Roman
Siebenunddreißig oder: I wish everybody knew
Hinein
Vierzehn oder: it’s fun to lose and to pretend
Fünfzehn oder: go on, take everything, take everything I want you to
Sechzehn oder: you’ll never gain weight from a doughnut hole
Siebzehn oder: nach der verlorenen Zeit
Achtzehn oder: every time I rise I see you falling
Neunzehn oder: you’re so fucking special
Rein, raus, rein, raus
Zwanzig oder: do you like to hurt?
Einundzwanzig oder: your love is still fresh in my mind
Zweiundzwanzig oder: I love you, golden blue
Dreiundzwanzig oder: if I could settle down
Vierundzwanzig oder: show me how you do that trick
Hinaus
Fünfundzwanzig oder: this is the end, my only friend, the end
Sechsundzwanzig oder: this is how it works
Siebenundzwanzig oder: was ich hier geliebt hab und was mich
Siebenunddreißig oder Ende
Bei der Therapeutin sieht es aus wie damals, selbst die Therapeutin sieht aus wie damals, »gut sehen Sie aus«, sagt sie zu Anna.
Anna hat angefangen abzunehmen, als sie aufgehört hat, abnehmen zu wollen, aufgehört hat zu hungern, aufgehört hat darüber nachzudenken, was sie essen soll, angefangen hat zu essen, was immer sie will.
»Es hat lange gedauert, bis Sie mir vertraut haben«, sagt die Therapeutin, als Anna sie fragt, wie sie damals war, »Sie haben niemandem vertraut.«
Anna denkt ans Ende, es ist leichter am Ende zu beginnen als am Anfang. »Du warst die Letzte, die den Opa lebend gesehen hat«, hört sie in ihrem Kopf, wenn sie an den Anfang denkt. Wenn sie an den Anfang denkt, dann sieht sie Erbsenreis auf Asphalt und den Rettungswagen, sie sieht die Oma vor einem Teller mit Kaffee und Sterz, sie sieht die Oma vor einer Schüssel mit Kartoffelsalat und Gurken, die Oma vor einer Schüssel mit Schlagsahne, sie sieht die Oma auf der Klomuschel sitzen, sie hört ihre eigene Stimme, »versprich mir, dass du wiederkommst, versprich es mir«, sie sieht die Oma im Vorzimmer umfallen und wie die Sanitäter sie davontragen.
Anna denkt an den Anfang, sie weiß nicht, wo sie beginnen soll. »Mit Kurt hat alles angefangen«, hat die Mutter immer behauptet, wenn Anna an den Anfang denkt, denkt sie daran, wie alles begonnen hat sich aufzulösen, wie Kurt begonnen hat sich aufzulösen, wie die Freundinnen begonnen haben sich aufzulösen, wie die Familie und der Körper, sie denkt an den Schwindel und an das Silberpapier der Schokolade, ihr wird noch immer schwindlig, wenn sie an den Anfang denkt, ihr wird übel, vielleicht, denkt sie, ist die Hose zu eng.
»Wenn man keine Sprache, keine Wörter findet, dann spricht der Körper«, hat die Therapeutin behauptet und Anna wird noch immer schlecht, wenn sie an die erste große Liebe denkt. »Deine erste Liebe«, haben sie gesagt, »war der Martin. Im Kindergarten hast du immer draußen auf den Martin gewartet und erst wenn der Martin da war, dann bist du mit dem Martin gemeinsam hineingegangen.« Martin ist dann in eine andere Stadt gezogen, Anna kennt ihn nur von Fotos, wie austauschbar das Aussehen, wie austauschbar die Namen sind.
»Es hat schon viel früher angefangen«, meint die Therapeutin, »in Ihrer Kindheit.« Wenn Anna an ihre Kindheit denkt, dann denkt sie an die Träume, denkt daran, wie sie in ihren Träumen aus dem gekippten Fenster ihres Zimmers klettert, sie ist so klein, dass sie durch den Spalt passt, sie ist so groß, dass sie ohne Probleme den Balkon über dem ihren erreichen kann, sie ist so leicht, dass sie von einem Haus zum nächsten springen, dass sie über die Dächer der Stadt springen kann, sie sieht von außen in die Wohnungen der anderen, sieht in die Wohnung ihrer besten Freundin.
Petra hat einen großen Bruder, der sie ärgert, und einen kleinen Bruder, den sie ärgern, Petra hat einen Papa, der abends nach Hause kommt, in der Küche Bier trinkt und Zigaretten raucht, während die Mutter und die Mutter von Petra im Wohnzimmer sitzen und reden. Petra fragt ihre Mutter, ob Anna und sie sich ein Stück Schokolade aus der Süßigkeitenlade in der Küche holen dürfen. Sie gehen den Gang entlang, öffnen die Küchentür, schlüpfen hinein in den Rauch, aus dem Rauch heraus sagt der Papa etwas zu Petra, das Anna nicht versteht, Petra kichert, öffnet die Lade, bricht ein Stück Schokolade ab, drückt es Anna in die Hand, kichernd laufen sie aus der Küche. »Als Kind hatte sie Angst vor Männern«, heißt es.
Die Bananenkiste ist schwer. Zu schwer, denkt Anna und beugt sich hinunter, der Bauch ist im Weg, der Bauch ist nicht schwer, nicht besonders groß, denkt sie, aber im Weg ist er doch, als Anna die Kiste vorsichtig aus dem Regal zieht, auf den Boden fallen lassen lässt und in die Mitte des Raumes schiebt, der Bauch ist im Weg, als sie sich über die Kiste beugt und den Deckel abhebt. Die Bananenkiste voll Tagebücher, die Tagebücher nach Jahren sortiert, die Jahreszahlen mit Marker auf die Buchrücken geschrieben. Anna greift zum ersten, Tagebuch für liebe Gedanken, liest sie, Heinz hat ihr das Tagebuch geschenkt. Auf dem Einband stehen der kleine Bär und der kleine Tiger und umarmen sich mit heraushängenden Zungen. Darunter steht: Ist für dich. Sie erinnert sich, wie sie mit Füllfeder in ihr erstes Tagebuch geschrieben hat. Wie sie heißt, wo sie wohnt, in welchem Jahr sie geboren ist, in welche Schule sie geht, wie viele Buben und Mädchen in ihrer Klasse sind. Sie hat eine Zwischenüberschrift mit blauem Filzstift gemacht: Meine Mitschüler. Sie hat die Namen aller Mitschüler aufgeschrieben und an der richtigen Stelle im Alphabet steht: ich. Anna liest, was sie damals geschrieben hat. Dass sie sich einen Game Boy wünscht, dass sie sich von ihrem ersparten Taschengeld einen Game Boy kaufen möchte, dass sie traurig ist, weil die Mutter das nicht erlaubt.
Anna zählt die Tagebücher in der Kiste, sie zählt die Jahre, rechnet sich die Tage aus, an denen sie nichts anderes gemacht als gegessen, nichts anderes als gefressen und gekotzt hat, sie möchte nicht wissen, wie oft sie das Wort fett in ihr Tagebuch geschrieben hat, sie fragt sich, wie oft sie das Wort fett weglassen, wie oft sie das Wort essen, das Wort fressen, das Wort kotzen durch ein anderes Wort ersetzen, sie fragt sich, wie viele Männer sie weglassen kann, weglassen muss, das Leben, weiß Anna, schreibt keine Romane.
Die Buben aus der Klasse schreiben Listen und vergeben Punkte, ich bin die Nummer zwei auf der Liste, bei Schönheit habe ich hundert Punkte, dabei sind die anderen doch viel schöner als ich, liest sie in ihrem Tagebuch, sie erinnert sich, die Mutter ist im Zimmer gestanden, immer kommt die Mutter in mein Zimmer ohne anzuklopfen, liest Anna, sie beschwert sich, dass ich die Tür zumache, ein paar Jahre später ist sie ins Zimmer gekommen und hat gesagt: »Ist das ein Tagebuch? Wenn du wieder ein Tagebuch anfängst, dann bemüh dich um eine schöne Sprache.«
Anna denkt, ihr wollt Gründe, »nimm die Ellbogen vom Tisch«, sagt die Mutter, »das ist zu erklärend«, werdet ihr sagen, »zu pädagogisch«, werdet ihr sagen, Anna weiß, wie heikel, sie weiß, wie hungrig ihr seid. »Was ist jetzt mit dem Vater«, werdet ihr fragen, »ich habe keinen«, sagt Anna, es gibt keine Gründe, denkt sie, »es gibt immer einen Grund«, sagt die Therapeutin, »warum macht sie das«, werdet ihr fragen, meine Liebe, liest Anna, wächst überall, meine Sprache ist ein uneheliches Kind.
Anna weiß, ihr wollt Höhepunkte, Tiefpunkte, ihr wollt keine endlose Wiederholung. »Wie dick ist sie eigentlich?«, werdet ihr fragen, »wie dünn ist sie wirklich?«, werdet ihr fragen und Anna wird euch auslachen, es wird euch nicht schmecken. »Sie sollte noch mehr essen, das ist ja gar nicht so viel«, werdet ihr sagen, »sie sollte weniger essen, sie hungert ja nicht wirklich«, werdet ihr sagen, »bis sie eingeliefert wird, vielleicht«, werdet ihr sagen, obwohl ihr nichts bemerkt, nie etwas bemerkt habt, wenn Anna vor euch gestanden ist, wenn sie vor euch steht.
»Und ihre Gesundheit?«, werdet ihr fragen, mein Darm ist tausend Jahre alt, liest Anna, »und die Zähne«, hat die Mutter gerufen, als Anna ihr von der Bulimie erzählt hat, »du machst dir ja die Zähne kaputt.« Sie hat noch alle Zähne, bis auf den einen, den Petra ihr mit einem Teller ausgeschlagen hat, ein Unfall, sie hat gute Zähne, vom Vater vielleicht, aber als sie aufgehört hat zu kotzen, kamen das Asthma, die Allergien, Drehschwindel, Sinusitis, Neurodermitis, Schlafstörungen, Panikattacken, Depressionen, die Gastritis war irgendwann weg, manchmal wundert sie sich, dass ihre Verdauung, dass ihr Körper überhaupt noch funktioniert.
»Ich kann mich ans letzte Mal erinnern«, sagt Anna zur Therapeutin, sie nennt ein Datum. Ich werde nie wieder kotzen, liest Anna in ihrem Tagebuch, ich habe Angst vor diesem Satz, liest sie, aber ich habe das Gefühl, es war das letzte Mal. Sie zählt die Jahre seit dem letzten Mal, denkt an die paar Mal, die sie seitdem gekotzt hat, weil sie zu viel getrunken hatte, denkt daran, dass sie seit Monaten nichts getrunken, keine einzige Zigarette geraucht hat, dass sie sich kein einziges Mal übergeben musste, ein bisschen schade ist es schon, denkt sie, weil sie es doch wirklich gut kann.
Ist es das Ende, denkt Anna, wenn ich der Mutter verziehen, ist es das Ende, liest sie, wenn ich mich mit der Mutter versöhnt, ist es das Ende, wenn ich die Suche nach dem Vater, das Ende, wenn ich den Wunsch nach unmöglicher Liebe, zu psychologisierend, werdet ihr sagen, denkt Anna, denkt sie, das problemlose Mädchen, I won’t be vacant anymore, die Problemtochter, I won’t be waitin’ anymore, die Strebsame, der Star und die Außenseiterin, I won’t be vacant anymore, alles, was sie über Hunger weiß, denkt Anna, I wish everybody knew, ist es das Ende, what’s so great about you, ist das Ende nicht der Anfang, oh, but your love is such a swamp, you don’t think before you jump …
I hate myself and I want to die, schreibt Anna in ihr Tagebuch. Sie mag nicht mehr Mathe lernen, nicht mehr Latein. Mein Kopf zerplatzt gleich, gleich muss ich mich übergeben, schreibt sie. Sie möchte herumliegen und nichts tun. Sie wollen mich mästen, schreibt sie in ihr Tagebuch und hört, liest, wiederholt immer wieder, and I forget just why I taste. Sie versucht es mit den Mädchen aus ihrer Klasse, die sich jeden Tag streiten, sie versucht es mit den wenigen coolen Typen in der Schule, sie schreibt, ich will nicht sterben, ich will anders sein, jemand, mit der die coolen Leute reden, die Leute mit den bunten Haaren und den zerrissenen Hosen, mit den Wollwesten, Converse und Piercings.
Sie sitzen gegenüber vom Breakdance am Boden, zwischen der Geisterbahn und dem Karussell, der eine klein mit einem roten Iro, der andere sieht aus wie Kurt Cobain, nur größer. Sie verbeugen sich vor den Rummelplatzbesuchern, sie lachen alle aus, nur Anna, Petra und Melli lachen sie an. Anna, Petra und Melli kommen näher, bleiben stehen, setzen sich zu ihnen auf den Boden.
»Ich bin der Kurt«, sagt er.
»Wirklich?«, fragt Anna.
»Was ist schon wirklich«, sagt er und prostet Anna zu, hält ihr eine Bierdose entgegen und eine seiner selbst gedrehten Zigaretten. Seine Augen sind groß und blau, seine Haare blond, gebleicht, seine Jeans löchrig. Die Sätze hängen wie abgerissene Fäden zwischen ihnen, die Blicke durchbrochen von bunten Lichtkegeln und die Bügel vom Breakdance schließen sich, die Plattform beginnt sich zu neigen, zu heben, zu drehen.
Als Anna Kurt das nächste Mal sieht, lacht er nicht. Sie weiß nicht, ob er sie begrüßt, weil sie, sobald er sie ansieht, wegschaut. Sie weiß nicht, ob er sich an sie erinnern kann, es würde sie wundern, wenn er sich an irgendetwas und gerade an sie erinnern kann, aber sie bildet sich ein, dass er sie ansieht, die nächsten Male, als sie sich über den Weg laufen, sie bildet sich ein, dass er sie sieht, wenn sie ihn sieht und sie sieht ihn immer. Am Hauptplatz zwischen den anderen, im Park zwischen den anderen, auf der Straße kommt er ihr entgegen und steht vor dem Keller herum, obwohl er alt genug ist, um hineinzudürfen. Er sitzt auf der Straße vor dem Keller neben ihr, zufällig, denkt sie und dass er traurig aussieht, traurig und schön, obwohl er alle kennt, obwohl alle auf ihn stehen, obwohl er aussieht wie Kurt Cobain, als einziger wirklich ist wie Kurt Cobain.
Anna fühlt sich, als wäre sie betrunken, obwohl sie noch nie so richtig betrunken war. Sie sitzt in der Schule und alles beginnt sich zu drehen, sie geht von der Schule nach Hause und hat das Gefühl, über der Straße zu schweben. »Das Wachstum«, heißt es, »der Kreislauf«, hört Anna die anderen sagen, oder weil sie weniger isst, denkt sie, sie ist sich nicht sicher, ob sie wirklich weniger isst.
Anna verdreht den Oberkörper und versucht sich im Spiegel von hinten zu sehen. Sie schlüpft aus der Jeans, in die andere Jeans hinein, blickt in den Spiegel, verdreht sich, so weit sie kann.
»Komm heraus«, hört sie die Stimme der Mutter.
Anna öffnet die Tür der Umkleidekabine, macht einen Schritt nach vorne, dreht sich einmal um die eigene Achse. »Ist die nicht ein bisschen zu eng«, sagt die Mutter und Anna zuckt mit den Schultern, geht zurück in die Umkleidekabine, schlüpft aus der Jeans, blickt auf das Etikett mit der Größe, die darf nicht zu eng sein, denkt sie.
Anna geht mit der Mutter durch die Fußgängerzone, hoffentlich trifft sie jetzt niemanden, denkt sie, es ist noch Vormittag, aber Schulschluss, die Fußgängerzone füllt sich, sie blickt hinunter auf die neuen Schuhe. »Nicht wieder schwarz«, hat die Mutter gesagt und die Farbe ist eigentlich ganz okay, denkt Anna, braun wie Dreck. Sie sieht auf, sieht auf der anderen Straßenseite, zwischen den anderen Fußgängern, über den anderen Köpfen die hell blondierten Haare von Kurt. Sie spürt einen Stich im Bauch, einen Schwindel, blickt zurück auf die Schuhe, atmet ein. Sie sieht wieder auf, dreht sich um, sieht Kurts Haare, seine grüne Wollweste, seinen roten Rucksack zwischen den anderen Fußgängern verschwinden.
»Habt ihr nur Kleidung eingekauft, oder gibt’s auch was zu essen?«, fragt Heinz, als sie mit den Einkaufstaschen im Vorzimmer stehen.
»Mathe-Genie bist du keines«, sagt er, als er den einzigen Zweier in Annas Zeugnis entdeckt, er grinst und drückt ihr einen Geldschein in die Hand, tätschelt ihr die Wange.
Anna geht in ihr Zimmer, zieht die neue Jeans und das dunkelblaue Shirt an. Sie geht ins Bad, kämmt die Haare und zerzaust sie wieder, bindet sie zusammen, seufzt, geht zurück ins Vorzimmer und schlüpft in die neuen Converse.
»Willst du nicht Mittag essen?«, ruft die Mutter aus der Küche.
»Wo geht sie jetzt wieder hin?«, ruft Heinz aus dem Wohnzimmer.
»Zum Abendessen bist du aber wieder da!«, ruft die Mutter.
»Nimm dir eine Weste mit«, hört Anna, als sie schon im Treppenhaus ist, sie läuft die Stufen hinunter.
Annas Lippen glühen, bildet sie sich ein und die Augen sind glasig, stellt sie fest, als sie später im Lift nach oben fährt. Sie blickt in den Spiegel, sieht ihr Gesicht und kann es nicht fassen, dass sie mit Kurt gesprochen, dass Kurt ihr zum Abschied ein Bussi auf den Mund gegeben hat, ihr und Melli, und dass sie und Melli ihn vielleicht, wahrscheinlich, hoffentlich gleich wiedersehen werden im Keller. Sie öffnet die Wohnungstür, es riecht nach Essen.
»Da bist du ja endlich«, sagt die Mutter, »deck bitte den Tisch.«
Anna geht in die Küche, greift zum Schrank, »hast du dir die Hände gewaschen?«, fragt die Mutter. »Natürlich«, sagt Anna, sie nimmt die Teller aus dem Schrank, nimmt Messer und Gabeln aus der Lade, »Suppe gibt es auch«, sagt die Mutter und Anna nimmt Löffel, greift wieder zum Schrank, nimmt die Suppenteller, »Servietten«, sagt die Mutter, Anna nimmt die Servietten und geht ins Wohnzimmer, stellt drei flache Teller, legt drei Servietten, stellt zwei Suppenteller, faltet drei Servietten, legt die Gabeln links, die Messer und Löffel rechts neben die Teller, »den Salat«, ruft die Mutter aus der Küche und Anna holt die Salatschüssel. Heinz steht vom Sofa auf und die Mutter trägt die Suppe herein, »den Untersetzer, bitte«, sagt die Mutter, Anna holt den Untersetzer und die Mutter stellt die Suppe auf den Tisch, sie nimmt den Schöpfer, hebt den Schöpfer hoch, hält inne.
»Ich mag keine Suppe«, sagt Anna.
»Sie weiß einfach nicht, was gut ist«, sagt Heinz und schüttelt den Kopf, die Mutter leert Annas Anteil in den Teller von Heinz, die Mutter geht zurück in die Küche.
»Darf ich noch mit Melli in den Keller gehen?«, fragt Anna, als die Mutter mit der Pfanne wiederkommt.
»Jetzt isst du zuerst einmal etwas«, sagt die Mutter und legt Anna ein Stück Fleisch auf den Teller und drei Kartoffeln dazu, drei riesige Kartoffeln, denkt Anna, sie isst Salat, »immer nur Salat«, sagt Heinz. Anna zwingt sich ein Stück Fleisch abzuschneiden und es in den Mund zu schieben, sie zwingt sich ein Stück Kartoffel, noch ein Stück Kartoffel zu essen.
»Ich kann nicht mehr«, sagt sie dann und »bitte, Mama, heute ist der letzte Schultag, alle gehen heute aus!«
»Bis halb zehn«, sagt die Mutter.
Anna und Melli biegen ums Eck, Anna sieht Kurt vor dem Keller stehen, er wartet wirklich vor dem Keller auf sie und er gibt Melli und ihr zur Begrüßung wieder ein Bussi auf den Mund. Er gibt sonst niemandem ein Bussi auf den Mund. Er öffnet die Tür zum Keller und Anna geht vorbei an den Türstehern, die sie heute nicht nach dem Ausweis fragen, geht hinein ins Dunkle, einen Gang entlang und die Stufen hinunter. Es riecht nach Bier, nach Rauch und Schweiß, Anna atmet ein.
Kurt begrüßt den Kellner hinter der Bar, der Kellner reicht ihm ein Bier, Melli nimmt ein Bier für sich und Anna gemeinsam. Kurt führt sie ganz nach hinten, an einen großen Tisch. Er setzt sich auf die eine Seite, Melli setzt sich neben ihn, Anna setzt sich gegenüber, ein Fehler, denkt sie sofort, denkt sie zu spät. Die beiden reden auf der anderen Seite des Tisches, die Musik ist laut, sie versteht kein Wort, hört nur die Musik, I’m so ugly, that’s okay, cause so are you. Kurt sieht auf, sieht sie an, schiebt die Zigarettenschachtel über den Tisch. Anna schüttelt den Kopf.
»Ich will noch wachsen«, ruft sie.
»Ich nicht«, sagt er, liest sie von seinen Lippen ab, die Farbe seiner Lippen, seine Gesichtsfarbe, die gebleichten Haare, wie er sich eine Zigarette in den Mund steckt, daran zieht und sie anlächelt, wie er von allen Menschen gerade sie anlächelt, wie er sie so anlächelt, dass Melli nachher auf dem Nachhauseweg zu ihr sagt: »Er mag dich viel lieber als mich.«
»Wir haben nicht mal miteinander geredet«, sagt Anna.
»Weißt du, was er gesagt hat«, sagt Melli, »dass du hübsch bist«, und dann sagt Melli gar nichts mehr.
Anna denkt an Kurt, während sie ihre Längen durch den Pool zieht, immerhin hat das Haus einen Pool, denkt sie, immerhin ist es für irgendetwas gut, das Haus von Heinz, wenn sie schon hier sein muss, viel zu weit weg von allem, viel zu weit weg von Kurt. Sie fragt sich, ob er einfach nie in der Stadt war, wenn sie in der Stadt war, fragt sich, ob er jetzt gerade in der Stadt unterwegs ist, fragt sich, ob es ihn wirklich gibt, ob er sie wirklich hübsch findet, ob sie ihn wiedersehen wird, stellt sich immer wieder vor, wie es wäre. Morgen, denkt sie, morgen ist sie wieder zu Hause und bis morgen, nimmt sie sich vor, wird sie nichts mehr essen. Sie klettert aus dem Pool und legt sich in die Sonne, sie betrachtet den Bauch. Sie zieht ihn so tief ein, wie sie kann, ein Loch, sie betrachtet die Bikinihose, die sich über die Hüftknochen spannt. Sie stellt die Beine auf und spannt die Muskeln an, starrt auf die Teile der Oberschenkel, die locker nach unten hängen, die müssen weg.
»Willst du ein Eis?«, ruft die Stimme von Heinz und Anna schüttelt den Kopf, steht auf, geht an Heinz vorbei ins Haus, ins Badezimmer, stellt sich auf die Waage, die Waage von Heinz zeigt noch mehr an als die Waage der Mutter.
Anna schiebt den Einkaufswagen den Gang entlang, blickt auf die Milch, das Joghurt, den Sauerrahm, die Butter, schiebt den Wagen langsam weiter, schiebt gegen einen Widerstand, gegen eine zerrissene Jeans, spürt einen Stich in der Mitte.
»Hallo«, sagt Kurt, »was machst du da?«
»Einkaufen für Mellis Mutter«, sagt Anna schnell.
»Was suchst du?«, fragt er.
»Topfen«, sagt sie.
»Topfen«, wiederholt er, greift nach oben und hält ihr eine Packung hin.
»Noch zwei Packungen, bitte«, sagt sie und beobachtet Kurts Arme, wie sie nach dem Topfen greifen, wie sie den Topfen in den Wagen legen, wie dünn seine Arme sind, denkt sie und plötzlich steht Melli da und sieht von Kurt zu Anna und von Anna zu Kurt.
»Was machst du da?«, fragt Melli.
»Einkaufen für deine Mutter«, sagt Kurt und lacht. Er fragt, ob es Topfentorte gibt und ob er mitkommen darf, und Melli nickt und legt die Sachen in den Einkaufswagen, Anna schiebt den Wagen hinter den beiden her. »Die Anna hat sich schon solche Sorgen gemacht«, sagt Melli, Kurt dreht sich um und fragt »wirklich?«, und Anna sieht hinunter auf die Converse, sie möchte den Einkaufswagen in Melli rammen.
Später sitzt Kurt in Mellis Zimmer, spielt auf Mellis Gitarre, singt Polly wants a cracker und sieht dabei Anna an. Später bedankt sich Kurt bei Mellis Mutter, umarmt Melli zum Abschied. »Ich bring dich nach Hause«, sagt er zu Anna.
Sie gehen über den Hauptplatz, durch die Fußgängerzone, durch Annas Straße, sie stehen vor ihrem Haus.
»Hier wohnst du?«, fragt Kurt, sie nickt.
»Es ist kalt«, sagt er, »gehen wir rein?«
»Anna«, sagt er, als sie im Halbstock zwischen dem ersten und dem zweiten Stock stehen, »Anna, ich hab dich lieb.«
Er macht einen Schritt auf sie zu, beugt sich nach unten, legt die Arme um sie, drückt sie an sich, sanft zuerst, dann fester. Sie spürt den Stoff seiner Weste, seine Wärme, seinen Atem auf dem Hals.
»Ich dich auch«, sagt sie leise, so leise, dass sie nicht weiß, ob er es hört, sie hebt den Kopf, sein Gesicht kommt näher, seine Lippen berühren ihre. Er tritt einen Schritt zurück, nimmt ihre Hände, sieht ihr in die Augen.
»Du gehst mit einem Selbstmörder«, sagt er, das Licht im Treppenhaus geht aus.
Am nächsten Tag steht Kurt vor dem Einkaufszentrum und gibt Anna einen Kuss auf den Mund. Er nimmt sie an der Hand und zieht sie hinein, sie fahren mit der Rolltreppe nach oben. Ganz oben gibt es keine Geschäfte, gibt es kaum Menschen, sie gehen nach hinten, hinter die Toiletten und setzen sich auf den Boden. Sie sehen von oben auf den Hauptplatz, sehen sich in die Augen. Seine Lippen sind weich und kühl, berühren ihre, sanft, und seine Zunge berührt ihre, sehr vorsichtig, bewegt sich in ihrem Mund, verschwindet wieder. Er streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, schiebt sie hinter ihr Ohr, greift nach ihren Händen, legt die ineinander verschränkten Hände auf ihr Knie und zieht sie wieder zu sich. Es ist genauso, wie es sein soll, denkt sie, genauso, wie sie sich das vorgestellt hat, sie wird ihn für immer lieben.
»Stimmt es, dass du mit Kurt herumgeknutscht hast?«, fragt Petra am Telefon, sie weiß es von Melli, die es von irgend jemandem in der Stadt weiß, der sie gesehen hat, wie sie Hand in Hand die Rolltreppen hinaufgefahren sind.
»Melli ist voll fertig, sie meint, sie redet nie wieder mit dir, sie meint, sie liebt den Kurt über alles«, sagt Petra und Anna wird schwindlig, ihr wird schlecht, sie sieht schwarze Punkte vor den Augen, sie ruft bei Melli an, Mellis Mutter sagt, Melli ist nicht da.
»Der will doch nur Sex mit dir, das weiß doch die ganze Stadt«, sagt Melli, als Anna sie endlich erreicht, »glaubst du, der interessiert sich wirklich für dich?« Anna legt auf, geht ins Bad, setzt sich auf die Badewanne und betrachtet ihr Gesicht im Spiegel, es ist so bleich wie die Haare von Kurt, unter ihren Augen schwarz, denkt sie, alles ist schwarz.
»Ist etwas passiert?«, fragt die Mutter, als Anna in der Früh nicht aufsteht.
»Was hat ihr jetzt wieder den Appetit verschlagen?«, fragt Heinz.
»Wenigstens wird sie vor dem Urlaub krank«, sagt die Mutter.
»Irgendein Kurt hat angerufen«, sagt Heinz.
Sie weiß, denkt Anna im Fieber, dass Kurt wirklich mit ihr zusammen sein will, sie weiß nicht, denkt sie, während sie zittert und schwitzt, ob sie das kann, wenn alle sie dafür hassen, sie weiß nur, denkt sie, während das Fieber langsam sinkt, dass sie Kurt, dass sie Melli und Petra nicht verlieren will.
Das Rauschen des Meeres, das Kreischen der Möwen, die Stimme der Mutter, die Annas Namen sagt, »aufstehen«, heißt es, »frühstücken«, heißt es, »dass wir noch was bekommen«, sagt Heinz und Anna rutscht aus dem Bett, schleppt sich ins Badezimmer, wäscht das Gesicht mit kaltem Wasser. Sie folgt der Mutter und Heinz hinunter in den Frühstücksraum, folgt ihnen an den Tisch, bleibt sitzen, als die beiden zum Buffet gehen. Sie gießt sich Kaffee aus der Kanne in die Tasse und trinkt. Die Mutter und Heinz kommen zurück, auf dem Teller der Mutter Weißbrot und Salami und drei Scheiben Gurke, auf dem Teller von Heinz Eier mit Speck und Bohnen und Toastbrot. Anna sieht weg.
»Holst du dir nichts?«, fragt die Mutter.
»Ich hab keinen Hunger«, sagt Anna, »ich schlafe eigentlich noch.«
»Man sieht’s«, sagt Heinz, »aber nachher gibt’s nichts mehr.« Er schiebt sich ein Stück Speck in den Mund.