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Hakan Nesser

Das zweite Leben
des Herrn Roos

Roman

Aus dem Schwedischen
von Christel Hildebrandt

Einleitende Bemerkung
Die Städte Kymlinge und Maardam existieren nicht wirklich. Im Gegensatz zum rumänischen Schriftsteller Mircea Cărtărescu, der im vorliegenden Buch mehrmals zitiert wird.

»Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach einem Ort wie diesem hier gesehnt.«

Per Petterson, Pferde stehlen

I

1
Am Tag, bevor sich alles veränderte, hatte Ante Valdemar Roos eine Erscheinung.
Er ging mit seinem Vater durch einen Wald. Es war Herbst, und sie hielten einander an der Hand; das Sonnenlicht sickerte durch die hoch aufragenden Nadelbaumkronen, sie folgten dem niedergetretenen Pfad, der sich zwischen Preiselbeergestrüpp und bemoosten Steinen schlängelte. Die Luft war klar und frisch, ab und zu roch es nach Pilzen. Er war wohl fünf oder sechs, in der Entfernung waren Vögel zu hören und das Bellen eines Hundes.
Hier ist das graue Moor, sagte sein Vater. Hier steht oft der Elch.
Es war in den Fünfzigerjahren. Sein Vater trug eine Lederweste und eine karierte Mütze, jetzt nahm er sie ab, ließ die Hand seines Sohns los und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Stirn ab. Er holte die Pfeife und seinen Tabak heraus und fing an, die Pfeife zu stopfen.
Schau dich um, Valdemar, mein Junge, sagte er. Besser als jetzt wird das Leben nie mehr.
 

Er war sich nicht sicher, ob das wirklich passiert war. Ob das eine richtige Erinnerung war oder nur ein Bild, das aus dem geheimnisvollen Brunnen der Vergangenheit auftauchte. Eine Sehnsucht nach etwas, das es vielleicht nie gegeben hatte.
Und ausgerechnet heute, mehr als fünfzig Jahre später, saß er auf einem sonnenwarmen Stein neben seinem Auto, schloss die Augen in der Sonne und fragte sich, was nun Wahrheit war und was Schein. Es war August, und seine Mittagspause war in einer halben Stunde zu Ende. Sein Vater war 1961 gestorben, als Valdemar erst zwölf Jahre alt gewesen war. Wenn er zurückdachte, tauchten oft Erinnerungsfetzen auf, die ein Hauch von Idyll umgab. Meist dachte er, dass es nicht erstaunlich wäre, wenn diese oder jene Szene nie stattgefunden hätte. So im Nachhinein betrachtet.
Doch diese Worte hatten echt geklungen, er hatte nicht das Gefühl, als hätte er es selbst erfunden.
Besser als jetzt wird das Leben nie mehr.
Und an die Mütze und die Weste konnte er sich noch deutlich erinnern. Er war fünf Jahre jünger als ich jetzt, als er starb, dachte er. Vierundfünfzig, älter wurde er nicht.
Er trank den letzten Schluck Kaffee und setzte sich dann hinters Lenkrad. Drehte den Sitz so weit es ging nach hinten und schloss erneut die Augen. Kurbelte die Seitenscheibe herunter, damit ihn der sanfte Wind erreichen konnte.
Schlafen, dachte er, ich schaffe es noch, eine Viertelstunde zu schlafen.
Vielleicht sehe ich noch einmal diese Erscheinung im Wald. Vielleicht passiert etwas anderes Schönes.
 

Die Firma Wrigmans Elektriska stellte Thermoskannen her. Zu Beginn, Ende der Vierziger und bis in die Achtziger hinein, hatte die Palette aus verschiedenen elektrischen Produkten bestanden, wie Ventilatoren, Haushaltsgeräte und Haartrockner, aber seit den Siebzigerjahren hatte man begonnen, Thermoskannen zu produzieren. Schuld an dieser Veränderung war in erster Linie die Tatsache, dass sich der Firmengründer, Wilgot Wrigman, in Verbindung mit einem Transformatorenbrand im Oktober 1971 buchstäblich in Rauch aufgelöst hatte. Was einer Firma für Elektrogeräte ein schlechtes Image verleiht. Die Leute vergessen nicht so schnell. Doch der Name wurde beibehalten, es gab Stimmen, die behaupteten, Wrigmans Elektriska sei ein Begriff. Die Fabrik lag in Svartö, einige Kilometer nördlich von Kymlinge, man hatte an die dreißig Beschäftigte, und Ante Valdemar Roos arbeitete als kaufmännischer Leiter seit 1980 dort.
Achtundzwanzig Jahre bis heute. Jeden Tag vierundvierzig Kilometer mit dem Auto; und wenn man außerdem vierundvierzig Arbeitswochen im Jahr rechnete – wenn man schon mal bei Zahlenspielen war – und dazu fünf Tage in der Woche, dann wurden das 271 040 Kilometer, was ungefähr einer siebenfachen Erdumkreisung entsprach. Die weiteste Reise, die Valdemar in seinem Leben gemacht hatte, war auf die griechische Insel Samos gegangen, das war im zweiten Sommer mit Alice gewesen und inzwischen zwölf Jahre her. Man konnte über die Zeit sagen, was man wollte, auf jeden Fall verging sie.
Aber es gab noch eine andere Art von Zeit. Ante Valdemar Roos stellte sich nämlich häufiger vor, dass es zwei stark voneinander abweichende Zeitbegriffe gäbe.
Die Zeit, die dahinraste – die einen Tag dem anderen hinzufügte, eine Falte zur anderen und ein Jahr zum nächsten -, an der war nicht viel zu ändern. Da hieß es nur nach bestem Vermögen dranzubleiben, wie die jungen Hunde an einer läufigen Hündin und die Fliegen an einem Kuharsch.
Mit der anderen Zeit, der immer wiederkehrenden, war es etwas anderes. Sie war langsam und zäh von ihrem Charakter her, manchmal geradezu stillstehend, zumindest konnte es den Anschein erwecken; wie diese zähen Sekunden und Minuten, wenn man als Siebzehnter vor einer roten Ampel an der Kreuzung Fabriksgatan-Ringvägen steht und wartet. Oder wenn man eine halbe Stunde zu früh aufwacht und ums Verrecken nicht wieder einschlafen kann – einfach seitlich im Bett liegt, den Wecker auf dem Nachttisch beobachtet und mit der Dämmerung eins wird.
Und sie war Gold wert, diese ereignislose Zeit, je älter man wurde, umso deutlicher trat einem das vor Augen.
Die Pausen, dachte er häufig, es sind die Pausen zwischen den Ereignissen – und während sich das Eis in einer Novembernacht über den See legt, wenn man ein wenig poetisch sein möchte -, in denen ich mich zu Hause fühle.
In denen solche wie ich sich zu Hause fühlen.
Er hatte nicht immer so gedacht. Eigentlich erst im letzten Jahrzehnt. Es hatte sich wohl irgendwie eingeschlichen, aber er war sich dessen erst bei einer ganz gewissen Gelegenheit bewusst geworden – erst dann hatte er es in Worte fassen können. Das war an einem Tag im Mai vor fünf Jahren gewesen, als das Auto plötzlich zwischen Kymlinge und Svartö seinen Geist aufgegeben hatte. Es war morgens gewesen, ein paar Minuten, nachdem er die Kreuzung an der Kvartofta-Kirche passiert hatte. Valdemar war an den Straßenrand gerollt, hatte ein paar Mal versucht, wieder zu starten, aber absolut vergebens. Als Erstes rief er Red Cow an und teilte ihr mit, dass er später kommen werde, anschließend den Straßendienst, der versprach, innerhalb einer halben Stunde mit einem Leihwagen bei ihm zu sein.
Es wurden dann anderthalb, und während dieser neunzig Minuten, während Valdemar dort hinter dem Lenkrad saß und die Vögel beobachtete, die unter dem hohen Maimorgenhimmel ihre Kreise zogen, das Licht, das über den Äckern Hof hielt und die Adern auf seinen Händen, durch die das Blut mit Hilfe seines treuen alten Herzens gepumpt wurde, da begriff er, dass es diese Augenblicke waren, in denen sich seine Seele einen Platz in der Welt suchte. Genau dann.
Es bekümmerte ihn nicht, dass der Abschleppwagen sich verspätete. Es störte ihn nicht, dass Red Cow anrief und fragte, ob er etwa stiften gegangen sei. Er spürte keinerlei Bedürfnis, mit seiner Ehefrau oder sonst einem anderen Menschen zu sprechen.
Ich hätte lieber eine Katze werden sollen, hatte Ante Valdemar Roos gedacht. Verdammt und zugenäht, so eine dicke Bauernkatze in der Sonne auf dem Hofplatz, das wäre was gewesen.
 

Er dachte auch jetzt an eine Katze, als er aufwachte und auf die Uhr schaute. Die Mittagspause würde in vier Minuten um sein, höchste Zeit, sich zurück zu Wrigmans zu begeben.
Das brauchte nicht mehr als zwei Minuten, er hatte diese geschützte Lichtung vor einem Jahr gleich hinter einem unbefahrenen Waldweg gefunden, nur ein paar Steinwürfe von der Fabrik entfernt. Manchmal machte er einen Spaziergang hierher, aber meistens nahm er das Auto. Er schlief gern ein Viertelstündchen, und da war es schön, einfach die Rückenlehne herunterzukurbeln und einzudösen. Ein auf der Erde schlafender Mann am Waldrand hätte Verdacht erregen können.
Der Personalraum von Wrigmans Elektriska maß so um die fünfzehn Quadratmeter, war mit dunkelbraunem Linoleum und lila Laminat bedeckt, und nachdem er ungezählte Mittagspausen dort verbracht hatte, hatte Ante Valdemar Roos eines Nachts einen Traum gehabt, in dem er tot war und in die Hölle kam. Es musste 2001 oder 2002 gewesen sein, der Teufel hatte ihn persönlich in Empfang genommen, hatte dagestanden und dem neu eingetroffenen Gast mit seinem charakteristischen, hämischen Lächeln die Tür aufgehalten, und der Raum dahinter war exakt der Aufenthaltsraum von Wrigmans gewesen. Red Cow hatte bereits in ihrer üblichen Ecke mit ihren Mikrowellennudeln und ihrem Horoskop gesessen, und sie hatte nicht einmal ihren Blick gehoben, geschweige denn ihm zugenickt.
Vom nächsten Tag an war Valdemar dazu übergegangen, Butterbrote, Joghurt und Kaffee an seinem Schreibtisch zu sich zu nehmen. Oder Banane und ein paar Pfefferkuchen, die er in seiner obersten rechten Schreibtischschublade verwahrte.
Und inzwischen, zumindest bei passablem Wetter, nahm er also gern den Wagen, um sich eine Stunde oder fünfzig Minuten davonzustehlen.
Red Cow fand, er wäre ein Sonderling, daraus machte sie keinen Hehl. Wobei das nicht nur seine Essensgewohnheiten betraf, aber er hatte gelernt, es zu ignorieren.
Mit den anderen verhielt es sich übrigens genauso. Nilsson, Tapanen und Walter Wrigman selbst. Die das Büro bevölkerten. Ihm war klar, dass sie ihn für einen unmöglichen Kerl hielten, er hatte Tapanen genau diesen Begriff benutzen hören, als er mit jemandem am Telefon sprach und glaubte, ungestört zu sein.
Ja, du weißt schon, dieser Valdemar Roos, das ist ein unmöglicher Kerl, man kann seinem Schöpfer nur danken, dass man nicht mit so einem verheiratet ist.
Mit so einem? Valdemar parkte auf seinem üblichen Platz neben den verrosteten Containern, die eigentlich schon seit Mitte der Neunziger hatten abtransportiert werden sollen. Tapanen war nur zwei Jahre jünger als er und arbeitete fast schon genauso lange bei Wrigmans. Hatte vier Kinder mit derselben Frau, war aber seit einiger Zeit geschieden. Setzte auf Pferde und hatte die letzten achtzehnhundert Wochen behauptet, es wäre nur eine Frage der Zeit, wann er die dicke Kohle einsacken würde und sich aus dieser verfluchten, mottenzerfressenen Firma würde verabschieden können. Er achtete immer darauf, das so zu verkünden, dass Walter Wrigman es hören konnte, und der geschäftsführende Direktor pflegte daraufhin seine Portion Snus unter der Oberlippe zu verschieben, sich mit der Hand über die Glatze zu streichen und zu erklären, dass ihn nichts mehr freuen würde. Absolut nichts.
Valdemar hatte Tapanen noch nie leiden können, nicht einmal zu der Zeit, als er Leute noch schätzte. Er hatte etwas Kleingeistiges und Ekliges an sich. Valdemar fand, er gehörte zu dieser Art von Menschen, die ihren Kameraden im Schützengraben im Stich ließen. Er wusste nicht genau, was das bedeutete, und auch nicht, woher er dieses Bild hatte, aber es haftete Tapanen auf gleiche Weise an wie eine Warze einem Warzenschwein.
Nilsson dagegen mochte er. Der Nordländer mit dem krummen Rücken verbrachte zwar die meiste Zeit draußen auf den Straßen, aber ab und zu saß er auch auf seinem Platz rechts von Red Cows Glaskasten. Er war nicht älter als vierzig, mittlerweile wohlgemerkt, früher war er noch jünger gewesen; er war schweigsam und freundlich, verheiratet mit einer noch schweigsameren Frau aus Byske, oder war es Hörnefors? Sie hatten fünf oder sechs Kinder und waren Mitglieder in irgendeiner dieser freien Kirchen, Valdemar konnte sich nie merken, in welcher. Nilsson hatte ein halbes Jahr vor der Jahrtausendwende bei Wrigmans angefangen, als Nachfolger von Lasse mit dem Bein, der unter tragischen Umständen bei einem Angelunfall vor Rönninge umgekommen war.
Er hatte etwas Ernstes an sich, dieser Nilsson, besaß eine graue, flechtenähnliche Eigenschaft, die weniger verständnisvolle Seelen, beispielsweise Tapanen, als Trägheit definieren würden, und wie gerne Valdemar es auch getan hätte, auch er konnte sich nicht daran erinnern, dass Nilsson jemals etwas von sich gegeben hätte, was auch nur annähernd als Scherz aufzufassen gewesen wäre. Es war sogar schwer zu sagen, ob er während seiner nunmehr fast zehn Jahre bei Wrigmans Elektriska jemals gelacht hatte.
Dass ihm Nilsson so sympathisch war, sagte wohl auch einiges über Ante Valdemar Roos aus. Oder hatte etwas ausgesagt. Früher.
Dieses Bild von dem Spaziergang mit dem Vater hing ihm jedenfalls noch nach. Die hohen, geraden Kiefernstämme, Büschel von Preiselbeergestrüpp, die feuchten Senken mit Mädesüß und Heidegagelstrauch. Als er wieder an seinem Platz am Schreibtisch angekommen war und den Computer eingeschaltet hatte, war es ihm, als liefen ihm die Worte seines Vaters wie eine Tonschleife im Kopf herum. Immer und immer wieder ohne Unterbrechung.
Besser als jetzt wird das Leben nie mehr.
Niemals besser als jetzt.
 

Der Nachmittag verging im Zeichen des Trübsinns. Es war ein Freitag. Es war im August. Die Hundstage und der Sommer hingen noch in der Luft, die erste Arbeitswoche nach dem Urlaub war bald zu Ende, und die nahe Zukunft lag wie eine hoffnungslos falsch gelegte Eisenbahnschiene vor ihm ausgerollt: ein Festessen mit dem Bruder seiner Ehefrau Alice und der Schwägerin in der Gemeinde Kymlinge.
Das war Tradition. Am Freitag nach dem zweiten Donnerstag im August aß man Krebse bei Hans-Erik und Helga Hummelberg. Nach allen Regeln der Kunst; man setzte sich kleine bunte Hütchen auf, trank mindestens sechs Sorten Bier und selbst angesetzten Kräuterschnaps und schlürfte die Krebse mit allem, was dazugehörte, in sich hinein. Normalerweise waren sie ein Dutzend, plus minus ein Paar, und Valdemar war in den letzten drei Jahren immer auf dem Sofa eingeschlafen.
Nicht aufgrund übermäßigen Genusses starker Getränke, eher aus Trübsinn. Zunächst nahm er an der Konversation teil, war schlagfertig, interessierte sich für allen möglichen esoterischen Blödsinn, so für ungefähr zwei, drei Stunden, doch dann ging ihm regelmäßig die Luft aus. Mit der Zeit fühlte er sich immer unwohler, wie ein Seehund in der Wüste. Ging für eine halbe Stunde auf die Toilette. Wenn es niemand bemerkte, gönnte er sich meistens noch eine halbe Stunde, saß dort auf einem fremden, braun lackierten Toilettensitz, die Hose und die Unterhose um die Waden schlackernd, und überlegte, was er wohl tun würde, wenn er eines Tage beschließen sollte, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Oder seine Ehefrau zu töten. Oder nach Katmandu zu fliehen. Er hatte gelernt, die sogenannte Kindertoilette im Bereich der Teenager zu benutzen, die während des Festes ihrer Eltern sowieso nicht zu Hause waren, hier konnte er ungestört und ungeliebt in einer Wolke pessimistischer Überlegungen sitzen, solange er es wollte.
Aber es musste etwas falsch gelaufen sein, hatte er im letzten Jahr gedacht, etwas musste ernsthaft falsch gelaufen sein im Leben, wenn man ungefähr in seinem sechzigsten Lebensjahr keine besseren Lösungen fand, als zum Festessen zu gehen und sich dann auf der Toilette einzuschließen.
Was also tun?, dachte er, als die Arbeitswoche plötzlich vorbei war und er wieder hinterm Steuer saß. Was tun? Mit der Faust auf den Tisch schlagen? Den Widerstand erproben und freundlich, aber entschieden erklären, er denke gar nicht daran, mit zu Hans-Erik und Helga zu gehen?
Warum nicht? Warum nicht ganz einfach Alice erzählen, dass er ihren Bruder und seinen Anhang genauso wenig ausstehen könne wie Rapmusik, Blogs und Schlagzeilen, und dass er nicht im Traum daran denke, seinen Fuß noch einmal in diese quasiintellektuelle Saufgesellschaft zu setzen?
Während er die zweiundzwanzig Kilometer zurück nach Kymlinge fuhr, tauchten diese Fragen in dem öden Hohlraum seines Kopfes immer wieder auf. Er wusste, dass sie fiktiv waren, nicht real; es handelte sich nur um den üblichen feigen Protest, der mehr oder minder kontinuierlich in seinem Inneren herrschte. Fragen, Formulierungen und bissige Phrasen, die nie über seine blutleeren Lippen kamen und zu nichts anderem dienten, als ihn noch mutloser und übellauniger werden zu lassen.
Ich bin tot, dachte er, als er an dem neuen Coop-Zentrum draußen in Billundsberg vorbeifuhr. In allen wesentlichen Punkten gibt es weniger Leben in mir als in einem Blumentopf aus Plastik. Das ist nicht der Fehler der anderen, es liegt nur an mir.
Sieben Stunden später saß er tatsächlich auf der Toilette. Die Vorhersage war punktgenau eingetreten, mit dem kleinen Zusatz, dass er betrunken war. Aus reinem Ekel und in einem Versuch, einen Sinn im Dasein zu finden, hatte er vier Schnäpse getrunken, eine größere Menge Bier sowie zwei oder drei Glas Weißwein. Außerdem hatte er der ganzen Gesellschaft eine längere Geschichte über eine Hure aus Odense erzählt, aber als er zur Pointe kam, stellte sich leider heraus, dass er diese vergessen hatte. So etwas kommt in den besten Familien vor, aber die Frau eines neuen Paares – eine blondierte, großbusige Psychotherapeutin mit Wurzeln in Stora Tuna – hatte ihn mit einem professionellen Lächeln betrachtet, und er hatte gesehen, wie Alice die Zähne zusammenbiss, dass ihre Kiefer weiß wurden.
Er wusste nicht, wie lange er auf dem braunlackierten Ring gesessen hatte, aber die Uhr zeigte Viertel vor eins, und er nahm nicht an, dass er eingeschlafen war. Nach Ante Valdemar Roos’ Erfahrung war es mehr oder weniger unmöglich, auf einem Toilettensitz einzuschlafen. Er spülte, kam auf die Füße und zog seine Kleidung zurecht. Er spritzte sich ein paar Mal kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte, die spärlichen Strähnen, die hier und da auf seinem unebenen Kopf in einer Art Muster immer noch wuchsen, zu kämmen. Klaute einen Klecks Zahnpasta und gurgelte.
Anschließend trottete er vorsichtig aus der Toilette und steuerte das große Wohnzimmer an, wo sich spanische Gitarrenmusik mit lauten Stimmen und fröhlichem Gelächter vermischte. Sollte nicht noch ein anderer gegangen sein und sich versteckt haben, dann sind da jetzt elf Personen drinnen, dachte Valdemar, eine ganze Fußballmannschaft von Menschen jüngeren und mittleren gesetzten Alters, erfolgreich, schlagfertig und wohlverdient beschwipst.
Ein plötzliches Zögern überfiel ihn. Mit einem Mal fühlte er sich alt, als Versager auf ganzer Linie und nicht die Bohne schlagfertig. Seine Ehefrau war elf Jahre jünger als er, all die anderen in der Bande waren zwischen vierzig und fünfzig, wobei man sich fragen konnte, ob die Psychotherapeutin vielleicht immer noch in den Dreißigern war. Was ihn betraf, so hatte er nur noch einige Monate bis zum sechzigsten Geburtstag vor sich.
Ich habe keinem einzigen von denen da etwas zu sagen, dachte er. Und keiner von denen da hat mir etwas zu erzählen.
Ich will nicht länger dabei sein, ich möchte höchstens eine Katze sein.
Er schaute sich im Flur um. Der war in Weiß und Aluminium gehalten. Es gab nicht ein einziges Teil hier, was ihn interessierte. Nicht das winzigste Ding, das er mitgenommen hätte, wenn er ein Einbrecher gewesen wäre. Es war einfach zu traurig.
Er drehte sich auf den Hacken um, schlich sich durch die Haustür nach draußen und trat in die kühle, klärende Nachtluft hinaus.
Niemals schlimmer als jetzt, dachte er.

2
Um halb eins am folgenden Tag saß Ante Valdemar Roos auf dem Sofa im Wohnzimmer und versuchte, die Zeitung zu lesen.
Was ihm nicht besonders glückte. Der Text flimmerte. Sein Kopf fühlte sich an wie etwas, das allzu lange im Backofen geblieben war. Um den Magen war es nicht viel besser bestellt, und irgendeine Art verirrter Huflattich wuchs an den Rändern seines Blickfelds.
Seine Ehefrau Alice hatte den ganzen Morgen kein Wort mit ihm gewechselt, aber die jüngste Tochter Wilma hatte – noch schnell, bevor sie mit ihrer Mutter durch die Tür verschwunden war – erklärt, dass sie für ein paar Stunden fort seien, um shoppen zu gehen. Sie war sechzehn, vielleicht tat er ihr ja ein wenig leid.
Die älteste Tochter Signe stand draußen auf dem Balkon und rauchte. Weder Wilma noch Signe waren Valdemars leibliche Kinder, sie gehörten zu dem Alice-Paket, als er sie vor elf Jahren geheiratet hatte. Damals waren sie fünf und neun gewesen. Inzwischen waren sie sechzehn und zwanzig. Das war ein gewisser Unterschied, wie Valdemar fand. Man konnte nicht gerade behaupten, dass es mit der Zeit einfacher geworden war. Es verging kaum ein Tag, ohne dass er eine höhere Macht, an die er eigentlich gar nicht glaubte, anflehte, dass Signe doch etwas finden würde, wozu sie Lust hätte und von zu Hause auszöge. Sie redete seit mindestens drei Jahren davon, aber bisher war noch nichts in die Tat umgesetzt worden.
Was ihn persönlich betraf, so hatte Ante Valdemar Roos ein leibliches Kind. Einen Sohn namens Greger, er war in einer verwirrten ersten Ehe mit einer Frau gezeugt worden, die Lisen hieß. Das war auch zu der damaligen Zeit kein besonders üblicher Name gewesen, und er war der Meinung, dass sie wahrscheinlich auch keine besonders übliche Frau war. Allgemein betrachtet nicht und auch zu keiner Zeit.
Inzwischen war sie tot. Sie war zwei Jahre vor der Jahrtausendwende bei einer Bergbesteigung im Himalaya ums Leben gekommen. Wenn er die Sache richtig verstand, hatte sie irgendeinen Gipfel genau an ihrem fünfzigsten Geburtstag erklimmen wollen.
Sie waren sieben Jahre lang verheiratet gewesen, als sie ihm beichtete, dass sie fast durchgehend einen anderen Mann neben ihm gehabt hatte, und sie ließen sich ohne größeres Trara scheiden. Greger hatte sie mitgenommen, als sie nach Berlin zog, aber Valdemar hatte immer Kontakt zu dem Jungen gehabt.
Nicht viel, aber immerhin. Schulferien und Urlaube … eine Gebirgswanderung und ein paar Reisen; eine verregnete Woche in Schottland unter anderem und vier Tage im Skara-Sommerland, einem Ferienpark. Inzwischen näherte sich Greger bereits dem gesetzten Alter und lebte in Maardam, wo er bei einer Bank arbeitete und mit einer dunkelhäutigen Frau aus Surinam zusammenlebte. Valdemar hatte sie noch nie getroffen, aber auf einem Foto gesehen, sie hatten zwei Kinder, und normalerweise schickte er alle drei oder vier Monate eine E-Mail an Greger. Das letzte Mal hatte er ihn bei Lisens Beerdigung auf einem zugigen Friedhof in Berlin gesehen. Seitdem waren zehn Jahre vergangen.
Signe kam vom Balkon.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Gut«, sagte Valdemar.
»Du siehst schlapp aus.«
»Wirklich?«
»Mama hat gesagt, dass es ein bisschen zu viel geworden ist gestern.«
»Ach was«, sagte Valdemar, und ihm fiel die Zeitung auf den Boden.
Sie setzte sich in den Sessel ihm gegenüber. Schob das Handtuch zurecht, das sie sich um das Haar gewickelt hatte. Sie trug ihren weiten gelben Bademantel, wahrscheinlich hatte sie vor ihrer ersten Morgenzigarette geduscht.
»Sie hat erzählt, dass du vom Krebsessen einfach verschwunden bist.«
»Verschwunden?«
»Ja.«
Er hob die Zeitung auf und spürte, wie es in den Schläfen pochte, als er sich vorbeugte. Die Huflattiche wuchsen immens.
»Ich... bin spazieren gegangen.«
»Den ganzen Weg von Kyrkbyn?«
»Ja, es war ein schöner Abend.«
Sie gähnte. »Ich habe gehört, wie du nach Hause gekommen bist.«
»Ach, wirklich?«
»Genau genommen nur zehn Minuten nach mir. Um halb fünf.«
Halb fünf?, dachte er, und eine Woge der Übelkeit durchspülte ihn. Unmöglich!
»Es dauert seine Zeit von Kyrkbyn«, sagte er. »Wie schon gesagt.«
»Ja, sicher«, erwiderte Signe grinsend. »Und dann warst du im Prince und hast ein paar Biere getrunken. Das hat sicher auch eine Weile gedauert.«
Er musste zugeben, dass das stimmte. Signe war so gut informiert wie immer. Er war an der Kneipe in der Drottninggatan vorbeigekommen, hatte gesehen, dass sie geöffnet hatte, und war eingekehrt. Er wusste nicht, dass sie Prince hieß, aber plötzlich fiel ihm ein, dass er an einem glänzenden Bartresen gesessen und Bier getrunken hatte. Sich außerdem mit einer Frau unterhalten hatte, sie hatte dichtes rotes Haar gehabt, ein Palästinensertuch oder zumindest irgendeine Art von kariertem Stoff, und vielleicht hatte er sie auch auf ein Glas eingeladen. Oder zwei. Wenn er sich recht erinnerte, dann hatte sie einen Männernamen auf der Innenseite ihres Unterarms tätowiert gehabt. Hans? Nein. Hugo, das war es gewesen, oder? Ach, was soll’s, dachte Ante Valdemar Roos.
»Cilla, meine Freundin, hat dich gesehen. Du warst etwas angesäuselt, hat sie gesagt.«
Er zog es vor, keinen Kommentar dazu abzugeben. Blätterte stattdessen in seiner Zeitung und tat so, als interessierte ihn das Gespräch nicht weiter. Als ginge es ihn gar nichts an.
»Sie hat auch gesagt, dass du fünfzehn Jahre älter warst als alle anderen in der Kneipe. Das Schätzchen, mit dem du dich unterhalten hast, kam um zwei.«
Er fand die Sportseiten und fing an, die Ergebnisse zu studieren. Signe blieb ein paar Sekunden lang schweigend sitzen und starrte auf ihre Fingernägel. Dann stand sie endlich auf.
»Mama ist etwas sauer, oder?«, bemerkte sie und verschwand in ihr Zimmer, ohne die Antwort abzuwarten.
So ist das Leben, dachte Ante Valdemar Roos und schloss die Augen.
 

In den frühen Nachmittagsstunden gönnte er sich ein Nickerchen, und als er gegen vier Uhr aufwachte, stellte er zu seiner Verwunderung fest, dass er allein zu Hause war. Wo Wilma und Signe sich aufhielten, das stand in den Sternen, aber Alice hatte einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen.
 

Bin bei Olga. Wird wohl spät werden. A
 

Valdemar knüllte das Papier zusammen und warf es in den Mülleimer. Er nahm zwei Kopfschmerztabletten und trank ein Glas Wasser. Dachte einen Moment lang an Olga, sie war Russin und eine der unzähligen Freundinnen seiner Ehefrau. Sie hatte dunkle Augen, sprach langsam und ein wenig geheimnisvoll mit einer tiefen Stimme, fast Bariton, und er hatte einmal geträumt, dass er mit ihr schliefe. Es war ein äußerst deutlicher Traum gewesen, sie hatten in einem Meer aus Farnkraut gelegen, sie hatte ihn geritten, und ihr schwarzes, langes Haar hatte im Wind getanzt; er war aufgewacht, kurz bevor er gekommen war, war davon aufgewacht, dass Alice nur einen halben Meter vom Bett entfernt den Staubsauger anstellte und ihn fragte, ob er krank sei oder was denn mit ihm los sei.
Das war schon einige Jahre her, aber es fiel ihm immer noch schwer, dieses Farnkraut zu vergessen.
Er öffnete die Kühlschranktür und überlegte, ob von ihm erwartet wurde, dass er den Mädchen etwas zu essen kochte. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gab alle Zutaten, um ein spärliches Nudelgericht hinzukriegen; er beschloss, erst einmal abzuwarten. Die eine oder andere würde schon irgendwann auftauchen, vielleicht würden sie es auch vorziehen, wenn er jeder einen Hunderter gab, so dass sie ihre Bedürfnisse in der Stadt befriedigen konnten. Man konnte ja nie wissen.
Er suchte seinen Tippschein heraus und ließ sich vor dem Fernseher in den Sessel sinken.
Ante Valdemar Roos ahnte wohl kaum, dass seinem Leben in diesem Augenblick eine grundlegende, schicksalsschwere Veränderung bevorstand.
Genau diese unverbesserlich lächerliche Formulierung würde ihm in den folgenden Wochen immer mal wieder durch den Kopf gehen, und jedes Mal würde er mit jedem Recht der Welt darüber lachen.
Es war sein Vater gewesen, der damit angefangen hatte. Bevor er sich erhängte, war er acht Jahre lang jede Woche in den Zigarettenladen im Gartzvägen in K. gegangen und hatte eine einzelne Tippreihe abgegeben. Jeden Mittwoch vor achtzehn Uhr, manchmal hatte Valdemar ihn begleitet.
Nur eine Reihe?, pflegte der phlegmatische Tabakhändler Pohlgren zu fragen.
Nur eine Reihe, antwortete der Vater.
Die meisten, die tippten, so hatte Valdemar verstanden, versuchten ihr Glück gern mit fünf oder acht Reihen oder mit einem kleinen System, aber Eugen Roos begnügte sich mit einer Reihe.
Früher oder später, mein Junge, so erklärte er es Valdemar, früher oder später kommt ein Treffer. Wenn man es am allerwenigsten erwartet, es geht nur darum, Geduld zu bewahren.
Geduld.
Nach Vaters Tod hatte Valdemar die Tradition übernommen, bereits an dem auf das tragische Ereignis folgenden Mittwoch war er zu Pohlgren gegangen, hatte eine einzige Reihe auf dem Kupon ausgefüllt und die vierzig Öre bezahlt, die das damals kostete.
Und so hatte er weitergemacht; Woche für Woche, Jahr für Jahr. Als der Totozettel von zwölf auf dreizehn Spiele erweitert wurde, hatte auch Valdemar sein Spiel erweitert. Von einer auf drei Reihen. Und beim dreizehnten Spiel deckte er alles.
Dieselbe Reihe also seit 1953. Manchmal hatte er schon überlegt, ob das eine Art Weltrekord war. Schließlich handelte es sich inzwischen um mehr als fünfzig Jahre, ein ansehnliches Pensum Zeit, wenn man es recht betrachtete.
Das Merkwürdige war, dass weder er noch sein Vater jemals auch nur eine Krone gewonnen hatten. Zweiundzwanzig Mal hatten sie neun Richtige; dreimal zehn, aber bei keiner dieser Gelegenheiten hatte ein Zehner zu einer Auszahlung geführt.
Geduld, dachte er stets. Wenn ich die Reihe an Greger vererbe, dann wird er eines schönen Tages Millionär.
 

Er nickte im Sessel kurz ein, das war nicht zu verhindern. Ungefähr zwischen der zwanzigsten und der vierundvierzigsten Minute der zweiten Halbzeit war er aber wieder hellwach, da wurden die Ergebnisse gezeigt. Immer noch war er allein in der Wohnung, er griff zum Stift und überlegte, wenn er in seinem nächsten Leben keine Katze wurde, ob er dann zumindest darum bitten könnte, Junggeselle zu werden.
Und dann, während die Welt ihren üblichen Gang ging, während unberechenbare Winde aus allen möglichen Winkeln und Ecken bliesen und nichts oder alles seinen Raum einnahm oder auch keinen einnahm, da nahm das Wunder seinen Lauf.
Spiel für Spiel, Ergebnis für Ergebnis, ein Zeichen nach dem anderen; Als alles notiert war, war Valdemars erster Gedanke, dass er tatsächlich derjenige gewesen war, der dagesessen und die ganze Prozedur überwacht hatte. Dass es auf ihn – und auf seine gewissenhafte Überwachung – ankam. Normalerweise tat er das nicht, zumindest kam es inzwischen äußerst selten vor, dass er sich die Bekanntgabe der Ergebnisse im Fernsehen ansah, meistens begnügte er sich damit, die Zahlen im Teletext oder in der Zeitung vom Sonntag oder Montag zu vergleichen. Um dann festzustellen, dass es vier oder fünf oder sechs Richtige waren wie üblich, was nur hieß, einen neuen Anlauf zu nehmen.
Dreizehn.
Er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Sprach es laut aus.
Dreizehn Richtige.
Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er tatsächlich wach war. Oder überhaupt noch am Leben. Das Dämmerlicht im Raum und in der Wohnung erschien ihm nicht wirklich, eher wie eine Art Nebelvorhang, vielleicht war er ja tot, bis auf den Fernseher war keine einzige Lichtquelle an, und zum ersten Mal fiel ihm auf, dass es draußen in der Welt regnete und dass der Himmel über Kymlinge dunkel wie frisch aufgeschütteter Asphalt war.
Er kniff sich in den Nasenflügel, räusperte sich laut und deutlich, bewegte seine Zehen, und nachdem er seinen Namen und sein Geburtsdatum mit klarer und deutlicher Stimme ausgesprochen hatte, zog er den vorsichtigen Schluss, dass er weder schlief noch tot war.
Dann kam die Ausschüttung.
Eine Million …
Sein Kopfschmerz meldete sich zurück, er riss die Augen auf und beugte sich näher zum Bildschirm.
Eine Million neunhundertfünfzig …
Das Telefon klingelte. Alexander Graham Bell, go and play with yourself, dachte Ante Valdemar Roos. Man konnte sich fragen, wieso sich gerade dieser Spruch, dazu noch in einer fremden Sprache, in seinem sich langsam erholenden Gehirn einfand, aber so war es nun einmal, und im nächsten Moment war er schon wie weggewischt und vergessen.
Eine Million neunhundertvierundfünfzigtausend einhundertzwanzig Kronen.
Er suchte nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher aus und blieb für zehn Minuten reglos im Sessel sitzen. Wenn mein Herz jetzt nicht stehen bleibt, dann werde ich leben, bis ich hundert bin, dachte er.
 

Als Alice von ihrem Besuch bei Olga nach Hause kam, war es bereits halb zehn Uhr abends, und Valdemar hatte sich in jeder Beziehung wieder beruhigt.
»Ich muss mich bei dir für gestern entschuldigen«, sagte er. »Ich habe ein paar Schnäpse zuviel abbekommen.«
»Abbekommen?«, erwiderte Alice. »Ich dachte, du hättest sie dir genommen.«
»Kann schon sein«, sagte Valdemar. »Auf jeden Fall war es ein bisschen zu viel.«
»Sind die Mädchen zu Hause?«
Er zuckte mit den Schultern. »Nein.«
»Wilma hat mich auf dem Handy angerufen und versprochen, um neun Uhr zu Hause zu sein.«
»Ach ja?«, sagte Valdemar. »Nein, von den beiden ist keine heute Abend zu Hause gewesen.«
»Hast du dich um die Wäsche gekümmert?«
»Nein«, sagte Valdemar.
»Hast du die Blumen gegossen?«
»Auch nicht«, gab Valdemar zu. »Ich habe mich nicht so recht gefühlt, weißt du.«
»Ich nehme an, dass du Hans-Erik und Helga auch nicht angerufen hast, um dich bei ihnen zu entschuldigen.«
»Das stimmt«, bestätigte Valdemar. »Das habe ich auch versäumt.«
Alice ging in die Küche, er folgte ihr, da er sehen wollte, wie sich das Ganze wohl entwickelte.
»Weißt du«, sagte sie. »Weißt du, manchmal machst du mich so traurig, dass ich mich am liebsten hinlegen und sterben würde. Verstehst du das?«
Ante Valdemar Roos dachte nach.
»Das wollte ich nicht«, sagte er. »Ich wollte nicht weggehen. Aber es war so ein schöner Abend, und da habe ich gedacht …«
»Diese Geschichte, die du erzählt hast, findest du, dass sie gut in die Gesellschaft passte?«
»Ich weiß, ich habe die Pointe vergessen«, gab er zu. »Aber sie ist wirklich ganz witzig. Jetzt fällt mir wieder ein, wie sie sein soll, wenn du willst, kann ich...«
»Es reicht, Valdemar«, unterbrach sie ihn. »Im Augenblick kann ich nicht mehr. Willst du wirklich weiterhin mit mir verheiratet sein?«
Er setzte sich an den Tisch, während sie stehen blieb und aus dem Fenster schaute. Eine ganze Weile passierte gar nichts. Er saß nur da, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, während er auf die kleine, halbtote Topfpflanze und die zwei kleinen Salzstreuer schaute, die sie in der Västerlånggatan während eines regnerischen Stockholmwochenendes vor sieben, acht Jahren gekauft hatten. Wobei es sich natürlich eigentlich um einen Salzstreuer und einen Pfefferstreuer handelte. Alice hatte ihm ihren breiten Hintern zugedreht, und er dachte, dass ihre Ehe genau auf diesem umfangreichen Körperteil beruhte. Ja, so war es tatsächlich. Sie war zwar noch nicht älter als achtundvierzig, aber es war nicht leicht, einen neuen Partner zu finden, wenn man mehr als zwanzig Kilo Übergewicht mit sich herumschleppte, nicht in diesen Zeiten, die so offensichtlich vom Aussehen, von Äußerlichkeiten und dem Schlanksein geprägt waren – vielleicht galt das ja für alle Zeiten. Er wusste, dass sie sich vor nichts mehr fürchtete, als davor, allein leben zu müssen.
Die Gleichung war aufgestellt und gelöst worden, bereits als sie heirateten. Valdemar war zehn Jahre zu alt gewesen, dafür war Alice fünfundzwanzig Kilo zu schwer, keiner von ihnen hatte diese traurige Wahrheit jemals ausgesprochen, aber er war überzeugt davon, dass sie sich dessen ebenso bewusst war wie er.
Und im Namen der gleichen finsteren Wahrheit konnte man auch anmerken, während man dasaß, mit den Ellbogen über den Tisch rieb und wartete, dass zumindest Alice in der Zeit, die sie verheiratet waren, um einige Kilo leichter geworden war, während Valdemar nicht im entsprechenden Grad jünger geworden wäre.
»Wir haben seit mehr als einem Jahr nicht mehr miteinander geschlafen«, sagte sie nun. »Findest du mich so widerlich, Valdemar?«
»Nein«, sagte er. »Aber ich finde mich selbst ziemlich widerlich, da drückt der Schuh.«
Er überlegte kurz, ob das stimmte oder nur eine raffinierte Behauptung war, und das tat Alice offensichtlich auch, denn sie drehte sich um und betrachtete ihn mit einem leicht traurigen und ein wenig prüfenden Blick. Es sah so aus, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann seufzte sie nur schwer und verschwand in der Waschküche.
Zwei Millionen, dachte Ante Valdemar Roos. Mit den Zwölfern mussten das über zwei Millionen werden. Was zum Teufel soll ich jetzt machen?
Und plötzlich tauchte das Bild seines Vaters im Wald in seinem perforierten Bewusstsein auf. Noch einmal. Er stand mit der Pfeife in der Hand da, und sein Gesicht schien näher zu kommen, und als Valdemar die Augen schloss, konnte er sehen, wie sich die Lippen seines Vaters bewegten. Als wollte er seinem Sohn etwas mitteilen.
Was?, dachte er. Was willst du mir sagen, Papa?
Und tatsächlich, in dem Moment, als er hörte, wie seine Frau den Trockner startete, konnte er die Stimme seines Vaters hören. Leise und entfernt kam sie durch das Rauschen all der verschwundenen Jahrzehnte zu ihm, aber dennoch unverkennbar – und deutlich genug, dass er ohne Probleme die Botschaft vernehmen konnte.
Nächste Woche brauchst du nicht mehr zu tippen, mein Junge, sagte er.
Und du brauchst nicht mehr geduldig zu sein.

3
Nach drei Wochen im Elvaforsheim war Anna Gambowska klar, dass sie wegmusste.
Es gab keinen anderen Weg.
Die erste Woche war damit vergangen, dass sie von morgens bis abends geweint hatte. Zum Teil auch noch in den Nächten, da gab es etwas in ihrer Seele, das mit all diesen Tränen gewaschen werden musste, damit es wieder weich und lebendig wurde. Genau so fühlte es sich an. Es war ein gutes Weinen, es eignete sich zur Heilung, auch wenn es einer großen Trauer entsprang.
Es war nicht das erste Mal, dass sie auf diese Art und Weise von sich selbst dachte. Als eine bedauernswerte kleine Pflanze, die gegossen werden musste und Nahrung brauchte, damit sie zurechtkam. Damit sie wuchs und ihren rechtmäßigen Platz in dieser kargen und ungastlichen Welt einnehmen konnte. Aber wenn das Leben zu schwer wurde, dann war es besser, dass sie da unten in dem kalten Frostboden verborgen lag und so tat, als würde sie gar nicht existieren.
Die Seele im Frost. Oder umgekehrt, der Frost in der Seele, so konnte man auch sagen, und es klang wie eine Rechtschreibübung aus der Mittelstufe.
So war es eine ganze Weile gewesen. Den ganzen Frühling und den ganzen Sommer über jedenfalls, vielleicht sogar noch länger. Ihre Seele hatte vergessen auf dem Boden einer gefrorenen Höhle gelegen, die ihr Inneres ausmachte, und wäre sie nicht rechtzeitig ins Elvaforsheim gekommen, dann hätte sie sogar ganz und gar sterben können.
Bei diesem Gedanken weinte sie noch mehr. Es schien, als nähre sich ihre Seele an ihrer eigenen Trauer, ja, so war es wirklich. Ihre Seele hatte wohl trotz allem eine gewisse Überlebenskraft.
Ihre Mutter war es, die festgestellt hatte, wie es um sie stand. Anna hatte Geld von ihr gestohlen, um Heroin zu kaufen, und es war auch ihre Mutter, die dafür sorgte, dass die Ämter auf den Plan traten.
Viertausend Kronen hatte sie genommen. Es war unbegreiflich, dass ihre Mutter so viel Geld zu Hause hatte, und als Anna in den ersten Tagen im Heim an das zurückdachte, was sie getan hatte – was in dem Zwölfstufenprogramm der moralische Zusammenbruch genannt wurde -, war das nicht möglich, ohne dass sich alles in ihr zusammenkrampfte und sie sich wünschte, wieder in der Tiefe verschwinden zu können. Ihre Mutter arbeitete in einer Kindertagesstätte, viertausend Kronen, das war mehr, als sie in einer Woche verdiente, sie hatte das Geld zurückgelegt, um Marek ein neues Fahrrad zu kaufen.
Marek war acht Jahre alt und Annas kleiner Bruder. Statt eines Fahrrads war es also Heroin für die große Schwester geworden.
Auch darüber weinte sie. Über ihre Schande, ihre Erbärmlichkeit und ihre Undankbarkeit. Aber ihre Mutter liebte sie, das wusste Anna. Liebte sie trotz allem. Obwohl sie ihre eigenen Probleme hatte. Als sie merkte, dass das Geld weg war, wurde sie wütend, doch das ging vorüber. Sie hatte Anna in den Arm genommen, sie getröstet und gesagt, dass sie sie liebte.
Ohne ihre Mutter hätte sie es nie geschafft, ihr Leben zu verändern, das wusste Anna Gambowska.
Vielleicht schaffte sie es auch nicht mit ihr, aber auf jeden Fall nicht ohne sie.
Sie kam am 1. August nach Elvafors. Acht Tage, nachdem ihre Mutter sie erwischt hatte, und es war ihr einundzwanzigster Geburtstag gewesen. Auf dem Weg waren sie in einem Café eingekehrt und hatten mit Kaffee und einem Stück Torte gefeiert. Ihre Mutter hatte sie bei den Händen gehalten, beide hatten sie geweint und einander versprochen, dass jetzt ein neues Leben beginne. Jetzt sollte es genug sein.
Als ich in deinem Alter war, musste ich auch mit einem großen Schmerz fertig werden, hatte ihre Mutter erzählt. Aber den kann man überwinden.
Wie hast du das geschafft?, hatte Anna gefragt.
Ihre Mutter hatte gezögert. Ich habe dich gekriegt, hatte sie schließlich gesagt.
Meinst du damit, dass ich zusehen soll, schwanger zu werden?, hatte Anna wissen wollen.
Untersteh dich, hatte ihre Mutter gesagt, und sie hatten beide so laut gelacht, dass das Personal im Café sich gegenseitig Blicke zugeworfen hatte.
Es war schön gewesen, in diesem anonymen Lokal zu sitzen und über das ganze Dasein zu lachen, dachte Anna. Es war ein schöner Moment gewesen. Allen Problemen und all dem Elend einen kräftigen Tritt in den Hintern zu verpassen, vielleicht war das eine Möglichkeit, dieses verfluchte Leben in den Griff zu kriegen? Vielleicht gab es keine bessere Methode.
Sie war fünfzehn gewesen, als sie zum ersten Mal Haschisch probiert hatte. In den letzten drei Jahren, nachdem sie das Gymnasium geschmissen und gejobbt hatte, in einem Kiosk, in einem Café und an einer Tankstelle, hatte sie mindestens dreimal in der Woche geraucht. Und seit sie im Februar von zu Hause ausgezogen war, so ziemlich jeden Tag. Im April hatte sie Steffo getroffen und angefangen zu dealen. Er hatte so seine Kontakte, er war sechs Jahre älter als sie, und er war im Mai bei ihr eingezogen. Er hatte außerdem noch härtere Sachen besorgt, Amphetamin, Morphium und ein paar Mal Ecstasy. Das Heroin war irgendwie der letzte Schritt gewesen, insgesamt hatte sie es viermal probiert, und wenn sie deswegen weinte, dann hatte sie das Gefühl, ihre Tränen bestünden aus reinem Blut.
Oder verunreinigtem Blut, genauer gesagt.
Ihre Mutter wusste nicht viel über Steffo, nur dass es ihn gab. Anna hatte ihn vor den Sozialarbeitern und den Bullen geschützt, und sie fragte sich, wohin er wohl gegangen war, nachdem ihre Mutter ihre Wohnung ausgeräumt hatte.
Aber für solche wie Steffo gab es überall Platz, davon war sie überzeugt. Schlafplätze sowieso, darüber brauchte sie sich wirklich keine Gedanken zu machen.
Und sie hoffte, dass er ein neues Mädchen gefunden hatte. Das hoffte sie um ihrer selbst willen. Es gab einiges an Steffo, was ihr Angst machte, eine ganze Menge eigentlich, wahrscheinlich war das der Grund, warum sie ihn gedeckt hatte.
Du gehörst mir, hatte er gesagt. Vergiss das nie, dass du Steffo gehörst.
Er hatte außerdem gewollt, dass sie sich seinen Namen aufs Bein tätowieren ließ, möglichst auf die Innenseite des Oberschenkels, aber das hatte sie hinauszögern können. Es ist ein Geschenk, hatte er erklärt, ein Geschenk von mir für dich. Ja, sie hoffte wirklich, dass er eine neue Freundin gefunden hatte.
Die Gedanken an Steffo ließen natürlich auch die anderen Fragen hochkommen. Sie schwammen in den Tränen, und sie wusste, dass sie nach einer Antwort suchten wie ein verlaufenes Kalb nach seiner Mama.
Warum? Warum willst du dein Leben zerstören? Warum gehst du offenen Auges in die Hölle? Was ist der Sinn des Ganzen, Anna?
Das fragte sie sich selbst, und alle anderen fragten es sich auch. Ihre Mutter. Die Leute vom Amt. Tante Majka. Sie hatte keine Antwort. Wenn es eine Antwort gäbe, dann wären ja keine Fragen nötig, dachte sie immer.
Eine einzige Finsternis war das. Eine Finsternis mit einer enormen Anziehungskraft.
Ja, einer Kraft, die stärker war als sie selbst, genau wie sie immer in der Gruppentherapie sagten.
 

Als sie das erste Mal das Elvaforsheim gesehen hatte, fand sie, dass es einem Bild aus dem Märchenbuch glich. Es lag an einem runden See, der mit Seerosenblättern bedeckt war. Eine daran angrenzende Wiese mit knorrigen Obstbäumen führte zum Haus hinauf, ansonsten war das Haus von Wald umschlossen. Das Hauptgebäude war ein alter, charmanter Holzbau in Gelb und Weiß; acht kleinere Zimmer im ersten Stock, Küche und vier größere unten. An einer Ecke gab es außerdem ein kleineres Haus, in dem das Büro und zwei Schlafräume für das Personal untergebracht waren. Oben am Waldrand stand noch ein Gebäude, ein kleines rotes Haus mit Zimmern und Küche, die sogenannte Zwischenstufe, die von den beiden Klientinnen bewohnt wurde, die am weitesten in der Behandlung gediehen waren. Die bald in die Endstufe nach Dalby und dann wieder zurück ins Leben kehren sollten.
Hier gab es nur Frauen. Eine Leiterin, die Sonja Svensson hieß, ein halbes Dutzend an Personal, mehrere von ihnen ehemalige Drogensüchtige, und dann die Klientinnen: junge Frauen, die aus dem schimpflichen Sumpf des Alkohols und der Drogen gerettet werden sollten. Genau besehen waren es acht Stück. Am selben Tag wie Anna war noch ein achtzehnjähriges Mädchen aus Karlstad gekommen, die Ellen hieß.
Sie stammten aus den verschiedenen Teilen des Landes, meistens aus Mittel- und Westschweden. Sie hatte ihre Namen bereits am ersten Vormittag kennengelernt, das war ein grundlegender Schritt in der Therapie, wie Sonja erklärte, und dazu hatte sie ihr trockenes Lachen erklingen lassen.
Wie können wir einander respektieren, wenn wir nicht wissen, wie wir heißen?
Um Respekt ging es oft im Elvaforsheim.
Zumindest auf dem Papier.
Dennoch war es gerade der Mangel an Respekt, der Anna Gambowska schließlich den Entschluss treffen ließ wegzulaufen.
Oder nicht?, fragte sie sich selbst.
Doch, genau das war der Grund.
Es gab eine Anzahl einfacher Regeln im Elvaforsheim. Bei der Aufnahme musste Anna ein Papier unterzeichnen, in dem sie bestätigte, dass sie diese Regeln akzeptierte. Die Behandlung war freiwillig, wurde aber von der Sozialbehörde der jeweiligen Heimatgemeinde der einzelnen Frauen bezahlt. Wenn es einem also nicht passte, war es besser, man überließ seinen Platz einer anderen, die ihn brauchte.
Es gab genügend, die ihn brauchten, weiß Gott. Die Behandlung dauerte zwischen sechs Monaten und einem Jahr, und man konnte gern auch danach weiterhin Kontakt halten. Es war nicht ungewöhnlich, dass dankbare ehemalige Klientinnen zu Besuch kamen, das erzählte Sonja Svensson bereits am ersten Tag. Absolut nicht ungewöhnlich.
Ansonsten bestand die wichtigste Regel darin, dass man so wenig Kontakt zur Außenwelt wie möglich haben sollte. Denn es war die Außenwelt, in der die Mädchen – keine war älter als dreiundzwanzig, weshalb Anna sie nur schwer als Frauen bezeichnen konnte – ihre Schrammen abbekommen hatten, dort hatten sie alle ihre schlechten Kontakte und ihr destruktives Netzwerk. Es ging darum, diese Muster aufzubrechen, im Inneren wie im Äußeren. Kein Handy war in Elvafors erlaubt, gerade mal ein Telefongespräch pro Woche gestattet – mit der Nummer eines Verwandten, normalerweise einem Elternteil, die man bereits zu Anfang hinterlegt hatte. Die Angehörigen dagegen durften von sich hören lassen, wurden jedoch dazu angehalten, die Kontakte restriktiv zu halten. Dafür wurden zweimal im Jahr sogenannte Familientage angesetzt.