Peter Schmidt
Harris
Psychothriller
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WEITERE TITEL
Impressum neobooks
Seltsame und bedrohliche Ereignisse stören das Leben des entlassenen Polizeibeamten Harris, als er gerade mit seiner Nichte in ein schönes altes Haus am Stadtrand gezogen ist, um sich ganz seiner Lieblingsbeschäftigung, der englischen Landschaftsmalerei zu widmen. Harris ist entsetzt, als er plötzlich auf dem Kirchendach eines seiner Gemälde sein eigenes Gesicht abgebildet findet …
Er muss erkennen, dass er es mit einem rätselhaften, übermächtigen Widersacher zu tun hat, der offensichtlich mit ihm spielt. Und dieser Gegner bewegt sich mit einer Leichtigkeit durchs Haus, die sich niemand erklären kann.
„EIN PSYCHOTHRILLER ÜBER DIE ABGRÜNDE DES MENSCHLICHEN BEWUSSTSEINS, DESSEN DIABOLIK VIEL BÖSEWICHTE HITCHCOCKS SCHON FAST WIE HARMLOSE CHORKNABEN ERSCHEINEN LÄSST ...“
http://autor-peter-schmidt-pressestimmen.blogspot.de/
„Peter Schmidt ist es in seinem Krimi ‚Harris’ meisterhaft gelungen, die Abgründe der menschlichen Seele auszuleuchten.“
(Dorothee Jansen, WDR)
„Der Westfale Peter Schmidt ist als erster deutscher Autor erfolgreich ins angloamerikanische Thriller-Monopol eingebrochen.“
(Capital)
„Schmidts Schreibe ist knapp und lakonisch, erspart sich jeden Kommentar und lässt das Geschilderte gerade dadurch furchterregend real erscheinen.“
(Marabo)
"Thriller mit Tiefgang"
(Rheinischer Merkur)
„Unter den deutschen Kriminalschriftstellern ist der Westfale Schmidt fraglos einer der wenigen, die wirklich erzählerisches Format besitzen.“
(Hamburger Abendblatt über „Harris“)
Peter Schmidt, geboren in Gescher, Schriftsteller und Philosoph, gilt selbst dem Altmeister des Spionagethrillers, John le Carré, als einer der führenden deutschen Kriminalautoren des Genres. Mit „Harris“ zeigt er nach dem erfolgreichen Psychothriller „Der Mädchenfänger“ ein weiteres Mal, wie breit sein literarisches Spektrum ist. Er veröffentlichte auch Medizinthriller, SF- und Wissenschaftsthriller und Detektivromane.
Bereits dreimal erhielt er den DEUTSCHEN KRIMIPREIS („Erfindergeist“, „Die Stunde des Geschichtenerzählers“ und „Das Veteranentreffen“). Für sein bisheriges Gesamtwerk wurde er mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.
Schmidt studierte Literaturwissenschaft und sprachanalytische und phänomenologische Philosophie mit Schwerpunkt psychologische Grundlagentheorie an der Ruhr-Universität Bochum und veröffentlichte rund 40 Bücher, darunter auch mehrere Sachbücher.
ZUM AUTORENINFO
http://autoren-info-peter-schmidt.blogspot.de/
Manche sind geistesgestört,
aber die meisten sind nicht krank.
Sie sind böse, weil sie sich bewusst
entscheiden, was sie tun.
Ein Mensch mag den Wunsch danach haben,
und der ist krankhaft.
Aber ihn in die Tat umzusetzen, ist böse.
Andrew Vachss
Er war besser in Form als die meisten Dreißig oder Vierzigjährigen, keine Frage. Aber er versuchte gar nicht erst, es allen zu beweisen, es war ohnehin kein Geheimnis.
Er würde den Polizeidienst in drei Tagen verlassen und sich danach ganz seinen Hobbys widmen – Schluss aus. Was für ein Leben!
Keine Psychopathen mehr, die der anderen, dunklen Seite ihres Charakters so verfallen waren, dass weder Gefängnisse noch Therapien sie jemals wieder von ihrer Besessenheit heilen würden, weil sie etwas in ihnen zum Klingen brachte, das allen Heilungsversuchen widerstand. Der letzte, den er erledigt hatte, war von dem Wahn besessen gewesen, seine Gegner anzünden zu müssen …
Auch keine Kleinkriminellen mehr, die für eine Packung Kaugummi ihre berufliche Karriere aufs Spiel setzten.
Keine fürsorglichen Onkels, die ihre Nichten schwängerten. Keine neurotischen Hausfrauen, die sich vom Wind in der Dachrinne belästigt fühlten …
Er würde allen Verrückten den Rücken kehren und sich ganz seiner klassischen Landschaftsmalerei widmen. Schon der bloße Gedanke daran war, als habe man ihm ein neues Leben geschenkt.
Man sagte ihm nach, im tiefsten Innern sei er genauso der Faszination des Verbrechens verfallen wie der Verbrecher – mit dem kleinen Unterschied, dass er auf der anderen Seite stehe. Aber das war nichts weiter als eine böswillige Verleumdung. Von uneingestandener Faszination konnte überhaupt keine Rede sein.
Man hatte einfach seine Cleverness mit Faszination verwechselt.
Ein gewisses Maß an Faszination gehörte allerdings zum Job. Sonst konnte man seine Arbeit nicht so gut machen, dass man erfolgreich war. Und, verdammt noch mal, er war schließlich erfolgreicher gewesen als alle anderen. Er steckte sie geistig genauso in die Tasche wie körperlich.
Er war unbestritten der beste Mann in der Abteilung, was die Jagd auf psychopathische Killer anbelangte, den sie je gehabt hatten.
Und er war mindestens genauso gut bei Kaugummidiebstählen, neurotischen Hausfrauen und Fixern auf Bahnhofstoiletten.
Das klang in den Ohren von Uneingeweihten vielleicht überheblich. Er hütete sich auch davor, es lautstark herauszuposaunen, aber er wusste, was er wert war. Seine Berichte sprachen Bände.
Seine Erfolgsbilanz hätte ihm in der Stadt längst zu einem hohen Posten mit Schwingstuhl und Vorzimmersekretärin verholfen, wäre er nur darum verlegen gewesen.
Aber Büroarbeit machte ihn mürbe. Er brauchte die freie Wildbahn. Er balancierte lieber auf einem Flachdach – das eine Bein in der Dachrinne des Nachbarhauses und unter sich den Abgrund zwischen den Häuserwänden – und versuchte einem dieser verrückten Amokläufer klarzumachen, wo im Leben seine wahren Interessen lagen.
Cilli ließ wieder mal das Haus erbeben. Harris sah amüsiert an der weißgestrichenen Mauer des Gartens hinauf. Manchmal dachte er, seine Nichte habe schon vor Jahren das Gehör verloren, so stark dröhnten die Lautsprecher in dem alten Gemäuer.
Ehe er ins Haus ging, umrundete er erst einmal den abgestorbenen Baum in der Mitte des Gartens. Das war wie ein Ritual – wie bei einem Hund, der sich um seine Achse drehte und sich dann zum Schlafen legte.
Es war ein gutes Gefühl, zu wissen, dass er bald frei sein würde. Durchs Salonfenster konnte er einige von Cillis Freunden aus dem Psychologischen Seminar sehen. Sie feierten ihre erfolgreiche Klausur:
„Psychische Labilität nach der Pensionierung“ – auch kein Thema, das irgend jemanden gesünder machte, weil kluge Theorien selten zu Verhaltensänderungen führten. Es sei denn, der Patient fiel darauf herein wie auf die Geisterbeschwörungen von Medizinmännern.
Harris sog genießerisch die kühle Abendluft ein. Die Sommernächte waren jetzt wieder wärmer, fast so warm wie in seiner Kindheit, aber dieser Abend war angenehm frisch.
Er betrachtete die Fassade des Hauses und versuchte sich vorzustellen, wie die neue Holzveranda wirken würde. Er hatte das Haus erst vor ein paar Wochen erworben, und sogar zu einem überraschend günstigen Preis.
Der Makler hatte ihm anvertraut, die Vorbesitzer seien froh, endlich einen Polizeibeamten dafür gefunden zu haben, als wenn die Gegend besonders unsicher wäre.
In der Eingangshalle hatten Cillis Kommilitonen eine Strohpuppe aufgehängt, die Professor Bohrländer darstellen sollte.
Sie schwebte mit ausgebreiteten Armen und einer schwarzen Drahtbrille auf der Nase unter dem Lichtschacht, als stürze sie gerade auf sie herab. Ein wenig makaber und würdelos für jemanden seines Alters und seiner beruflichen Reputation.
„Setz dich zu uns in den Salon, Harris,“ rief Cilli gutgelaunt vom Treppenabsatz. „Wir diskutieren gerade darüber, was für ein Charakter Mutters Kidnapper ist ...“
Nach seinem Geschmack versuchte sie mit ihrem schwarzen Pagenschnitt und den engen Jeans immer ein wenig zu sehr den Männern zu imponieren.
Er fand, Cilli hatte das gar nicht nötig. Sie nannte ihn nie „Onkel“, geschweige denn „Paps“ oder „Vater“, wie andere Mädchen, weil er nur ihr Ersatzvater war, und sie vermied es auch, ihn mit seinem Vornamen anzureden. Vielleicht, weil sie ihm damit signalisieren wollte, er sei ein ganz gewöhnlicher Mann, der zufällig bei ihrer Vormundschaft das Rennen gemacht hatte.
Harris versuchte im Gedränge der Party herauszufinden, ob Cilli auch Harald Remmer eingeladen hatte. Remmer war sein Nachfolger in der Abteilung und Cillis uneingestandener Schwarm.
Trotz ihres Altersunterschieds von zehn Jahren machte er ihr ständig den Hof wie ein mittelalterlicher Galan. Seine Umgangsformen verbesserten sich auf geradezu verblüffende Weise, sobald sie erschien.
Und Cilli schreckte nachts aus dem Schlaf auf und rief Remmers Namen. Aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen konnten sie wie Romeo und Julia nicht zueinander kommen.
Harris hatte Remmer nie das Haus verboten, aber er geriet auch nicht in Begeisterungstaumel, wenn er ihn sah. Er schätzte ihn als Arbeitskollegen, das war alles.
Remmer würde seine Arbeit so gut machen wie jeder andere mit seiner Erfahrung und Begabung. Allerdings hätte er Cilli als guter „Stiefvater“ eher einen Mann gewünscht, der auf weniger riskantem Fuß lebte.
Manchmal stellte Harris sogar Betrachtungen darüber an, ob er vielleicht nur ein wenig eifersüchtig auf Cillis Jugend und das Leben war, das vor ihr lag.
„Hättet ihr euch die Puppe im Lichtschacht nicht sparen können?“, fragte er. „Sieht ziemlich abgeschmackt aus.“
„Das gehört zur Feier“, erklärte Cilli bestimmt. „Professoren, die ihre Sache so schlecht machen wie Bohrländer, werden von uns gehenkt – nur rituell natürlich.“
„Ich denke, ihr habt eure Klausur bestanden?“
„Aber seine Noten sind ein Witz.“
Aus der Runde antwortete beifälliges Gemurmel. Harris versuchte unter all den bebrillten Jünglingen, die jetzt schon wie erfahrene Psychotherapeuten und Sozialarbeiter aussahen, denjenigen auszumachen, der für Cillis kriminalistischen Spleen verantwortlich war – für ihre fixe Idee, den Kidnapper ihrer Mutter zu finden. Er brauchte mehr als zwei Minuten, um ihn zu entdecken.
Max saß im hintersten Winkel des Salons auf der weinroten Ledercouch, die Arme verschränkt, und sah Harris halbherzig lächelnd entgegen, als wenn jetzt wieder eines von Harris’ berüchtigten Donnerwettern über ihn hereinbrechen würde.
Aber Harris hatte sich vorgenommen, nach seiner Pensionierung niemals wieder außer Fassung zu geraten. Und vielleicht waren ja ein paar Tage Einstimmung vor dem eigentlichen Beginn auch keine schlechte Übung.
„Spielen wir etwa wieder ‘Suche nach dem Kidnapper’, Max?“, fragte er in so verbindlichem Tonfall, dass selbst ein Schwachsinniger keinen Zweifel mehr an seiner grenzenlos guten Laune hegen konnte.
„Sie haben ihn doch nie fassen können, oder?“, erkundigte sich Max. „Das war Ihnen in Ihrer Laufbahn nicht mehr vergönnt – der große Harris erfolglos! Also dürfen Sie uns auch nicht abschlagen, im Seminar ein paar Psychogramme solcher Kidnapper zu erstellen, wenn es Cillis Mutter nützt.“
„Ich war überhaupt nicht für den Fall zuständig“, widersprach Harris. „Darum kümmert sich mein Kollege Remmer.“
Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Er hatte sich laufend von Remmer über den Fall berichten lassen und insgeheim hatte er sogar daran mitgearbeitet, soweit es in der Abteilung nicht auffiel.
„Harris glaubt, meine Mutter habe ihr Verschwinden bloß vorgetäuscht“, erklärte Cilli. „Es gebe gar keinen Kidnapper. Sie habe sich einfach das Leben genommen, weil sie sich an der Börse verspekuliert hatte. Aber für ein paar Aktienpakete nimmt sich niemand das Leben.“
„Auch nicht, wenn es sich um fünfzehn Millionen handelt?“, fragte Harris.
„Vierzehneinhalb, sie hat vierzehneinhalb Millionen verloren – innerhalb eines Tages.“
„Dollar oder Mark?“, erkundigte sich Max unverschämt grinsend.
Er saß als einziger auf Harris’ roter Couch, während alle anderen standen, als halte er Audienz, als sei er der intellektuelle Guru der Gruppe.
Eine bösartige kleine Intelligenzmaschine, immer darauf lauernd, ob sich eine Gelegenheit bot, mit spitzzüngigen Kommentaren einzugreifen.
Harris würdigte Max keines weiteren Blickes. Er nahm Cilli am Arm beiseite, schob sie zum Fenster und sagte mit halblauter Stimme:
„Ich finde, das Verschwinden deiner Mutter ist ein zu ernstes Thema, als dass wir hier in aller Öffentlichkeit darüber diskutieren sollten.“
„Aber das sind alles psychologisch versierte Leute, Harris“, widersprach Cilli. „Max hat ein abgeschlossenes Studium. Er bekommt bald einen Lehrauftrag an der Universität. Und Rupert Domm schreibt Artikel für wissenschaftliche Zeitschriften, obwohl er erst im siebten Semester ist.“
„Ich weiß, in welchen Kreisen Domm verkehrt. Am Bahnhof gibt’s Etablissements, die sich darauf spezialisiert haben, Burschen, die noch um ihre sexuelle Orientierung kämpfen, ein paar Hinweise in eigener Sache zu geben.“
„Sexuelle Orientierung? Was soll das sein? Entweder, man ist stockschwul wie Rupert, oder man bevorzugt das andere Geschlecht.“
„Lernt man das in euren Seminaren? Ich will ja hier nicht den großen Erzieher spielen, Cilli, schließlich bist du inzwischen volljährig und kannst tun und lassen, was du willst. Aber wenn du einmal im Leben den Rat eines alten Freundes annehmen würdest …“
„Danke, deine Ratschläge riechen mir zu sehr nach Polizist.“
„Das kann man auch als Kompliment auffassen. Polizeibeamte sind schließlich keine Buhmänner.“
Harris hatte Cillis Vormundschaft nur übernommen, weil seine Schwester nicht mehr fähig gewesen war, ihr eine normale Mutter zu sein, aber er fragte sich manchmal, ob er ihr jemals ein normaler Vater hätte sein können, vorausgesetzt, sie wäre nicht erst mit fünfzehneinhalb Jahren zu ihm gekommen.
Jemand in ihrem Alter hatte damals nach Katrins Meinung längst flügge zu sein, wie sie selbst, als sie in die Stadt gegangen war, um „Aktionärin“ zu werden. Was auch immer das damals für sie bedeutet haben mochte, denn zu diesem Zeitpunkt verstand sie von Aktien wohl nicht mehr als ein Tellerwäscher von der ersten Million.
Katrin hatte seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr Anzüge und Krawatten getragen. Sie war der Typ von Frau, der in die Männerwelt einbrach, um allen zu beweisen, dass Frauen die besseren Männer waren. Sie hatte sich Cilli auf der Ledercouch eines Managers andrehen lassen – als Preis für einen Posten in der Führungsetage, wie Harris immer noch argwöhnte. Sie war eine Rabenmutter gewesen und vielleicht bewahrte ihr spurloses Verschwinden Cilli sogar vor einer schwierigen Zukunft.
Harris ging hinunter in den Garten und versuchte sich darüber klar zu werden, was das Ende seiner Arbeit wirklich für ihn bedeutete. Er rauchte drei Zigaretten, obwohl er das Rauchen längst aufgeben hatte, während er den abgestorbenen schwarzen Baum umrundete.
In diesem Haus hatte einmal ein verrückter junger Kerl namens Robert Quant gelebt, der Mädchen so lange im Keller des Anbaus gefangenhielt, bis er ihr „hässliches Inneres“ zum Vorschein gebracht hatte, um von ihrer äußeren Schönheit loszukommen.
Er hatte sie weder gefoltert noch vergewaltigt, sondern sie einfach einer wochenlangen Gehirnwäsche unterzogen, bis sie zusammenbrachen. Cilli war von ihrem „Mädchenfänger“, wie sie ihn immer nannte, fasziniert und machte sogar Führungen mit ihren Kommilitonen durchs Haus.
Hier hatte er Franziska gefangengehalten … Dort war das Badezimmer, wo sie die Überschwemmungen und den Brand verursacht hatte …
Da hatte sie gegen die Wasserleitungen geschlagen, um sich bemerkbar zu machen …
Cilli glaubte, Quant gebe den passenden Fall für eine psychologische Studie erster Klasse ab, vielleicht sogar für ihre Magisterarbeit.
Harris dachte missmutig, dass die meistens Menschen sich mehr für die dunklen Seiten der Menschen interessierten als für die positiven. Die Faszination des Bösen mochte ja durchaus eine soziale Rolle spielen. Auf diese Weise konnte man sich selbst davon distanzieren.
Vielleicht war es wie das Spiel der Kinder, man lernte den Umgang mit den Schattenseiten des Lebens, wenn man sich nicht erst als persönlich Betroffener damit befasste. Man war besser gewappnet für den Ernstfall. Allerdings durfte diese Faszination nicht zur Besessenheit werden.
Er versuchte für sich selbst immer eine saubere Grenze zu ziehen zwischen dem, was für seine Arbeit und für die eigene seelische Hygiene unbedingt nötig war, und dem menschlichen Hang zur Übertreibung.
Wie fast jeder Stoff und jedes Nahrungsmittel konnte auch jede Tätigkeit im Übermaß zum Gift werden. Man musste den zerstörerischen Kräften des Innern widerstehen, indem man sich niemals auf eine zu gefährliche Gratwanderung einließ ...
Drei Tage später lieferte er seine Marke und den Inhalt seines Blechspinds ab, seinen Schreibtisch hatte er schon am Vortag ausgeräumt. Das Büro hinter der Glasscheibe, in dem er als Chef der Abteilung gesessen hatte, sah kahl und unpersönlich aus ohne seine Fotos und die beiden stimmungsvollen Landschaftsgemälde. Er hatte seinen Mitarbeitern immer verschwiegen, dass er der Maler war. Das hätte leicht zum Autoritätsverlust geführt.
Kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hatte, beschäftigte sich in einer Welt des Verbrechens und der Gewalt mit etwas so Beschaulichem wie Landschaftsmalerei, auch noch englischer Landschaftsmalerei im Stil des neunzehnten Jahrhunderts.
Für ihn war die Malerei nach John Constable stehen geblieben. Malvern Hall, Das Kornfeld, Die Kathedrale von Salisbury oder Weymouth Bay in der National Gallery in London bildeten den absoluten Höhepunkt der Kunst.
Harris zog noch einmal prüfend die Schubladen seines Schreibtischs auf und während er die leeren Fächer studierte, hob er unvermittelt den Blick und betrachtete das Treiben in der Abteilung. Remmer saß am Computer und gab Daten ein. Lara hielt einen Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt, während sie in einen zweiten Hörer sprach und mit dem Teelöffel in der Kaffeetasse rührte. Und durch die offene Tür am Ende des Gangs konnte er in Bertrams Büro sehen …
Er hatte Bertram als seinen nächsten Vorgesetzten gebeten, um Gottes willen keine große Abschiedsfeier für ihn zu veranstalten. Harris hasste diese Art von falschem Getue. Er wusste, dass ein paar Leute in der Abteilung schon lange scharf auf seinen Posten waren und eine Feier würde sie nur dazu bringen, ein heuchlerisches Gesicht aufzusetzen.
Er wollte einen stillen Abgang, so unauffällig, wie damals, als er zum ersten Mal dieses Büro betreten hatte.
Ein Glas Sekt zum Abschied? Einverstanden.
Aber keine Reden, keine falschen Verbrüderungen, keine Lachsschnittchen vom Geld aus der Gemeinschaftskasse.
In diesem Moment setzte Bertram seine kreisrunde schwarze Metallbrille auf und bedeutete ihm, in sein Büro zu kommen.
Harris winkte zurück und schob die Schubladen zu. Dann legte er seine Beine auf die Schreibtischplatte und lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück. Das also war es!
So fühlte man sich, wenn man frei war und keine Rücksichten mehr auf seine Vorgesetzten nehmen musste. Er fragte sich, um wie viel besser dieses Gefühl erst gewesen wäre, wenn der Polizeipräsident oder der Justizminister höchstpersönlich ihm durch die Scheiben zugewinkt hätten.
„Sehen Sie mal, Peter“, sagte Bertram. „Ich greife meinen Verdacht ja nicht aus der Luft. Wir schätzen Sie als erfolgreichen Mitarbeiter. Sie gehören sicher zu jenen, an die man sich hier immer voller Respekt erinnern wird.
Von Ihrem kleinen Disput mit dieser Prostituierten …Tea – so war doch ihr Name? – reden wir hier nicht, weil es Ihre Privatsache ist.
Ich will Ihnen auch gar nicht unterstellen, dass Sie bewusst gegen meine Anweisungen gehandelt haben. Ich kann Ihre Betroffenheit über das spurlose Verschwinden Ihrer Schwester natürlich verstehen ...“
„Aber das ist noch nicht alles?“, fragte Harris.
„Jemand hat Katrins Büro durchsucht.“
„Was denn, jemand …?“
„Es war versiegelt“, sagte Bertram. „Das Siegel wurde geöffnet und nach der Durchsuchung sehr professionell wieder instandgesetzt.“
„Und jetzt wollen Sie mir unterstellen, ich sei dafür verantwortlich?“, erkundigte sich Harris ungläubig.
„Ich möchte nur vermeiden, dass Sie nach Ihrer Pensionierung auf die Idee kommen, Remmer bei seinen Ermittlungen ins Handwerk zu pfuschen.“
„Was, zum Teufel, bringt Sie denn auf die Idee, ich könnte Katrins Büro durchsucht haben, Bertram? Ich denke nur noch an meinen Abgang. Ich packe meine Persilkartons und verschwinde. Warum sollte ich Polizeisiegel aufbrechen? Ich bringe selber welche an – oder habe welche angebracht. Es wäre überhaupt kein Problem für mich gewesen, mir im Depot ein frisches Siegel zu besorgen.“
„Was allerdings den Verdacht auf jemanden aus der Abteilung gelenkt hätte“, gab Bertram zu bedenken. „Also, um mit offenen Karten zu spielen, Peter – der Grund, weshalb ich Sie verdächtige, ist eine Beobachtung, die wir bei der Durchsicht von Katrins Akten gemacht haben. Sie hatten doch die Angewohnheit, die Blätter nach einer bestimmten Methode zu ordnen?“
„Sie spielen auf meinen Tick mit den Büroklammern an?“ Harris saß vorgebeugt auf Bertrams Besucherstuhl und griff sich unbehaglich an die rechte Wade, weil sich durch den Hosenstoff eine runde Erhebung wie von einer beginnenden Krampfader abzeichnete.
Er hatte nie an Krampfadern gelitten, das widersprach seinem Selbstbild – und bisher hatte sein Körper auch immer eingelenkt und es vorgezogen, diesem Selbstbild zu entsprechen.
„Das ist ganz typisch für Sie. Das macht sonst niemand, den ich kenne.“
„Und die Akten meiner Schwester waren mit Büroklammern markiert?“
„Nein, soviel Leichtsinn traut Ihnen keiner zu. Aber Remmer fiel auf, dass an den Rändern Markierungen von querstehenden Klammern zu erkennen sind, abgestuft nach der Reihenfolge, in der man die Daten verglichen hatte. Das ist doch Ihre Methode, oder?“
Harris schüttelte betroffen den Kopf. „Meine Methode schon. Aber ich bin etwas entsetzt darüber, dass Sie mir nach all den Jahren der Zusammenarbeit zutrauen, ich sei in Katrins Büro eingebrochen. Nein, ich war’s nicht, Frank. Da muss jemand mein System angewendet haben, aus welchen Gründen auch immer. Zufall oder Absicht ... obwohl ich mir nur schwer vorstellen kann, welchen Sinn das hätte.“
„Aber Sie haben doch schon zweimal vergeblich versucht, an den vorläufigen Abschlußbericht über Katrins Verschwinden zu gelangen?“
„So? Wer sagt das?“
„Jemand, der es wissen muss.“
„Ich habe Ihre Sekretärin nur gebeten, einen Blick hineinzuwerfen, weil ich als Katrins Bruder von den Ermittlungen ausgeschlossen war. Außerdem fiel damals ein gewisser Anfangsverdacht auf mich.“
„Davon kann überhaupt keine Rede sein ...“
„Routinemäßig. Katrin und ich haben uns nie besonders gut verstanden. Anscheinend vertrug sich meine Vormundschaft nicht mit ihrem ‘männlichen’ Selbstbewusstsein. Sie hatte einen Prozess angestrengt, der ihr nachträglich recht geben und den Entzug der Vormundschaft für ungültig erklären lassen sollte. Sie beschuldigte mich sogar, Cilli hin und wieder belästigt zu haben ...“
„Ein Verdacht, den niemand ernst genommen hat!“
„Katrin und ihre Anwälte schon. Also, wenn das keine Motive waren, um mich von dem Fall fernzuhalten? Und anfangs hatte ich auch ja auch einige Schwierigkeiten damit. Aber Sie müssen mir einfach glauben, dass ich nicht in ihrem Büro war, Frank.“
„Worum es geht, ist gar nicht Ihr illegales Eindringen, Peter. Ich mache mir einfach Sorgen, was nach Ihrem Ausscheiden passiert. Dann kann Ihnen keiner mehr Weisungen geben. Was fangen Sie eigentlich mit all der Freizeit an? Wäre doch gelacht, wenn Sie da nicht auf krumme Gedanken kämen.“
„Also gut – mein Ehrenwort, dass ich den Fall zu den Akten gelegt habe.“
„Ein geborener Spürhund wie Sie?“
„Was wollen Sie denn von mir hören, Frank? Dass ich mich jeden Morgen bei meinem Bewährungshelfer melde und ihm mitteile, wo ich meine Frühstücksbrötchen kaufe? Soll ich mit einem Peilsender durch die Stadt laufen?“
„Ich appelliere nur an Ihren guten Willen, das ist alles.“
„Meine Schwester hat sich einfach irgendwohin abgesetzt – oder Selbstmord begangen. Katrins Humor war schon immer etwas makaber. Sie hat nur etwas sorgfältiger als andere darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen. Und das ist ihr offensichtlich auch gelungen.“
„Ihre persönliche Meinung kann natürlich überhaupt nicht maßgebend für uns sein ...“
„Herzlichen Dank für diese angenehme Form der Verabschiedung“, sagte Harris und reichte Bertram mit unbewegtem Gesicht die Hand. „Ich hatte schon befürchtet, man würde vielleicht zuviel Aufhebens davon machen, aber das übertrifft meine kühnsten Erwartungen.“
Er schob betont ruhig die Tür hinter sich zu und ging – von den neugierigen Blicken der anderen gefolgt – zu seinem Büro hinüber.
Als er seine restlichen Sachen in eine große Ledertasche geworfen hatte, stand plötzlich Remmer mit einer Flasche Sekt und zwei Gläsern in der Tür.
„Du musst mir einfach glauben, dass ich nicht für die Verdächtigungen des Alten verantwortlich bin“, beteuerte er. „Die Sache mit den Büroklammern stammt von meiner Assistentin Lara. Und die hat sich einfach in Bertrams Gegenwart verplappert: ‘Sehen Sie sich das mal an, Harald – es ist genau dieselbe Methode, die Harris anwendet, wenn er Unterlagen nach ihrer Wichtigkeit ordnen will!’ Ich hab’ ihm nichts von unserer Zusammenarbeit verraten.“
„Hätte ich auch nicht von dir erwartet“, sagte Harris. Er nahm das Glas und hielt es gegen das Licht. „Auf die Zukunft, aber diesmal ohne die Abteilung ... prost!“
Harris hatte die Parade der ausgestreckten Hände abgeschritten, zwei Blumensträuße und eine überlagerte Schachtel Pralinen eingesteckt, die von Remmers schuldbeladen dreinblickender Assistentin Lara stammte, und Bertram hatte ihm zu seiner Überraschung in der Tür versichert, dass ihre Unterredung eben nichts weiter als die lästige Pflichtübung eines Beamten gewesen sei, der nun mal wie jeder andere seine Vorschriften habe.
„Vergessen Sie einfach, was ich gesagt habe, Peter! Ist wohl wirklich nicht viel dran. Sie sind schließlich nicht der einzige, der bei der Arbeit Büroklammern verwendet.“
Harris hätte schwören können, dass er nicht in Katrins Büro eingebrochen war, es sei denn als Schlafwandler oder in einer Phase geistiger Umnachtung. Also musste jemand anders, absichtlich oder unabsichtlich, diese Spuren hinterlassen haben.
Er fragte sich, wer der geheimnisvolle Einbrecher wohl war. Seine Nichte vielleicht? Benutzte sie das gleiche System mit den Büroklammern wie er? Um das herauszufinden, brauchte er sich nur ihre Studienunterlagen anzusehen ...
Cilli hielt sich den ganzen Vormittag an der Universität auf, aber sie würde zum Mittagessen wieder zu Hause sein. Dass sie immer noch bei ihm lebte, lag wohl auch an seiner ausgezeichneten Küche. Aber seine Kochkünste waren sicher nicht der einzige Grund.
Cilli genoss alle Freiheiten bei ihm, Narrenfreiheit, genau besehen. Er hatte Cilli gerne um sich. Sie konnte zuhören, und wenn sie etwas sagte, klang es weniger dumm oder borniert als bei den meisten anderen Frauen – wie es sich für eine Psychologiestudentin im fünften Semester gehörte, die nicht auf den Kopf gefallen war …
Harris fragte sich manchmal, ob sie ihm auch als Frau gefiel. Den meisten Männern würde das bei ihrem Aussehen und ihrem erfrischend gradlinigen Charakter kaum schwerfallen. Aber er hütete sich immer, ihr auch nur mit der geringsten Andeutung zu zeigen, dass er sie attraktiv fand. Sie war die Tochter seiner verschwundenen Schwester. Er hatte nicht die Absicht, ein junges Mädchen ins Unglück zu stürzen.
Harris ging die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, und als er unter der Dachschräge angekommen war, blickte er prüfend über das Geländer nach unten. Er würde hören, wenn die Haustür ging. Außerdem konnte man in der Dämmerung wegen der kleinen Flurfenster unmöglich nach oben gelangen, ohne das Licht einzuschalten, es sei denn, man benutzte eine Taschenlampe.
„Dieser Entführer ist nichts weiter als ein Hirngespinst“, murmelte er ärgerlich. „Also hat auch niemand ihr Büro durchsucht. Aber es gibt wieder mal ein paar Verrückte, die überall Verbrechen wittern.“
Katrin hatte sich immer vor ihrer Verantwortung als Mutter gedrückt. Jetzt waren die Gläubiger hinter ihr her, und was lag da näher, als sich nach Australien oder Kanada abzusetzen?
Seine Schwester war an einem freundlichen Sonntagmorgen im Frühsommer verschwunden. Nach zehn Uhr vormittags, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch ein Nachbar im Garten ihres Hauses gesehen, und vor dreizehn Uhr, weil Cilli um diese Zeit vergeblich versucht hatte, mit ihr zu telefonieren.
Sie war untergetaucht wie jemand, der nicht gefunden werden wollte, ohne Gepäck, ohne Geld von ihren Konten abzuheben, ohne irgendeine Spur am Flughafen oder im Reisebüro zu hinterlassen. Am Bahnhof erinnerte sich niemand daran, ihr eine Fahrkarte verkauft zu haben, und ihr schwarzer Rover stand immer noch gewachst und poliert in der Garage.
Trotzdem machte er sich keine Sorgen um sie. Katrin war ein kampferprobtes Mädchen, das jeden Morgen fünf Kilometer durch den Stadtpark joggte, schwere Hanteln stemmte und einem zudringlichen Kerl so blitzschnell in die Eier trat, dass er nicht einmal an den Schutz seiner Weichteile denken konnte. Katrin war einfach untergetaucht.
Dafür gab es jetzt ein paar Geschäftsleute und Aktionäre, die nach ihrer Pleite das Nachsehen hatten. Sie hatte ihr Geld widerrechtlich aus Beteiligungen an ihrer Immobilienfirma für Ferienwohnungen abgezweigt, um damit Spekulationsgewinne zu machen. Leider waren schrottreif gefahrene Öltanker auf dem Weltmarkt momentan weniger gefragt, als die Experten noch vor einiger Zeit wegen fehlender Transportkapazitäten vorausgesagt hatten.
Natürlich konnte auch einer von Katrins Gläubigern in ihr Büro eingebrochen sein. Dann hatte er zufällig Harris’ Methode mit den Büroklammern angewendet.
Oder Cilli wollte wissen, ob in Katrins Büroschreibtisch ein Testament existierte. Sie war scharf auf den schwarzen Rover ihrer Mutter, keine Frage. Wenn auch kaum um den Preis ihrer Entführung. Katrin war nie eine Rabenmutter für sie gewesen, sondern nur ein Frau, die Karriere machen wollte und der ein Kind dabei nicht mehr im Wege stand als jeder anderen. Cilli hatte es schon vor sehr langer Zeit auf unnachahmliche Weise verstanden, ihr zu verzeihen – durch Lächeln und Schweigen.
Harris schob Cillis Tür auf, warf einen schnellen Rundumblick durch das Arbeitszimmer und erstarrte ...
Auf den Spiegel über der Kommode hatte jemand mit dickem, rotem Filzstift geschmiert:
Mach Dich nicht lächerlich, Harris! Doch nicht Deine Nichte Cilli …
Er betrachtete nachdenklich die Druckbuchstaben. Das war nicht Cillis Handschrift. Um so zu schreiben, hätte sie sich stark verstellen müssen. Es ergab auch keinen Sinn. Woher hätte Cilli wissen sollen, was er dachte?
Im Grunde traute er Cilli eine solche Geschichte gar nicht zu. Falls es doch einen Kidnapper gab und wenn er das geschrieben hatte, dann spielte er ganz offensichtlich mit ihm. Dann hatte er auch seinen Trick mit den Büroklammern benutzt, um ihn in Verdacht zu bringen. Dann musste er ihn sehr genau kennen und sich sehr sicher fühlen …
Harris versuchte nicht, die Schrift vom Spiegel zu wischen. Er hatte plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Er ging an Cillis Schreibtisch, blätterte ein wenig in ihren Unterlagen, und als er ihre Notizen durchgesehen hatte – nirgends eine Spur von Büroklammern oder Abdrücken –, fiel plötzlich ein Foto von Robert Quant aus der Vorstudie, die Cilli über seinen Fall angefertigt hatte.
Es war nur ein Ausschnitt aus einem grobgerasterten Zeitungsfoto, das man nach seiner Flucht und der Entdeckung im Keller des Hauses veröffentlicht hatte.
Sollte dieser Robert Quant vielleicht …?
Nein, unwahrscheinlich. Harris hatte nach ihrem Einzug alle Schlösser austauschen lassen. Der junge Quant war seit Monaten flüchtig, warum hätte er hierher zurückkehren sollen? Oder war er Katrins Entführer?
Ein makabrer Gedanke, denn er hatte seine Opfer später im Keller des Hauses eingemauert.
Harris hörte unten die Haustür schlagen und verließ eilig Cillis Zimmer. Er ging in den ersten Stock hinunter und schloss die Bibliothek auf. Als Cilli auf dem Treppenabsatz war, räusperte er sich vernehmlich und trat wie zufällig aus der Tür.
Cilli hielt einen großen Karton in der Hand, um den eine rosafarbige Schleife gebunden war.
„Ist das eine Entschädigung für den Ärger, den du mir mit deiner Psychologen-Party gemacht hast?“, erkundigte er sich.
„Nein, Harald hat bald Geburtstag.“
„Harald hat ...? Na sieh mal einer an, dann könnt’s ja doch noch etwas mit euch beiden werden? Was ist denn plötzlich in euch gefahren? Seid ihr bei der Eheberatung gewesen?“
„Mach keine dummen Witze, Harris“, sagte Cilli. „Hilf mir lieber, das verdammte Ding in mein Zimmer zu bringen. Ich muss es erst mal auspacken und sehen, ob noch etwas im Taxi davon übriggeblieben ist ...“
Cilli fuhr mit dem Bus zur Universität, seitdem ihre Ente unsanfte Bekanntschaft mit einer herunterfallenden Schranke gemacht hatte, aber ihr Karton war wohl etwas zu sperrig für den Bus gewesen.
„Darf man fragen, was das ist?“
„Nein, hilf mir erst, den Karton nach oben zu bringen.“
„Zu Befehl, Frau Oberleutnant“, sagte Harris.
„Hast du schon gehört, dass Harald die beiden Killerschwestern gefasst hat?“, erkundigte sich Cilli, während sie den Karton in ihr Zimmer wuchteten.
Cilli stand mit dem Rücken zum Schreibtisch, als sie ihn absetzten, deshalb konnte sie die Schrift auf dem Spiegel nicht sehen.
„So? Wo denn?“
„Die beiden hatten sich auf Madeira verkrochen, in einer winzigen Frühstückspension.“
„Unter echten Namen?“
„Nein, mit falschen Pässen.“
Die sogenannten „Killerschwestern“ waren Harris’ letzter offizieller Fall gewesen. Sie hatten als Krankenschwestern auf der Intensivstation Patienten mit Luftspritzen ins Jenseits befördert. Nicht etwa aus Mitleid, als Sterbehilfe, sondern aus Habsucht, um an ihre Wohnungsschlüssel und ihr Geld zu kommen, ehe die rechtmäßigen Erben zur Stelle waren.
„Ich erinnere mich noch gut, wie viele Nächte du dir wegen dieser beiden Hexen um die Ohren geschlagen hast“, sagte Cilli. „Und jetzt sind sie doch noch von Interpol gefasst worden – durch deine Vorarbeit, meint Harald.“
„Will ich auch hoffen, dass er das meint.“
„Aber Harald hat Interpol den entscheidenden Tipp gegeben. Er fand eine Notiz mit der Anschrift des Vermieters unter ihren Papieren.“
„Sehr leichtsinnig von den beiden. Ändert aber wenig daran, dass der ausschlaggebende Hinweis von mir stammt.“
„Das bestreitet auch niemand. Die eine behauptet sogar, du hättest ein paar Indizien gefälscht, um sie zu Strecke zu bringen. Sie wünscht dich zur Hölle und hat bei ihrer Verhaftung geschworen, sie würde sich an dir rächen.“
„Da ist sie nicht die einzige“, sagte Harris, während Cilli den Karton öffnete. „Indizien gefälscht, dass ich nicht lache. Hab’ in meinem ganzen Leben noch nicht nötig gehabt, irgendwelche Indizien zu fälschen. Wozu auch? Etwa, um befördert zu werden? Dazu hätte es auch ohne solche Spielchen gereicht. Wundert mich, dass sie es überhaupt wagt, Drohungen gegen einen Polizeibeamten auszustoßen.“
Cilli zog die langgestreckte verschweißte Styroporhülle aus dem Karton und begann sie vorsichtig aufzureißen.
„Was ist das? Ein Modellflugzeug?“, fragte er.
„Für Haralds Sammlung. Er soll dieses Jahr Deutscher Meister damit werden. Ich hab’s beim besten Modellflugzeugbauer des Landes bestellt. Es besteht aus superleichtem Sperrholz, bis auf den Motor und die Technik natürlich.“
„Und das ist die Fernsteuerung?“ Harris bewegte probeweise den Steuerknüppel in der Aussparung hin und her.
„Sogar mit dem letzten technischen Schnickschnack. Sieh mal, auf dem LCD-Bildschirm kann man die Flugbewegungen programmieren. Die Maschine lässt sich sogar so einstellen, dass sie bei Treibstoffmangel oder technischen Defekten automatisch zum Standort zurückfliegt.“
„Interessant. Aber wie findet sie den Piloten, wenn mehrere Wettkämpfer auf dem Feld stehen?“
„Durch den Code des Steuerimpulses.“
„Das ist jedenfalls mehr Technik als bei unserer Toilettenspülung“, sagte Harris amüsiert, während er den silberfarbenen Rumpf des Doppeldeckers begutachtete. „Und wie kommst du dazu, Remmer ein so teures Geschenk zu machen?“
Cilli hielt ihm lächelnd die Hand mit ihrem neuen goldenen Ring hin. „Weil wir uns gestern verlobt haben …“
„Schön, dass ich bei dieser Gelegenheit auch davon erfahre.“
„Nicht eifersüchtig sein, Harris.“
„Von mir aus kannst du auch den Chef des kolumbianischen Drogenkartells heiraten.“
„Den hat man kürzlich beim Fluchtversuch erschossen.“
„Remmer ist eigentlich schon ein bisschen alt für dich, oder?“
„Zehn Jahre sind heutzutage kein Altersunterschied mehr. Es gibt Achtzigjährige, die Zwanzigjährige heiraten. Ein trainierter Sechzigjähriger kann fitter sein als ein lahmer Dreißigjähriger.“
„Musst du mir nicht erzählen“, sagte Harris. „Und wie kommt ihr plötzlich dazu? Ich meine, ihr habt euch doch immer umschlichen wie zwei unglücklich Liebende, die wegen irgendwelcher neurotischer Defekte nicht zueinander kommen können?“
„Neurotisch würde ich nicht sagen. Harald hatte ein Verhältnis mit einer verheirateten Vierzigjährigen, und ich wollte die Dinge nicht noch komplizierter machen, als sie waren.“
„Ein Verhältnis? Davon hör’ ich heute zum ersten Mal. Ich dachte, er stände in seiner Freizeit eher auf geleimtem Sperrholz und miniaturisierten Flugzeugmotoren?“
„Manchmal bist du doch ein Ekel“, sagte Cilli. „Aber ich weiß ja, dass hinter deinen rauen Manieren ein ganz lieber Kerl steckt …“
„Sonst hättest du dich längst in die böse weite Welt davongemacht?“
„Ehrlich gesagt bin ich gern hier. Das Haus hat so eine schauerliche Atmosphäre! Es eignet sich hervorragend, um psychologische Studien zu treiben. Manchmal wache ich nachts auf und frage mich, ob es nicht vielleicht noch mehr Eingemauerte in dem alten Gemäuer gibt. Der Keller des Anbaus ist so unübersichtlich, kein Mensch hat mehr einen Bauplan davon.“
„Und wenn Harald plötzlich auf die Idee kommt, einen eigenen Hausstand zu gründen?“
„Dann werde ich sicher nicht ablehnen.“
„Hab’ mir schon gedacht, dass du mir dann untreu wirst.“
„Wir werden dir einen Haufen Nachkommen zum Babysitten bringen – die kannst du dann genauso bemuttern wie mich.“
„Bevatern. Ich würde niemals auf die Idee kommen, deiner Mutter Konkurrenz zu machen.“
Cilli warf ihm einen missbilligenden Blick zu, weil das ein Thema war, über das sie ungern redete. Aber Harris hatte schon lange das Gefühl, die Art und Weise, wie Cilli als Kind von Katrin links liegengelassen worden war, setze ihr mehr zu, als sie zugab. Schweigen und Lächeln waren eben doch keine Waffen, um fehlende Mutterliebe zu ersetzen. Vielleicht, so dachte er manchmal, war ja auch Cillis fast schon besessen zu nennendes Psychologiestudium nur der Versuch, mit dieser Kränkung fertig zu werden.
„Was ist das ...?“, fragte Cilli.
„Was ist was?“, sagte Harris und drehte sich langsam nach Cillis ausgestreckter Hand um. Er hätte ihr nicht gut gestehen können, dass er die Schmiererei auf dem Spiegel schon beim Durchsuchen des Zimmers entdeckt hatte. „Keine Ahnung ... mach Dich nicht lächerlich, Harris ...“, murmelte er nachdenklich. „Stammt das vielleicht von einem deiner Kommilitonen?“
„Nein, dann hätte ich’s schon früher bemerkt.“
„Hm, merkwürdig. Was kann das zu bedeuten haben?“
„Keine Ahnung. Das ist doch keine dumme kleine Retourkutsche von dir wegen der Puppe im Lichtschacht?“, fragte Cilli argwöhnisch. „Sieht ein bisschen nach deiner Handschrift aus.“
„Nein, ich schreibe flacher. Mein großes M hat nicht diesen komischen Schnörkel am Ende. Und das C von Cilli ist viel zu stark gewölbt. Warum sollte ich auch versuchen, dich mit so einem dummen Spruch auf den Arm zu nehmen, Kleines?“, sagte Harris kopfschüttelnd und legte seinen Arm um ihre Hüfte.
„Ja, du hast recht, bitte entschuldige.“ Cilli ging zum Spiegel und wischte mit dem Finger über die Buchstaben. „Glaubst du, dass es wieder abgeht?“
„Mit Spiritus sicher.“
„Und was unternehmen wir jetzt? Was heißt ‘mach Dich nicht lächerlich’?“
„Keine Ahnung. Da scheint sich jemand einen schlechten Scherz mit uns zu machen.“
„Wie ist er denn überhaupt ins Haus gelangt?“
„Wenn ich das wüsste …“, meinte er gedankenverloren. „Sieht so aus, als wenn jemand Nachschlüssel besäße.“
Auf die Idee, es könnte dieser verrückte junge Bursche namens Robert Quant sein, schien sie glücklicherweise nicht zu kommen. Dann hätte sie sicher auf der Stelle das ganze Psychologische Seminar alarmiert.
Harris hatte beschlossen, sich den Rest des Tages seiner Malerei zu widmen. Das würde ihn auf andere Gedanken bringen. Bei nichts anderem konnte man so gut seine Probleme vergessen wie bei der Landschaftsmalerei. Ein expressionistisches oder gegenstandsloses Bild war dazu viel weniger geeignet. Bei Landschaften versuchte man immer bestimmte Stimmungen einzufangen, und das brachte einen leicht in dieselbe Gemütslage, die auch das Bild ausdrückte.
Harris hatte sich sein Atelier im Dachgeschoss eingerichtet und einen Teil des Schrägdachs wegen der Lichtverhältnisse durch Dachpfannen aus Glas ersetzen lassen.
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