breiten Hand ist fest, als er mich am Oberarm packt. »Wenn du nicht mit mir mitkommst, bist du tot.«
Bedroht er mich? Es klingt so, und es fühlt sich auch so an, als er mich hinter sich herzerrt, während er mit eiligem Schritt zurück in Richtung Hauptstraße hastet. Und doch glaube ich es nicht. Was auch immer hier geschieht, ist etwas, das ich nicht begreife.
»Sir«, protestiere ich. »Lassen Sie mich los. Ich finde selbst den Weg zur Hauptstraße.«
»Du wirst tot sein, noch ehe du zehn Schritte ohne mich gemacht hast.« Seine Hand ist warm auf meinem Arm. Mehr als das: Sie ist heiß. Als ob ein Fieber in ihm brennt. Ich kann hören, dass unsere Verfolger näher kommen. »Bleib an meiner Seite und geh schneller. Und sieh dich um Gottes willen nicht um.«
Ich frage mich, warum er nicht vorschlägt, dass wir rennen sollen, doch dann merke ich, dass er sich nur mühsam auf den Beinen halten kann. Beinahe torkelt er, aber nicht so wie Layton Lisle, wenn er zwei Flaschen Wein getrunken hat. Es wirkt, als ob der Mann Schmerzen hat. Und doch graben sich seine Finger mit beinahe übernatürlicher Kraft in mein Fleisch.
Die Schritte hinter uns klingen mit einem Mal anders. Es hört sich nicht mehr so an, als laufe ein Mensch hinter uns her, sondern es klingt leiser. Aber noch immer klackert es auf dem Kopfsteinpflaster.
Ich schaffe es nicht, mich aus dem Griff meines Fängers zu entwinden, und so widersetze ich mich ihm, indem ich den Kopf nach hinten drehe.
Und da sehe ich den Wolf. Ein Schrei löst sich aus meiner Kehle, genau in dem Moment, als das dunkle Tier einen Satz macht. Der mächtige Körper scheint das letzte Licht des Tages auszulöschen. Ich werde gerade noch rechtzeitig von dem jungen Mann zur Seite gerissen. Er wirft mich gegen die Wand des nächstbesten Gebäudes und presst seinen Körper an meinen, seinen Rücken gegen meinen Bauch.
»Was passiert hier?«, will ich von dem Fremden wissen. Ein Wolfsangriff mitten in der Stadt? Und diese riesige, schwarze Kreatur, die faucht, während sie vor uns auf und ab läuft … Ich hätte nie gedacht, dass Wölfe so groß werden können.
»Lass uns in Ruhe«, sagt der Mann, als ob ihn der Wolf verstünde. »Lass uns sofort in Ruhe!«
Der Wolf legt den Kopf schräg, und diese Haltung sieht nicht wie bei einem wachsamen Hund aus, sondern ist beinahe menschlich. Die Zähne sind noch immer gebleckt, und heißer Sabber tropft von seinen Lefzen. Ein tiefes Knurren grollt in seiner Brust, und die goldenen Augen sind unverwandt auf mich gerichtet, nicht auf den Gentleman, der mich beschützt.
»Verschwinde!« Der junge Mann klingt jetzt verzweifelt, was nur zu verständlich ist. Ich kann spüren, wie sich seine Brust heftig hebt und senkt, wenn er stoßweise um Atem ringt, und seine Muskeln unter meinen Handflächen, die ich auf seine Schultern gepresst habe, sind hart und angespannt.
Aus irgendeinem Grund hat er Erfolg. Der Wolf springt einfach davon.
»Was in aller Welt war das?«, frage ich, als mein Beschützer mich freigibt. »Es sah wie ein Wolf aus.«
»Das war auch einer.« Er klingt erschöpft.
»Aber warum sollte ein Wolf …« … hier in Southampton sein und sich in eine Gasse in der Innenstadt verirren, anstatt Menschen und Tiere zu jagen, die ihm unterwegs in freier Wildbahn begegnen? Und warum sollte er von seiner Beute ablassen, wenn ein scharfes Wort an ihn gerichtet wird? Nichts davon ergibt für mich irgendeinen Sinn. Aber ich weiß, was ich gesehen habe und was dieser Mann für mich getan hat. »Danke, Sir. Für Ihre freundliche Hilfe.«
Als ich zu ihm aufblicke, bemerke ich, dass er nicht erfreut aussieht. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ist grausamer als der des Wolfes.
»Lass mich allein«, sagt er. Wieder glimmt ein unheimliches Leuchten in seinen Augen auf, auch wenn er jetzt weniger gehetzt wirkt. Eher wie ein Verbrecher. »Wenn du jetzt nicht verschwindest, bist du tot.«
Ich weiß nicht, ob er mich warnt oder bedroht. Doch egal, was es ist, er muss es mir nicht zweimal sagen. Ich stürme aus der Gasse in Richtung Geschäft, ohne mich auch nur ein einziges Mal noch umzudrehen, bis ich vor der Tür stehe. Natürlich ist der Laden längst geschlossen.
Auf dem ganzen Weg zurück zum Hotel und während Mrs. Hornes Vortrag darüber, wie faul und unfähig als Zofe ich sei, bin ich nur halb anwesend. In Gedanken bin ich noch immer in der Gasse und gehe die Ereignisse immer und immer wieder durch. Ich versuche, meine Furcht zu überwinden und all das zu begreifen, was geschehen ist.
Aber ich verstehe einfach nicht, was mir dort in der Gasse zugestoßen ist oder was der Wolf dort gewollt hat, und auch nicht, was der Mann im Sinn hatte, der mich anscheinend gerettet und doch in derselben Minute bedroht hat. Selbst als ich zu Bett gehe, wälze ich die Gedanken. Es muss einfach ein merkwürdiges Vorkommnis gewesen sein, dieser Wolf, und dann dieser Mann, der mir geholfen und sich so seltsam benommen hat. Nun ja, vielleicht war er ja ein Matrose. Einer, der besser als die anderen gekleidet war, aber genauso gerne dem Alkohol zuspricht. Doch ich kann nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, bis mir mit einem Schlag klar wird, dass dies die letzte Nacht sein wird, die ich in England verbringe.
Das bringt mich im Gegensatz zu allem anderen ins Hier und Jetzt zurück. Ich wickele mich fester in meine dünne Decke und denke an alles, was ich hier zurücklasse. Mein Heimatdorf. Mum. Die Kornfelder, in denen ich immer gespielt habe. Daisy und Matthew. Mein ganzes Leben von früher. Die Reise, die nun vor mir liegt, erscheint mir plötzlich viel gefährlicher und furchteinflößender als alles, was in der Gasse geschehen ist.
Doch ich weiß, dass dies die größte Chance für ein neues Leben sein wird, die ich je bekommen werde. Vermutlich wird es auch die einzige Chance sein.
Nein, es ist noch nicht zu spät für mich, es mir anders zu überlegen. Aber das werde ich nicht tun.
10. April 1912
Es ist ein prächtiger Frühlingsmorgen am Meer – genau so, wie ich es mir mein Leben lang erträumt habe. In Romanen wird die Szene folgendermaßen beschrieben: Die Luft ist frisch und rein, und das blaue Wasser funkelt im Sonnenschein. Auf meinem dunklen Dachboden habe ich mir alles tausendfach ausgemalt. An diesem Morgen ist mein erster Gedanke: Nun endlich werde ich den Ozean sehen.
Aber der Ozean ist nicht blau, jedenfalls nicht so nahe an Land. Hier hat das Wasser die gleiche schlammbraune Farbe wie der Mühlteich zu Hause, nur dass die Wellen einen gespenstisch grünlichen Stich haben. Der Hafen ist alles andere als eine friedliche Oase, in der ein junges Mädchen unbehelligt herumspazieren könnte; stattdessen drängen sich hier noch mehr Menschen als in der vergangenen Nacht – reiche und arme Leute, in feine Spitze oder rauen Wollstoff gekleidet, und der beißende Gestank von frischem Schweiß hängt dicker in der Luft als der Geruch des Salzwassers. Man ruft sich etwas zu, manchmal in fröhlichem Ton, an anderer Stelle ungeduldig oder ärgerlich, doch die fiebrige Energie der Masse macht es schwer, dazwischen zu unterscheiden. Im Wasser drängeln sich so viele Schiffe, wie überhaupt nur in diesen Hafen passen, unter ihnen auch unser Dampfer, der am größten von allen ist. Dieses Schiff ist das einzig wirklich Schöne, was ich entdecken kann. Tiefschwarz und weiß, mit leuchtend roten Schornsteinen, die gen Himmel ragen. Es ist so riesig, so vollkommen auf seine Art, dass man sich nur schwer vorstellen kann, dass es von Menschenhand gefertigt worden ist. Vielmehr sieht es aus wie ein Gebirge. Oder besser gesagt: so, wie in Romanen Gebirge beschrieben werden. Auch in den Bergen bin ich noch nicht gewesen.
»Genug getrödelt, Tess«, sagt Lady Regina, die, wie sie nur zu gerne erwähnt, die Frau meines Arbeitgebers, des Vicomtes Lisle, ist. »Oder willst du, dass man dich vergisst und hier zurücklässt?«
»Nein, Ma’am.« Wieder hat sie mich beim Tagträumen ertappt. Ich bin froh, dass Lady Regina mich nicht ausschimpft, wie sie es normalerweise tut. Wahrscheinlich hat sie eine ihrer Freundinnen aus der feinen Gesellschaft in der Menge erspäht und will nicht dabei beobachtet werden, wie sie in der Öffentlichkeit eine Bedienstete bloßstellt.
»Mutter, du hast etwas vergessen.« Irene, die größere Tochter der Familie, die genau in meinem Alter ist und ein Gesicht hat, das ebenso natürlich wie schlicht ist, wirft mir ein unsicheres Lächeln zu. »Du solltest sie ›Davies‹ rufen, nun, da sie meine Zofe geworden ist. Das klingt respektvoller.«
»Ich werde Tess Respekt zollen, wenn sie welchen verdient.« Lady Regina blickt an ihrer langen Nase entlang zu mir hinab, während ich mich beeile, zu den anderen aufzuschließen. Im Laufen versuche ich, das Gepäck, das ich zu tragen habe, besser in den Griff zu bekommen. Keine der Hutschachteln ist für sich genommen schwer, aber es ist etwas mühsam, vier davon gleichzeitig zu transportieren. Und die diesjährige Mode verlangt nach großen Hüten.
»Ist das dort Peregrine Lewis?«, fragt Layton, der einzige Sohn und Erbe der Lisle-Familie. Er ist groß und schlank, fast mager, mit kantigen Schultern und Ellbogen. Er mustert die Leute rings um uns herum und lächelt, sodass sich sein dünner Oberlippenbart nach oben biegt. »Ich nehme an, er hat seine Tante hergebracht, schleppt ihr Gepäck und bettelt um Postkarten. Ist ja geradezu ekelhaft, wie er um sie herumscharwenzelt!«
»Seine Eltern werden ihm kein Vermögen vererben, also muss er sich um die Familie kümmern, die ihm sonst noch bleibt.« Irene blickt zu ihrem Bruder empor; ihre Hände in Spitzenhandschuhen hat sie auf der rechten Hüfte übereinandergelegt. Sie ist immer so schüchtern, selbst wenn sie versucht, jemand anders zu verteidigen. »Er hat nicht deine Privilegien.«
»Aber man muss doch wohl trotzdem seinen Stolz wahren«, beharrt Layton und übergeht geflissentlich die Tatsache, dass er selbst seiner Mutter wie ein braves Schoßhündchen hinterhertrottet.
Neben mir murmelt Ned: »Nudel.«
Dieses eine Wort bringt mich dazu, mir auf die Lippen zu beißen, um nicht laut aufzulachen. Diesen Spitznamen hat Ned Layton verpasst, als wir Bediensteten unter uns waren, und er trifft es genau: Layton ist so dünn und farblos und schlaff wie eine gekochte Nudel. In seinen Jahren an der Universität war er beinahe gut aussehend gewesen; ich hatte sogar mal ein bisschen für ihn geschwärmt, ehe ich alt genug wurde, um es besser zu wissen. Aber die Blüte der Jugend welkt bei ihm schneller, als es bei den meisten Leuten der Fall ist.
»Du kannst wirklich froh sein, dass du überhaupt eine Anstellung hast, so respektlos, wie du dich benimmst.« Mrs. Horne ist sogar noch missmutiger als sonst gelaunt und starrt uns beide böse an, während sie das Kind vorwärtsscheucht, für das sie die Verantwortung trägt: die kleine Beatrice, Lady Reginas Augenstern. Obwohl sie erst vier Jahre alt ist, trägt Beatrice einen Strohhut, der mit Bändern geschmückt ist, welche mehr kosten, als ich in einem ganzen Jahr verdiene. »Ihr beide solltet eine andere Miene aufsetzen. Es ist eine Ehre, auf solch eine Reise mitgenommen zu werden, und vermutlich ist es das Aufregendste, was je in eurem Leben geschehen wird. Also versucht, eure Arbeit anständig zu erledigen.«
Das wird auf keinen Fall das Aufregendste in meinem Leben, schwöre ich mir. Besonders die letzte Nacht und was auch immer mit dem Wolf und dem gut aussehenden Mann da war – nun, wenn das nicht aufregend war, dann weiß ich auch nicht. Was aber viel wichtiger ist: Ich habe Pläne für meine Zukunft. Pläne, die viel spannender sind als jedes Leben, das sich die Horne jemals für sich selbst vorgestellt hat.
Aber ich darf nicht lächeln. Ich stelle mir die alten Ölgemälde vor, die an den Wänden von Moorcliffe hängen. Auf ihnen sind die längst verwesten Vorfahren der Familie in der Kleidung anderer Jahrhunderte zu sehen, gefangen in dicken vergoldeten Rahmen. Mein Gesicht muss so ernst aussehen wie die Gesichter auf den Gemälden. Genauso unergründlich. Die Lisle-Familie und Mrs. Horne dürfen keinen Verdacht schöpfen.
Ned und ich tun, was uns Mrs. Horne geheißen hat, und eilen den Familienmitgliedern hinterher. Ebenso wie die Kleidung, die sie tragen, repräsentieren wir ihren Wohlstand und ihre Autorität. Ned ist Laytons Kammerdiener – eine Position, die ich meinem ärgsten Feind nicht wünsche und ganz bestimmt nicht dem lieben, freundlichen Ned. Er hat ein langes, schmales Gesicht, hellbraune Haare und Ohren wie die Henkel eines Milchkruges. Doch trotz seines einfachen Gesichtes ist er charmant. Dank der Abgeschiedenheit von Moorcliffe ist Ned einer der wenigen jungen Männer, die ich kenne, ja, er gehört sogar zu den einzigen, die ich überhaupt bisher kennengelernt habe. Aber wir haben nie ein Auge auf den anderen geworfen. Ganz ehrlich: Nach so vielen Jahren im gemeinsamen Dienst ist er mehr wie ein Bruder für mich.
Mrs. Horne kenne ich schon genauso lange wie Ned; also sollte ich vielleicht sagen, dass sie wie eine Mutter für mich ist, aber sie wirkt wie alles andere als eine Mutter. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, dass eine Frau, die so dröge und freudlos wie Mrs. Horne ist, irgendetwas zur Welt gebracht hat, ganz zu schweigen davon, dass sie das Nötige getan haben muss, um überhaupt ein Kind zu bekommen. Wir nennen sie zwar Mrs., aber das ist der Titel einer Ehrenwerten Frau. Andererseits braucht man keinen Ehemann, um eine Mrs. zu sein, man muss nur richtig alt sein, also ist Mrs. schon zutreffend. Sie ist Lady Reginas Zofe und hat im Grunde die Stellung als Haushälterin von Moorcliffe inne. Keiner der Bediensteten steht über ihr, außer dem Butler, der so senil ist, dass das keine große Rolle spielt.
Meistens jagt mir Mrs. Horne ganz schön Angst ein. Sie hat vollkommene Macht über mein Leben und kann bestimmen, wie viel ich zu essen bekomme, wie viele Stunden ich schlafen kann, ob ich im Haus bleiben darf und meine Stellung behalte oder hinausgeworfen werde und verhungern muss.
Aber nicht mehr lange, denke ich, und nur mit Mühe schaffe ich es, ihr nicht in ihr verschrumpeltes, selbstgefälliges Gesicht zu grinsen. Eine Woche noch, und alles wird ganz anders sein.
Je mehr wir uns dem Schiff nähern, umso leichter kommen wir voran. Wir haben uns durch die neugierigen Schaulustigen gedrängt; nun bewegt sich der gesamte Strom in die gleiche Richtung, um an Bord zu gelangen. Das Schiff ragt über uns auf, höher als der Turm unserer Kirche, höher als alles, was ich bislang zu sehen bekommen habe. Der Dampfer wirkt größer und majestätischer als der schlammfarbene Ozean.
Lady Regina winkt einer ihrer Freundinnen aus der Gesellschaft zu und bemerkt beiläufig: »Horne, du solltest wissen, dass wir euch drei in der dritten Klasse untergebracht haben. Ich denke, einer der Stewards wird euch zeigen, wie ihr am besten von dort aus zu uns kommen könnt.« Ned und ich können nicht widerstehen, uns einen unglücklichen Blick zuzuwerfen. Selbst Mrs. Hornes dünne Lippen verziehen sich in dem kläglichen Versuch, ihre Enttäuschung zu verbergen. Als die Familie Lisle vor zehn Jahren zum letzten Mal eine Schiffsreise unternommen hat, hat die Dienerschaft bei ihnen in der ersten Klasse gewohnt: Federbetten, so weich wie Wolken, haben sie erzählt, und mehr Essen, als man in seinem ganzen bisherigen Leben auf dem eigenen Tisch hat stehen sehen. Wir haben auf das Gleiche gehofft. Manche Leute lassen ihre Bediensteten in der zweiten Klasse reisen; von der dritten hat man noch nie gehört.
»Wir werden da unten mit Horden von verfluchten Ausländern eingezwängt sein«, murmelt Ned. Es klingt schrecklich, aber ich rufe mir ins Gedächtnis, wie unwichtig das für mich ist.
Layton winkt Freunden der Familie zu, die auf uns zukommen und ohne Zweifel ebenfalls Passagiere sind. Sie werden noch etliche Tage auf dem Meer zur Verfügung haben, um miteinander zu plaudern, aber natürlich müssen sie sich auf der Stelle mit viel Brimborium begrüßen. Mein Arm tut weh, und liebend gern würde ich die Hutschachteln auf dem Boden abstellen, während wir warten müssen. Irene würde das sicher nichts ausmachen, aber für Mrs. Horne wäre es ein gefundenes Fressen. Und so verlasse ich mich auf meine Muskeln, die ich beim jahrelangen Schrubben der Fußböden erworben habe.
Schließlich sagt Lady Regina: »Tess, stell die Hutschachteln ab. Mrs. Horne kann ein Auge auf sie haben.«
Mrs. Horne sieht nicht gerade erfreut aus, vermutlich, weil sie sich nun um ein kleines Kind und vier Hutschachteln kümmern muss. Ich gehorche Lady Regina auf der Stelle und wappne mich für jede Aufgabe, die sie stattdessen für mich im Sinn hat. Es lohnt sich gar nicht, sich zu fragen, ob sie vielleicht gesehen hat, wie müde ich bin. Es würde sie nicht interessieren. Der einzige Grund dafür, eine Arbeit beiseitezulegen, ist der, eine andere Aufgabe in Angriff zu nehmen.
Mit einem Fingerschnippen wendet sich Lady Regina an einen der Träger, die sie angeheuert hat, um der Familie mit dem Gepäck zu helfen, und der Mann reicht mir eine mit Schnitzereien verzierte Holzkiste, die weitaus schwerer ist als alle vier Hutschachteln zusammen. Was kann da nur drin sein? Ich packe die dünnen gewundenen Eisengriffe, und sie schneiden so tief in meine Handflächen, dass es brennt. »Ja, Mylady?«, sage ich. Die Worte kommen so gepresst aus meinem Mund, als wäre ich bergauf gerannt. In der letzten Nacht war ich viel zu durcheinander von dem seltsamen Vorfall mit dem Wolf gewesen, als dass ich gut hätte schlafen können, und so bin ich heute viel früher als gewöhnlich erschöpft.
»Dies muss so schnell wie möglich in unsere Suite gebracht werden«, sagt Lady Regina. »Ich fühle mich nicht wohl dabei, wenn diese Kiste zu lange hier im Hafen herumsteht – es sind sehr zwielichtige Gestalten unterwegs. Der Steward an Bord wird dir den Weg zeigen. Wir haben dafür gesorgt, dass wir einen Safe in unserer Kabine haben. Dort verstaust du die Kiste. Lass sie nicht auf dem Tisch stehen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja, Mylady.« Von mir wird erwartet, ihr niemals mit etwas anderem als »Ja« und »Nein« zu antworten.
Lady Regina starrt mich an, als ob ich in irgendeiner Weise gegen diese Regel verstoßen hätte. Sie ist eine gut aussehende Frau mit einer kraftvollen Schönheit, die sie aber leider nicht an ihre Tochter weitergeben hat. Ihr braunes Haar ist üppig, ihre Nase schmal und gebogen wie die eines Adlers. Ihr breitkrempiger Hut ist dicht mit Federn und Seidenblumen besetzt, was in auffälligem Kontrast zu meiner fadenscheinigen schwarzen Zofentracht und der weißen Leinenhaube steht.
»Es gefällt mir gar nicht, dich allein mit dieser Aufgabe zu betrauen«, sagt sie mit scharfer Stimme. »Aber ich nehme an, du kannst nicht so viele Schachteln wie Ned tragen. Und du wirst ja wohl nicht davonlaufen, oder?«
»Nein, Mylady.«
Ihre Lippen kräuseln sich zu einem geringschätzigen Lächeln. »Ich vertraue darauf, dass du von besserer Natur als deine Schwester bist.«
Es fühlt sich an, als schütte sie einen Eimer kaltes Wasser über mich aus oder als würde ich an einem besonders grausamen kalten Wintertag nach draußen in den Schneesturm geschickt; wie etwas, das so plötzlich und entsetzlich ist, dass der Körper kaum weiß, wie er damit zurechtkommen soll. Meine Haut brennt vor Zorn, als sei sie mit einem Mal zu eng für mich, und mein Mund wird trocken. Zu gerne hätte ich Lady Regina ihren albernen Hut vom Kopf gerissen. Und ihr Haar gleich mit dazu.
»Ja, Mylady«, sage ich.
Als ich mich abwende und gehe, überrollt mich eine seltsame Welle von Furcht, als wäre ich wieder in der Gasse von letzter Nacht. Dabei wäre es wohl sehr unwahrscheinlich, hier, inmitten der Menschenmenge auf dem Schiff, einen Wolf herumschleichen zu sehen. Und doch prickelt etwas in meinem Nacken und läuft mir über den Rücken. So stelle ich es mir vor, wenn ein Kaninchen weiß, dass es von einer Katze beobachtet wird.
Das Gewicht der Kiste reißt an meinen Armgelenken, aber wenn ich einige Momente lang aus Lady Reginas Gesellschaft entkommen kann, ist es die Sache wert. Jedenfalls versuche ich, mir das einzureden. In Wahrheit ist es ein wenig beängstigend, in einem solchen Gedränge ganz auf mich gestellt zu sein. Um mich herum schieben und schubsen mehr Menschen, als ich jemals an einem Ort zu sehen bekommen habe. Außerdem weiß ich nicht ganz genau, wohin ich mich wenden soll. Es gibt einen Eingang für die Passagiere der ersten Klasse und einen anderen für die Reisenden der dritten Klasse, und sie führen anscheinend in völlig unterschiedliche Schiffsdecks. Ich blicke zu der Kiste in meiner Hand hinunter. Wer von uns beiden zählt wohl mehr: ich oder der Besitz meiner Herrschaft?
Dann fühle ich plötzlich erneut ein Prickeln im Nacken. Die Augen eines Jägers, die auf die Beute gerichtet sind. Ich schaue mich um, aber was erwarte ich zu sehen? Den Wolf von letzter Nacht? Den jungen Mann, der mich gerettet hat und mir dann gesagt hat, ich solle fliehen, wenn mir mein eigenes Leben lieb sei? Ich sehe keinen der beiden. In dem Gedränge kann ich sie vielleicht einfach nicht ausmachen, aber dann dürften auch sie mich nicht entdecken. Doch irgendjemand beobachtet mich. Ich weiß, dass er da ist. Tief in meinem Innern, an dem Ort, der keinem Gedanken und keiner Logik gehorcht und an dem nur ein ursprünglicher, animalischer Instinkt regiert, weiß ich es: Da ist jemand in dieser Menge von Fremden, der mich beobachtet.
Jemand, der mich jagt.
»Haben Sie sich verlaufen, Miss?«, fragt ein gutmütig aussehender Bursche mit roten Wangen und himmelblauen Augen. Seine Stimme lässt mich zusammenfahren, aber die Störung kommt mir sehr gelegen. Er trägt etwas, das ich für die Uniform eines Schiffsoffiziers halte, also kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum er jemanden wie mich anspricht. Doch seine Stimme und sein Gesicht sind freundlich, und ich fühle mich sofort sicherer, nun, da ich jemanden habe, mit dem ich mich unterhalten kann, ganz gleich, wen.
»Ich soll das in die Kabine meiner Herrschaft bringen«, sage ich. »Ich stehe in Diensten der Familie von Vicomte Lisle.«
»Dann müssen Sie zur ersten Klasse gehen.«
»Aber ich reise in der dritten Klasse.«
Er runzelt die Stirn. »Ist wohl ein bisschen geizig, Ihre Herrschaft, was?«
Eigentlich hätte ich steif und empört reagieren müssen, denn schließlich hat er die Familie angegriffen, für die ich arbeite. Stattdessen muss ich schon wieder ein Kichern unterdrücken. »Ich weiß, dass das wohl eher … ungewöhnlich ist. Aber nun habe ich keine Ahnung, welchen Zugang zum Schiff ich nehmen soll.«
»Den in die erste Klasse, würde ich sagen. Da fällt mir wieder ein, dass ich den Chefsteward darüber habe sprechen hören. Man hat dafür gesorgt, dass Sie mit Schlüsseln ausgestattet werden, um hin- und herzugelangen. Ungewöhnlich, in der Tat, aber was wird nicht alles für die Familie eines Vicomtes getan?« Die Spur von Sarkasmus in seiner Stimme ist nur angedeutet, sodass es mir überlassen bleibt, ob ich den Scherz überhören oder an ihm Vergnügen finden möchte. »Die Stewards werden Ihnen den Weg zeigen, sobald Sie an Bord sind. Sind Sie sicher, dass ich nicht gleich einen holen soll? Diese Kiste sieht ein bisschen zu schwer für Sie aus.«
Das ist seit Tagen das Netteste, was irgendjemand zu mir gesagt hat, und ich bin erstaunt über den kleinen Kloß, der mir plötzlich im Hals steckt. Doch ich kenne meine Pflicht, und ich weiß um die Schelte, die mir jede angenommene Hilfe würde einbringen können. »Meine Herrin wünscht, dass ich diese Kiste persönlich in die Kabine bringe. Aber trotzdem vielen Dank, Sir.«
Er tippt sich an die Mütze, bevor er sich wieder der Aufgabe zuwendet, die er vernachlässigt hat, um mir zu Hilfe zu kommen. Ich eile den Landungssteg zur ersten Klasse empor und hoffe, dass derjenige, der mich zuvor angestarrt hat – wer auch immer das gewesen sein mag –, in die dritte Klasse unterwegs ist. Zweifellos ist es irgendein Ausländer.
Vielleicht hat mir auch nur meine eigene Einbildungskraft einen Streich gespielt und mir Angstschauer über den Rücken gejagt. Ich habe Grund genug, nervös zu sein. Diese Reise, diese nächsten paar Tage würden mein Leben für immer verändern.
Der Landungssteg der ersten Klasse ähnelt eher einer Promenade. Die Menschen lassen sich Zeit und genießen es spürbar, sich im Sonnenschein umzuschauen und sich sehen zu lassen. Damen drehen sich mal in diese, mal in jene Richtung, um ihre Hüte mit den breiten Krempen möglichst vorteilhaft ins Licht zu rücken. In den Händen halten sie mit feinster Spitze bezogene Sonnenschirme, die auf- und abwogende Schatten werfen. Die Spazierstöcke und die Schuhe der Gentlemen glänzen. Es hätte auch eine Modenschau sein können, wären da nicht die verstreuten Dienstboten gewesen, die unter ihren Lasten keuchen.
Wir kommen nur sehr langsam voran, sodass ich es wage, die Kiste einige Sekunden lang abzustellen. Während sich meine müden Muskeln entspannen, lasse ich eine Hand in die Tasche meines Kleides gleiten. Ich umklammere eine kleine Filzbörse, die ich mir selbst aus Resten zusammengenäht habe. Bis spät in die Nacht habe ich dafür aufbleiben müssen, und die Lisles geben uns nur eine einzige Kerze für den gesamten Dachboden, sodass es sich bei diesem Machwerk wohl kaum um meine prächtigste Arbeit als Näherin handelt. Aber niemand außer mir bekommt diese Börse zu Gesicht.
Sie liegt schwer in meiner Hand. Durch den Stoff hindurch spüre ich das Gewicht der Münzen und die zusammengefalteten Scheine. In den letzten anderthalb Jahren habe ich jedes bisschen Geld, das ich erübrigen konnte, gespart. Ich habe sogar eine Pfundnote behalten, die ich am Morgen nach einer Abendgesellschaft unter der Treppe gefunden hatte, was ziemlich riskant war. Hätte mich irgendjemand dabei erwischt, wäre ich sofort entlassen worden. Aber ich war nicht ertappt worden.
Ich habe genug beiseitegelegt, um einige Monate lang davon leben zu können. Das ist zwar nicht viel Geld, aber mehr, als ich mein ganzes Leben lang beisammenhatte, obwohl ich arbeite, seitdem ich mit dreizehn die Schule verließ. Es wird schon genug sein. Genug, um davonzugehen, sobald das Schiff die Vereinigten Staaten erreicht hat, fort von Lady Regina und Mrs. Horne, um niemals mehr zurückzukommen.
Langsam schieben wir uns auf dem Landungssteg vorwärts, und ich hebe die Kiste wieder vom Boden auf. Sie kommt mir nun noch schwerer vor, aber ich kann es aushalten. In einigen Tagen winkt mir die Freiheit.
Ich muss nur noch diese eine Reise überstehen, denke ich, als ich den Landungssteg verlasse und endlich an Bord der RMS Titanic gelange.