Zerreißprobe
Kirchlicher Dienst
zwischen persönlicher Überzeugung
und amtlichem Anspruch
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
ISBN (E-Book) 978-3-451-34565-4
ISBN (Buch) 978-3-451-31073-7
Inhalt
Vorwort
Teil I
Die eigenen Ressourcen nutzen
1. Auf Schatzsuche gehen
Elastisch bleiben
Unterstützen, was uns weiterbringt
Salutogenese und Resilienz
2. Die innerpsychischen Lebensenergien nutzen
Die königliche Energie
Die Kriegerenergie
Die Liebhaberenergie
Die Magierenergie
König, Krieger, Liebhaber, Magier im Zusammenspiel
Teil II
Spannungsfelder – Lösungsvorschläge
1. Persönliche Überzeugungen und die Erwartungen des kirchlichen Auftraggebers
»Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.«
Gnade vollzieht sich in der Spannung
Sich den Konflikten stellen
Im Dienst etwas vom Innersten zum Ausdruck bringen
Die Zerreißprobe als Chance betrachten
Die Zerreißprobe als Beitrag zur Selbstverwirklichung
Die Zerreißprobe als spirituelle Herausforderung
Sich die innere Freiheit bewahren
2. Dialog und Begegnung oder klerikales Verhalten?
Klerikales oder priesterliches Verhalten
Wahrhaft priesterliches Verhalten einfordern
Zum Segen für die Mitarbeiter werden, sie aufblühen lassen
Den Wohlgeruch Christi verbreiten
Die Behörde als Kuratorium
Kritik vertragen können
Vorgesetzte, die nicht mit ihrer Liebhaberenergie in Berührung sind
Vorgesetzte, die sich mit der königlichen Energie identifizieren
Unfähigkeit die anderen und ihre Bedürfnisse zu sehen
Anspruchsdenken an den Tag legen
Für einen geschwisterlichen Umgang miteinander in der Kirche
3. Da der eigene Lebensstil, dort die Erwartungen deskirchlichen Arbeitgebers
Leiden an der Unwahrhaftigkeit
Flexibel auf Lebenssituationen reagieren
Die Verantwortung für unser Leben übernehmen
Die Zerreißprobe als Kraftpotential
Sich der Wirklichkeit stellen
Zu sich stehen
Annäherungen an die Norm, ›Notlösungen‹ suchen und versuchen
Für eine größere Offenheit im Umgang mit der menschlichen Sexualität
4. Die eigenen Grenzen und die Erwartungen der Kirche und der Menschen vor Ort
Wenn die Seele hinterherhinkt
Ruhe bewahren und entschieden vorgehen
Das göttliche Kind in den Kollegen und Kolleginnen entdecken
Sich abgrenzen
Sich Zeiten heiligen Nichtstuns gönnen
Sich nicht von der Anerkennung und der Bewunderung anderer abhängig machen
»Gönne dich dir selbst«
Dem Leib mit Respekt begegnen
Die Psyche und ihre Bedürfnisse und Wünsche würdigen
Beziehungen pflegen
Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch
Teil III
Grundlegende Voraussetzungen für ein
ausgeglichenes Menschsein
1. Gute persönliche, nahe Beziehungen
Ein gesundes Beziehungsnetz
Innige Beziehung zu Gott
Private innige Beziehungen pflegen
Beziehungen unter Kollegen und Kolleginnen
Eine gute Beziehung mit dem Bischof und den Vorgesetzten
2. Freude, Kreativität, Zufriedenheit, Dankbarkeit in der Arbeit erfahren
Das Leben und den Alltag beseelen
Das Schöne, das, was Freude macht, wahrnehmen
Sich inspirieren lassen
Dankbar sein
3. Eine Spiritualität, die hilft, mit den Schwierigkeiten des Lebens erfolgreich zurande zu kommen
Mit unserer Tiefe in Berührung sein
Der Ewigkeit Nachbar sein
»Wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht«
»Er ist ein unbeirrbar treuer Gott«
Epilog
Literatur
Vieles, was kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen augenblicklich erleben, wird für sie zu einer Zerreißprobe, zerreißt sie, zerreißt ihr Herz: die Gesamtsituation der Kirche; die Diskrepanz zwischen ihren persönlichen Überzeugungen, ihrem persönlichen Lebensstil und dem, was sie im Namen ihrer Kirche nach außen hin vertreten müssen; die vielfältigen Erwartungen, die auf sie von ihrem Arbeitgeber, aber auch von den Menschen, für die sie da sein wollen, auf sie gerichtet sind; die kirchlichen Strukturen, denen sie sich zum Teil hilflos ausgesetzt fühlen. Das alles beherrscht sie so stark, dass sie dem oft seelisch nicht länger gewachsen sind.
Die Situation scheint so festgefahren zu sein, dass sie anscheinend nicht zu verändern ist. Jedenfalls begegnen viele kirchliche Mitarbeiter in ihrer nächsten und weiteren Umgebung einer Unbeweglichkeit und Starrheit, die anscheinend durchs nichts aufzulösen ist. Dazu kommt, dass Versuche, sich dagegen aufzulehnen, mit Sanktionen einhergehen können, mit Drohungen, Einschüchterungen. »Wenn Sie das nicht tun, laufen Sie ins offene Messer«, soll ein Bischof seinen Mitarbeitern gesagt haben, um ihnen zu signalisieren, dass sie sich gefälligst an die kirchlichen Verordnungen zu halten haben. Das ist nur ein Beispiel unter vielen. Diese Wirklichkeit gilt es zunächst einmal anzunehmen und nicht zu beschönigen. Aber auch wenn sich die äußere Situation auf absehbare Zeit nicht wirklich ändert oder ändern lässt, sollte das kirchliche Mitarbeiter nicht davon abhalten, immer wieder neu zu schauen, wo sie etwas an der äußeren Situation ändern können, vor allem aber wie sie angesichts dieser Situation sich so verhalten, dass es sie nicht seelisch zerreißt.
Im Folgenden will ich zunächst einige Ressourcen nennen, die bei der Bewältigung von schwierigen Situationen, die kirchliche Mitarbeiter in die Zerreißprobe treiben, von Hilfe sein können. Dabei will ich mich an psychologischen und spirituellen Erkenntnissen und Erfahrungen orientieren, die unter den Begriffen Salutogenese und Resilienz die Widerstandskräfte und wachstumsorientierten Kräfte im Menschen für die Bewältigung von schwierigen Situationen hervorheben. Dazu zählen für mich auch die innerpsychischen Lebensenergien, die die Tiefenpsychologie mit den Archetypen des Königs, des Kriegers, des Liebhabers und des Magiers beschreibt. Schließlich werde ich auf einige Spannungsfelder eingehen, die kirchliche Mitarbeiter augenblicklich als besonders bedrückend erleben, und einige Strategien, Wege und Lösungsvorschläge aufzeigen, die bei der Bewältigung der Zerreißproben helfen können. Am Ende werde ich einige wesentliche Voraussetzungen und Elemente für ein ausgeglichenes Leben und Menschsein vorstellen, die sich bei der Bewältigung von Zerreißproben als besonders hilfreich und stützend erweisen können, ja sogar verhindern können, dass wir in eine Zerreißprobe geraten. Ich danke der Theologischen Fakultät der Universität Graz, die mich im Frühjahr 2012 einlud, im Rahmen eines Symposions zu dem Thema Zerreißprobe kirchlicher Mitarbeiter einen Vortrag zu halten und mich damit motivierte, mich intensiver mit der Thematik zu befassen. Frau Esther Schulz vom Verlag Herder danke ich für die gute Zusammenarbeit. Ich widme das Buch meinen theologischen Lehrern Hermann Stenger und Rolf Zerfaß.
Mit meinen Ausführungen möchte ich kirchlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen Mut machen, in dieser schwierigen Situation nicht aufzugeben, sondern im Vertrauen auf ihre Kräfte, ihre Resilienz und im Vertrauen auf Gott, die ihnen gemäße Form zu finden, diese Situation so zu bewältigen, dass das zu ihrem Segen, zum Segen für die Menschen, für die sie da sind, und damit letztlich auch zum Segen der Kirche, in der und für die sie arbeiten, gereicht.
Wunibald Müller
Die eigenen Ressourcen nutzen
Wollen kirchliche Mitarbeiter angesichts der Zerreißproben, die sie in vielen Bereichen augenblicklich erfahren, nicht resignieren, seelisch und körperlich krank werden, müssen sie darauf schauen, wie sie auf diese Situationen reagieren, auf sie einwirken können, sich mit ihnen arrangieren und mit ihnen leben können, ohne dabei ihre Seele zu verkaufen. Das erfordert, flexibel und elastisch zu bleiben. Denn die größte Gefahr, dass sie seelisch zerrissen werden, besteht, wenn sie starr und unbeweglich bleiben. Mit elastisch bleiben, meine ich dabei nicht, sich mit Wischi-Waschi-Lösungen zu begnügen und dabei die eigenen Überzeugungen zu verraten. Elastisch bleiben meint, bei schwierigen, sie herausfordernden Situationen nicht in Lähmung zu verfallen, sondern auf eine Weise zu reagieren und auf die Situation einzuwirken, bei der sie sich die Initiative nicht aus der Hand nehmen lassen und das unterstützen, was sie weiterführt.
So kann ich den Schwerpunkt darauf legen, zu vermeiden, was mir nicht gut tut, wie zu rauchen, zu viel zu essen, mich vor dem Fernseher hinzulümmeln, mich zu verausgaben. Oder aber ich kann, was mir gut tut, unterstützen, wie ausreichend schlafen, mich genug bewegen, kulturellen Aktivitäten nachgehen, mich gesund ernähren, einen guten Job machen, mein Leben durch spirituelle Praktiken vertiefen.
Im letzteren Fall konzentriere ich mich nicht länger darauf, was ich vermeiden will, sondern überlasse mich der Kraft, die mich nach vorne gehen lässt, manchmal auch aus dem Sumpf zieht, in dem ich mich gerade befinde. Ich schaue jetzt aus nach dem, was ich erreichen will, weil ich es für sinnvoll, für erstrebenswert erachte und ich überzeugt bin, dass es mir gut tun wird und ich mich wohler fühle, wenn ich das tue. Diese Kraft wird gespeist und unterstützt von meinem Willen und meiner Seele, die natürlich hinter meinem Vorhaben stehen müssen. In mir werden dadurch jene Kräfte geweckt, die das bonum, das Gute, das bona vita, das gute Leben, umarmen. Sie sind davon beseelt, das Gute, das was mir und damit auch den anderen gut tut, anzustreben und zu verwirklichen. Diese Kräfte wissen um das Böse, um das, was mir nicht gut tut, sie glauben aber an das Gute.
Dazu bedarf es einer tiefen Überzeugung und eines großen Glaubens, hinter denen unser starker Wille und unsere konstruktiven Kräfte stehen müssen. So genügte es zum Beispiel auch nicht, um den Kölner Dom zu bauen, so Heinrich Heine, eine Meinung zu haben, vielmehr bedurfte es dazu einer großen Überzeugung. Das lateinische Wort für glauben credere, setzt sich aus den lateinischen Begriffen cor, was für Herz steht, und dare, was mit geben übersetzt werden kann, zusammen. Wenn ich etwas glaube, gebe ich mein Herz. Darum geht es, wenn ich etwas bewirken und verändern will: Mein Herz zu geben für etwas, für das es sich lohnt mein Herz zu geben. »Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz«, heißt es bei Matthäus 6,21. Dem mein Herz, manchmal auch mein Herzblut schenken, das zu beherzigen, was mir gut tut, was Freude, Energie, Lust, Zufriedenheit, Sinn, in mein Leben bringt, mich aufatmen, mich dankbar sein lässt, mich mit einem Gefühl von innerer Freiheit beschenkt.
Die Kraft, die ich vielleicht aufbringen musste, um etwas zu vermeiden, steht mir jetzt für das zur Verfügung, was ich leben will, weil es lebenswert ist. Dabei weiß ich um die Gefahren und Versuchungen, die mich immer wieder in eine andere Richtung zerren wollen. Ich unterschätze ihre Kraft und ihren Einfluss nicht. Ich muss auch damit rechnen, dass sie manchmal wieder die Oberhand gewinnen. Doch ich ergebe mich ihnen nicht. Vielmehr übergebe ich mich mit aller Kraft und Macht dem guten Leben, dem Leben, das ich leben will, weil es mich zufrieden sein lässt und es mir gut tut. Für mich hat das auch ganz viel mit Hingabe zu tun, eine Haltung und Bewegung, die mich mit ausgebreiteten Armen nach vorne gehen lässt. Ich bin dann nicht länger ängstlich darauf bedacht, dieses oder jenes zu vermeiden, sondern überlasse mich in dieser offenen Haltung der Hingabe und dem Tanz des Lebens.
Wenn wir mit dieser Einstellung Problemen, Krisen, Zerreißproben begegnen, blicken wir nach vorne, schauen darauf, welche Ressourcen uns zur Verfügung stehen und gehen auf eine Schatzsuche. Darum geht es auch bei der Salutogenese, die statt zu fragen, was macht Menschen krank, zuerst die Frage stellt, was macht Menschen gesund. So sucht man zum Beispiel bei vielen modernen chronischen Zivilisationserkrankungen wie Übergewicht oder auch bei Suchtkrankheiten nach attraktiven Zielen, die den Menschen mehr Freude und Erfolg bringen als Fast Food, Süßigkeiten oder kurzfristige Befriedigung. Im Falle von Übergewicht können Kindern Gruppenspiele helfen, die sie mit Freude an der Bewegung, wertschätzender Kommunikation und Förderung individueller Fähigkeiten beschenken. Bei Suchtkrankheiten können es befriedigende menschliche Beziehungen und die Erfahrung von Intimität oder spirituelle Erfahrungen sein, die mit dem Gefühl tiefer Verbundenheit mit einer höheren Macht einhergehen.
Im Rahmen der Salutogenese kommt der Resilienz eine große Bedeutung zu. Das ist ein Begriff, der aus der Werkstoffphysik stammt und die Fähigkeit elastischen Materials bezeichnet, nach extremer Belastung in die Ausgangslage zurückschnellen zu können. Resilienz leitet sich von dem lateinischen Wort resilire ab, das mit ›zurückspringen, abprallen‹ übersetzt werden kann. Im psychologischen und psychotherapeutischen Zusammenhang wird Resilienz als eine Kompetenz verstanden, angesichts von Krisen, schwierigen Situationen, Bedrohungen oder vielfältigen Weisen von Stress die in uns vorhandenen Kräfte mobilisieren zu können, die bei der Bewältigung eines Problems helfen können. Es sind Kräfte, die wir mobilisieren können, weil beziehungsweise wenn wir elastisch und flexibel sind und uns damit der Situation gut anpassen können. Dabei geht man davon aus, dass Resilienz durch Erfahrung in einem fortlaufenden Prozess erworben werden kann, der Mühe und Zeit erfordert und in unterschiedlichen Schritten erfolgt. Dazu können auch Krisen zählen, die wir bereits bewältigt und dabei eine Krisenkompetenz erworben haben.
Neben der Resilienz, den Wachstums- und Widerstandskräften, über die wir verfügen, können wir auch unsere innerpsychischen Lebensenergien für die Bewältigung schwieriger Situationen nutzen. Oft werden diese Lebensenergien von uns nur halbherzig benutzt oder wir können sie für unser Leben nicht fruchtbar machen, da sie im Laufe unsrer Entwicklung in ihrer Entfaltung behindert worden sind. Stehen uns diese Lebensenergien aber zur Verfügung, leisten sie einen ganz entscheidenden Beitrag zu unserer Lebenszufriedenheit und für die Bewältigung schwieriger Situationen, wie sie uns in Zerreißproben begegnen.
Die Tiefenpsychologie ordnet diesen innerpsychischen Kräften – sie spricht auch von Archetypen, also Urbildern, von denen eine psychische Energie ausgeht – bestimmten Funktionen und Eigenschaften zu. Dabei unterscheidet sie zwischen vier Energien:
Auf der Folie dieser unterschiedlichen psychischen Kräfte und Energien lässt sich anschaulich darstellen, über welch eine Vielfalt von unterschiedlichen Energien und Ressourcen wir verfügen. Das allein schon kann dazu beitragen, diesen Energien mehr Bedeutung in unserem Leben einzuräumen und sie bewusst bei der Auseinandersetzung mit schwierigen Lebenssituationen für uns zu nutzen. Bei den folgenden Ausführungen zu Lebensenergien orientiere ich mich an Robert Moore und Douglas Gilette (1990), die sich sehr ausführlich damit befasst haben.
Jeder und jede von uns verfügen über eine königliche Energie. Das Bild vom »göttlichen Kind« in uns beschreibt diese königliche Energie. Wenn es uns gelingt mit dem göttlichen Kind in Berührung zu kommen und wir das göttliche Kind als einen vitalen Aspekt unseres Selbst verstehen, erweist es sich als eine Quelle schöpferischer Kraft, die wir für unser Leben und für unsere Arbeit fruchtbar machen können. Der Schattenseite der königlichen Energie begegnen wir, wenn wir uns mit dem göttlichen Kind identifizieren, also glauben selbst das göttliche Kind zu sein.
Sind wir mit dem göttlichen Kind in uns in Berührung, wirkt sich das positiv auf unser Selbstwertgefühl aus. Wir erachten uns dann für wertvoll und liebenswert im Unterschied zu einem negativen Selbstwertgefühl, bei dem wir uns für wertlos und nicht liebenswert halten. Bei einem positiven Selbstwertgefühl können wir uns annehmen und lieben, so wie wir sind. Wir sind bereit und in der Lage, fürsorglich, respektvoll, liebevoll, zärtlich und verantwortlich mit uns umzugehen – alles, was in uns ist und uns ausmacht, zu küssen (vgl. Grün, 1995). Wir sind weiter davon beseelt, uns zu entfalten und glücklich zu sein (vgl. Fromm 1972, 85) und gönnen das auch unseren Mitmenschen. Wir neiden es ihnen nicht, wenn sie glücklich sind. Wenn wir uns selbst annehmen können und angemessen für uns sorgen, nehmen wir anderen und dem lieben Gott viel Arbeit ab.
Menschen, die in Berührung mit ihrer königlichen Energie sind und sich selbst schätzen – die eine echte Liebe für sich empfinden und spüren, haben auch viel für andere Menschen übrig. Das wusste schon Meister Eckhart, wenn er sagt: »Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst.« (Fromm 1972, 89) Auch Gott können wir nach dem Mystiker und Mönch Thomas Merton nicht vollkommen lieben, außer wir lieben uns selbst vollkommen. Solange wir nicht in der Lage sind, uns selbst zu lieben und uns anzunehmen, werden wir von anderen erwarten, dass sie durch ihre Anerkennung die Liebe ersetzen, die wir uns selbst gegenüber nicht empfinden. Wenn wir uns selbst lieben, müssen andere nicht für diesen Mangel an Liebe uns selbst gegenüber aufkommen. So gesehen stimmt der Buchtitel eines Bestsellers: »Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest«. Manche haben Probleme damit, von der Liebe zu sich selbst als etwas Positivem zu sprechen. Ihnen ist beigebracht worden, es sei etwas Negatives, ja Egoistisches, sich selbst zu lieben, und das gelte es zu überwinden. So versagen sie sich das Ja zu sich selbst. Sie sagen zu sich, ich bin nichts wert, ich bin unbedeutend, ich bin klein, ich bin nicht liebenswürdig. Ihre Ausstrahlung ist entsprechend negativ. Sie hat wohl Joseph Ratzinger (1982, 79ff.) im Blick, wenn er schreibt:
»Man sagt von Menschen, die besonders unerlöst wirken […] häufig: Der mag sich selbst nicht, um so die äußerste Art der Verquerung gegenüber dem Sein auszudrücken; denn wen und was soll der denn schon mögen können, der mit sich selbst zerfallen ist? Hier zeigt sich etwas sehr Wichtiges: Der Egoismus ist bei den Menschen zwar natürlich und ganz von selber da, aber keineswegs die Annahme seiner selbst. Den ersten muss man überwinden, das zweite muss man finden. […] hier liegt nicht zuletzt die Wurzel dessen, was die Franzosen ›maladie catholique‹ nennen: Wer nur übernatürlich, nur selbstlos sein will, ist zwar am Schluss ich-los, aber alles andere als selbstlos […]. Wer sich annehmen kann, dem ist das entscheidende Ja gelungen. Der lebt im Ja. Und nur wer sich annehmen kann, kann auch das Du annehmen, kann die Welt annehmen. Der Grund dafür, dass ein Mensch das Du nicht akzeptieren, mit ihm nicht ins Reine kommen kann, liegt darin, dass er sein Ich nicht mag und dann erst recht nicht sein Du annehmen kann.«
Das Himmelsbrot des Selbstseins, das wir Menschen uns nach Martin Buber einander reichen, baut auf unsrer Selbstannahme auf und trägt zu unserer Selbstannahme bei.
Kennzeichen der Kriegerenergie sind die Kraft und Energie, die eingesetzt werden, einmal um sich einen Raum der Möglichkeiten zu erschließen, dann um sich vor anderen schützen zu können. Die Personen, die mit der Kriegerenergie ausgestattet sind, fühlen sich der größeren Sache verpflichtet. Dafür stellen sie manchmal auch ihre eigenen Bedürfnisse zurück oder verhalten sich emotional distanziert gegenüber anderen Personen. Sie zerstören, was zerstört werden muss: Korruption, Anspruchsdenken, Unterdrückung. Ausgestattet mit ihrem Schwert, sind sie in der Lage, sich Konflikten zu stellen, sich einzumischen, unbequem zu sein und, wenn es nötig ist, auch, auf die Barrikaden zu gehen. Darin zeigt sich ihre prophetische Seite.