Intuitiv heftet man Freunden oder Kollegen schnell den semantischen Orden »hochintelligent« ans Revers, Intelligenz gilt neben Flexibilität und Teamfähigkeit als Kardinaltugend der Gegenwart. Wenn der subjektiv plausible Befund jedoch objektiviert werden soll, stößt man auf seltsame geometrische Figuren, Zahlenreihen und Listen mit Tieren, von denen eines angeblich nicht zu den anderen paßt. In seinem Essay setzt sich Hans Magnus Enzensberger mit der Geschichte und den Tücken der Verfahren auseinander, mit denen Psychologen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts an der Vermessung der Intelligenz arbeiten. Er kommt zu dem Ergebnis: »Wir sind eben nicht intelligent genug, um zu wissen, was intelligent ist.«

Hans Magnus Enzensberger, geboren 1929 in Kaufbeuren, lebt in München. Zuletzt erschienen im Suhrkamp Verlag: Zu große Fragen. Interviews und Gespräche 2006-1970 (es 2495), Josefine und ich. Eine Erzählung, Gedichte 1950-2005 und Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer.

Foto: Isolde Ohlbaum

Hans Magnus Enzensberger

Im Irrgarten der Intelligenz

Ein Idiotenführer

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73415-5

www.suhrkamp.de

Inhalt

I. Ein Wort und seine Kapriolen

II. Die Stunde der Experten

III. Aufs Maul geschaut

IV. Die ersten Vermessungsdirigenten

V. Verfeinerungen

VI. Ad usum Delphini

VII. Ach ja, die Elite!

VIII. Lästige Fragen

IX. Noch mehr Ärger

X. Hinauf, empor!

XI. Auch eine Utopie

XII. Trotz alledem

Anmerkungen

Gott, sagten die Scholastiker, die Kirchenväter und lange vor ihnen schon die heidnischen Philosophen, Gott ist immaterielles Wesen, Intelligenz, Geist, reiner Verstand. Von Gott als Gott kann man sich kein Bild machen; aber kannst du dir von dem Verstande, von der Intelligenz ein Bild machen? Hat sie eine Gestalt? Ist ihre Tätigkeit nicht die unfaßbarste, die undarstellbarste? Gott ist unbegreiflich; aber kennst du das Wesen der Intelligenz?

Ludwig Feuerbach 1

Der Gedanke, der Autonomie verlor, getraut sich nicht mehr, Wirkliches um seiner selbst willen in Freiheit zu begreifen. Das überläßt er mit respektvoller Illusion den Höchstbezahlten und macht dafür sich selber meßbar. Er benimmt sich tendenziell bereits von sich aus, als ob er unablässig seine Tauglichkeit darzutun hätte. Auch wo es nichts zu knacken gibt, wird Denken zum Training auf irgend abzulegende Übungen. Zu seinen Gegenständen verhält es sich wie zu bloßen Hürden, als permanenter Test des eigenen in Form Seins ... Denken heißt nichts anderes mehr als darüber wachen, ob man auch denken kann.

Theodor W. Adorno 2

I.
Ein Wort und seine Kapriolen

Wahrscheinlich entwickelt jede menschliche Gesellschaft ihren eigenen Tugendkatalog, in dem sie diejenigen Eigenschaften anführt, die sie für erstrebenswert hält, auch wenn sie nicht jeder erlangen kann. Der Kurswert dieser Tugenden schwankt. Zum Kummer derer, die das beklagen, hat die Moderne von antiken und mittelalterlichen Vortrefflichkeiten wie der Treue, der Tapferkeit, der Weisheit, der Demut und der Ritterlichkeit nie viel gehalten. Ihr gelten eher Flexibilität, Teamfähigkeit und Durchsetzungsvermögen als Kardinaltugenden. Vor allem aber muß, wer als Zeitgenosse gelten will, unbedingt intelligent sein.

Manchen Menschen, der auf diese Eigenschaft Wert legt, mag es überraschen, wenn ihm zu Ohren kommt, daß niemand so genau weiß, was das eigentlich ist: die Intelligenz. Der Versuchung, diesem schwer entbehrlichen Begriff mit einer handfesten Definition Handschellen anzulegen, sind schon viele erlegen. Aber wie man weiß, handelt es sich dabei um ein bewährtes Mittel, jede Diskussion zu sabotieren. Der Streit um die Sache verwandelt sich im Handumdrehen in einen Streit um Worte. »Stell dich nicht so an«, wird man dem Störenfried entgegnen, »wir wissen doch alle, was gemeint ist«, oder: »Definitionen sind unfruchtbar.« Das erinnert an die berühmte Auskunft des heiligen Augustinus, der auf die Frage, was die Zeit sei, antwortete: »Wenn mich niemand danach fragt, dann weiß ich es; wenn ich es aber einem Fragenden erklären will, so weiß ich es nicht.«3

Nun erfordert die Wortklauberei zwar ein bißchen Geduld, aber sinnlos ist sie nicht; denn die Begriffsgeschichte hält allerhand Überraschungen bereit. Je genauer wir das Fremdwort ins Auge fassen, desto sonderbarer blickt es zurück. Das I-Wort stammt bekanntlich aus dem Lateinischen, aber die Römer haben es, wie viele ihrer Begriffe, von den Griechen übernommen, die als die eigentlichen Erfinder der Intelligenz gelten können; denn dort heißt nóos oder noũs bereits fast alles, was wir in unseren Köpfen vorfinden: »Sinn, Besinnung, Denkkraft, Verstand, Vernunft, Geist (bes. die Gottheit als weltordnender Geist); übh. Überlegung, Einsicht, Klugheit ...; Gemütsart, Gemüt, Herz, Denkart, Sinnesart, Gesinnung ...; Gedanke, Meinung, Wunsch, Wille, Absicht, Plan, Ratschluß, Entschluß ...; (von Wörtern, Gedanken, Handlungen u. ä.) Sinn (= Bedeutung, Zweck, Absicht).«4

Auch die lateinische intelligentia hat es in sich. Über das griechische Wortfeld hinaus kann das Wort nämlich Verständnis, Kennerschaft, Kunstverstand und sogar Geschmack bedeuten. Seine spätere Karriere ist reich an bemerkenswerten Wendungen. Im Mittelalter haben ihm die Theologen einen höchst sublimen Sinn verliehen. Die Kirchenlehrer bezeichneten damit nicht bloß ein Attribut Gottes, sondern Gott ist selbst die höchste intelligentia. (Ein schwacher Nachhall dieser Auffassung ist die Lehre vom intelligent design, die in unseren Tagen, besonders von amerikanischen Christen, der Evolutionstheorie entgegengehalten wird.)

intelligence,