Bernd Stegemann

 

Kritik des Theaters

Theater der Zeit

 

Für Nicole

 

Einleitung

 

Die Kritik am neoliberalen Denken ist im Zentrum der reichen Gesellschaften angekommen. Die Produktion egoistischer Subjekte durch den emotionalen Kapitalismus wird erstmalig seit den Protesten der 68er wieder bemerkt. Doch der Kapitalismus ist nicht mehr der gleiche wie vor fünfzig Jahren. Er hat rasend schnell hinzugelernt und steht heute in seinem neuen Geist monströser und unbesiegbarer da denn je. Keine Finanzkrise, keine Occupy-Bewegung und keine bildungsbürgerliche Sorge um das symbolische wie reale Kapital können ihn mehr in Frage stellen. Seine Kraft besteht darin, jede Kritik als Wachstumsimpuls vereinnahmen zu können. Doch nicht nur, dass jeder Protest sein T-Shirt bekommt, sondern auch auf einer völlig anderen Ebene hat sich die Forderung nach mehr Geld zum absoluten Maßstab der Gesellschaft gemacht. Hinter dem Rücken konkreter Lebensverhältnisse hat sich das Geld zu einem postmodernen Kapital entwickelt, das sein Ziel, sich dem regulierenden Zugriff politischer Herrschaft zu entziehen, weitestgehend erreicht hat. Die Spätmoderne hat sich somit in zwei einander diametral entgegengesetzte Richtungen entwickelt: Auf der Theorieseite der Postmoderne verflüssigen die Denkbewegungen der Dekonstruktionen alle Fundamente von Meinung, Haltung und Handlung. Auf der praktischen Seite wird genau diese Form der Derealisierung des Sozialen von der Finanzindustrie genutzt, um ihre Produkte immer raffinierter zu machen. Was den Geisteswissenschaften die Derridasche Différance ist, war der Finanzindustrie die Black-Scholes-Formel.

Doch während sich das postmoderne Lebensgefühl noch in den Überbietungsspielen des Nichtdarstellbaren, der Verweigerung der Repräsentation und der Freiheit in der Kontingenz gefällt, nutzt der postmoderne Kapitalismus die gleichen Theorien, um sein Handeln von jeder Verantwortung zu befreien. Die postmoderne Antwort auf die alte Frage nach der Entfremdung des Menschen in der Welt besteht heute in der globalen Produktion von egoistischer Subjektivität. Damit schließt sich zum ersten Mal seit dem Mittelalter wieder der Riss zwischen den Mühen des Lebens und seiner Begründungsideologie in einem geschlossenen Glaubenssystem. Die Gesellschaften der Spätmoderne beten das interessengeleitete Subjekt und die Mechanismen seiner Bereicherung als natürliche Ordnung der Welt an. Doch was den Vielen als Freiheit verkauft wird, ist der Höhepunkt von Entfremdung, was von den Arbeitern als Kreativität gefordert wird, ist die Folge fehlender Solidarität, und was allen stolz als Kontingenzbewusstsein oder Postfundamentalismus vorgeführt wird, führt zur Selbst-Entmachtung gegenüber den Strategien des postmodernen Kapitalismus.

Mit den Kritikformen vergangener Jahrzehnte ist dem postmodernen Kapitalismus nicht mehr beizukommen. Die Aufregung über gierige Banker, korrupte Politiker und egoistische Mitmenschen flammt inzwischen gerne auch im konservativen Lager auf und taugt als Sprengsatz im Erregungsspiel öffentlicher Aufmerksamkeit. Doch spricht die Empörung des Wutbürgers am meisten von der eigenen Gekränktheit, dass ein System, dem man doch vertraut hat, nun solche unangenehmen Eigenschaften entwickelt. Was von dieser Kritik zu halten ist, ob sie es mit der Entladung des Unbehagens bewenden lässt und sich mit kleineren Korrekturen zufrieden gibt, muss die Zukunft zeigen. Auf ihren Veränderungswillen zu vertrauen, solange sie aus der Position des Eigentümers spricht, der um seinen Besitz bangt, wäre leichtsinnig. Denn die Kritik des Wutbürgers bleibt bisher in der Empörung über die monströse Verzerrung gefangen. Die Frage nach den immanenten Ursachen der Entfremdung im kapitalistischen Arbeitsregime wagt sie nicht zu stellen.

Seit einigen Jahren entsteht vor allem in der Soziologie ein Nachdenken über Kritik und Gesellschaft, das die Eigenschaften des neuen Kapitalismus sehr ernst nimmt. Eine Anwendung dieses neuen kritischen Bewusstseins auf die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft steht noch am Anfang. Die Künste sind hierbei ein besonders komplexer Bereich von Gesellschaft, da sie ihrem Selbstverständnis nach eine kritische Funktion ausüben. Doch gerade dieser Glaube an die eigene Kritikfähigkeit ist im postmodernen Denken zerstört worden. Im Säurebad der Kontingenz haben sich die Haltungen zur Welt zu Zitaten, Relativierungen und Selbstreferenzen aufgelöst.

Eine Kritik des Theaters trifft heute auf eine Vielfalt theatraler Ausdrucksformen und ästhetischer Präferenzen, deren gemeinsamer Grund darin besteht, keinen gemeinsamen Grund mehr zu haben und keine Form von Gemeinschaft mehr zu akzeptieren. Eine Kritik des Theaters muss von daher mit einer Kritik der postmodernen Weltanschauung beginnen. Da diese sich als Ende aller Ideologien begreift, ist eine Ideologiekritik besonders kompliziert. Doch sobald der gut versteckte Zusammenhang von postmoderner Theoriebildung und neuem Geist des Kapitalismus erkannt ist, entpuppen sich ihre Denkformen als ideologische Herrschaftsmittel, die Interessen verschleiern und Hierarchien als Natur erscheinen lassen wollen. Die Behauptung der Postmoderne, selbst keine Ideologie zu sein, stellt die raffinierte Selbstimmunisierung dar, die dem neuen Kapitalismus seine Tarnung verschafft, um weiterhin behaupten zu können, die effizienteste Lebensform für den natürlichen Egoismus der Menschen zu sein. Beide Ausprägungen der Postmoderne – die ästhetische und die ökonomische – schützen sich gegenseitig und schläfern damit die Fähigkeit der Gesellschaft, Kritik formulieren zu können, seit Jahrzehnten ein.

Die Kunst des Theaters ist in unterschiedlicher Weise diesen Ermattungsstrategien zum Opfer gefallen. Kontingenzbewusstsein und Misstrauen gegen die Wirkung theatralischer Mittel haben sich gegenseitig befördert und dabei immer weiter in die Selbstbeschäftigung verstrickt. Die postmodernen Ästhetiken haben die Erklärungskraft der Dialektik, die sich in der mimetischen Kraft des Schauspielens künstlerisch ausdrückt, in zwei unverbundene Denkformen zerschlagen. Aus Dialektik werden Selbstreferenzen und Paradoxien. Um diesen selbst geschnürten gordischen Knoten von Rekursion und Relativismus anders auflösen zu können, als in den Spielen des Authentischen und der Ironie, ist ein großes Maß an Ausdauer nötig. Wie kann Theater jenseits des paradoxen Automatismus der Ironie intelligent sein, und wie entsteht eine Gegenwart des Theaters jenseits der Präsenzeffekte postmoderner Ästhetik? Diese Fragen erscheinen im undialektischen Denkhorizont der Postmoderne unbeantwortbar. Diese Provokation ernst zu nehmen, begibt sich die »Kritik des Theaters« auf den Weg.