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Das Buch

Was psychische Leiden bedeuten, weiß Christian Peter Dogs, denn er hat als Kind und Jugendlicher unvorstellbare Gewalt und Vernachlässigung erlebt. Wie es trotzdem gelingen kann, ein zufriedenes Leben zu führen, beschreibt er in seinem Buch. Er erklärt, warum es so wichtig ist, unangenehme Gefühle und Warnsignale des Körpers frühzeitig ernst zu nehmen. Und er schildert, wor-auf es ankommt, wenn die Selbstheilungskräfte nicht mehr ausreichen und Hilfe von außen unverzichtbar ist: darauf nämlich, den richtigen Therapeuten zu finden – einen, der sich nicht nur auf die Probleme konzentriert, sondern dabei hilft, sich von der Vergangenheit zu lösen und das Heute positiv zu gestalten.

Die Autoren

Christian Peter Dogs, Jahrgang 1953, ist seit 1985 Arzt in verschiedenen psychosomatischen und psychiatrischen Kliniken in Deutschland. 1994 gründete er zusammen mit Erwin und Gisela Obenaus die Panorama Fachklinik für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie, Naturheilverfahren und TCM in Scheidegg. Seit April 2017 ist er Ärztlicher Direktor der psychosomatischen Klinik in der Max Grundig Klinik Bühlerhöhe.

Nina Poelchau, Jahrgang 1962, arbeitet seit 2009 als Reporterin beim stern und schrieb davor unter anderem für das Süddeutsche Zeitung Magazin, das Deutsche Ärzteblatt, brand eins, Brigitte und Brigitte Woman. Nina Poelchau, Jahrgang 1962, arbeitet seit 2009 als Reporterin beim stern und schrieb davor unter anderem für das Süddeutsche Zeitung Magazin, das Deutsche Ärzteblatt, brand eins, Brigitte und Brigitte Woman. Sie ist ausgebildet in Paartherapie und personenzentrierter Gesprächstherapie

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Ullstein

Zum Schutz von Personen wurden Namen, Biographien und Orte verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen abgewandelt. Die geschilderten Patientengeschichten beschreiben also keine lebenden oder toten Personen; sie haben sich nicht so zugetragen, hätten sich aber so wie beschrieben zutragen können.

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ISBN 978-3-8437-1633-8

© 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
Umschlagmotiv: © NLshop-Fotolia

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Buch ist all meinen Patienten gewidmet, von denen ich so viel gelernt habe. Während ich sie ein Stück auf ihrem Weg begleitete, habe ich mit ihnen gefühlt, geweint, getrauert, gewütet und gelacht und dabei auch immer wieder über mich selbst lachen müssen.

Es ist ein Tanz der Gefühle, Hunderte Male gelebt.

INHALT

Über das Buch und die Autoren

Titelseite

Impressum

Widmung

Prolog

Wie alles begann

TEIL 1

Die Psyche im Stress

Was in unserem Gehirn stattfindet, wenn wir fühlen

Die Macht der Botenstoffe

Die meisten Gehirne sind negativ verschaltet

Der viel zu hohe Anspruch – oder warum Glückssuche Stress bedeutet

Überfrachtung macht hilflos

Das Leben muss nicht schwer bleiben, wenn es schwer begann – Meine Geschichte

Gefühle sind keine Krankheit

Trauer, Angst, Wut, Narzissmus – Die Sehnsucht nach Anerkennung, Verdrängte Gefühle machen krank, Depression, Essstörungen, Schlafstörungen, Gefährtete Narzissten, Die posttraumatische Belastungsstörung

TEIL 2

Therapie in Deutschland – eine Kritik

Therapieverfahren – eine Einordnung

Der gute Therapeut

Es kommt auf die Persönlichkeit an

Echtes Engagement statt aufgesetzter Empathie

Sinnvolle Therapiemethoden

Provokative Therapie, Verhaltenstherapie, Interpersonelle Therapie, Systemische Therapie, Tiefenpsychologisch fundierte Therapie, Schematherapie, EMDR, Cbasp, Hypnose, Emotionsfokussierte Paartherapie, Körpertherapien, Differentialdiagnose und Medikamente, Psychopharmaka

TEIL 3

Was kann ich selbst tun?

Pflegen Sie Ihre Beziehung

Wagen Sie etwas

Runter vom Gas

TEIL 4

Eine Klinik nach meinen Vorstellungen

Schlussgedanken

Empfehlungen

PROLOG

1953 wurde ich sozusagen in die Psychosomatik hineingeboren – denn mein Vater leitete damals eine Klinik mit diesem Schwerpunkt. Als Kind schon habe ich Selbsterfahrungsgruppen erlebt, die sich über 24 Stunden hinzogen, und an einer Sexualkonfrontationstherapie teilgenommen, zu der es gehörte, stundenlang Pornofilme anzuschauen, den Geburtskanal nachzustellen und Unsägliches mehr, was man Patienten in den sechziger und siebziger Jahren zugemutet hat, ohne wirklich zu wissen, was man damit anrichtete. Als Kind und später auch als Jugendlicher habe ich hautnah Übergriffe, Missbrauch und viel Schädigendes mitbekommen. Ich war mit alldem völlig überfordert und kämpfte ständig ums seelische Überleben.

Und heute? Da komme ich zum Ergebnis, dass viele Menschen gar nicht wüssten, dass sie psychisch krank sind, wenn wir Therapeuten es ihnen nicht immer wieder einreden würden. Es ist ein Phänomen unserer Zeit, jedes von der sogenannten Normalität abweichende Gefühl als Krankheit zu bezeichnen. Doch wenn man Menschen, die außergewöhnlich sind und auffallen, für gestört hält, ist die Gefahr groß, dass irgendwann all die Originale verschwinden, die unserer Gesellschaft die Farbe geben.

Es wird gern so getan, als gäbe es eine scharfe Grenze: Die Therapeuten sind normal – die, die zu ihnen kommen, sind es nicht. Selten geben sich die Therapeuten selbst zu erkennen. Gleichzeitig erwarten sie aber, dass die Patienten ihnen ihre ganze Innenwelt offenlegen.

Der Therapeut sieht und hört zu, nickt verständig und bleibt doch für den Patienten stets ein Rätsel – diese Regeln gelten heute nach wie vor. Mit einigem Recht kann man die Frage stellen, wer in diesem Arbeitsverhältnis eigentlich der Gestörtere ist: der Patient oder der Therapeut? Nach so vielen Jahren Erfahrung mit der Psychotherapie bin ich der Überzeugung, dass dieses gekünstelte Therapeutenverhalten falsch ist. Offen gestanden, es ist mir immer schon auf den Wecker gegangen: die eingefärbten, therapeutischen Sprachmelodien, dieses Alles-verzeihen-Getue und die dazu gehörigen ernsten Gesichter, dieses Vorspielen von tiefem Wissen und Verständnis, die Gepflogenheit, den Patienten beibringen zu wollen, dass doch an allem nur die kaputte Kindheit schuld ist, deren Verdrängung man zu klären habe. Erst dann werde alles gut. Es geht sogar so weit: Wer sich nicht an eine schwierige Kindheit erinnert, mit dem wird herausgearbeitet, dass er eine solche hatte – und so entstehen dann Pseudoerinnerungen.

Wie sehr freue ich mich über lebensfrohe, authentische Therapeuten, die den Patienten dabei helfen, ihre Ressourcen zu erkennen, die Zuversicht ausstrahlen und sich darauf konzentrieren, den Patienten aufzuzeigen, was an Veränderungen möglich ist. Die Mut machen, lachen können – auch über sich selbst –, die die Psychotherapie von der schrecklichen Schwermut befreien, mit der Generationen großer Therapeuten unser Fachgebiet vergiftet haben. Das ist es, worauf es ankommt. Wir arbeiten schließlich mit Menschen zusammen, die durch schreckliche Ereignisse krank geworden sind – ihr Zustand wird nicht besser, wenn sie sorgenvollen Behandlern gegenübersitzen, die so tun, als würden sie über alles Wissen der Welt verfügen.

Ich wünsche mir optimistische, furchtlose und gleichzeitig verantwortungsbewusste Therapeuten, die es auch mal riskieren, von nationalen Versorgungsleitlinien abzuweichen, und die den Mut haben, ihre Lebenserfahrung an die Patienten weiterzugeben. Therapeuten sollten als Menschen erlebbar sein, mit Stärken und Schwächen – und keine korrigierenden Kontrollinstanzen darstellen, die zum Lachen in den Keller gehen.

Auch wir Therapeuten haben Gefühle. Wir haben eine Geschichte, und diese eigene Geschichte sollten wir auch immer wieder mal unseren Patienten zeigen. Das erlaubt uns, intensive Bindungen zu ihnen herzustellen. Und das wiederum ist – die Forschung hat es längst bewiesen – der entscheidende Erfolgsfaktor jeglicher Art von Psychotherapie.

Dieses Buch ist ein Plädoyer für Gefühle. Ich habe den Mut, hier auch von mir selbst zu erzählen, und zwar viel mehr von mir selbst zu erzählen, als man es als Therapeut normalerweise tut. Ich habe den Versuch unternommen, meine eigene Geschichte einzubinden in die Erkenntnisse, die ich seit so vielen Jahrzehnten als Psychotherapeut und Psychiater gemacht habe. Weil ich darüber hinaus Position beziehe und den Psychotherapiebereich kritisch hinterfrage, mache ich mich angreifbar. Aber ich zeige Ihnen gerne alle meine Gefühle – und bin so froh, dass ich sie habe.

WIE ALLES BEGANN

Dass ich mich für den Therapeutenberuf eignen würde, ahnte ich schon mit sieben Jahren, als mir mein Vater das Hypnotisieren beibrachte. Die Erinnerung daran ist eine der sehr wenigen positiven Erinnerungen, die mich mit meinem Vater verbinden. Die meisten sind so schlecht, dass ich viele Gründe hätte, dauerhaft Psychiatriepatient zu sein und nicht das, was ich seit Jahrzehnten tatsächlich bin: Psychiater und Psychotherapeut, einer, der verzweifelten Menschen hilft, Lebensqualität zu entwickeln, und Topmanagern beibringt, ihre Balance im Leben zu finden.

Anfang der sechziger Jahre lebten wir in einem Burghof in Niedersachsen. Das Anwesen hatte mein Vater gekauft und zu einer Klinik umwandeln lassen, deren ärztlicher Leiter er war. Jedes Wochenende verbrachte er im Segelfliegerclub. Bei den Segelfliegern war er wegen seiner Hühner- und einer Gruppenhypnose sehr beliebt. Meist durfte ich ihn begleiten. Tagsüber flog ich mit vielen Fliegern, aber ungern mit meinem Vater, weil er ein schlechter Segelflieger war. Am Abend begann er dann sein Programm mit der Hühnerhypnose. Ich erinnere mich noch genau, wie anschließend ein Huhn neben dem anderen mit dem Kopf nach unten an einer Leine hing und die Hühner zur allgemeinen Erheiterung der Zuschauer über Stunden in dieser Position verharrten. Nun folgte die sogenannte Schmerzausschaltung mittels Hypnose, bei der ich ab meinem zehnten Lebensjahr zuschauen durfte. Mein Vater machte eine Gruppenhypnose und versetzte rund zehn Segelfliegerkollegen gleichzeitig in eine Art Trancezustand. Dann konnte er jedem eine Sicherheitsnadel durch die Wange stechen, weil sie keinen Schmerz mehr spürten. Die Macht der Suggestion hat mich schon damals so beeindruckt, dass ich sie später im Internat an meinen Mitschülern ausprobierte.

An dem Tag, als mein Vater mich in die Kunst der Hypnose einführte, sagte er zu mir: »Du musst das Huhn auf den Rücken drehen.« Dann machte er mir vor, wie man sanft auf das arme Tier einredet, um es willenlos zu machen. Er sagte zum Huhn: »Du schaust mir einfach nur in die Augen und merkst, wie du langsam schwer, ganz schwer wirst. Alles löst sich auf, du wirst immer schwerer und schwerer … Du tust jetzt genau das, was ich dir sage. Ich werde dich jetzt an einer Kralle nehmen, und du wirst schweben.« Das Huhn schien tatsächlich einzuschlafen. Man konnte es mit einem Finger an einer Kralle nach oben ziehen, widerstandslos schwebte es in der Luft. Mich hat das begeistert. Ich habe meinen Vater für diese Zauberkünste angebetet. Und ich war glücklich darüber, dass es mir gelang, es ihm gleichzutun.

Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass es sich hierbei gar nicht um Hypnose handelte, sondern um eine Sache, die jeder machen kann. Hühner haben, wenn sie auf dem Rücken liegen, einen angeborenen Totstell-Reflex. Sie lassen sich dann ohne Gegenwehr zum Schweben bringen, ganz egal, ob man beschwörend auf sie einredet oder nicht. Dennoch, in gewisser Weise war mein Erfolg bei den Hühnern der Grundstein meiner Karriere als Therapeut.

Bis heute habe ich geschätzte dreißigtausend Patienten gesehen, Abertausende Geschichten und Diagnosen gehört, Tausende Menschen selbst behandelt, vielen davon weitergeholfen, einige von ihnen schreiben mir heute noch. Ich habe richtig kaputte Klinikkarrieren begutachtet und ambulant oder in einer Klinik behandelt, Wirtschaftsbosse gecoacht, eine Ausbildung in der Psychotherapie und Psychiatrie und in Naturheilmedizin absolviert und schließlich Kliniken für Psychotherapie und Naturmedizin geleitet, die letzten zweiundzwanzig Jahre lang eine besonders schöne Klinik vor hinreißender Bergkulisse, in Scheidegg im Allgäu.

Ich würde sagen, ich kann es mir erlauben, ein fundiertes Fazit über die Branche der Psychiater und Psychotherapeuten, der Heiler und Heilsversprecher zu ziehen. Ebenso über die wirklich Kranken und scheinbar Kranken, die Hilflosen, Hilfesuchenden, die Abgebrühten und die Abzocker. Psychotherapie soll das Leben der Menschen nicht komplizieren, sondern einfacher machen, das ist meine Überzeugung. Sehr oft passiert das Gegenteil.

Doch das müsste nicht so sein. Es gibt Auswege aus seelischen Krisen. Sie sind oft einfach und schnell und hilfreich. Man muss sie nur nutzen oder, wenn der Blick versperrt ist, professionelle Wegweiser finden, die in die richtige Richtung weisen.

Psychotherapie ist nicht in Stein gemeißelt, ich halte diese Erkenntnis für ausgesprochen wichtig. Sie hat sich enorm weiterentwickelt, seit Sigmund Freud die Psychoanalyse konstruierte und damit die Grundlage zur modernen Psychotherapie schuf. Es passierte in den vergangenen hundertfünfzig Jahren immer wieder eine Menge Unfug – das wiederum, das ist das Gute an Irrtümern, ebnete den Weg für neue Ansätze.

Meine Tätigkeit in verschiedenen psychiatrischen Kliniken zwischen 1987 und 1994 hat mich sehr ernüchtert. Hatte ich davor in einer Klinik für Psychosomatik gelernt, wie stark Lebensereignisse die Psyche prägen, so wurde ich hier mit Diagnosen konfrontiert, bei denen die Lebensumstände und aktuellen Erlebnisse der Patienten gar nicht berücksichtigt worden waren. Medikamente wurden nach Lehrbuch und dem Gießkannenprinzip eingesetzt, bevor man die Menschen überhaupt kennengelernt hatte.

Manche Erlebnisse aus dieser Zeit gehen mir heute noch nach. Besonders die Erfahrungen in einer Klinik, in der einige Patienten an drei oder vier Studien gleichzeitig teilnahmen, weil man zu wenige Probanden für den hohen Forschungsanspruch zur Verfügung hatte. Einer der dort zuständigen Oberärzte verlangte beispielsweise von mir, akut psychotische Patienten in einer Doppelblindstudie nach Studiendesign zu behandeln. Dann konnte es passieren, dass man ein Placebo spritzte, nur weil der Studienablauf es so vorschrieb. Man merkte allerdings sofort, dass es sich nicht um die richtige Wirksubstanz handelte, weil kein beruhigender Effekt eintrat. Menschen aber, die aggressiv und fremdgefährdend sind, nicht mit Medikamenten zu beruhigen, sondern an Händen und Füßen zu fixieren, kam für mich nicht in Frage. Ich spritzte ihnen deshalb ein Medikament nach, das ich kannte, und half ihnen damit sehr. Natürlich hat mein Vorgehen das Studiendesign massiv gestört – und den Oberarzt gegen mich aufgebracht. Er fing an, mich zu mobben, und wertete mich in der Folgezeit immer wieder in der Öffentlichkeit und vor anderen Kollegen ab. Letztlich versetzte mich glücklicherweise der Ärztliche Direktor der Klinik in eine Abteilung, die außerhalb des Zuständigkeitsbereichs dieses Oberarztes lag.

Desgleichen war ich nicht bereit, Diagnosen so zu biegen, dass sie in irgendwelche Studien passten. Wenn gerade ein Forschungsprojekt über sogenannte endogene Depressionen lief, dann waren für den Mediziner, der sich mit der Studie schmücken wollte, eben alle Menschen mit Depressionen endogen. Wer das als Assistent nicht so sah, bekam Probleme. Auch der Einfluss der Pharmaindustrie war damals schon erheblich. Ich erlebte, wie Studien so verfasst wurden, dass der jeweilige Konzern, der sie in Auftrag gegeben hatte, zufrieden war. Im Gegenzug erhielten die entsprechenden Oberärzte luxuriöse Reisen und andere attraktive Zuwendungen. Wer sich also anpasste, konnte Karriere machen. Wer das nicht tat (wie ich), musste einen anderen Weg gehen.

Mir wurde schnell klar, dass ich niemals Chefarzt in einer »normalen« Klinik werden würde. Ich wusste, ich muss einen eigenen Weg gehen, wenn ich die Art von Medizin verwirklichen wollte, die nah am Menschen ist – und ihm hilft. Mein Leitsatz war damals schon ein Spruch von Heinz Riesenhuber: »Wer sein Leben so einrichtet, dass er niemals auf die Schnauze fallen kann, der kann nur auf dem Bauch kriechen.«

Inzwischen hat das Pendel von der völlig unkontrollierten Behandlung übrigens ins andere Extrem ausgeschlagen. Seit ungefähr fünfzehn Jahren ist die Psychotherapie in den Kliniken so sehr bürokratisiert, dass kaum noch Zeit für Patienten bleibt. Hauptsache, die Pflege- und Arztdokumentation stimmt, die Aufnahme- und Entlassungsberichte werden pünktlich abgeliefert, und unheimliche Mengen an Daten werden irgendwo angehäuft. Die Prüfer des medizinischen Dienstes haken ab, was alles dokumentiert wurde. Welche Entwicklung die Patienten tatsächlich gemacht haben, interessiert dabei weniger.

Wie sich mein Beruf, den ich mit großem Engagement begonnen habe, wegen all dieser Vorschriften in den letzten Jahren verändert hat, frustriert mich immer mehr. Ich bin kein Bürohengst, sondern möchte mit Menschen arbeiten. Eine Medizin, die vorwiegend aus Daten besteht und immer gewinnorientierter wird, um die Rendite zu erhöhen, ohne darauf zu achten, dass eine gute Patientenversorgung gewährleistet bleibt, ist nicht mehr meine Medizin.

TEIL 1

DIE PSYCHE IM STRESS

Kennen Sie irgendjemanden, der nicht an seiner Psyche leidet oder litt? Einen, der stets gut gelaunt und optimistisch durchs Leben spaziert und dem es gelingt, alles, was ihm passiert, positiv zu finden? Ich schon. Er heißt Hans im Glück und stammt aus Grimms Märchen. Man könnte sich von dem jungen Kerl eine Scheibe abschneiden, das würde nicht schaden. Aber die Realität ist anders. Mit positivem Denken ist es nicht getan. So naiv können wir uns gar nicht stellen, um zu verleugnen, dass es sehr ungünstige Erfahrungen gibt, die uns prägen, und immer wieder schwere und herausfordernde Ereignisse, die unseren Seelenfrieden bis zum Äußersten strapazieren.

Wir alle kennen Leid, Schmerz und Kummer. Diese Gefühle gehören zum Leben. Niemand wird verschont. Das darf auch so sein. Es ist so normal wie die Tatsache, dass morgens die Sonne aufgeht und abends wieder verschwindet. Wir sind deshalb aber noch lange nicht alle psychisch krank, weil wir Dinge erleben, die schwierig sind, die uns vielleicht sogar traumatisieren. Doch viele von uns fühlen sich heute hilflos und ohnmächtig, mit den Wechselfällen des Lebens umzugehen. Ich habe das bei Tausenden Patienten erlebt. Sie haben das Handwerkszeug verloren oder nie besessen, sich selbst zu beruhigen und zu trösten, sich die richtige Hilfe an die Seite zu nehmen, Geduld und Nachsicht zu üben und die Gesetze des Lebens anzuerkennen. Sie müssen jedoch begreifen, dass sie gerade aus den besonders herausfordernden Situationen lernen können.

Die Entwicklung ist alarmierend. Acht Millionen Menschen in Deutschland gelten als behandlungsbedürftig psychisch krank, 1,2 Millionen sind Jahr für Jahr in Behandlung. Jeder Dritte leidet einmal in seinem Leben an einer Depression. Allein im Jahr 2014 entstanden 8,3 Milliarden Euro an »Produktionsausfallkosten«, weil Arbeitnehmer wegen »psychischer und Verhaltensstörungen« krankgeschrieben waren. 2004 lagen diese Kosten noch bei 4,2 Milliarden Euro. Das ist ein enormer Anstieg um fast hundert Prozent in den letzten Jahren. Psychische Krankheiten sind eine moderne Epidemie.

Es geht früh los mit den Problemen. Ein Drittel der Schüler in Deutschland hat mit Stress-Symptomen zu kämpfen, offenbart das »Kinderbarometer«, eine Umfrage bei Neun- bis Vierzehnjährigen. Die Kinder gaben an, sie seien gereizt, niedergeschlagen, nervös, der Kopf tue weh, der Rücken, der Bauch. Die Hälfte der Schüler mit solchen Beschwerden verzweifle in der Schule, schreiben die Wissenschaftler. Weiter geht es an den Universitäten: Prüfungsdruck, Zukunftsangst, Perfektionswahn – der Uni-Stress nimmt zu, viele Studenten fühlen sich überfordert. Jeder Zweite fühlt sich unter Dauerdruck, zeigt ein Report der AOK von 2016, für den mehr als 18 000 Studenten befragt wurden.1 Eine große Zahl nimmt Aufputschmittel. Und in der Berufswelt sieht es nicht viel besser aus: Millionen halten sich mit Medikamenten über Wasser, die Angst lösen, die die Stimmung aufhellen oder die aufgescheuchte Seele beruhigen sollen. Und sie trinken zu viel Alkohol. Manager konsumieren Kokain, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern – nein, das ist kein Klischee, sondern das ist wahr. An allen Ecken lassen sich Therapeuten nieder, die sofort und durchgehend eine volle Praxis haben, völlig unabhängig von ihrer Reputation und ihrem Können.

Es ist richtig, sich Hilfe zu suchen. Ich habe großen Respekt vor allen Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie aus dem Sumpf herauskommen sollen, in dem sie bis zum Hals stecken. Vielen von denen, die sich beinahe schon aufgegeben haben, ist es durch – manchmal nur kleine, aber maßgebliche – Anstöße möglich, ihr Lebensgefühl deutlich zu verbessern. Bei etlichen geht es darum, sich selbst kennenzulernen und zu erkunden, was eigentlich im Jetzt und Hier los ist, um so wieder ein Gefühl von Kontrolle über ihr Leben zu bekommen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, zu verstehen, wie unser Gehirn funktioniert. Es ist so wesentlich dafür verantwortlich, wie wir uns fühlen.

Ich halte es für eine tröstliche Nachricht, dass da vieles festgelegt ist – und es dennoch einen schönen Spielraum gibt, um dem Leben in scheinbar aussichtslosen Situationen eine Wendung zum Positiven zu geben.

Was in unserem Gehirn stattfindet, wenn wir fühlen

Aus der Gehirnforschung wissen wir heute sehr viel darüber, warum der Mensch so ist, wie er ist, und so fühlt, wie er fühlt. Bis zu unserem zwölften Lebensjahr wird unser Gehirn programmiert wie ein Computer, und zwar sehr individuell. Temperament und Persönlichkeit sind dann fertig ausgebildet und durch Therapien kaum mehr zu beeinflussen. Natürlich ähneln Menschen einander in ihren Auffassungen, je nachdem, wo sie aufgewachsen sind und welchen Einflüssen sie ausgesetzt waren. Aber kein einziges Gehirn entspricht im Detail dem anderen. Schon deshalb sollte man gar nicht erst damit anfangen, sich mit anderen zu vergleichen, und auch nicht davon ausgehen, dass der andere, zum Beispiel der Mensch, mit dem man seit Jahren zusammenlebt, auf Anhieb versteht, was man meint.

Aus Milliarden von Hirnzellen, die anfangs kreuz und quer und chaotisch durch Axone, Dendriten, Neuriten und Synapsen miteinander Kontakt haben, entwickelt sich früh ein Netz mit geordneten Bahnen. Die Verbindungen, die viel benutzt werden, festigen sich wie Trampelpfade im Wald. Es bilden sich Rezeptoren, also Empfangsstellen für Hormone, je nachdem, welche Hormone in den prägenden Zeitfenstern abgerufen werden.

Das beginnt, wie man heute weiß, bereits im Mutterleib. Wer hier viel Stress ausgesetzt ist, der bildet mehr Rezeptoren für Cortisol oder Adrenalin und wird stressempfindlicher. Wer dagegen Geborgenheit und Ruhe erlebt und vielleicht sogar noch in angenehmer Lautstärke mit Sonaten von Mozart oder mit Meeresrauschen beschallt wird, bei dem entwickeln sich besonders sensible Antennen für Oxytocin und Serotonin, das heißt, bei dem werden diese Gute-Stimmung-Hormone später auch dann noch produziert, wenn es um ihn herum chaotisch und unwirtlich zugeht. Wer reichlich Rezeptoren dafür ausgebildet hat, weil er einfühlsam und zärtlich behandelt wurde und in früher Zeit keine schweren Schocks und Ohnmachtsgefühle erleben musste, geht mit der Sicherheit durch die Welt, in Ordnung zu sein, mit der Fähigkeit, sich Unterstützung bei anderen Menschen zu suchen, wenn er sie braucht – und nicht zwangsläufig mit der Naivität eines Hans im Glück, aber doch mit einer Art Gottvertrauen, dass das Leben in Ordnung ist, so wie es ist.

Alles, was unsere Gefühle betrifft, hat neurowissenschaftlich mit dem limbischen System im Gehirn zu tun. Dieses System, umgangssprachlich »emotionales Gehirn« genannt, besteht aus vier Ebenen und ist für die Verarbeitung von Gefühlen und für die Steuerung unserer Triebe zuständig. Das meiste ist spätestens unwiederbringlich angelegt, wenn wir die Pubertät hinter uns haben. Das ist interessant und durchaus auch desillusionierend.

Die untere limbische Ebene formt sich in der Embryonalzeit – besonders stark durch genetische Faktoren und zusätzlich durch Einflüsse in der Schwangerschaft. Hier entsteht das Temperament, das Menschen ihr Leben lang beibehalten. Die vorgeburtliche Phase hat erheblichen Einfluss auf die spätere Entwicklung der Persönlichkeit, wissen wir heute aus der Forschung. Noch vor wenigen Jahrzehnten hielt man das für Quatsch. Weil Kinder inzwischen also nachweislich nicht erst zu fühlen beginnen, wenn sie das Licht der Welt erblickt haben, ist es so wünschenswert, dass Frauen eine ungestörte stressfreie Schwangerschaft erleben. Anspannung und Ärger in dieser Zeit sind schlecht für das Kind. Bitte, das sollen auch die Partner, die Kollegen, die Vorgesetzten der Frauen berücksichtigen. Und ganz besonders die Frauen selbst, die oft von sich verlangen, auch noch im neunten Monat alles zu stemmen wie immer. Das muss nicht sein. Wenn werdende Mütter auf die eigenen Grenzen achten, profitiert der heranwachsende Erdenbürger davon ein Leben lang. Diese erste, die untere limbische Ebene hat vor allem mit unseren unbewussten Reaktionen zu tun. Sie hat einen starken Einfluss auf unser Verhalten, wenn es um elementare Dinge wie Essen und Schlafen geht. Durch Erziehung und Erfahrungen lässt sie sich kaum beeinflussen.

In den ersten Kindheitsjahren entwickelt sich die zweite, die mittlere limbische Ebene. Sie wird durch Erfahrungen beeinflusst, die wir mit unseren Eltern und anderen Bezugspersonen machen. Vor allem in dieser Zeit entstehen die individuellen Verschaltungen, die einflussreichsten emotionalen Prägungen des Gehirns. Unser Selbstbild reift. Wir entwickeln Mitgefühl. Diese und die erste Ebene bilden den Kern unseres Wesens.

Die dritte, die obere limbische Ebene speichert bewusste Antriebe und Erfahrungen. Hier entwickeln sich Impulshemmer. Wir lernen, Risiken zu erkennen und zu bewerten. Moral sowie Belohnungs- und Bestrafungssysteme sind an dieser Stelle beheimatet. Diese Ebene wird etwa ab dem 14. Lebensjahr gebildet. Es handelt sich, vereinfacht gesagt, um die sozial kommunikative Ebene. In dieser Zeit kristallisieren sich die sozialen und ethischen Normen heraus. Der Jugendliche macht sich auf den Weg, unabhängig von den Werten und Überzeugungen der Eltern seine eigenen Normen zu finden. Sozialisation nennt sich das. Gleichzeitig spielt natürlich auch das bisher Prägende eine Rolle: Welche Grundstruktur bringt der Jugendliche mit? Ist er ein Rebell? Ein Optimist? Ein Ängstlicher? Eine Kämpfernatur? Entsprechend wird er sich seine Freunde und Lehrmeister suchen.

Mit dieser Grundlage im emotionalen Bereich sind wir als junge Erwachsene ausgestattet. Diese Persönlichkeit bin ich und bleibe ich im Wesentlichen ein Leben lang. Die markantesten Strukturen sind wie ins Gehirn gebrannt. Man sollte das als entlastend sehen: Warum soll ich mich eigentlich dauernd anstrengen, so zu werden wie andere, die ich toller finde? Es ist Energieverschwendung.

Das Einzige, was in der Zukunft noch helfen kann, um das Gehirn zu beeinflussen, ist: neue Erfahrungen zu machen. Sie lösen zwar keine alten Verknüpfungen, sorgen aber für weitere Nervenverbindungen. Bis ins hohe Alter funktioniert das. Je öfter wir die neuen Verbindungen benutzen, desto stärker werden sie.

Wirtschaftswoche2

Der Hippocampus, übersetzt: »Seepferdchen«, ist nun noch wichtig. Es handelt sich um die Verbindung zwischen emotionalem und rationalem Gehirn. Die Aufgabe dieses Areals ist es zu einem großen Teil, die Informationen, die von außen kommen, und die weiter zurückliegenden Erfahrungen miteinander zu verbinden und sinnvolle Zusammenhänge herzustellen.

Das Seepferdchen reagiert hochsensibel auf emotionalen Stress. Es ist so etwas wie eine Gesamtsicherung für das Gehirn. Wenn es von zu vielen Reizen überflutet wird, nehmen die Strukturen Schaden – oder der Hippocampus schützt sich, indem er sich ausklinkt und nicht mehr zum emotionalen Gehirn, also zu den sensiblen Hirnkernen des limbischen Systems, verschaltet. Außenereignisse werden dann nicht mehr gespürt. Gefühllosigkeit macht sich breit. Ein zentrales Symptom der Depression.

Gerade frühkindliche Erlebnisse wie Misshandlung, sexueller Missbrauch, sehr schlechte Bindungserfahrungen und frühe Gewalterfahrungen führen über eine chronische Erhöhung von Stresshormonen wie Cortisol und Noradrenalin zu einer Verkleinerung des Hippocampus oder zu einer Schädigung dieser wichtigen Hirnregion. Menschen, auf die das zutrifft, sind anfälliger für posttraumatische Belastungsstörungen, Depression und Angsterkrankungen.

Der Hippocampus kann sich aber weiterentwickeln. Er produziert wie am Fließband ständig neue Hirnzellenverbindungen. Das ist ein Vorgang, den man »synaptische Plastizität« nennt. Sie ist in erster Linie dafür verantwortlich, dass sich unser Hirn in einem gewissen Rahmen eben doch ein ganzes Leben lang verändern, stabilisieren und weiterentwickeln kann.

Anmerkungen zum Kapitel

1  http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/aok-uni-stress-report-studenten-sind-gestresster-als-berufstaetige-a-1116064.html (Stand Juni 2017)

2  http://www.wiwo.de/erfolg/beruf/hirnforschung-nicht-die-intelligenz-entscheidet/7789916-2.html (Stand: Juni 2017)