»Ich habe meine Waage weggeworfen und das Maßband zu meinem Nähzeug gelegt. Weg damit! Ich habe beschlossen, mich in den Agenturen nicht mehr messen zu lassen. Entweder man will mich so, wie ich jetzt bin, oder nicht.«
(Anne-Sophie Monrads Instagram-Post vom Oktober 2018)
Als sie 18 war, bekam Anne-Sophie Monrad ihren ersten Modelvertrag und gehörte jahrelang zu den meist gebuchten deutschen Models. Bis sie mit einem Instagram-Post gegen die Zustände hinter den Kulissen des Modelbusiness protestierte und ihrem Leben eine neue Richtung gab.
Nun redet sie Klartext: Sie schildert ihren Weg von der normalen Schülerin zu einem der gefragtesten Laufstegmodels – und stellt offen und ehrlich die Probleme dar, die der Traumberuf vieler junger Menschen bei allem Glitzer und Glamour mit sich bringen kann: Magerwahn, finanzielle Ausbeutung, Konkurrenzdruck und sexuelle Belästigung.
Originalausgabe
© 2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
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Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky unter Verwendung eines
Fotos aus der Fashion Show von Silvio Betterelli, Mailand 2011
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eBook ISBN 978-3-423-43801-8 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-74063-0
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Mit diesem Instagram-Post beendete ich im September 2018 ein Kapitel meines Lebens, das zehn Jahre zuvor mit einem Traum begonnen hatte. Ich wollte um die Welt reisen, auf Modenschauen laufen, gestylt, fotografiert, berühmt werden, auf Partys gehen, viel Geld verdienen, kurz: Ich wollte ein Model sein.
Mein Traum ging in Erfüllung, ich wurde eines der am besten gebuchten deutschen Models. Nur hatte dieser Traum auch unzählige dunkle Episoden. Es war ein ständiges Auf und Ab. Mal war ich der Star, mal der Loser. Mal war ich Anni, mal »Darling«, mal nur ein Kleiderständer. Mal war ich in Topform, aber meistens »zu dick«. Mal fragte ich mich, wofür ich das alles machte, mal ergab alles Sinn. Mal wollte ich alles hinschmeißen, mal nur noch diese eine Saison mitnehmen, um Geld zu verdienen und noch einmal eine der großen Shows zu laufen.
Ich merkte schnell, was es heißt, ein Model zu sein: Ich musste funktionieren, jederzeit bereit sein – auch nachts. Ich musste Körpermaße haben, die kaum eine erwachsene Frau von Natur aus hat. Alle sagten, ich müsse in shape sein, aber keiner sagte mir, wie das ging.
Tokio, New York, London, Mailand, Paris. Ich war nirgends alleine mit meinen Figurproblemen. Wir Models redeten ständig von Diäten. Kein Wunder, wurden wir doch dauernd für unsere Körper kritisiert. Ich zum Beispiel wurde »Fatty« genannt, andere »Fuckface«, meine Beine wurden als »Löwenschenkel« bezeichnet, mir wurde geraten, meinen Hüftspeck absaugen zu lassen, man bot mir Drogen an, damit ich den Hunger nicht mehr spürte. Ich versuchte, stark zu bleiben, die Kritik an meinem Körper nicht persönlich zu nehmen, und fuhr gleichzeitig fort, ihn zu zerstören. Das eigene Körpergefühl überhörte ich, die Stimmen, die riefen, ich sei das perfekte Paket – der Look, die Größe, die Ausstrahlung, die Persönlichkeit und die Figur, so ich denn die richtigen Maße hatte –, waren lauter.
Ich hungerte, machte Sport bis zum Umfallen, wickelte mir Folie um die Beine und Hüfte, weil man damit angeblich das Fett ausschwitzte, trank nur noch Saft, spuckte das Essen nach dem Kauen wieder aus, teilte mir mit einem anderen Model einen Muffin, der ohnehin nur 80 Kalorien hatte.
Es hieß: »Bring your personality«, aber eigentlich wirst du in einen Rahmen gepresst, in den du passen musst. Du musst abliefern. Du musst stark sein, weil es so viele Unsicherheiten, so viel Warterei, so viel Konkurrenz gibt. Das Motto ist: immer lächeln, immer freundlich sein. Wer gekränkt oder abgelehnt wird, geht auf die Toilette und heult dort. Heimlich. Niemals Schwäche zeigen.
In all dieser Zeit hat meine Umgebung meinen psychischen und physischen Zustand geprägt – und zwar nachhaltig. Ich habe nach wie vor Schwierigkeiten, ungezwungen mit Essen umzugehen und mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Ich bekam über Jahre hinweg meine Periode nicht. Wer weiß, ob ich je Kinder kriegen kann.
Ich gebe niemandem die Schuld dafür. Ich habe mich freiwillig dafür entschieden, Model zu werden und zehn Jahre lang Model zu bleiben. Keiner setzte mir eine Pistole auf die Brust und zwang mich dazu. Und zweifelsohne hatte ich auch tolle Begegnungen und Momente, die ich weder missen noch in diesem Buch verschweigen möchte.
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. So ist das auch im Mode- und Modelbusiness – und zwar in jedem Department: Agenten, Booker, Fotografen, Stylisten, Make-up-Artists, Art-Direktoren, Casting-Direktoren, Designer und natürlich auch Models, sie alle kämpfen um ihren Platz im Licht, der so winzig ist, als zünde man ein Streichholz in einer Höhle an und alle stürzten sich darauf, um in dessen Licht zu strahlen. Natürlich schaffen es einige – pures Glück spielt hierbei übrigens eine entscheidende Rolle. Und natürlich wollen sie ihren Platz, so lange und gut es geht, verteidigen, was am einfachsten ist, wenn man sich selbst die Nächste ist. In diesem Business geht es um Macht, die als Traum verkauft wird. Wer sie nicht hat, kämpft darum. Wer sie hat, zeigt sie und setzt alles daran, sie zu behalten. Es ist kein Wunder, dass weibliche Models »Mädchen«, »Mädels« oder »Girls« genannt werden. Es klingt nett, macht uns rhetorisch aber klein, ahnungslos und schwach. Dort, im kindlichen Stadium, in dem wir unsere Karrieren häufig beginnen, sollen wir gehalten werden, damit wir mitspielen und nicht aufbegehren.
Ich hatte immer wieder Momente, in denen ich kurz innehielt und alles infrage stellte. Richtig aufgewacht bin ich allerdings spät. Warum? Weil niemand etwas sagt. Weil alle weiter- und weiter- und weitermachen und all das als so normal verkaufen, dass man eher an sich selbst zweifelt als am System. Ich lebte in einer Blase voller Träume und Erwartungen. Der größte dieser Träume war es, einmal für Chanel zu laufen – er ging in Erfüllung. Und nicht nur dieser. Ich arbeitete für viele andere Top-Designer und -Labels, was immer wieder zu Hoch- und Glücksgefühlen führte.
Dann wurden innerhalb kurzer Zeit mein Vater und eine enge Freundin schwer krank. In dieser Zeit lebte ich in Paris, bildete mir ein, glücklich zu sein in meiner Welt, die aus Sport, strenger Ernährung und Geldverdienen bestand. Ich begriff, wie sehr ich mit meinem Körper und meiner Gesundheit spielte und dass ich es selbst in der Hand hatte, mich darum zu kümmern – ein schwer kranker Mensch hat diese Möglichkeit oft nicht mehr.
Ich fragte mich selbst immer öfter, was wirklich wichtig im Leben war und nach dem Sinn von alldem, was ich täglich tat und mir verbat – und entschied mich am Ende für mich, für meine Gesundheit, für mein Leben. Ich begann eine Ausbildung zur Ernährungsberaterin, um zu lernen, wie man richtig isst, was der menschliche Körper braucht und was nicht. Ich warf meine Waage weg und legte das Maßband zu meinem Nähzeug.
In der Vorstellung vieler Menschen haben wir Models vor allem Spaß, werden ständig umsorgt, gestylt, gehen auf Partys, feiern mit Prominenten und fliegen First Class. Ja, das gibt es! Auch! Aber oft nur ganz oben. Und von den vielen, die es versuchen, werden nur sehr wenige Topmodels.
Was wir allerdings alle gemeinsam haben, ist, dass die negativen Seiten unserer Welt – der Druck, das Warten, die Einsamkeit, das Hungern, die Rückschläge, die (Vor-)Urteile, die Ohnmacht – nur selten gezeigt oder überblendet werden. Soziale Medien wie Instagram etwa verstärken den Gegensatz von Schein und Wirklichkeit. Dort, wo das Leben als glücklicher und schöner inszeniert wird, als es eigentlich ist, bilden Models keine Ausnahme. Im Gegenteil. Auch ich habe immer wieder Bilder gepostet, auf denen ich mit Schokocreme, Kuchen oder Popcorn zu sehen bin. Auch ich habe gesagt: »Ich mache nur ein bisschen Sport und kann alles essen, was ich will«, während mein Magen seit Stunden knurrte. Auch ich habe der Welt zu verstehen gegeben, Modeln sei der pure Spaß. Ich habe die Menschen geblendet – aber warum? Damit die Branche weiterhin ihre coole Fassade bewahrt?
Natürlich kann man einwenden, dass niemand Model werden muss. Auch ich nicht. Aber man kann ja mal die Frage stellen: Ginge es ohne uns? Wäre diese Welt, in der wir ständig von Werbung umgeben sind, ohne Models denkbar? Und wenn nein, ist es dann nicht wichtig, darüber zu sprechen, unter welchen Bedingungen wir arbeiten? Und ist es nicht wichtig, darüber zu sprechen, dass wir ein Schönheitsideal transportieren, das kaum erreichbar ist? Der Versuch, dieses Schönheitsideal tatsächlich zu erreichen, kann physisch krank machen. Und der Gedanke, es niemals erreichen zu können, kann psychisch krank machen.
Ich werde in diesem Buch auf zwei Reisen gehen. Die eine führt mich in meine Vergangenheit. Ich erzähle dabei von den Stationen meiner Karriere, von den Heimweh- und Glücksmomenten, von Bewunderung und Spott, von Geldsegen und -sorgen, von Disziplin und Zügellosigkeit, von Hunger und Sattsein, von Kalorien und Sport, Essstörungen, Sucht und Sehnsucht, von Freundinnen und Konkurrentinnen, vom Druck, von Maßbändern, ausbleibenden Perioden, von Schönheitsidealen, die krank machen und in der Modeindustrie dennoch als Norm gelten, von Depressionen, Übergriffen, Macht und Ohnmacht – und meinem Entschluss, aus der Branche auszusteigen.
Auf meiner zweiten Reise treffe ich Akteure aus der Branche, mit denen ich über das Modelbusiness und ihre Sicht darauf spreche, unter anderem Wolfgang Joop, Kristian Schuller und Jacob Mohr. Ziel dieser Reise ist es, das Business und seine Mechanismen besser zu verstehen.
An erster Stelle möchte ich mich bei Katrin bedanken.
Für die vielen Gespräche, in denen wir gelacht und geweint haben und in denen ich mich geborgen gefühlt habe. Danke für die gute Zusammenarbeit!
Dank gilt außerdem der Agentur Graf und Graf, besonders Franziska Günther, die uns immer zur Seite stand und dieses Projekt überhaupt erst mit uns ins Leben gerufen hat.
Cici, Jacob Mohr, Kristian Schuller und Wolfgang Joop – danke für die Ehrlichkeit und das entgegengebrachte Vertrauen.
Und natürlich danke ich meiner Familie. Meinen Eltern, bei denen ich viel Zeit verbracht habe, als ich am Buch gearbeitet habe, und meinen Geschwistern, bei denen ich mir Rat geholt habe.
Ohne Euch wäre es nicht zu dem geworden, was es ist.
Anne-Sophie Monrad
Mein Dank gilt meiner großartigen Agentin Franziska Günther für ihre Unterstützung.
Ebenfalls danke ich Anne Tröst und Sven Michaelsen für ihre stets klugen Gedanken.
Und schließlich: Danke an meine Familie und meine Freunde. Ohne Euch wäre alles nichts.
Katrin Blum
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Juli 2010: Ich saß auf dem winzigen Balkon meines Apartments. Es war heiß, so heiß, dass ich kaum Luft bekam. Und es war laut. Das Rauschen der Großstadt wurde begleitet von Hupen, Sirenen und dem Feierabendverkehr, von Lautsprecherdurchsagen und dem Lärm um den U-Bahnhof Akasaka herum, der nur ein paar Schritte von meinem Haus entfernt war. Mein Laptop lag auf meinem Schoß, ich skypte mit meinen Eltern und meinem Bruder in Deutschland. Wir schrien gegen den Lärm an: »Alles Gute zum Geburtstag«, riefen sie.
Ich lächelte. Dann nahm ich meinen Computer, drehte ihn um und zeigte ihnen die Stadt und die untergehende Sonne. »Geh doch rein, dann hören wir dich besser«, rief meine Mutter. Aber ich wollte draußen sein, nicht drinnen, wo meine Mitbewohnerin auf ihrem Bett saß und jedes Wort mitbekommen hätte, obwohl sie sowieso nichts von dem verstand, was ich sagte. Sie war Russin, auch Model, und sprach weder Englisch noch Deutsch oder Japanisch. Sie sprach nur Russisch.
In unserem Apartment standen zwei Betten, an jeder Seite des Raums eines. Dazwischen und daneben war kaum Platz. Außerdem gab es eine Pantryküche – versteckt in einem Schrank, den wir nie öffneten, weil wir nie kochten –, ein Bad und diesen Balkon, den man eher als Austritt bezeichnen musste. Ich sah, dass mit meiner Familie etwas nicht stimmte, obwohl alle versuchten, fröhlich auszusehen. Immerhin hatte ich Geburtstag.
»Was ist los?«
Kurze Stille.
»Wir wollten es dir eigentlich nicht sagen.«
»Was denn?«
»Emmi ist eingeschläfert worden.«
Emmi, mein Hund. Mein Herz zog sich zusammen.
»Es musste sein.«
Ich merkte, wie mir Tränen in die Augen schossen, versuchte aber sofort, sie zu unterdrücken. Meine Eltern sollten sich schließlich keine Sorgen um mich machen. Sie sagten noch irgendetwas, wahrscheinlich, dass es ihnen leidtäte und dass sie mich lieb hatten, aber genau kann ich es nicht mehr sagen. Meine Gedanken waren nur bei Emmi und dem Gefühl, mich zusammenreißen zu müssen.
Als wir auflegten, brachen die Tränen und die Trauer aus mir heraus. Ich schrieb meiner Schwester eine Nachricht, sie antwortete: »Gönn dir jetzt was!« Und in diesem Moment wurde mir alles egal. Ich ging zurück in die Wohnung. Meine Mitbewohnerin, die sah, dass ich weinte, versuchte, mich zu umarmen, aber ich wollte nur raus, die Treppen runter, ins Freie.
Am Bahnhof gab es einen Platz, an dem man alles Mögliche zu essen kaufen konnte. Ich dachte an die Worte meiner Schwester, kaufte einen Corn Dog – ein Würstchen am Stiel, das von Teig umhüllt ist –, biss einmal rein und warf ihn weg. Ich kaufte mir Donuts, das gleiche Spiel: einmal reinbeißen, wegwerfen. So konnte ich mir hinterher einreden, ich hätte es eigentlich gar nicht richtig gegessen. Einmal reinbeißen zählte nicht. Ich kaufte Onigiri, einen Milch-Tee-Shake, Fast Food, Süßigkeiten, setzte mich auf eine Bank, biss rein, schmiss es weg. Ich fühlte mich verloren. Und während ich weinte, merkte ich, dass es bei meiner Traurigkeit nicht nur um Emmi ging, sondern auch um mein Heimweh, meine Einsamkeit und den Wunsch, das alles nicht machen zu müssen.
Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr.
Keiner versteht mich hier – und ich verstehe keinen.
Ich fiel und fiel. Doch da war niemand, der mich auffing. Da waren nur die Stimmen im Hinterkopf: Du hast so viel Potenzial, du wirst groß rauskommen, du wirst reich. In zwei Wochen sollte ich weiterreisen nach New York zur Fashion Week. Der Flug war schon gebucht, nur abnehmen musste ich noch, sonst hatte ich dort keine Chance.
Es vergingen zwei Jahre. Der Wunsch, Model zu werden, verging hingegen kein bisschen. In meinen Tagträumen sah ich mich immer wieder auf dem Laufsteg oder vor einer Kamera.
Mein Leben war inzwischen wieder unbeschwert. Ich fühlte mich wohl auf der neuen Schule, hatte gute Freundinnen und arbeitete im Kinderspielpark eines Einkaufszentrums, um finanziell unabhängig zu sein. Im Funpark machte ich alles: stand am Klettergerüst, frittierte Pommes, saß an der Kasse. Und dann gab es noch dieses Kostüm, in das an vollen Tagen immer einer von uns schlüpfen musste. Es stellte das Maskottchen des Einkaufszentrums dar: Mr. Scandi. Weil ich die Größte war, fiel die Wahl meistens auf mich. Manchmal wurde ich von den Kindern geboxt oder sie versuchten, mich zum Stolpern zu bringen, und außerdem schwitzte man fürchterlich darin. Aber eigentlich fand ich es total lustig, in einem Hero-Kostüm zu stecken. Man musste ja auch nichts machen, außer zu winken und mit Daumen hoch für Fotos zu posieren.
Es war eine glückliche Zeit, in der ich kein Kind mehr war, aber auch noch keine erwachsene Frau. Einerseits schmierte mir meine Mutter noch Schulbrote – so gesund, dass es mir manchmal peinlich war – und mein Vater holte mich immer von der Schule ab. Andererseits ging ich nachmittags mit meiner Freundin Katja ins Fitnessstudio oder in die Stadt und trank Latte macchiato, wie die Erwachsenen. Einmal, wir waren gerade shoppen, sagte Katja plötzlich zu mir: »Komm, wir verwandeln dich jetzt.«
Ich lachte. »Ja, verwandel mich mal.«
Ich ging in eine Umkleidekabine, zog mein Blümchenkleid aus und das an, was Katja mir reinstreckte: eine Leggins, einen Minirock, ein Longsleeve und ein Spaghettiträger-Top. Dann stellte ich mich vor den Spiegel.
Wow, das ist cool.
Ich sah so anders aus. »Kauf das! Unbedingt!«, sagte Katja und zog mich zur Kasse. Als ich die Sachen später meiner Mutter zeigte, fand sie sie im ersten Moment »schlimm, ganz schlimm«. Vielleicht wollte sie nicht, dass ihr jüngstes Kind jetzt auch groß und flügge wurde. Das Outfit trug ich trotzdem und merkte, wie ich mich damit erwachsener, cooler und auch schö-ner fand. Die Blicke der anderen bestätigten mir das. Meine Haltung und mein Körpergefühl hatten sich verändert, als sei ich in diesem Moment wirklich verwandelt worden.
Natürlich sah das auch meine Mutter und freute sich im zweiten Moment doch mit mir. Und natürlich wusste sie von meinem großen Traum, Model zu werden. Aber: Zu sehen, wie die eigenen Kinder erwachsen werden, hat eben oft zwei sich widersprechende Gefühle zur Folge. Einerseits den Wunsch, sie auf der Suche nach ihrem Glück ziehen zu lassen und sie dabei zu unterstützen. Und andererseits den Wunsch, sie weiterhin zu beschützen und noch eine Weile das Alte zu bewahren.
Ende Juni 2008: Kurz vor meinem 17. Geburtstag sahen meine Eltern zufällig die Talkshow 3 nach 9. Dort saß Toni Garrn neben ihrer – und später auch meiner – Agentin und sprach über ihr Leben als Model. Sie war erst 16, aber schon seit zwei Jahren im Geschäft. Der Moderator, Giovanni di Lorenzo, fragte die beiden, wie Toni damals entdeckt worden war und wie sie das jeweils wahrgenommen hatten. Dann ging es ums Dünnsein. Ob Toni denn eine »Nichtesserin« oder eine »Nichtzunehmerin« sei, wollte di Lorenzo wissen.
Toni sagte, sie esse eigentlich alles, was sie wolle, ihre Mutter sei schlank, ihr Vater groß, sie selber mache viel Sport. Dann erzählte sie, dass keine ihrer Freundinnen neidisch sei: »Meine ganzen Freundinnen unterstützen mich da total, sind supernett, […], also bei mir ist eigentlich alles supercool.« Sie sprach auch darüber, wie einfach es sei, in der Schule zu fehlen, weil alle sie unterstützten. Nur ihre Mutter, die sei nach wie vor etwas skeptisch und mache sich Sorgen, »wie jede normale Mutter auch«, und deshalb müsse sie sie auch jeden Tag anrufen, wenn sie weg sei.
Alleine durch die Welt zu reisen? Kein Problem! Einsam, sagte Toni, sei sie nie, die Mitarbeiter in den Agenturen und die anderen Models seien fast wie eine Familie. Außerdem gebe es ja Fernsehen, aber eigentlich sei sie sowieso den ganzen Tag nur am Set. Dann fragte di Lorenzo nach schmierigen Agenten und Fotografen, und alle waren sich einig, die existierten nicht, das sei alles sehr professionell. Es hörte sich traumhaft an.
Am Ende ging es noch darum, dass viele Models wirklich üben und ihre Scheu abbauen müssten, weil sie von Natur aus zurückhaltend seien, und dass manche schon ein, zwei Jahre bräuchten, um aus sich herauszukommen. Es klang, als würde man in der Branche Rücksicht darauf nehmen. Es klang, als würde man beschützt werden.
»Alles wirkte so leicht, fast spielerisch«, sagt meine Mutter heute. »Toni, ein Mädchen aus gutem Haus, dazu eine sympathisch wirkende Chefin der Agentur.« Die negativen Eindrücke von Germany’s Next Topmodel brachte sie damit gar nicht in Verbindung. So wie Toni es beschrieb, dachte sie, sei das wirkliche Leben als Model, wenn man denn nur an die richtige Agentur geriete.
Am nächsten Tag sagte meine Mutter zu mir: »Du, da war gestern so eine Toni von einer Hamburger Modelagentur im Fernsehen. Ich glaube, das kannst du auch!« Ich schaute sie nur an und dachte, ich höre nicht recht. Hatte sie wirklich gesagt, »das kannst du auch«?
Endlich! Sie glaubt an mich!
Dass meine Eltern diese Sendung gesehen hatten, sollte mir ein paar Wochen später zugutekommen. Im August hing in meinem Fitnessstudio in Flensburg ein Plakat, auf dem stand: »DIE EINE 2008. Der Center Modelwettbewerb«. Die Siegerin sollte einen Vertrag mit einer Agentur bekommen, keiner geringeren als der Agentur von Toni Garrn. War das meine Chance? Meine Freundinnen redeten mir gut zu: »Bewirb dich da. Du musst das versuchen, Anni!«
Ich sprach mit meiner Mutter, nicht nur, weil ich eine Unterschrift von ihr brauchte – ich war ja erst 17 –, ich wollte, dass sie wirklich hinter mir stand, wenn ich mich bewarb: »Schau mal, in zwei Wochen ist da ein Wettbewerb. Der ist von dieser Agentur aus dem Fernsehen. Darf ich mitmachen?«
Sie meinte nur: »Ja, kannst du machen« und unterschrieb. Einfach so.
Heute sagt meine Mutter darüber: »Ich dachte damals, warum nicht, die Agentur ist seriös und niemand wird mir meine Tochter sofort entreißen oder sie auf die schiefe Bahn ziehen. Ich fand es spannend, hatte im Kopf die Karriere eines Models, von dem ich meinte, es habe Ähnlichkeit mit Anne-Sophie. Warum sollte sie es nicht auch schaffen?«
Flensburg war die dritte von insgesamt zwölf Stationen des Wettbewerbs. In jeder Stadt gab es drei Runden, in denen nach und nach ausgesiebt wurde, bis schließlich zwei Gewinnerinnen pro Stadt feststanden, die ins Finale in Bremen einzogen.
Als ich mit meinen Freundinnen im Einkaufszentrum ankam, standen dort schon unglaublich viele Bewerberinnen. Hatte ich überhaupt eine Chance? Ich schaute sie mir an, überlegte, ob ich hübsch genug war, besser als sie laufen würde oder die bessere Figur hatte. Das Konkurrenzdenken hatte begonnen.
Bevor es losging, wurden zum ersten Mal in meinem Leben Maße von mir genommen. Es war vielleicht das letzte Mal, dass dies ohne den Hinweis blieb, ich müsse unbedingt an meiner Figur arbeiten. Meine Hüfte jedenfalls hatte einen Umfang von 104 Zentimetern. Das ist nicht ungewöhnlich für ein 17-jähriges Mädchen – für ein 17-jähriges Model schon, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Mitten im Einkaufszentrum war ein Laufsteg aufgebaut, vor dem eine Jury saß, die aus drei Männern be-stand: einem Vertreter des Einkaufszentrums, einem Vertreter des Optikers, der das Ganze sponserte, und einem Vertreter der Modelagentur. Es lief laute Musik und wir mussten alle in verschiedenen Outfits auf und ab laufen. Ich hatte keine Ahnung vom Laufen, ich machte es einfach, und meine Freundinnen standen daneben und klatschten und jubelten, wenn ich an ihnen vorbeikam.
Was für ein wahnsinniges Gefühl. Gänsehaut!
Die erste Runde war vorbei. Alle standen in einer Reihe und warteten auf das Ergebnis.
Bitte lass mich nicht rausfliegen.
Nicht jetzt, nicht in der ersten Runde.
Ich hörte meinen Namen. Ich war weiter.
Vielleicht schaffe ich es.
Vielleicht gewinne ich das!
In der Pause lief uns unser Deutschlehrer über den Weg.
Wir sagten: »Hallo.«
»Oh, hallo«, antwortete er. »Wie geht’s?« Dann zeigte er auf den Laufsteg: »Wer macht denn bei so einem Scheiß mit?«
Wir blickten erst uns, dann ihn an und zuckten mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte ich, grinste innerlich und zog die anderen weg.
Als ich auch in der zweiten Runde weiterkam, rief ich meine Eltern aufgeregt an: »Ihr müsst kommen. Aber jetzt sofort.« Rechtzeitig zur dritten und letzten Runde waren sie da, was mich noch entschlossener machte. Ich lief, nein, ich schwebte fast über den Laufsteg. Mit jedem Schritt fühlte es sich dort oben besser an.
Dann war die Runde vorbei – und ich flog raus. Fünfter Platz. Als sei ich mit Vollgas gegen eine Wand gefahren, war es mir auf einmal wahnsinnig peinlich, bei »so einem Scheiß« mitgemacht zu haben.
Dieses plötzliche Wechselbad der Gefühle sollte ich später noch häufig haben. In einem Moment fühlt sich alles richtig an und im nächsten komplett falsch. Jubeln sie dir zu, ist alles richtig, jubeln sie einer anderen zu, ist alles falsch. Das liegt unter anderem daran, dass man so fremdbestimmt ist. Du kannst talentiert sein, wunderschön und diszipliniert, und am Ende liegt es an deiner Haarfarbe, dass du einen Job nicht bekommst, oder an deiner Nase oder einfach an der Laune deines Gegenübers. Du kannst noch so viel gehungert und gegeben haben, um die richtigen Maße zu bekommen; wenn sie am Ende nicht stimmen, bist du raus.
Wer immer nur nach Kriterien beurteilt wird, die er selber kaum beeinflussen kann, ist permanent unsicher, obwohl man sich Unsicherheit in diesem Business nicht leisten kann. Selbstbewusst auftreten, aber gleichzeitig bescheiden sein: Das ist das, was von dir erwartet wird. Eine dauerhafte Zerreißprobe. Doch auch das wusste ich damals noch nicht.
Ich wollte schon nach Hause gehen, als einer der Juroren auf mich zukam. Er sagte, er sei von der Agentur. »Du bist mir aufgefallen. Du hast Potenzial. Hier ist meine Karte. Melde dich, wenn du an der Hüfte im Neunzigerbereich bist.«
Ich konnte mein Glück kaum fassen. »Ja klar, mach ich. Aber wie schaff ich das?«
Seine Antwort: »Knäckebrot, keine Schokolade, bisschen Sport.«
Am Abend saß ich mit meinen Eltern zu Hause beim Abendbrot. Ich aß Salat. Ohne Dressing.
Ich hab seine Karte. Ich will diesen Job.
Ich schaff das! Ich nehm jetzt ab.