Walter Klaiber

Jesu Tod
und unser Leben

Was das Kreuz bedeutet

Bischof i. R. Walter Klaiber, Dr. theol., Jahrgang 1940, studierte evangelische Theologie in Reutlingen, Göttingen und Tübingen, ist seit 1965 Pastor in der Evangelisch-methodistischen Kirche, war von 1971 bis 1989 Dozent für Neues Testament am Theologischen Seminar der EmK in Reutlingen und von 1989 bis 2005 Bischof der EmK in Deutschland. Von 2001 bis 2007 war Bischof Klaiber Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland und von 1999 bis 2009 Präsident der Deutschen Bibelgesellschaft. 2012 erhielt er den Predigtpreis des Verlags der Deutschen Wirtschaft für sein Lebenswerk. Er ist mit einer Ärztin verheiratet; die beiden haben drei Söhne und sechs Enkelkinder.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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2., korr. Auflage 2014

© 2011 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

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Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Innenlayout und Satz: Steffi Glauche, Leipzig

ISBN 978-3-374-03547-2

www.eva-leipzig.de

Vorwort

»Gott ist kein Sadist!« Das ist ein Argument, das in letzter Zeit nicht selten zu hören ist. Die Rede von einer Heilsbedeutung des Todes Jesu steht unter Anklage oder wird zumindest sehr ernsthaft in Frage gestellt, auch in der Kirche. Das ist einerseits verständlich. Denn in der christlichen Verkündigung vergangener Jahrhunderte und insbesondere auch in vielen ehrwürdigen Passionsliedern kommen Grund und Sinn des Leidens Jesu in einer Weise zur Sprache, die ein merkwürdiges Bild von einem Gott entwerfen, der auf Strafe oder Genugtuung bestehen muss und deshalb seinen Sohn leiden und sterben lässt.

Aber andrerseits ist schwer verständlich, warum es sich immer noch so wenig herumgesprochen hat, dass die biblische Exegese der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, dass dieses Bild nicht der neutestamentlichen Verkündigung von der Bedeutung des Todes Jesu entspricht. Es wird oft noch mit alten Klischees argumentiert. In den Gemeinden sind viele Menschen verunsichert. Auf der einen Seite haben nicht wenige unter den traditionellen Formeln gelitten. Auf der anderen Seite können viele nicht nachvollziehen, dass Aussagen, die über Jahrhunderte hinweg den Kern des christlichen Glauben gebildet haben, einfach falsch sein sollen und aufgegeben werden müssen. Die Frage: »Was sagt denn das Neue Testament nun wirklich zu diesem Thema?« ist drängend.

Auf diesem Hintergrund habe ich die Bitte von Frau Dr. Annette Weidhas, der Leiterin der Evangelischen Verlagsanstalt, eine allgemeinverständliche Darstellung zu dieser Frage zu schreiben, gerne aufgenommen. Ich habe versucht, so einfach und verständlich wie möglich zu formulieren. Ich habe aber nicht versucht, die Vielfalt und Komplexität dieser Aussagen auf einfache Faustformeln zu reduzieren. Die Leserinnen und Leser sollten sich also auf eine längere Wanderung durch die Bibel gefasst machen. Aber ich bin überzeugt, was sich ihnen auf dieser Wanderung zeigt und an Einsichten auftut, wird ihnen helfen, sich eine eigene Meinung im Streit um die rechte Evangeliumsverkündigung zu bilden.

Meiner Frau danke ich, dass sie auch das Manuskript dieses Buches mit den Augen einer engagierten Nichttheologin gegengelesen hat. Ich danke Frau Dr. Weidhas und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags für die sachkundige Betreuung. Und ich hoffe, dass dieses Buch vielen hilft, auf der Grundlage der biblischen Botschaft ihre eigenen Antworten auf die anstehenden Fragen zu finden.

Tübingen, im März 2011

Walter Klaiber

Inhalt

Cover

Titel

Der Autor

Impressum

Vorwort

1. Für mich ist er nicht gestorben

Der Protest gegen die Heilsbedeutung des Todes Jesu

2. Warum Jesus gekreuzigt wurde

Ursachen und Hintergründe der Verurteilung Jesu

3. Den hat Gott auferweckt

Die neue Perspektive durch Ostern

4. Der Gerechte muss viel leiden

Erste Hinweise aus dem Alten Testament

5. Um unsrer Sünden willen zerschlagen

Das stellvertretende Leiden des Gottesknechts

6. Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden

Was ist Sühne und wer braucht sie?

7. Für uns gestorben

Die Logik der Stellvertretung

8. Das Blut Jesu Christi

Von der Reinigung und Entgiftung des Lebens

9. Also hat Gott die Welt geliebt

Woran man Gottes Liebe erkennt

10. Das Wort vom Kreuz

Skandal, Unsinn oder die entscheidende Botschaft?

11. Der Leidensweg Jesu

Wie die ersten drei Evangelien Jesu Sterben erzählen und deuten

12. Am Kreuz verherrlicht

Jesu Tod im Johannesevangelium

13. Das Ende der Gewalt

Sinn und Grenze des Opfergedankens im Hebräerbrief

14. Würdig ist das Lamm

Die Zukunft des Gekreuzigten in der Offenbarung des Johannes

15. In seinen Tod getauft

Neues Leben durch das Sterben mit Christus

16. Das ist mein Leib – das ist mein Blut

Die Gegenwart der Hingabe Jesu im Abendmahl

17. Als Lösegeld für viele

Wie hat Jesus selbst seinen Tod verstanden?

18. Warum musste Jesus sterben?

Versuch einer Antwort

Literaturhinweise

Register der Bibelstellen

1. Für mich ist er nicht gestorben

Der Protest gegen die Heilsbedeutung des Todes Jesu

Der ältere Herr in unserer Gesprächsrunde ließ keinen Zweifel an seiner Meinung: »Für mich ist er nicht gestorben«, sagte er und schockierte damit nicht wenige der Gesprächsteilnehmer. Seine Begründung war klar und eindeutig: »Erstens kann ich nicht verstehen, wie der Tod eines anderen etwas für mein Leben bewirken soll, und zweitens glaube ich nicht, dass Gott das Opfer eines Menschenlebens braucht, um mir vergeben zu können.«

Es mögen nicht viele sein, die das so offen sagen. Aber ohne Zweifel wächst das Unverständnis für diese zentrale Aussage des christlichen Glaubens. Natürlich gab es solche Stimmen schon immer. Aber es waren doch eher Äußerungen von Nichtchristen oder Leuten, die als Zweifler am Rande der Kirche standen. Heute haben wir die Situation, dass Vertreter der Kirche und Theologieprofessoren fordern, von der Vorstellung eines stellvertretenden Todes Jesu Abschied zu nehmen. Und nicht wenige Christen und Christinnen, oft engagierte Mitglieder ihrer Kirchengemeinde, reagieren mit Zustimmung und Erleichterung. Sie haben sich schon lange damit gequält, dass sie diese Aussage des christlichen Glaubens nicht wirklich verstehen und für sich annehmen konnten. Was über viele Jahrhunderte Zentrum christlicher Theologie und persönlicher Frömmigkeit war, ist in Verruf gekommen.

Welche Gründe werden für die Ablehnung vorgebracht? Es ist ein ganzes Bündel von Argumenten, die gegen die Vorstellung sprechen, dass Jesus Christus, Gottes Sohn, nach Gottes Willen für unsere Sünden am Kreuz gestorben sei.

  1. Jesus selbst hat seinen Tod nicht als stellvertretendes Opfer gesehen.

  2. Eine solche Vorstellung widerspricht dem Gottesbild Jesu.

  3. Dass das Leben eines anderen (sei es ein Tier, sei es ein Mensch) für unsere Vergehen sühnen könne, ist für heutige Menschen nicht mehr nachvollziehbar und gilt geradezu als unmoralisch.

  4. Die Aussagen über die Vergegenwärtigung des Opfers Jesu beim Abendmahl stehen in Verdacht, erst später aus der antiken Opferideologie eingetragen worden zu sein.

  5. Dass Gott einen Ersatzmann für uns braucht, um an ihm unsere Strafe zu vollziehen und so seine Gerechtigkeit zu beweisen, bzw. seine verletzte Ehre wiederherzustellen, widerspricht dem Kern des neutestamentlichen Gottesbildes.

  6. Ein großer Prozentsatz heutiger Christen kann, wie entsprechende Meinungsumfragen zeigen, mit der herkömmlichen Auffassung einer Heilsbedeutung des Todes Jesu nichts mehr anfangen.

All das sind Einwände gegen das traditionelle Verständnis des Todes Jesu, die schwer wiegen und sorgfältig bedacht werden müssen. Dabei muss man freilich genau hinsehen. Es gibt Gegenfragen:

Entspricht das, was durch Jahrhunderte hindurch von der Notwendigkeit des Opfertodes Jesu gelehrt wurde, wirklich dem, was die Bibel darüber sagt? Haben zentrale Begriffe wie Sühne oder Opfer in ihrem biblischen Zusammenhang die gleiche Bedeutung, die wir ihnen heute zuschreiben? Oder könnte es sein, dass sie ursprünglich anders gemeint waren und wir besser verstehen, was sie uns sagen wollen, wenn wir ihre ursprüngliche Bedeutung kennen?

Aber auch umgekehrt wird man fragen müssen: Gibt es biblische Aussagen, an denen wir festhalten müssen, selbst wenn eine Mehrheit von Menschen in oder außerhalb der Kirche sie nicht mehr akzeptieren kann, eben weil sie eine kritische Anfrage an das Selbstverständnis heutiger Menschen darstellen?

Auf dem Hintergrund dieser Fragen versuchen wir, zunächst einmal einfach zu verstehen, was Jesu Tod für die biblischen Zeugen bedeutete. Wir vergessen unsere kritischen Rückfragen nicht, aber wir stellen sie für einen Augenblick zurück, um zu hören, was die ersten Christen mit ihren Bildern und Begriffen zu diesem Thema sagen wollten. Wir lassen uns nicht dadurch irritieren, wenn das bei genauem Hinhören etwas anders klingt, als wir das bisher verstanden haben. Vor allem achten wir darauf, ob unterschiedliche Zugänge gewählt wurden, um die Bedeutung des Todes Jesu zu erklären. Möglicherweise weisen solche unterschiedlichen Perspektiven auf eine gemeinsame Mitte, von der aus auch wir besser verstehen können, was Jesu Tod mit unserem Leben zu tun hat. Die erste Frage, der wir nachgehen, lautet:

Wie kam es überhaupt dazu, dass Christen damit begannen, in Jesu Tod die entscheidende Tat Gottes zum Heil der Menschen zu sehen?

2. Warum Jesus gekreuzigt wurde

Ursachen und Hintergründe der Verurteilung Jesu

Jesus von Nazareth wurde am Kreuz hingerichtet. Das gehört zu den historisch gesichertsten Fakten seines Lebens. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, das zu erfinden. Denn die Kreuzigung galt im Altertum als die grausamste und schimpflichste Art der Todesstrafe. Die Römer haben sie von den Persern oder den Puniern übernommen und verhängten sie zunächst gegen kriminelle Sklaven und Schwerverbrecher. In den Provinzen wurde sie vor allem gegen Aufständische angewandt. In seiner Schilderung der Belagerung Jerusalems beim jüdischen Aufstand von 66–70 n. Chr. erzählt der jüdische Historiker Josephus, dass den römischen Truppen das Holz für die Kreuze ausging, weil so viele Gefangene gehenkt wurden. Wie die Schriften von Qumran belegen, hielt man im Judentum Menschen, die ans Kreuz gehängt wurden, auf Grund von Dtn 21,23 für von Gott verflucht.

Der Pfahl, an dem der Verurteilte aufgehängt wurde, war an der Hinrichtungsstätte schon fest eingerammt; den Querbalken musste er selbst zum Richtplatz tragen. Nachdem man ihm die Kleider ausgezogen hatte, wurde er mit den Armen an diesen Balken festgebunden oder genagelt. Der Balken wurde hochgezogen und in Form eines T oder eines Kreuzes am Pfahl befestigt. Die Beine wurden entweder an den Pfahl gebunden oder mit einem großen Nagel befestigt. (In einem Grab bei Jerusalem fand man die Knochen eines Mannes, dessen Fersenbeine mit einem großen Nagel durchbohrt waren.) Der Tod trat sehr langsam und unter großen Qualen ein – was zur Abschreckung beabsichtigt war.

Dass die Evangelien einhellig berichten, Jesus sei am Kreuz hingerichtet worden, zeigt, dass er von den Römern zum Tode verurteilt wurde. Mit ziemlicher Sicherheit hatten die jüdischen Behörden nicht das Recht die Todesstrafe zu verhängen. Aber selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte ihr Urteil auf Tod durch Steinigung und nicht durch Aufhängen am Kreuz gelautet.

Die Rolle der jüdischen Behörden

In letzter Zeit ist in Frage gestellt worden, ob die jüdischen Behörden überhaupt an der Verurteilung Jesu beteiligt waren. In den Evangelien besteht zweifellos eine Tendenz, den Juden immer stärker die Verantwortung für das Todesurteil gegen Jesu anzulasten. Damit verbunden ist die gegenläufige Bemühung, die Römer und ihren Statthalter Pontius Pilatus von der Schuld an dem Justizmord zu entlasten. Dies wird besonders deutlich, wenn man den ältesten Bericht im Markusevangelium mit den Erzählungen bei Matthäus und Johannes vergleicht, in denen Pilatus (und bei Matthäus auch seine Frau) geradezu zum Zeugen für die Unschuld Jesu wird. Ansätze zu dieser Tendenz kann man auch schon bei Markus vermuten. Diese Entwicklung bestimmte auch die spätere christliche Polemik gegen die Juden als »Gottesmörder« und führte nach der Aufführung mittelalterlicher Passionsspiele oft zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung.

Angesichts der unheilvollen Auswirkungen dieser Berichte haben in neuerer Zeit eine Reihe christlicher und jüdischer Historiker die These aufgestellt, sie seien alle Erfindung der frühchristlichen Erzähler, die den Juden die Schuld an Jesu Tod geben wollten. Allerdings ist die Tatsache, dass diese Berichte eine verhängnisvolle Entwicklung angestoßen haben, kein Beweis dafür, dass sie keinen historischen Kern haben können. Aber die kritischen Stimmen nennen auch historische Gründe für ihre Zweifel:

  1. Die Art der Hinrichtung (Kreuzigung) spricht dagegen, dass hier ein jüdisches Gericht mit beraten habe. Es sei fraglich, ob die Römer eine solche Mitwirkung überhaupt zugelassen hätten.

  2. Die Art wie die Evangelien Verhör und Verurteilung Jesu vor dem jüdischen Hohen Rat schildern, verletzt mehrere Bestimmungen der jüdischen Prozessordnung, wie sie von späteren rabbinischen Schriften überliefert ist.

  3. Nach allem, was wir wissen, galt der Anspruch, der Messias zu sein, im Judentum nicht als Gotteslästerung. Eine Verurteilung durch den Hohen Rat aus diesem Grund sei also unwahrscheinlich.

Diese Argumente sind gewichtig, aber sie reichen nicht aus, eine Mitwirkung jüdischer Instanzen bei der Verurteilung Jesu grundsätzlich auszuschließen. Angesichts historischer Erfahrungen dürfte es eine gewagte These sein, dass ein Prozess, in dem jemand aus politischen Interessen zum Tode verurteilt wurde, bei dem aber die formalen Vorschriften nicht eingehalten wurden, nicht stattgefunden haben könne. Allerdings muss beachtet werden, dass den ersten Erzählern der Passionsgeschichte sicher keine Protokolle jener Sitzung des Hohen Rates vorlagen. Sie hatten Informationen über eine Verhandlung vor dem Hohen Rat in der Nacht der Verhaftung Jesu. Sie kannten wohl auch Stichworte hinsichtlich der Themen, die dort besprochen wurden. Und sie wussten, dass Jesus nach dieser Verhandlung dem römischen Statthalter überstellt wurde und von diesem zum Tode verurteilt worden war. Aus diesen Informationen formten sie ihren Bericht. Es ist deshalb gut möglich, dass es bei jener Nachtsitzung des Hohen Rates nicht zu einer förmlichen Verurteilung Jesu kam, wohl aber zu dem Beschluss, Jesus unter einer Anklage, die ein Todesurteil nach sich ziehen würde, Pilatus zu übergeben. Man wird also gut daran tun, zwischen den Gründen, die die jüdischen Behörden zu diesem Vorgehen veranlasst haben, und der Anklage, mit der sie ihn der römischen Gerichtsbarkeit übergaben, zu unterscheiden.

Wie kam es zur Anklage gegen Jesus?

Es gibt verschiedene Gründe, die die jüdischen Behörden veranlassen konnten, gegen Jesus vorzugehen.

1. Schon von der Wirksamkeit Jesu in Galiläa gibt es Berichte über Konflikte zwischen Jesus und führenden Gruppen im Judentum. Vor allem war Jesu freier Umgang mit den Sabbatvorschriften Anlass zu Auseinandersetzungen. Auch seine freizügige Haltung im Blick auf kultische Reinheit und sein Verkehr mit Leuten, die einen schlechten Ruf hatten, erregte Anstoß. Diese Auseinandersetzungen betrafen vor allem die Pharisäer, eine Gruppe im damaligen Judentum, die sich durch eine besonders konsequente Gesetzesauslegung auszeichnete. Sie hatten in Galiläa viele Anhänger und zeigten sich zunehmend feindlich gegenüber Jesu Wirksamkeit. In Jerusalem und im Hohen Rat war ihr Einfluss geringer. Darum scheinen diese Vorwürfe im Prozess Jesu keine Rolle gespielt zu haben. Sie dürften aber für die feindselige Stimmung gegenüber Jesus und die Bereitschaft, gegen ihn vorzugehen, mit verantwortlich gewesen sein.

2. In Jerusalem und im Hohen Rat hatte die Gruppe der Sadduzäer den entscheidenden Einfluss. Sie setzte sich vor allem aus Leuten aus priesterlichen Kreisen und den hohepriesterlichen Familien zusammen. Ihr Interesse galt hauptsächlich dem Tempel und der Aufrechterhaltung des dortigen Kultbetriebes. Es ist deshalb bezeichnend, dass in den Berichten über den Prozess vor dem Hohen Rat ein angebliches Wort Jesu gegen den Tempel eine wichtige Rolle gespielt hat. Zwar betonen die Passionsberichte, dass eine Verurteilung Jesu aus diesem Grund nicht möglich war, da die Zeugen den Wortlaut dieser Äußerung nicht übereinstimmend wiedergeben konnten. Aber es macht doch deutlich, wo die Interessen der herrschenden Schichten in Jerusalem berührt wurden. Weissagungen gegen den Tempel galten als todeswürdiges Verbrechen (vgl. Jer 26). Allerdings war diese Anklage kaum geeignet, die Römer zum Eingreifen zu bewegen. Vielleicht war dies auch ein Grund dafür, dass sie fallen gelassen wurde.

3. Entscheidend aber dürfte gewesen sein, dass die führenden Leute in Jerusalem in Jesus einen Unruhefaktor sahen, der das mühsam gewahrte Gleichgewicht zwischen römischer Besatzungsmacht und eingeschränkter jüdischer Selbstverwaltung stören konnte, wenn dieser mit dem Anspruch auftrat, der Messias, also der endzeitliche König Israels, zu sein. Schon aus der Zeit in Galiläa berichtet Markus, dass sich Pharisäer und Gefolgsleute des Herodes Antipas einig wurden, Jesus aus dem Weg zu räumen (3,6). Wenn diese Notiz zutrifft, gab es dafür nicht nur religiöse, sondern vor allem auch machtpolitische Gründe. Der große Zulauf, den Jesus hatte, und die offene Frage, mit welchem Vollmachtsanspruch er auftrat, ließen ihn zu einem politischen Risikofaktor werden. Zwar waren weder die Huldigung bei Jesu Ankunft in Jerusalem noch seine Aktion gegen das Treiben im Vorhof des Tempels großangelegte Demonstrationen, sonst hätten die römischen Soldaten schon früher eingegriffen. Aber sie machten den aufmerksamen Beobachtern klar, dass dieser Mann gefährlich werden konnte. All das zeigt: Auch wenn der (angebliche) Anspruch Jesu, der Messias zu sein, nicht ausreichte, um damit ein Todesurteil nach jüdischem Gesetz zu begründen, so war er doch die geeignetste Anschuldigung, um Jesus als Aufrührer der Besatzungsmacht zu übergeben, in der Hoffnung, dass dies ein sicheres Todesurteil zur Folge haben würde.

Wir erfahren weiter, dass an der Hinrichtungsstätte als Grund für Jesu Verurteilung stand: »Der König der Juden« (Mk 15,26). Das zeigt eindeutig, dass er von den Römern als politischer Aufrührer betrachtet wurde, der die römische Herrschaft im Land beseitigen und sich selbst zum König machen wollte. Auch die Art der Hinrichtung am Kreuz weist auf eine solche Anschuldigung hin. Nach allem, was wir über Jesus wissen, hat er sich nicht als Befreiungskämpfer und politischer Messias verstanden. Aber die Frage, ob er nicht in einem ganz anderen Sinne der verheißene Messias sei, hat er zunächst bewusst offen gelassen und im Verhör vor dem Hohen Rat und Pilatus wohl zumindest indirekt bejaht (Mk 14,62; 15,2).

Warum musste Jesus sterben? Neben den vorgeschobenen machtpolitischen Gründen, die zu seiner Verurteilung führten, gab es auch noch einen »inneren« Grund dafür:

Jesus blieb bis zum Tod seiner Sendung und dem Anspruch treu, dass in seiner Person, seinem Reden und Tun Gott gegenwärtig ist. Gerade die Freiheit, mit der er Menschen in schwierigen Situationen begegnete, sollte zeigen: Gottes Herrschaft hat schon begonnen. Das aber führte zum Konflikt mit den religiösen und politischen Autoritäten seiner Zeit.

3. Den hat Gott auferweckt

Die neue Perspektive durch Ostern

Gott hat Jesus von den Toten auferweckt! Das war die Botschaft, die die Jünger und Jüngerinnen Jesu bald nach Jesu Tod aus der Verzweiflung über das schmähliche Ende ihres Lehrers herausriss. Die Erfahrungen von Ostern haben entscheidend dazu beigetragen, dass die Frage nach der Bedeutung dieses Todes unausweichlich wurde. Was die Jünger und Jüngerinnen in der Zeit nach der Hinrichtung Jesu erlebten, gab ihnen die Gewissheit: Jesus war nicht einfach wie viele unbequeme Mahner von den Römern umgebracht worden, sondern Gott hat durch seinen Tod zum Heil der Menschen gehandelt. Wie kam es dazu?

Nach allem, was wir wissen, sind die Jünger Jesu bei seiner Verhaftung geflohen und haben sich nach seiner Verurteilung versteckt. Nur einige der Frauen, die mit Jesus nach Jerusalem gewandert waren, verfolgten die Hinrichtung aus der Ferne. Zwar berichten die Evangelien, Jesus habe angekündigt, dass er hingerichtet und nach drei Tagen auferstehen werde. Doch gibt es keine Hinweise darauf, dass die Jünger mit seinem Tod gerechnet und ihm irgendeinen Sinn abgewonnen haben. Für eine schnelle Beisetzung des Leichnams Jesu vor dem Sabbat in einem nahe gelegenen Grab sorgte ein heimlicher Anhänger Jesu, der Ratsherr Josef aus dem judäischen Städtchen Arimathia.

Was sich dann am ersten Tag der folgenden Woche und der Zeit unmittelbar danach ereignete, ist historisch schwer zu fassen. Denn erstens sprengt, was hier berichtet wird, die Kategorien menschlicher Erfahrung und entzieht sich so der Erforschung mit historischen Mitteln. Und zweitens hat sich der Inhalt der Erzählungen von den Osterereignissen im Laufe des Weitererzählens so unterschiedlich entwickelt, dass es schwer ist, aus den unterschiedlichen Berichten ein einheitliches Gesamtbild zu gewinnen. Aber andererseits waren die Folgen dieser Ereignisse so tiefgreifend, dass auch kritische Historiker davon ausgehen, dass die Jünger Erfahrungen gemacht haben, die ihnen die Gewissheit gaben: Jesus ist nicht im Tode geblieben, sondern lebt. Wie diese Gewissheit entstanden ist, lässt sich mit historischen Mitteln schwer beschreiben. Doch gibt es zwei grundlegende Erfahrungen des Jüngerkreises, die zeigen, wo die Ursprünge des Osterglaubens liegen.

Nach den Berichten der Evangelien haben einige Frauen aus der Gefolgschaft Jesu, die am Ostermorgen noch einmal zum Grab gegangen waren, um den Leichnam Jesu nachträglich für die Totenruhe zu salben, entdeckt, dass das Grab geöffnet und leer war. Es ist immer wieder bezweifelt worden, dass diese Berichte zutreffend sind; aber die historische Wahrscheinlichkeit spricht doch eindeutig dafür. Was für den Historiker offen bleiben muss, ist die Frage, warum das Grab leer war. Auch nach den Ostererzählungen der Evangelien hat die Auffindung des leeren Grabs keineswegs den Osterglauben der Jünger begründet, sondern ihre Verzweiflung und Ratlosigkeit vermehrt (vgl. Mk 16,1–8; Lk 24,1–12.22–24).

Erst die Erfahrung, dass Jesus einigen der Jünger und Jüngerinnen in einer völlig neuen und unerwarteten Weise begegnete, brach die Bahn für die Gewissheit: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt! In den Einzelheiten gehen die Berichte der Evangelien hier auseinander, aber die Spuren der ältesten Überlieferungen machen deutlich, dass vor allem die Begegnung des auferstandenen Christus mit Petrus grundlegende Bedeutung für die Neuorientierung der Jünger hatte (1Kor 15,5; Lk 24,34).Aber das blieb keine Einzelerfahrung; Paulus kann eine ganze Reihe von Osterzeugen aufzählen und rechnet auch seine eigene Begegnung mit dem Auferstandenen zu den Ostererscheinungen (1Kor 15,5–8). Ziemlich sicher sind auch einige der Begleiterinnen Jesu dem auferstandenen Christus begegnet, auch wenn sie nicht in die offiziellen Zeugenlisten aufgenommen wurden (Joh 20,11–18).

Diese Begegnungen gaben den Jüngerinnen und Jüngern die Gewissheit, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth nicht im Tod geblieben war, sondern lebt. Die Art der Erscheinungen machte offensichtlich auch klar, dass er nicht einfach wiederbelebt worden war. Sie erweckten auch nicht den Eindruck, Jesus sei wie einst Henoch oder Elia zu Gott entrückt oder wie die verstorbenen römischen Kaiser zu göttlichen Ehren erhöht worden. Die Jünger konnten das, was sie in der neuen Begegnung mit Jesus erlebten, nur in die Worte fassen: »Gott hat Jesus von den Toten auferweckt« oder »Der Herr ist wirklich auferstanden« (Röm 10,9; Lk 24,34). Damit bekannten sie, dass Gott Jesus schon jetzt in eine Existenzweise gerufen hatte, wie sie erst für die Auferstehung der Toten erwartet wurde. Damit war eine weitere Gewissheit verbunden: Gott hat Jesus und alles, was er als Person und durch sein Wirken gelebt hatte, bestätigt. Er hat ihn »erhöht«, d. h. Jesus nahm nun die entscheidende Stelle im Handeln Gottes zu Heil und Gericht der Menschen ein, die in den Psalmen dem wahren König Israels zugesprochen wird. Nicht von ungefähr wurde Psalm 110,1 zu dem Psalmvers, der in den neutestamentlichen Schriften am häufigsten zitiert wird.

All das aber erzwang geradezu ein neues Fragen nach der Bedeutung des Sterbens Jesu. Wenn Gott auf diese Weise an dem Gekreuzigten gehandelt hatte, dann war sein Tod mehr als ein Justizmord, den Gott schleunigst durch seine Auferweckung korrigiert hat. Dass Gott seinen Beauftragten einem solch schändlichen Sterben ausgeliefert hatte, musste eine tiefere Bedeutung für Gottes Weg mit ihm haben. Aber worin lag diese?

Antwort auf diese Frage fand die urchristliche Gemeinde in den heiligen Schriften Israels, die wir heute Altes Testament nennen.

4. Der Gerechte muss viel leiden

Erste Hinweise aus dem Alten Testament

»Der Gerechte muss viel erleiden, aber aus alledem hilft ihm der HERR«, diesen Satz aus Ps 34,20 hatten die ersten Christen wohl schon oft gebetet. Jetzt lasen sie die heiligen Schriften mit der Frage: Warum musste einer, der so intensiv mit Gott lebte wie Jesus, dennoch leiden und sterben? Dazu entdeckten sie vor allem in den Psalmen wichtige Hinweise. War nicht in einer Reihe von Psalmen, die David zugeschrieben wurden, davon die Rede, in welch tiefe Gottverlassenheit und Todesnot der Gesalbte Gottes geführt wurde? Und hatte man diese Stellen nicht schon immer als einen Hinweis auf das Geschick der Gerechten verstanden, die unter der Verfolgung der Gottlosen zu leiden hatten, die Gott aber zuletzt doch gerettet hatte?

So fand man in diesen Psalmen eine Fülle von Stellen, die beschrieben, in welche Tiefe des Leidens Jesus als der »Heilige und Gerechte« Gottes (Apg 3,14; 7,52) geführt worden war. Von ihm galt mehr als von jedem anderen, was der Psalmist in Ps 69,8–10 von sich sagt:

Denn um deinetwillen trage ich Schmach,

mein Angesicht ist voller Schande.

Ich bin fremd geworden meinen Brüdern

und unbekannt den Kindern meiner Mutter;

denn der Eifer um dein Haus hat mich gefressen,

und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.

Der Widerstand gegen Gott und seine Herrschaft, deren Kommen Jesus verkündigte, hatte sich an seiner Person festgemacht und ihn in den Tod geführt. Er, der in seinem ganzen Wesen und Handeln Gottes Gegenwart gelebt und verkörpert hatte, er musste die tiefe Gottverlassenheit durchleiden, die schon der Gebetsschrei des Beters in Ps 22,2 verrät:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Als man dann begann, die Leidensgeschichte Jesu zu erzählen, lieferten die Psalmen dafür Worte und Bilder, so z. B. Ps 22,7–9:

Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch,

ein Spott der Leute und verachtet vom Volke.

Alle, die mich sehen, verspotten mich,

sperren das Maul auf und schütteln den Kopf:

»Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus

und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.« (vgl. Mk 15,29; Mt 27,29. 39. 43; Lk 23,35)

Oder aus dem gleichen Psalm (V. 19) der Hinweis:

Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.

(vgl. Mk 15,24; Mt 27,35; Lk 23,34; Joh 19,24)

Ein Zitat aus Ps 31,6 »In deine Hände befehle ich meinen Geist« ist in Lk 23,46 das letzte Wort Jesu. Joh 19,36 findet in Ps 34,21 den Hinweis darauf, dass keines der Gebeine Jesu zerbrochen wurde. Auch die Anspielung auf Ps 69,22 fehlt in keinem der Evangelien:

Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst.

(vgl. Mk 15,23.36; Mt 27,34.48; Luk 23,36; Joh 19,29 f.)

In den Psalmen fand man aber auch den Hinweis darauf, dass Gott Jesus nicht im Tode lassen würde. Zweimal zitiert die Apostelgeschichte Ps 16,10 (und zwar nach der griechischen Übersetzung) und erklärt damit das Geschick Jesu (2,27; 13,35):