Impressum

Hans-Ulrich Lüdemann

Keine Samba für die Toten

ISBN 978-3-86394-888-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1974 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Vorspann

Im März 1968 legte die von Generalstaatsanwalt Correis gebildete Kommission einen 5 115 Seiten umfassenden Bericht vor, in dem sich das entsetzliche Ausmaß der Verbrechen an den brasilianischen Indianern widerspiegelte. Als die Beamten ihren Bericht schrieben, der auch Senhora Neves da Costa Valle, Kommissarin der Geheimen Sicherheitspolizei, Leiterin des Dezernats Menschenhandel im Bundeskriminalamt in Brasilia, zugestellt wurde, hatten sie 15 000 Quadratkilometer Urwald durchquert, ein Gebiet, das 17 Staaten und Territorien Brasiliens umfasst. In dem Bericht wurde festgestellt, dass der Leiter des Indianerschutzdienstes (SPD), der ehemalige Major Luiz Vinhas Neves, durch illegale Verkäufe von Indianerland 1,2 Millionen Mark verdient hatte. Vorher waren die Eingeborenen durch Aktionen, im Jargon als "Insektenbekämpfung" bezeichnet, ausgerottet worden. Der SPI wurde aufgelöst, die brasilianische Regierung versprach, bis 1969 einen Prozess gegen die Schuldigen anzustrengen. Bis heute fand er nicht statt, obwohl er in der ganzen Welt gefordert wurde, obwohl z. B. in Stockholm Jugendliche gegen den Indianermord protestierten, obwohl in Göttingen 2 200 Völkerkundler aus der BRD, der Schweiz und aus Österreich eine Garantie für die Lebensrechte der Indianer Brasiliens forderten. In dem mehrbändigen Untersuchungsbericht, dem "Journal do Brasil" als "einige Tonnen Schande" titulierte, wurde festgestellt, dass jeder vierte von 800 Beamten des SPI sich des Amtsmissbrauchs und zahlloser Unterschlagungen verdächtig gemacht hat. Die Nachfolgeorganisation FUNAI kündigte Maßnahmen zur Rettung der überlebenden Indianer an. Aber es scheint, dass für die Ureinwohner Brasiliens jede Hilfe zu spät kommt.

Das vorliegende Buch stützt sich auf die oben erwähnten Tatsachen aus dem Jahr 1968, aber es verwendet sie frei.

1. Kapitel

Mühselig bahnten sich die sechs Männer einen Weg durch den Dschungel. Schweiß lief über die Gesichter und zog Schwärme von Insekten an. Das Wasser brannte in den Augen und färbte die von Dornen zerrissenen Hemden dunkel. Der Stahl der Machete blinkte stumpf, wenn der Erste in der Reihe mit kräftigen Hieben versuchte, eine Gasse für sich und die anderen in das dicht gewachsene Lianengewirr zu schlagen. Gaben umgestürzte Urwaldriesen den Blick zum Himmel frei, war die Sonne nur als unklares, kreisförmiges Gebilde zu erkennen. Ihre Strahlen besaßen nicht die Kraft, die feucht-heiße Nebelglocke über dem Gebiet des Rio Juruena zu durchbrechen.

Der Vordermann hielt plötzlich inne. Die Machete baumelte an einem Lederriemen an seinem Handgelenk. Eine kleine Lichtung mitten im Urwald! Die Männer hinter ihm, die im Halbschlaf vor sich hintrotteten, liefen auf. Erschreckt rissen sie die Köpfe hoch. Chico Luiz, der Anführer, der den Schluss der Reihe bildete, schob sich an der Gruppe vorbei und betrat die Lichtung. Die fünf Pistoleiros folgten ihm.

Miguel nahm alle Kräfte zusammen und sprintete förmlich bis in die Mitte der Urwaldwiese. Dann brach er zusammen. Er war klein und ausgemergelt und rang verzweifelt nach Luft. Die langen schlanken Finger krampften sich um Grasbüschel. Selbst nach tagelangem Umherirren in dieser grünen Hölle sahen die Fingernägel gepflegt aus. Der spindeldürre Mann war Falschspieler. Er hatte, als sein Spielpartner die faulen Tricks durchschaute, diesen im Streit niedergestochen. Mit Mühe und Not war er aus der Taberna entkommen.

Ohne den Erschöpften eines Blickes zu würdigen, stapfte Chico Luiz, Aufseher und Leibwächter von Senhor Junqueira, dem Auftraggeber der Männer, weiter. Das Gras reichte ihm bis an die Hüfte. Über der rechten Schulter baumelte der Gurt einer Maschinenpistole. Statt Hosenriemen umspannte ein breiter Patronengurt seinen Bauch.

Auf dem freien Platz, wo man ausgiebig Gelegenheit hatte zu sehen, dass es auch in dieser gottverlassenen Gegend einen Himmel gab, herrschte beklemmende Stille.

Chico Luiz spürte die Blicke, die auf seinen Rücken gerichtet waren. Er drehte sich langsam um und starrte wortlos auf seine Untergebenen. Nur Miguel konnte der Anführer nicht sehen. Der lag im scharfkantigen Gras wie begraben. Die Männer rührten sich nicht von der Stelle.

Chico Luiz schob mit dem Zeigefinger der rechten Hand den speckigen Hut ins Genick. Die Augen waren zusammengekniffen. Er wartete.

Als Erster löste sich Antonio aus der Gruppe und stolperte langsam auf Chico Luiz zu. Der grinste zufrieden.

"Companheires, ich möchte weiter", sagte Chico Luiz sanft. "Ihr werdet doch kurz vor dem Ziel nicht schlappmachen?"

Ataide dos Santos schaute unschlüssig die zwei neben ihm Stehenden an. Dann fiel sein Blick auf den Falschspieler Miguel, der zu schlafen schien. Er fuhr sich mit der flachen Hand über die kurz geschorenen schwarzen Haare. "Hör mal, Chico", sagte er vermittelnd. "Hör mal, wir sind jetzt zehn Tage im Fegefeuer. Ein Tag Ruhe kann nichts verderben."

Abwartend schauten alle auf ihren Anführer. Als einer der Männer zur Gesäßtasche fasste, um mit einer Zigarette die Pause einzuleiten, kam Leben in Chico Luiz. Er riss die Maschinenpistole herunter.

Santos ließ resignierend die Schultern fallen und stieß den noch immer regungslos liegenden Miguel mit der Schuhspitze in die Seite. Miguel kam mit dem Oberkörper aus dem Gras und stützte sich auf die Knie. Verständnislos starrte er in die Mündung der Maschinenpistole. Santos reichte ihm die Hand. Der kleine Mann rappelte sich ächzend hoch und taumelte zu Chico Luiz. Die anderen folgten.

Santos murrte laut: "Erst tagelang stromaufwärts! In die falsche Richtung. Weil unser Chef nicht mit einem japanischen Kompass umgehen kann!"

Chico Luiz lächelte. Mit dem Lauf der Maschinenpistole schob er Santos weiter. Wieder bildete der Anführer den Schluss der Gruppe. "Morgen früh erledigen wir unsere Arbeit, Santos. Dann kannst du machen, was du willst. Die anderen Companheiros werden so schnell wie möglich nach Cuiabá zurückwollen. Mit mir!"

Chico Luiz wusste, dass dieser Neue genau wie der mickrige Falschspieler auf Gedeih und Verderb der Companhia ausgeliefert war.

Santos drehte sich um und spuckte aus. Dann folgte er gelassen seinem Vordermann.

Sie befanden sich im Gebiet der Cinta-Largas-Indianer. Am Vortage hatten sie Rauchsäulen ausgemacht, es war offenbar die große Siedlung, nach der sie suchten.

Bäume und Büsche mit knallgelben, roten und weißen Blüten, umrankt von armdicken Lianen, versperrten den Weg. Riesige Falter in schillernden Farben umschwirrten die Männer. Ein schwer-süßer Duft drang in die Nase und bereitete ihnen Kopfschmerzen.

Santos trug seine Machete geschultert. Es würde noch etwas dauern, bis er an der Reihe war, der Gruppe einen Weg zu bahnen. Der Einzige, der von dieser kräftezehrenden Arbeit befreit war, war Chico Luiz. Santos war wütend, dass er sich auf diesen Job eingelassen hatte. Schon am zweiten Tag. nachdem die Barkasse sie am Flussufer abgesetzt hatte, wäre er am liebsten umgekehrt. Aber dann dachte er an den stickigen Mannschaftsraum in der Kaserne in Cuiabá, und daran, dass er von der Polizei gesucht wurde, weil er einen Kassierer der Banco do Brasil überfallen hatte. Als Santos nach dem missglückten Raub einen Unterschlupf suchte, hatte er Chico Luiz getroffen. Dieser versprach ihm Arbeit, bei der Santos für einige Zeit untertauchen konnte. Santos war froh darüber gewesen. Hätte er da schon gewusst, dass er sich für lumpige fünfzehn Dollar derart schinden müsste, er hätte auf eigene Faust versucht, seine Spuren zu verwischen. Santos' Laune besserte sich, als er daran dachte, dass schließlich doch etwas mehr bei diesem Job herausspringen würde. Chico Luiz hatte am vierten Tag an der Flussmündung einen Diamantensucher entdeckt, und er war es nicht gewöhnt, im Urwald viel Federlesens zu machen. Die Gerichte waren weit. Dem Toten steckte Chico Luiz einen Indianerpfeil in die Wunde. Man könne nie wissen, sagte er. Die Beute, die sie dem einsamen Diamantensucher abnahmen, sollte jedem fünfzig Dollar zusätzlich bringen. Und weil Chico Luiz die Steine in einem Brustbeutel verwahrte, lohnte es sich nicht, die Gruppe zu verlassen. Außerdem wusste nur Chico Luiz, wo die Barkasse sie wieder an Bord nehmen würde, wenn der Auftrag ausgeführt war. Allein hier herauszukommen, war aussichtslos. Santos beobachtete, dass Chico Luiz sich nach vorn schob und den zweiten Platz einnahm. Immer öfter verglich er Karte und Kompass miteinander.

Mittlerweile war es beinahe kühl geworden. Bald musste die Dämmerung hereinbrechen. Santos war jetzt Vordermann.

Plötzlich spürte er einen harten Griff um den Oberarm. Chico Luiz bedeutete ihm aufzuhören. Die Männer verharrten auf der Stelle und horchten angestrengt. Aber außer dem Kreischen der bunt schillernden Araras war nichts wahrzunehmen. Chico Luiz blähte die Nasenflügel. Santos tat es ihm nach. Ein leichter Brandgeruch lag in der Luft.

Der Anführer deutete auf den Boden. Die anderen verstanden. Bevor sie sich niederließen, stocherten sie mit ihren Macheten im Unterholz. So müde und abgekämpft die Männer auch waren, die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass man mangelnde Vorsicht oft mit dem Leben bezahlen musste.

Santos lehnte mit dem Rücken an einem Baum. Neben ihm hatte sich der Falschspieler zusammengerollt wie eine Schlange. Leises Schnarchen und Pfeifen zeigte an, dass der Schlaf die meisten übermannt hatte. Chico Luiz kam näher, musterte die Liegenden verächtlich und hockte sich nieder, das Gesäß auf den Fersen.

Er wandte sich an Santos: "Morgen früh müssen wir uns Meter um Meter heranrobben, Companheiro. Die Breitgürtel sind verdammt hellhörig und scharfäugig. Es darf keiner entkommen, ist befohlen worden. Keiner, verstehst du!" Santos nickte schläfrig. "Wir beide erledigen die Hauptarbeit, Santos. Jeder Schuss muss einen Indianer töten."

Santos drehte den Revolver hin und her. Er bedauerte, dass er den Kassierer nicht niedergeschossen hatte. Dann säße er nicht hier im verfluchten Urwald. Und vor Santos' Augen gaukelte wie eine Fata Morgana das Bild von Rio, vom Copacabana mit den vielen spärlich bekleideten Senhoritas im weißen Sand.

2. Kapitel

Noch bevor es hell wurde, riss Chico Luiz die Männer aus dem Schlaf. Murrend erhoben sie sich, versteckten alle überflüssigen Gepäckstücke im Dickicht. Dann zog die Gruppe los, Chico Luiz diesmal voran. Die Maschinenpistole baumelte ihm vor der Brust, sein Hemd war vorn aufgebauscht. Santos hatte gesehen, wie der Aufseher der Arruda & Junqueira ein viereckiges Lederfutteral von der Größe eines Transistorradios darin hatte verschwinden lassen.

Nach einer halben Stunde, in der sie nur wenige Hundert Meter zurücklegten, hob Chico Luiz die Hand. Lautlos kamen die anderen heran. Im Dämmerlicht des heranbrechenden Tages sahen die Männer in einer Mulde die Siedlung der Chinta-Largas-Indianer. Mit einer Gebärde bedeutete ihnen Chico Luiz, dass sie den Rest des Weges kriechend zurücklegen mussten. Zwischen den Hütten wurde es lebendig. Mehrere Breitgürtelindianer machten sich an halb fertigen Behausungen zu schaffen. Die Sonne ging auf, es wurde schnell hell. Die Feuchtigkeit auf den Bäumen und an den Gräsern verdampfte. Nebelschwaden stiegen auf. Bald würde wieder die alle Lebewesen niederdrückende Schwüle herrschen. Chico Luiz gab ein Zeichen. Sie waren jetzt so nahe, dass selbst die Augenbrauen der emsig arbeitenden Indianer zu erkennen waren.

"Du übernimmst den Häuptling", befahl Chico Luiz.

Santos nickte. Seine Blicke suchten die Siedlung ab. Plötzlich sah er einen alten Mann, der nicht mit Hand anlegte. Santos schloss aus dem Benehmen des Weißhaarigen, dass er der Häuptling sein musste.

Chico Luiz lud durch und brachte die Maschinenpistole in Anschlag.

"Überlass mir die Übrigen", sagte er.

Santos hob den Revolver. Als er den alten Mann im Visier hatte, biss er die Zähne zusammen und schoss.

Die Hand des Häuptlings fuhr hoch zur Brust. Ohne einen Laut fiel er vornüber.

Neben Santos lärmte die Maschinenpistole. Schreie ertönten. Dann, nach einer Zeit, die Santos sehr lang vorkam, war es totenstill.

Santos hob den Kopf. Er sah, wie Chico Luiz aufsprang und zu den Hütten rannte. Die anderen folgten ihm. Im Laufen begann Luiz erneut aus der halb automatischen Waffe zu feuern. Aber in dem Dorf regte sich nichts mehr.

"Passt auf, dass sich keiner totstellt!"

Chico Luiz wies mit der freien Hand auf seine Machete.

Miguel erbrach sich, nachdem er einen schwerverwundeten Indianer mit dem Messer getötet hatte, und wollte zwischen den Hütten verschwinden. Doch Chico Luiz hielt ihn zurück. Er öffnete sein Hemd und holte das lederne Futteral hervor. Ein Fotoapparat kam zum Vorschein. Mit einem prüfenden Blick schaute Chico Luiz in den Himmel, dann stellte er Blende und Verschlusszeit ein und gab Miguel das Gerät.

"Ohne Beweise gibt es keinen Cruzeiro vom Boss!"

Miguel hob gerade den Fotoapparat an die Augen, als aus einer abseits gelegenen Aldeia unterdrücktes Weinen erscholl. Auf einen Wink von Chico Luiz stürzte einer der Kumpane davon. Wenig später zerrte er ein Indianermädchen aus der Hütte zum Dorfplatz. Verzweifelt wehrte sie sich mit Händen und Füßen. An ihren Hals klammerte sich ein kleiner Junge, der aus Leibeskräften schrie. Der Mann packte das Kind und schleuderte es zur Seite. Chico Luiz riss dem neben ihm stehenden Santos den Revolver aus der Hand, schoss und richtete dann den Revolver auf die Indianerin.

"Lass sie doch!", brüllte Santos und packte den Anführer bei den Schultern. Aber Chico Luiz schüttelte die Hände ab. Er packte die Indianerin bei den Haaren und zwang sie zu Boden.

Wieder fiel ihm Santos in den Arm. "Warum musst du sie denn umbringen? Gib sie den Jungens."

Chico Luiz schüttelte den Kopf. "Wenn irgendeiner eine Frau will, soll er sich im Wald eine suchen!"

Er riss einen aus Lianen geknüpften Strick vom Türpfosten einer halb fertigen Hütte und fesselte das Mädchen.

Die Blicke der Kumpane schienen ihn zu stören. Er fuhr herum und schrie: "Schmeißt die Leichen in den Fluss. Zündet die Hütten an. Nichts darf übrig bleiben! - He, Kartenzinker! Du machst jetzt Bilder!"

Was dann folgte, verursachte selbst den Verbrechern, die die Arruda & Junqueira-Companhia für ihre Zwecke gekauft hatte, würgenden Ekel.

Chico Luiz hängte die Indianerin mit dem Kopf nach unten an einen Baum, die Beine auseinander. Dann riss er dem fotografierenden Miguel die Machete aus dem Gürtel und hieb die Gefangene von oben nach unten in zwei Hälften.

3. Kapitel

Durch das geöffnete Fenster drang der Lärm eines über das Haus hinwegfliegenden Düsenjets. Jorge Monte fuhr aus dem Schlaf. Ärgerlich sah er zum blauen Himmel. Dort entfernte sich ein metallischer Punkt, blinkte auf wie ein kleiner Spiegel in der Sonne. Es war schon ein Kreuz, in diesem Haus zu wohnen. Alle drei Minuten landete eine Maschine auf dem Flugplatz Congonhãs, der nur zehn Kilometer von der City São Paulos entfernt lag. Monte verschränkte die Arme unter dem Kopf. In einer Woche würde er nach Rio gehen. Und diesen Entschluss verdankte er Congonhãs. Zufällig hatte er beim Zoll zu tun, als ein Amerikaner versuchte, eine Hirtenfigur aus Jacarandaholz in die Staaten zu schmuggeln. Von wegen billige Imitation! Monte hatte Krach geschlagen. Tropischer Barock, 17. Jahrhundert. Schließlich handelte sein Vater mit Antiquitäten. Das Nachspiel in der Präfektur brachte eine Belobigung. Und die unmissverständlich geäußerte Bitte, für einige Zeit bei der Kripo in Rio zu arbeiten, um die Kenntnisse und den Gesichtskreis zu erweitern. Anderer Bundesstaat, andere Methoden hatte der Präfekt von São Paulo hinzugefügt und die notwendigen Formalitäten für Monte erledigt. Hinter allem stand die Tatsache, dass der Gringo ein maßgeblicher Mann für Brasiliens Wirtschaft war. Und wenn so einer sich beschwerte ...

Es klopfte an der Zimmertür. Mit einem Satz fuhr Monte hoch und öffnete.

"Morgen, Mama." Er ließ seine Mutter vorbei, die in den Händen das Tablett mit dem Frühstück balancierte. Mit einer Bewegung, die Abscheu ausdrückte, wischte die grauhaarige Senhora die Schulterhalfter vom Tisch. Die Pistole schepperte zu Boden.

Monte schüttelte missbilligend den Kopf und hängte die Dienstwaffe über die Stuhllehne.

"Papa schon auf?" Senhora Monte nickte. "Er ist zum Doktor. Braucht neue Herztropfen. Ich soll dir sagen, dass du am Zug bist."

Monte musterte sich im Spiegel, der über einem kleinen rosafarbenen Waschbecken hing. Sah im Hintergrund seine Mutter hantieren. Wenn der Vater an den Schachzug erinnerte, erwartete er Kunden im Geschäft. Seit Jahren stand unten, in der Mitte vom Laden, ein Schachspiel. Die Figuren hüfthoch und wie die Schachbrettumrandung aus Elfenbein. Das Spielfeld war aus Jacarandaholz gefertigt. An der Wand hing eine Tafel. Jeder, der einen Zug ausgeführt hatte, hinterließ darauf seinen Namen. Montes Vater war in jungen Jahren ein bekannter Schachspieler gewesen, der Brasilien auch im Ausland vertreten hatte. Als er den Antiquitätenladen gründete, wurde dieser Anziehungspunkt für viele Freunde des königlichen Spiels. Selbstverständlich, dass der Sohn beizeiten in Strategie und Taktik des Schachs eingeweiht worden war. Doch bisher war es Jorge nicht gelungen, dem Vater eine Niederlage beizubringen.

"Bevor ich gehe, erledige ich das." Monte sah die Mutter aufmerksam an. "Was ist, Mama? Sorgen?"

"Ich habe nur Angst, dass du in Rio nicht zurechtkommen wirst, Junge. So ganz allein."

Monte griff nach der Schulterhalfter. Er bemerkte den ablehnenden Blick seiner Mutter.

Oft genug hatte er mit den Eltern über seinen Beruf gesprochen. Sie waren dagegen gewesen, dass er Polizist wurde, und hatten sich immer noch nicht damit abgefunden. Vater mochte die Zustände, die gegenwärtig in Brasilien herrschten, nicht. - Monte setzte sich zum Frühstück und schaute dabei in die "O Estado do São Paulo". Viel stand nicht drin, in der auflagenhöchsten Tageszeitung Brasiliens. Größtenteils Fußballnachrichten, aber die interessierten ihn nicht. Die Gespräche der Kollegen über dieses Thema waren mehr als genug. Die Schlagzeilen über Verbrechen der letzten Tage überging er ebenfalls. Und da ihn der mehrseitige eng gedruckte Anzeigenteil langweilte, legte er das Blatt beiseite. Er musste sich beeilen. In einer Viertelstunde holte ihn ein Funkwagen ab. Einmal in der Woche versah Monte seinen Außendienst. In einer Radio-Patrulha. Die Jungen in den Funkwagen waren erfahrene Praktiker, man konnte von ihnen lernen.

Unten im Verkaufsraum trat Monte zum Schachspiel. Ein großes Schild verkündete, dass diese Antiquität unverkäuflich sei. Vater hatte diesmal die Russische Eröffnung bevorzugt. Die Namen von drei Besuchern standen bereits an der Tafel. Monte zog einen Bauern. Damit schloss er die Eröffnungsvariante ab, und das eigentliche Spiel konnte beginnen.

Im Laden lag ein eigentümlicher Geruch von alten Sachen, er war Monte vertraut seit Kindesbeinen. Es roch nach Leder, nach imprägnierten Masken. Die wenigen wertvollen Antiquitäten hatte der Vater um das Schachspiel herum angeordnet. Gewissermaßen als Blickfang. In den übrigen Regalen fand sich viel Kram aus aller Herren Ländern, der von Matrosen stammte oder von abgebrannten Touristen. Ein besonders gängiger Artikel waren Balangandans. Dieses Schmuckwerk, das von symbolischer Bedeutung ist und auf frühe afrikanische Negerschnitzereien zurückgeführt wird, lieferten heute Schmuckbetriebe aus dem deutschen Bayernland en gros nach Brasilien.

Durchdringendes Hupen erklang. Monte lief auf die Straße. Als er am Streifenwagen anlangte, wollte der Beifahrer aussteigen, um im Fond Platz zu nehmen.

Monte winkte ab. Er wollte etwas sehen, etwas mitbekommen von der Streifentour. Und das konnte er ebenso gut, wenn er auf dem hinteren Sitz hockte. Außerdem wusste er, dass die Streifenbesatzung ihm diese Geste hoch anrechnete. "Was Besonderes?", fragte Monte den Fahrer, als das Auto sich zügig der Hauptstraße näherte. Ein stummes Kopfschütteln war die Antwort.

"Alte Tour?" Die beiden nickten nur. Monte stutzte. Hatte es einen Anpfiff gegeben? In dem Fall würde seine letzte Streifenfahrt vor dem Dienstantritt in Rio nicht gerade angenehm werden.

Links und rechts überholten Fahrzeuge. Die Männer am Steuer machten ausgiebig von der Hupe Gebrauch.

"Kommt was über Funk?" Monte unterdrückte ein Gähnen.

Der Beifahrer zuckte die Schultern. Dann drückte er eine Taste. Ächzend, als habe diese Bewegung all seine Kraft gekostet, lehnte er sich wieder in das Polster zurück. Der Polizeifunk brachte allgemeine Durchsagen.

Monte ging das Schweigen der vor ihm Sitzenden auf die Nerven. "Euer Redeschwall ist ja nicht zum Aushalten!", schimpfte er.

Der Polizist vor ihm drehte sich um.

"Also, was ist?" Monte beugte sich vor. Ihn beschlich ein unangenehmes Gefühl. Ob was in der Familie ...? Der Fahrer hatte vier Kinder.

"Keine Ahnung?", vergewisserte sich der schwergewichtige Polizist neben dem Fahrer.

Monte hob die Schultern. Dann wurde seine Aufmerksamkeit auf eine Durchsage der Funkleitstelle gelenkt. Totschlag während einer Prügelei in der Rua Vicente.

"Mach los!", drängte Monte. "Wir sind am dichtesten dran!"

Gleichmütig legte der Volante einen höheren Gang ein, die Sirene heulte auf. Der kleine Volkswagen jagte vorwärts.

"Gib durch, dass wir uns der Sache annehmen", sagte Monte.

Minuten später hielt der Wagen vor einer kleinen Taberna. Schaulustige standen herum. Gespannt musterten sie die Männer, die dem Auto entstiegen. Monte bahnte sich einen Weg durch die gaffende Menge. Der Fahrer übernahm die Absperrung. Mit einem kurzen Kopfnicken gab der Wirt den Weg in die Schenke frei. Unter dem Tisch in der Nähe vom Fenster lag ein Mann. Klein und dürr. Erstochen.

"Ein Spieler", sagte der Wirt.

"Ein Spieler?" Monte durchsuchte den Toten. Keine Identitätskarte. "Woher wissen Sie das?"

"Er kam öfter hierher. Forderte jeden zum Kartenspiel auf. Bisher hatte er nie Streit. Aber vorhin - aus dem Fenster da ist der andere."

"Wissen Sie seinen Namen?" Monte erhob sich und klopfte die Hosenbeine sauber.

"Der da hieß Miguel. Den anderen kenne ich nicht." Aufgeregt fuhr der Taberneiro mit den Händen an der Kittelschürze hin und her.

"Ich seh keine Karten", stellte Monte fest.

"Sie haben auch nicht gespielt, die beiden. Haben irgendetwas beredet. Aber wenn ich an ihren Tisch kam, waren sie stumm wie die Fische."

Monte holte sein Notizbuch aus der Gesäßtasche.

"Wie sah der andere Mann aus?" Der Wirt überlegte. Es war ihm anzusehen, dass er sich mühte, der Polizei zu helfen. In seiner Taberna war bisher nie etwas vorgefallen. Nichts, wozu man hätte eine Radio-Patrulha rufen müssen.

"Er war bullig. Das ganze Gegenteil von dem da, Senhor Kommissar."

Monte lächelte über die Anrede. Es würden wohl noch Jahre vergehen, ehe er Kommissar war.

"Da fällt mir ein", der Wirt legte den Daumen an die Nasenspitze und drückte sie zur Seite, einen Bart hatte der andere. "Hier!" Er fuhr mit der Hand in Richtung Oberlippe.

Monte drehte sich um, als er Schritte hörte. Der Fahrer trat zu ihm.

"Hab's durchgegeben. Sie holen ihn ab." Monte nickte. Der Fahrer bückte sich plötzlich. Er knöpfte das Hemd des Toten auf. Ein Brustbeutel hing an einem dünnen Lederriemen. Der Polizist fasste mit zwei Fingern hinein. Ein zerknülltes Papier kam zum Vorschein. Monte griff danach. Im Stillen ärgerte es ihn, dass er den Ermordeten nicht genauer untersucht hatte. Monte ging zum Tisch und strich das Papier glatt. Es war eine Fotografie. Was er sah, entlockte ihm einen Ausruf des Entsetzens. Der Fahrer und der Wirt beugten sich neugierig vor. Angeekelt pressten sie die Lippen aufeinander. Dann tippte der Taberneiro mit dem Zeigefinger auf den Mann, der mit einer Machete neben einer an den Beinen aufgehängten Indianerin stand.

"Das ist er! Der hier hat das mit dem Messer gemacht, Senhor Kommissar!"

"Und der andere?" Monte wies auf den zweiten Mann, der etwas abseits stand.

Der Wirt schüttelte den Kopf. Monte drehte das Foto um. Er stutzte.

Der Volante neben ihm buchstabierte: "September 66. Cinta Largas. Chico Luiz. Ataide dos Santos."

Monte legte die Fotografie sorgfältig zwischen die Seiten vom Notizbuch.

"Den Kopf von Chico Luiz kopieren wir heraus. Fahndung im gesamten Bundesgebiet."

An der Tür erklang lautes Schimpfen. Monte ging, gefolgt vom Taberneiro und dem Fahrer zum Eingang. Der vierschrötige Polizist wehrte einen jungen Mann mit Faustschlägen ab. Als er Monte auftauchen sah, hielt er inne.

"Wollt unbedingt rein", sagte er, seine Lederjacke straff ziehend.

"Ist mein Bruder", erklärte der Wirt. "Ist zu Besuch hier. Aus Rio."

Der Fahrer nahm seinen Kollegen in Schutz. "Was kann der auch nicht parieren. Wenn ihm gesagt wird, dass er hier nicht rein kann!"

"Das hat er erst gemacht, als ich gesagt hab, dass ich aus Rio bin!" Der junge Mann wischte sich mit dem Hemdsärmel Blut von den Lippen.

"Halt die Schnauze", sagte der Wirt und zog den Widerstrebenden in die Taberna.

"Der spinnt doch!", meinte Monte. Der Volante grinste plötzlich.

"Wie man's nimmt: Gestern haben die Cariocas unsere Männer geschlagen. Drei Dinger mussten wir von denen aus Rio kassieren. Ohne Gegentor. Und das auf eigenem Platz! Das lässt kein echter Paulista auf sich sitzen!"

4. Kapitel

Ataide dos Santos umstrich das kleine Haus, in dem der Boss der amerikanischen Bohrmannschaft wohnte. Um die aus Fertigteilen gebaute Behausung standen fünf Wohnwagen. Hier schliefen die übrigen Männer vom Camp, die auf Schürfungen in unwegsamen Gebieten Brasiliens spezialisiert waren.

Santos betrat die kleine Veranda und ließ sich auf eine Bank nieder. Die Füße fanden bequem Platz auf der schmalen Brüstung. Aus den Augenwinkeln beobachtete Santos, der zu einer Art Campaufseher für die Arruda & Junqueira-Companhia avanciert war, das Lager der Gringos. Bulldoggenhafte Schlepper standen neben den Wohnwagen, die Räder mannsgroß, in ihren Ausmaßen einen überlangen Straßenkreuzer übertreffend. Auf Anhängern lagen unzählige Rohre verschiedener Länge. Santos bemitleidete im Stillen die Männer, wenn er sich vorstellte, dass sie mitten im Dschungel an einem Bohrwerk schuften mussten. Und ihr Chef war nicht einmal ein Landsmann, sondern ein Deutscher.

Santos reckte sich zufrieden. Er befand sich zwar nicht weit von Cuiabá entfernt, aber hundert Kilometer genügten, um dem Zugriff der Polizei nicht mehr ausgesetzt zu sein. Außerdem hatte Chico Luiz versprochen, dass es heute die ausgemachten fünfzehn Dollar geben würde. Und den Anteil für die Diamanten.

Das Gemurmel im Haus, welches mal stärker und mal schwächer war, hinderte Santos am Einschlafen. Ärgerlich darüber, aber zu faul, sich einen anderen Platz zu suchen, lauschte er. Die hohe Stimme von Senhor Junqueira zeterte plötzlich:

"Aber wir hatten zehn Prozent weniger ausgemacht, Senhor Beyer!"

Einige Sekunden blieb es still. Dann erwiderte der Deutsche: "Wir haben bis jetzt keine strategischen Rohstoffe gefunden. Meine Leute wollen Geld sehen. Sonst gehen wir zur Konkurrenz, Senhor Junqueira. Sie wissen, dass ich nur schweren Herzens ein Angebot der Costas ausgeschlagen habe."

Ein ärgerliches Räuspern war die Antwort.

"Vielleicht hat sich Ihr Mittelsmann geirrt?"

Junqueira platzte heraus: "Dieser Mann ist Leiter des Geologischen Instituts unserer Regierung! Eine Kapazität. Doktor Santander hat sich noch nie geirrt, Senhor!"

Innen wurde ein Stuhl zurückgeschoben. Schritte bewegten sich am Fenster vorbei in Richtung Tür. Mit einem lauten Knarren pendelte sie auf. Chico Luiz stand im Rahmen. Er trat an den scheinbar schlafenden Santos heran. "Die Nacht ist zum Schlafen da", sagte er.

Santos fuhr hoch. "Der Gringo ist wohl nicht zufrieden mit unserer Arbeit?" Santos deutete mit dem Daumen über die Schulter ins Haus, wo Junqueira und Beyer noch immer stritten.

"Interessiert dich das?"

Santos spürte die Drohung, die in der Frage mitklang. Gleichmütig zuckte er die Schultern und ließ sich auf die Bank zurückfallen.

"Verschwinde!" Chico Luiz trat einen Schritt näher.

Santos hob den Kopf und musterte die bullige Gestalt abwartend. Er verspürte nicht übel Lust, es auf eine Schlägerei ankommen zu lassen. Vielleicht schaffte er es, dieses Großmaul bei seinem Brotgeber abzumelden? Dann wäre er Capanga bei Jungueira. Ein Leibwächter wurde nicht schlecht bezahlt.

"Wenn du mir meine fünfzehn Dollar gibst und das Geld für die Diamanten, dann gehe ich."

Santos hielt es für angebracht, wieder aufzustehen. Er lehnte mit dem Rücken gegen einen Verandapfosten. Dass Chico Luiz in diesem Augenblick wieder sein stupides Grinsen aufsetzte, brachte ihn in Rage.

"Also!", sagte Santos gereizt. Seine Arme hingen locker herunter.

"Frag Senhor Junqueira. Er bestimmt, was dir zusteht. Und jetzt, hau ab!"

Da Santos keine Anstalten machte, diesem Befehl zu gehorchen, packte Chico Luiz ihn am Hemd. Santos überlegte gerade, ob er Junqueiras Aufseher durch einen Stoß in die Magengegend außer Gefecht setzen sollte, als ein herrisches Räuspern erklang. Beide Männer drehten sich um. Chico Luiz ließ sofort von seinem Widersacher ab. In der Tür stand Senhor Junqueira. "Was ist, Chico?"

"Nichts", antwortete dieser in einem Ton, als hätte er sich in den letzten Minuten zu Tode gelangweilt.

Santos schob den Capanga beiseite und sagte: "Die Companhia schuldet mir fünfzehn Dollar!"

"Fünfzehn Dollar schuldet dir die Companhia?" Das glatte Gesicht des Junqueira verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. Chico Luiz tat es ihm nach.

"Meines Wissens fahndet die Polizei in Cuiabá nach einem gewissen Ataide dos Santos", sagte Junqueira. "Dem Mann müsste seine Freiheit doch weit mehr als fünfzehn Dollar wert sein."

Santos schluckte. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er fühlte das Blut in den Adern pochen.

"Und mein Anteil an den Diamanten?"

.Diamanten?" Überrascht wandte sich Junqueira an seinen Capanga.

"Sagten Sie nicht, Senhor Junqueira, dem Manne müsste seine Freiheit weit mehr wert sein als fünfzehn Dollar? Und für seine Freiheit garantiere ich."

Junqueira zuckte die Schultern. Was die Männer auszutragen hatten, ging ihn nichts an, solange die Interessen der Companhia gewahrt blieben.

"Mach den Jeep klar, Santos. In einer Stunde fahre ich nach Cuiabá zurück", befahl er, das Gespräch abrupt beendend.

Dann trat Junqueira wieder ins Haus.

Chico Luiz verschränkte die Arme.

"Noch was?"

Santos schüttelte wütend den Kopf. Er war nicht so ein Hasenfuß wie der Falschspieler Miguel, der gleich nach der Rückkehr von der Bildfläche verschwunden war. Angeblich freiwillig auf seinen Anteil verzichtend. Santos sah, dass der Capanga die Brusttasche seines kakifarbenen Hemdes öffnete und einen Packen Bilder hervorzog.

"Da!" Chico Luiz warf das Päckchen Santos zu, der instinktiv danach griff. "Eine Erinnerung. Und eine Mahnung, das Maul zu halten."

Als Santos die erste Fotografie gesehen hatte, wusste er Bescheid.

"Hat doch dieser Essigknirps, der Miguel, versucht, der Companhia was ans Bein zu binden. Er hat's nicht durchgestanden ..." Die Augen zusammenkneifend, fuhr Chico Luiz fort: "Falls du auch mit falschen Karten spielen willst ..."

"Du bist nicht mein Beichtvater!" Ärgerlich über die Schlappe, die er erlitten hatte, stieß Santos sich von der Balustrade ab und wollte an Chico Luiz vorbei. Der ließ ihn herankommen, dann stoppte er ihn, indem er ihm seinen Zeigefinger gegen die Brust setzte. "Bei uns zu Hause, Santos, sagt man: Es gibt nur eine Art, geboren zu werden, aber viele Arten zu sterben."

Der Zeigefinger gab den Weg frei. Wortlos verließ Santos den kleinen Vorbau. Hinter sich hörte er die Tür klappen. Als er am ersten Wohnwagen angelangt war, schaute er zurück. Das Holzhaus lag wie ausgestorben da. Junqueira, Chico Luiz und der Deutsche verhandelten weiter über das Land, welches den Breitgürteln gehört hatte.

Strategische Rohstoffe? Santos schüttelte den Kopf. Damit konnte er nichts anfangen. Aber andere vielleicht? Und je mehr er über diese plötzliche Eingebung nachdachte, desto stärker fühlte er den Drang, so schnell wie möglich das Camp zu verlassen. Scheinbar gelangweilt bummelte er zu der kleinen Bretterbude, die eingekeilt zwischen zwei Wohnwagen stand. Hier hauste Chico Luiz. Ohne Gewissensbisse trat Santos ein. Muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Auf dem festgestampften Lehmboden lagen Schnapsflaschen herum. Mit geübten Griffen tastete Santos zuerst die wenigen Kleidungsstücke ab. Als er die beiden Holzstäbe der Hängematte untersuchte, schnaufte er befriedigt. Im hohlen Bambus waren zwei Geldscheinrollen versteckt.

Santos ließ die Zehndollarscheine in der Hemdbrust verschwinden. Dann ging er zum Jeep. Er tat, als wolle er den Motor überprüfen und ließ ihn mehrmals aufheulen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Chico Luiz ans offene Fenster trat und ihn beobachtete.

Blubbernd ging der Motor wieder aus. Santos ließ die Haube krachend zufallen und startete, nachdem er hinter dem Steuer Platz genommen hatte.

Ein durchdringender Pfiff ertönte. Chico Luiz drohte mit der Faust. "Idiot!"

Santos deutete stumm zur Schneise, die die Bulldozer in den Urwald gewalzt hatten. Als Chico Luiz nickte, ließ Santos den Jeep langsam vorwärts rollen. Außer Sichtweite, bremste Santos. Er wollte sich überzeugen, ob das Anfangskapital auch groß genug war.

Nachdem er die erste Rolle Dollarscheine gezählt hatte, waren die Zweifel beseitigt. Bei der zweiten pfiff er vor Überraschung leise durch die Zähne. Der Kern war ein Negativstreifen, der, auseinandergezogen, sich als das Original der grauenvollen Aufnahmen entpuppte, die Chico Luiz dem geprellten Santos überlassen hatte.

Ataide dos Santos ließ die Kupplung springen. Der Jeep mahlte mit den Rädern im Sand. Dann schoss er vorwärts. Santos sah starr geradeaus. Den Wagen wollte er bis Cuiabá benutzen und von dort nach Rio fliegen. Teils, um in der Millionenstadt unterzutauchen, teils, um aus einem Stück Zelluloid Kapital zu schlagen. Er würde es geschickter anstellen als Miguel. Und Ataide dos Santos sah im Geiste schon Schlagzeilen in einer Millionenzeitschrift und das unscheinbare Kuvert, in dem ein Scheck über viel, viel Geld steckte.

5. Kapitel

Die Maschine der Pan-Air-do-Brasil von Cuiabá nach Rio de Janeiro landete in wenigen Minuten. Santos warf einen Blick hinüber auf die herrliche Bucht von Guanabara. Auf dem Meer gleißten die weißen Rollbahnen vom riesigen leeren Deck des Flugzeugträgers "Belo Antonio". Links davon ragte der Zuckerhut wie ein Wächter aus der Guanabarabai. Dann landete der klapprige Silbervogel in Santos Dumont.

Santos verließ mit schnellen Schritten das Flughafengebäude. Bei einem ambulanten Händler kaufte er wahllos einige Tageszeitungen. Er setzte sich auf eine Bank und blätterte sie durch. Kopfschüttelnd stand er nach wenigen Minuten wieder auf. Mit diesen Inseratenfriedhöfen konnte er nichts anfangen. Santos ging zum Zeitungshändler zurück und verlangte die größten Illustrierten Brasiliens. Der alte Mann, der seine Blätter der Einfachheit halber auf dem Bürgersteig ausgebreitet hatte, kratzte sich am Hinterkopf, Dann deutete er entschlossen auf die teuersten, die augenblicklich im Straßenverkauf zu haben waren.

Santos klemmte sich die "O Globo" und den "O Cruzeiro" unter den Arm und zog los, in Richtung Avenida Rio Branco. Die Straße mit ihren fünf Fahrbahnen empfing den Mann aus Cuiabá mit lärmendem Getöse. Trotz der Breite der Avenida roch es unangenehm nach Auspuffgasen. Große Firmen wie Philips oder Ford ließen ihre Leuchtreklamen auch am Tage in Betrieb.

Santos legte den Kopf in den Nacken, als er vor dem fensterlosen dreizehnstöckigen Gebäude in der Rua Aranjo stand. Dann atmetete er tief durch und ging hinein. Der Pförtner unterbrach verärgert sein Frühstück, als Santos nach Stockwerk und Zimmernummer der Redaktion "O Globo" fragte. Ob der Besucher zu dieser frühen Stunde, es war immerhin erst gegen zehn Uhr dreißig, jemanden in der Redaktion antreffen würde, dafür wollte der Alte sich nicht verbürgen.

Santos hatte Glück. Nachdem er einer Sekretärin sein Anliegen vorgetragen hatte, durfte er einem dunkelbebrillten Redakteur die Geschichte erzählen. Der Journalist saß an seinem Schreibtisch und hörte aufmerksam zu.

"Haben Sie mit jemandem darüber gesprochen, dass Sie zu uns gehen würden?" Santos schüttelte den Kopf.

"Und warum kommen Sie zu uns?" Sekunden herrschte Schweigen. Ataide dos Santos zögerte, die Wahrheit zu sagen. Er wusste nicht, wie diese von dem Zeitungsmenschen aufgenommen werden würde. Aber der Journalist enthob ihn der Antwort, indem er fortfuhr:

"Um es vorwegzunehmen: Das Honorar, welches wir zahlen können, ist nicht sehr hoch. Abgesehen davon: Sie verschweigen, welchen Anteil Sie an der Geschichte haben."

Santos hatte nicht vermutet, dass er durch sein Angebot in eine Art Verhör kommen könnte. Er unterdrückte seinen aufkeimenden Ärger, weil er sich die Chance, ohne große Mühe zu Geld zu kommen, nicht entgehen lassen wollte.

"Ich bin dazu gezwungen worden", erklärte er.

"Und die Geschichte ist wahr? Ich meine, welche Beweise haben Sie uns zu bieten?"

Darauf hatte Santos gewartet. Jetzt konnte er seinen Trumpf vorweisen. Mit gespielter Gleichgültigkeit warf er den Packen Fotos auf den Schreibtisch.

Der Redakteur blickte überrascht hoch, dann zog er die Bilder heran. Auf seinem Gesicht zeigte sich keine Regung. Er nahm die dunkle Brille ab und betrachtete, ohne ein Wort zu sagen, jeden einzelnen Abzug.

"Ich habe auch die Negative", unterbrach Santos die Stille im Zimmer.

Der Journalist legte die Fotografien sorgfältig übereinander. Dann erhob er sich und ging mehrmals im Raum auf und ab. Plötzlich blieb er stehen.

"So einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist es nicht, Senhor Santos. Ich schlage vor, wir beschränken uns am besten auf diesen, wie hieß er doch gleich, der Anführer ...?"

"Chico Luiz!"

Der Redakteur nickte und nahm seine Wanderung wieder auf.

"Wenn Sie damit einverstanden sind, bleiben wir bei dem, was im Dschungel passiert ist. Ohne diesen Deutschen Beyer, ohne diese ominöse Arruda & Junqueira, ohne diesen Doktor Santander zu erwähnen. Bringen wir also einen Bericht aus dem Dschungel. Das Massaker an den Indianern wird die Leser aufmöbeln, dessen bin ich gewiss. Wir brauchen mal wieder eine Story, die die Leute auf Probleme im Innern des Landes aufmerksam macht."

Der Redakteur zog ein Telefonbuch aus einem Regal und warf es auf den Schreibtisch. Dann nahm er wieder Platz.

"Ich schlage vor, Sie lassen uns das Material hier, und wir geben Ihnen morgen Bescheid. Einverstanden?"

Unschlüssig nickte Santos. Der Journalist griff nach den Fotos und wollte sie zusammen mit dem Negativmaterial in der Schreibtischschublade verschwinden lassen.

"Einen Moment, Senhor!" Santos sprang auf, nahm die kleine schwarze Rolle und verstaute sie im Hemd. Der Redakteur lächelte verbindlich:

"Die Abzüge reichen selbstverständlich auch, Senhor Santos. Dass Sie über die Negative verfügen, weiß ich ja."

Sie einigten sich, dass Santos am folgenden Vormittag gegen zehn Uhr anrufen sollte. Der Redakteur wartete, bis der Besucher aus dem Zimmer war. Dann blätterte er hastig im Telefonbuch. Nach einigem Suchen hob er den Hörer ab, nannte der Zentrale eine Nummer und wartete. Seine Geduld wurde über Gebühr strapaziert. Nervös trommelte der Journalist ein Stakkato auf der Tischplatte. Endlich kam eine Verbindung zustande. Der Mann am Schreibtisch horchte angestrengt in die Ohrmuschel. Dann sagte er leise: "Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Senhorita, wenn Sie mich mit Senhor Junqueira verbinden würden."

6. Kapitel

Santos trat an den Beichtstuhl. Er war in die Kirche des heiligen Antonius gegangen, weil die Mittagshitze in Rio ihm zu schaffen machte. Beinahe wehmütig dachte er an das Camp im Urwald. Dort war das Thermometer zwar noch höher gestiegen, aber die Luft war nicht so stickig wie in diesem Asphaltdschungel.

Santos knöpfte sich den Hemdkragen zu, als er vor dem kleinen vergitterten Fenster stand. Nur undeutlich war zu erkennen, dass dahinter jemand saß. Bereit, jedermanns Sorgen und Freuden anzuhören.

Santos kniete nieder. Ab und zu unterbrach eine asthmatische Stimme die Beichte des Pistoleiros. Sie schien teilnahmslos und ohne jede innere Bewegung. Für Santos kam sie von irgendwoher und hatte etwas Unwirkliches, so dass er sich nicht scheute, rückhaltlos die Verwerflichkeit seines Tuns zu bekennen.

Santos' Redefluss war erschöpft, doch es blieb still hinter dem viereckigen Gitter. Santos wurde ungeduldig. Wollte der Padre ihm die Absolution verweigern? Jetzt knarrte hinter der Barriere ein Stuhl. Santos hörte, wie jemand rasselnd Luft holte. Erwartungsvoll neigte er den Kopf. Die Stimme des Geistlichen war sehr leise, als er den vor ihm Knieenden von den begangenen Sünden lossprach.

Santos stand auf und wandte sich dem Ausgang zu. Als er schwere Schritte hörte, blickte er zurück. Die Tür zum Beichtstuhl stand offen. Der Geistliche winkte Santos mit der Hand. "Wenn es deine Zeit erlaubt, mein Sohn, möchte ich noch einige Worte mit dir reden."

Santos nahm auf einer der Kirchenbänke Platz. "Mein Sohn", begann der Padre, "ich bin froh, dass du den Weg hierher gefunden hast. Das Schicksal der Cinta Largas hat auch schon andere Stämme betroffen. Die Kadiweus-Indianer wurden ausgerottet. Nicht, weil der Stamm besonders kriegerisch war, mein Sohn, nein, sein Verhängnis, wenn man es so bezeichnen darf, war, dass der Grund und Boden der Kadiweus wertvolle Bodenschätze birgt. Die Eingeborenen wurden mit arsenhaltigem Zucker beschenkt. Und so wird es weitergehen, wenn keiner etwas dagegen unternimmt, mein Sohn."