H. G. Wells

Wenn der Schläfer erwacht

Illustrierte Fassung

H. G. Wells

Wenn der Schläfer erwacht

Illustrierte Fassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962810-14-6

null-papier.de/464

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Inhaltsverzeichnis

1. Schlaf­lo­sig­keit

2. Schein­tod

3. Das Er­wa­chen

4. Der Lärm ei­nes Aufruhrs

5. Die glei­ten­den Stra­ßen

6. Die Hal­le des At­las

7. In den stil­len Zim­mern

8. Die Dachräu­me

9. Das Volk mar­schiert

10. Die Schlacht des Dun­kels

11. Der Alte, der al­les wuss­te

12. Ostrog

13. Das Ende der al­ten Ord­nung

14. Aus dem Krä­hen­nest

15. Her­vor­ra­gen­de Leu­te

16. Der Ae­ro­pi­le

17. Drei Tage

18. Gra­ham be­sinnt sich

19. Ostrogs Ge­sichts­punkt

20. Auf den We­gen der Stadt

21. Un­ten

22. Der Kampf im Rat­haus

23. Wäh­rend die Ae­ro­pla­nen her­an­zo­gen

24. Die An­kunft der Ae­ro­pla­nen

Dan­ke

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1. Schlaflosigkeit

Ei­nes Nach­mit­tags ging Mr. Is­bis­ter, ein jun­ger Künst­ler, der in Bos­cast­le wohn­te, zur Eb­be­zeit von die­sem Ort nach der ma­le­ri­schen Bucht von Pen­tar­gen, weil er die Höh­len dort zu un­ter­su­chen wünsch­te. Halb­wegs den stei­len Pfad zum Strand von Pen­tar­gen hin­un­ter traf er plötz­lich auf einen Men­schen, der in der Stel­lung tie­fen Gra­mes un­ter ei­ner vor­sprin­gen­den Fels­mas­se saß. Die Hän­de hin­gen die­sem jun­gen Mann schlaff her­ab, sei­ne Au­gen wa­ren rot, er starr­te vor sich hin, und sein Ge­sicht war von Trä­nen nass.

Bei dem Geräusch von Is­bis­ters Schrit­ten blick­te er sich um. Bei­de Män­ner wa­ren aus der Fas­sung ge­bracht, Is­bis­ter am meis­ten, und um die Ver­le­gen­heit sei­ner un­will­kür­li­chen Pau­se zu über­win­den, be­merk­te er mit ei­ner Mie­ne rei­fer Über­zeu­gung, das Wet­ter sei heiß für die Jah­res­zeit.

»Sehr«, ant­wor­te­te der Frem­de kurz, zö­ger­te eine Se­kun­de und füg­te in farb­lo­sem Tone hin­zu: »Ich kann nicht schla­fen.«

Is­bis­ter blieb ab­rupt ste­hen. »Nein?« war al­les, was er sag­te, aber sei­ne Hal­tung ver­riet sei­nen hilf­rei­chen Im­puls.

»Es mag un­glaub­lich klin­gen«, sag­te der Frem­de, in­dem er müde Au­gen auf Is­bis­ters Ge­sicht wand­te und sei­nen Wor­ten mit ei­ner schlaf­fen Hand Nach­druck lieh, »aber ich habe kei­nen Schlaf, über­haupt kei­nen Schlaf, schon seit sechs Näch­ten.«

»Rat ein­ge­holt?«

»Ja. Schlech­ten Rat zum größ­ten Teil. Me­di­zi­nen. Mein Ner­ven­sys­tem … Sie sind für die meis­ten Leu­te ja recht schön und gut. Es ist schwer zu er­klä­ren. Ich wage nicht … ge­nü­gend star­ke Do­sen zu neh­men.«

»Das macht es schwie­rig«, sag­te Is­bis­ter.

Er stand hilf­los auf dem en­gen Pfad, in Ver­le­gen­heit, was er tun soll­te. Of­fen­bar woll­te der Frem­de re­den. Ein un­ter den Um­stän­den ziem­lich na­tür­li­cher Ge­dan­ke trieb ihn, das Ge­spräch in Gang zu hal­ten. »Ich sel­ber habe nie un­ter Schlaf­lo­sig­keit ge­lit­ten«, sag­te er im Ton der All­tags­plau­de­rei, »aber in den Fäl­len, die ich ge­kannt habe, ha­ben die Leu­te ge­wöhn­lich et­was ge­fun­den –«

»Ich wage nicht zu ex­pe­ri­men­tie­ren.«

Er sprach müde. Er mach­te eine Ges­te der Ab­wei­sung, und eine Zeit lang wa­ren bei­de Män­ner still.

»Be­we­gung?« reg­te Is­bis­ter ohne Ver­trau­en an, in­dem er von des an­de­ren elen­dem Ge­sicht auf den Tou­ris­ten­an­zug blick­te, den er trug.

»Das habe ich ver­sucht. Unklu­ger­wei­se, viel­leicht. Ich bin Tag für Tag der Küs­te ge­folgt – von New Quai her. Das hat zu der geis­ti­gen Er­mü­dung nur die der Mus­keln hin­zu­ge­fügt. Die Ur­sa­che die­ser Un­rast war Über­ar­bei­tung – Auf­re­gung. Ich hat­te et­was –«

Er hielt wie vor blo­ßer Er­mü­dung inne. Er rieb sich mit ei­ner ha­ge­ren Hand die Stirn. Er be­gann wie­der zu spre­chen, wie ei­ner, der mit sich sel­ber re­det.

»Ich bin ein ein­zel­ner Wolf, ein ein­sa­mer Mensch, der durch eine Welt wan­dert, an der er kei­nen Teil hat. Ich habe kei­ne Frau – kein Kind – wer spricht doch noch von den Kin­der­lo­sen als den to­ten Zwei­gen auf dem Baum des Le­bens? Ich habe kei­ne Frau, kein Kind – ich konn­te kei­ne Auf­ga­be fin­den, die ich zu er­fül­len hat­te. Nicht ein­mal einen Wunsch in mei­nem Her­zen. Eins nahm ich mir schließ­lich vor. – Ich sag­te, ich will dies tun, und um es zu tun, um die Träg­heit die­ses stump­fen Kör­pers zu über­win­den, nahm ich mei­ne Zuf­lucht zu Arz­nei­en! Ich weiß nicht, ob Sie füh­len, wie schwer und un­be­quem der Kör­per ist, wie sei­ne For­de­rung der Zeit vom Geist – der Zeit – des Le­bens er­bit­tert! Le­ben! Wir le­ben nur stoß­wei­se. Wir müs­sen es­sen, und dann kommt die stump­fe Selbst­ge­fäl­lig­keit der Ver­dau­ung – oder ihre Ge­reizt­heit. Wir müs­sen Luft schöp­fen, oder un­se­re Ge­dan­ken wer­den träg, stu­pid, sie lau­fen in Ab­grün­de und blin­de Gas­sen. Tau­send Ablen­kun­gen stei­gen drin­nen und drau­ßen auf, und dann kommt die Schläf­rig­keit und der Schlaf. Die Men­schen schei­nen für den Schlaf zu le­ben. Wie we­nig vom Tag des Men­schen ge­hört ihm – selbst im bes­ten Fal­le! Und dann kom­men die­se falschen Freun­de, die­se Taghel­fer, die Al­ka­loi­de, die die na­tür­li­che Er­mat­tung er­sti­cken und die Ruhe tö­ten – schwar­zer Kaf­fee, Ko­kain –«

»Ich ver­ste­he«, sag­te Is­bis­ter.

»Ich habe mei­ne Ar­beit ge­tan«, sag­te der schlaflo­se Mann mit kla­gen­dem Ton­fall.

»Und dies ist der Preis?«

»Ja.«

Eine klei­ne Zeit lang ver­harr­ten die bei­den schwei­gend.

»Sie kön­nen sich das Ver­lan­gen nach Ruhe, das ich füh­le, nicht vor­stel­len – einen Hun­ger und Durst. Seit sechs lan­gen Ta­gen, seit mei­ne Ar­beit ge­tan war, ist mein Geist ein Wir­bel ge­we­sen, rasch, un­auf­hör­lich, ohne von der Stel­le zu rücken, ein Gieß­bach von Ge­dan­ken, der nir­gends hin­führt, der sich schnell und ste­tig her­um­wir­belt –«

Er mach­te eine Pau­se. »Auf den Ab­grund zu.«

»Sie müs­sen schla­fen«, sag­te Is­bis­ter ent­schie­den und mit der Mie­ne, als habe er ein Mit­tel ent­deckt. »Auf je­den Fall müs­sen Sie schla­fen.«

»Mein Geist ist voll­kom­men klar. Er ist nie kla­rer ge­we­sen. Aber ich weiß, ich schie­ße auf den Wir­bel zu. Plötz­lich –«

»Ja?«

»Sie ha­ben Din­ge einen Wir­bel hin­un­ter­schie­ßen se­hen? Aus dem Licht des Ta­ges, aus die­ser fri­schen Welt der Ge­sund­heit – hin­un­ter –«

»Aber«, pro­tes­tier­te Is­bis­ter.

Der Frem­de streck­te eine Hand ge­gen ihn aus, und sei­ne Au­gen wa­ren wild, und sei­ne Stim­me plötz­lich stark. »Ich wer­de mich tö­ten. Wenn auf kei­ne an­de­re Art – am Fuße des dunklen Ab­hangs da, wo die grü­nen Wel­len sind, und wo sich die wei­ße Bran­dung hebt und senkt, und der klei­ne Was­ser­fa­den hin­ab­zit­tert. Da ist auf je­den Fall … Schlaf.«

»Das ist un­ver­nünf­tig«, sag­te Is­bis­ter, er­schreckt durch den hys­te­ri­schen Ge­fühls­aus­bruch des Men­schen. »Da sind Arz­nei­en im­mer noch bes­ser.«

»Auf je­den Fall gibt es mir Schlaf«, wie­der­hol­te der Frem­de, ohne auf ihn zu ach­ten.

Is­bis­ter blick­te ihn an und frag­te sich flüch­tig, ob wohl wirk­lich ir­gend­ei­ne kom­pli­zier­te Vor­se­hung sie an die­sem Nach­mit­tag zu­sam­men­ge­führt habe. »Das ist nicht so si­cher, wis­sen Sie«, be­merk­te er. »In Lul­worth Cove steht eine ähn­li­che Klip­pe – auf je­den Fall eben­so hoch – und da ist ein klei­nes Mäd­chen von oben bis un­ten hin­un­ter­ge­fal­len. Und lebt heu­te noch – ge­sund und mun­ter.«

»Aber die­se Fel­sen?«

»Da könn­te man eine kal­te Nacht hin­durch ziem­lich un­an­ge­nehm lie­gen, wenn ei­nem die zer­bro­che­nen Kno­chen knir­schen, so­bald man frös­telt, und kal­tes Was­ser über einen spritzt. Eh?«

Ihre Au­gen be­geg­ne­ten sich. »Tut mir leid, Ihre Idea­le zu zer­stö­ren«, sag­te Is­bis­ter mit ei­nem Ge­fühl ke­cken Glan­zes. »Aber ein Selbst­mord über die Klip­pe da (oder über ir­gend­ei­ne Klip­pe) – wahr­haf­tig – als Künst­ler –« Er lach­te. »Es ist so ver­dammt di­let­tan­tisch.«

»Aber das an­de­re«, sag­te der Schlaflo­se ge­reizt, »das an­de­re. Kein Mensch kann ge­sund blei­ben, wenn er Nacht für Nacht –«

»Sind Sie die­se Küs­te ent­lang ge­wan­dert?«

»Ja.«

»Das tö­rich­tes­te, was man tun kann. Ent­schul­di­gen Sie, dass ich das sage. Al­lein! Wie Sie sa­gen: Kör­per­er­mü­dung ist kein Mit­tel ge­gen Ge­hirn­er­mü­dung. Wer hat Ih­nen das ge­ra­ten? Kein Wun­der; Ge­hen! Und die­se Son­ne auf dem Kopf, Hit­ze, An­stren­gung, Ein­sam­keit, den gan­zen Tag lang, und dann, denk ich mir, ge­hen Sie zu Bett und ge­ben sich rech­te Mühe – eh?«

Is­bis­ter hielt inne und blick­te zwei­fel­haft auf den Lei­den­den.

»Se­hen Sie die­se Fel­sen an!« rief der Sit­zen­de mit ei­ner plötz­li­chen Kraft der Ges­te. »Se­hen Sie die See an, die da seit ewig ge­glänzt und ge­zit­tert hat! Se­hen Sie den wei­ßen Schaum da un­ter der großen Klip­pe ins Dun­kel stür­zen. Und dies blaue Ge­wöl­be, aus des­sen Kup­pel die blen­den­de Son­ne hin­un­ter­strahlt. Sie neh­men das hin. Sie freu­en sich dar­über. Es wärmt und stützt und er­götzt Sie. Und für mich –«

Er wand­te den Kopf und zeig­te ein ge­spens­ti­sches Ge­sicht, blut­un­ter­lau­fe­ne, blei­che Au­gen und blut­lo­se Lip­pen. Er sprach fast flüs­ternd. »Das ist das Kleid mei­nes Elends. Die gan­ze Welt … ist das Kleid mei­nes Elends.«

Is­bis­ter blick­te auf die gan­ze wil­de Schön­heit der son­nen­be­leuch­te­ten Klip­pen rings und zu­rück auf je­nes Ge­sicht der Verzweif­lung. Ei­nen Mo­ment schwieg er.

Er fuhr zu­sam­men und mach­te eine Ges­te un­ge­dul­di­ger Ab­wehr. »Sie sol­len eine Nacht schla­fen«, sag­te er, »und da se­hen Sie hier drau­ßen nicht mehr viel Elend. Neh­men Sie mein Wort drauf.«

Er war jetzt ganz si­cher, dass dies eine Be­geg­nung der Vor­se­hung war. Noch vor ei­ner hal­b­en Stun­de hat­te er sich furcht­bar ge­lang­weilt ge­fühlt. Hier war Be­schäf­ti­gung, an die nur zu den­ken, auf­rich­ti­ger Selbst­bei­fall war. Er er­griff als­bald Be­sitz. Ihm schi­en, das ers­te Be­dürf­nis die­ses er­schöpf­ten We­sens war Ge­sell­schaft. Er warf sich auf die steil ab­fal­len­de Wie­se ne­ben der reg­los sit­zen­den Ge­stalt hin und ent­fal­te­te als­bald eine schar­müt­zeln­de Li­nie von Ge­plau­der.

Sein Zu­hö­rer schi­en wie­der in Apa­thie ver­sun­ken zu sein; er starr­te fins­ter aufs Meer und sprach nur, wenn er Is­bis­ter auf di­rek­te Fra­gen ant­wor­te­te – und auch da nicht bei al­len. Aber er gab kein Zei­chen des Pro­tes­tes ge­gen die­se wohl­wol­len­de Un­ter­bre­chung sei­ner Verzweif­lung von sich.

Auf eine hilflo­se Art schi­en er so­gar dank­bar, und als dann Is­bis­ter, der fühl­te, dass sein Ge­spräch ohne die Hil­fe des an­dern an Kraft ver­lor, vor­schlug, den Ab­hang wie­der hin­auf­zu­stei­gen und nach Bos­cast­le zu­rück­zu­keh­ren, in­dem er die Aus­sicht nach Blacka­pit rühm­te, füg­te er sich ru­hig. Halb­wegs hin­auf, be­gann er mit sich selbst zu re­den und wand­te sei­nem Hel­fer un­ver­mu­tet ein ge­spens­ti­sches Ge­sicht zu. »Was kann nur los sein?« frag­te er, wäh­rend sei­ne ha­ge­re Hand il­lus­trier­te, »was kann nur los sein? Spinn, spinn, spinn, spinn. Es geht rund und rund, im­mer­fort rund und rund.«

Er stand still und be­schrieb mit der Hand Krei­se.

»Al­les in Ord­nung, al­ter Jun­ge«, sag­te Is­bis­ter mit der Mie­ne ei­nes al­ten Freun­des. »Pla­gen Sie sich nicht. Ver­trau­en Sie mir.«

Der Frem­de ließ den Kopf sin­ken und dreh­te sich wie­der um. Sie gin­gen hin­ter­ein­an­der den Kamm ent­lang, und dann zu der Land­zun­ge hin­ter Pen­al­ly, und im­mer ges­ti­ku­lier­te der Schlaflo­se von Zeit zu Zeit und sag­te frag­men­ta­ri­sche Din­ge über sein wir­beln­des Ge­hirn. Auf dem Vor­ge­bir­ge stan­den sie eine Zeit lang ne­ben der Bank, von der man in die schwar­zen Ge­heim­nis­se von Blacka­pit hin­abblickt, und dann setz­te er sich. Is­bis­ter hat­te sein Ge­spräch wie­der auf­ge­nom­men, so oft der Pfad breit ge­nug ge­we­sen war, dass sie ne­ben­ein­an­der ge­hen konn­ten. Er er­ging sich dar­über, wie schwie­rig es sei, Bos­cast­le Ha­fen bei schlech­tem Wet­ter zu neh­men, als sein Ge­fähr­te ihn plötz­lich und ganz un­ver­mit­telt von neu­em un­ter­brach.

»Mein Kopf ist nicht, wie er war«, sag­te er und ges­ti­ku­lier­te aus Man­gel an aus­drucks­vol­len Wor­ten. »Er ist nicht mehr, wie er war. Ich füh­le eine Art von Druck, ein Ge­wicht. Nein – kei­ne Schläf­rig­keit, woll­te Gott, das wäre es! Es ist wie ein Schat­ten, ein tiefer Schat­ten, der plötz­lich und schnell über et­was Ge­schäf­ti­ges fällt. Es spinnt und spinnt ins Dun­kel. Der Tu­mult der Ge­dan­ken, der Wirr­warr, der Wir­bel und Wir­bel! Ich kann es nicht aus­drücken. Ich kann kaum den Geist dar­auf kon­zen­trie­ren – nicht ste­tig ge­nug, um es Ih­nen zu sa­gen.«

Er hielt vor Schwä­che inne.

»Kei­ne Angst, al­ter Jun­ge«, sag­te Is­bis­ter. »Ich glau­be, ich kann es ver­ste­hen. Auf je­den Fall kommt es vor­läu­fig nicht sehr dar­auf an, ob Sie’s mir sa­gen kön­nen.«

Der Schlaflo­se drück­te sich die Fin­ger in die Au­gen und rieb sie. Is­bis­ter re­de­te eine Wei­le, wäh­rend die­ses Rei­ben fort­dau­er­te, und dann hat­te er einen neu­en Ge­dan­ken. »Kom­men Sie in mein Zim­mer hin­un­ter und ver­su­chen Sie eine Pfei­fe. Ich kann Ih­nen ein paar Skiz­zen von die­sem Blacka­pit zei­gen. Wenn Sie mö­gen?«

Der an­de­re stand ge­hor­sam auf und folg­te ihm den Ab­hang hin­un­ter.

Meh­re­re Male hör­te Is­bis­ter ihn stol­pern, als sie hin­un­ter­stie­gen, und sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren lang­sam und zö­gernd. »Kom­men Sie mit hin­ein«, sag­te Is­bis­ter, »und pro­bie­ren Sie ein paar Zi­ga­ret­ten und die ge­seg­ne­te Gabe des Al­ko­hols. Wenn Sie Al­ko­hol trin­ken?«

Der Frem­de zö­ger­te an der Gar­ten­pfor­te. Er schi­en sich sei­ner Hand­lun­gen nicht mehr klar be­wusst zu sein. »Ich trin­ke nicht«, sag­te er lang­sam, als er den Gar­ten­pfad ent­lang ging, und nach ei­ner mo­men­ta­nen Pau­se wie­der­hol­te er geis­tes­ab­we­send: »Nein – ich trin­ke nicht. Es geht her­um. Spinn, geht es – spinn –«

Er stol­per­te auf der Schwel­le und trat in der Hal­tung ei­nes Men­schen, der nichts sieht, ins Zim­mer.

Dann setz­te er sich plötz­lich und schwer in den Lehn­stuhl, schi­en fast hin­ein­zu­fal­len. Er lehn­te sich mit der Stirn in den Hän­den nach vorn und wur­de re­gungs­los.

Dann gab er ein leich­tes Geräusch in der Keh­le von sich. Is­bis­ter ging mit der Ner­vo­si­tät ei­nes un­er­fah­re­nen Gast­ge­bers im Zim­mer um­her und ließ klei­ne Be­mer­kun­gen fal­len, die kaum ei­ner Ant­wort be­durf­ten. Er ging durchs Zim­mer zu sei­ner Map­pe, leg­te sie auf den Tisch und sah auf die Ka­min­uhr.

»Ich weiß nicht, ob Sie bei mir zu Nacht es­sen mö­gen«, sag­te er mit ei­ner noch nicht an­ge­zün­de­ten Zi­ga­ret­te in der Hand – sein Geist brü­te­te un­ru­hig über dem Plan, dem Frem­den heim­lich Chlo­ral bei­zu­brin­gen. »Nur kal­ter Ham­mel, wis­sen Sie, aber wun­der­voll frisch. Aus Wa­les. Und eine Pas­te­te, glau­be ich.« Er wie­der­hol­te dies nach ei­nem kur­z­en Schwei­gen.

Der Sit­zen­de gab kei­ne Ant­wort. Is­bis­ter un­ter­brach sich mit dem Streich­holz in der Hand und sah ihn an.

Die Stil­le dau­er­te fort. Das Streich­holz er­losch, die Zi­ga­ret­te wur­de un­an­ge­zün­det hin­ge­legt. Der Frem­de war auf je­den Fall sehr still. Is­bis­ter nahm die Map­pe auf, öff­ne­te sie, leg­te sie wie­der hin, zö­ger­te, schi­en spre­chen zu wol­len. »Vi­el­leicht«, flüs­ter­te er zwei­felnd. Er blick­te auf die Tür und wie­der auf die Ge­stalt zu­rück. Dann stahl er sich auf den Ze­hen­spit­zen aus dem Zim­mer, in­dem er bei je­dem vor­sich­ti­gen Schritt auf sei­nen Ge­fähr­ten blick­te.

Er schloss die Tür ge­räusch­los. Die Haus­tür stand of­fen, und er trat hin­aus und blieb da ste­hen, wo an der Ecke des Gar­ten­bee­tes der Ei­sen­hut stand. Von die­sem Punkt aus konn­te er durch das of­fe­ne Fens­ter den Frem­den se­hen, der still und dun­kel, mit dem Kopf auf der Hand, da­saß. Er hat­te sich nicht ge­rührt.

Eine An­zahl Kin­der, die die Stra­ße ent­lang gin­gen, blie­ben ste­hen und sa­hen den Künst­ler neu­gie­rig an. Ein Boots­mann tausch­te Höf­lich­kei­ten mit ihm aus. Er emp­fand, die­se um­sich­ti­ge Stel­lung und Hal­tung moch­te ei­gen­tüm­lich und un­er­klär­lich er­schei­nen. Wenn er rauch­te, wür­de es viel­leicht na­tür­li­cher er­schei­nen. Er zog die Pfei­fe und den Ta­baks­beu­tel aus der Ta­sche und füll­te die Pfei­fe lang­sam.

»Ich möch­te wis­sen« … sag­te er mit ei­ner kaum merk­li­chen Ein­bu­ße an Selbst­ge­fäl­lig­keit. »Auf je­den Fall muss man ihm eine Mög­lich­keit ge­ben.« Er zün­de­te sich an der Fuß­soh­le ein Streich­holz und mit ihm sei­ne Pfei­fe an.

Plötz­lich hör­te er sei­ne Wir­tin hin­ter sich, die mit sei­ner bren­nen­den Lam­pe aus der Kü­che kam. Er dreh­te sich um und ges­ti­ku­lier­te mit der Pfei­fe und brach­te sie an der Tür sei­nes Wohn­zim­mers zum Ste­hen. Er hat­te ei­ni­ge Mühe, die Si­tua­ti­on im Flüs­tern aus­ein­an­der­zu­set­zen, denn sie wuss­te nicht, dass er Be­such hat­te. Sie zog sich mit der Lam­pe zu­rück, im­mer noch, nach ih­rem We­sen zu ur­tei­len, ein we­nig my­sti­fi­ziert, und er trat wie­der in die Tür, leicht er­regt und we­ni­ger un­be­fan­gen.

Lan­ge, nach­dem er sei­ne Pfei­fe aus­ge­raucht hat­te, und als schon die Fle­der­mäu­se her­um­flo­gen, be­sieg­te sei­ne Neu­gier all die kom­pli­zier­ten Be­den­ken, und er stahl sich in sein dunkles Wohn­zim­mer zu­rück. Er blieb in der Tür ste­hen. Der Frem­de saß noch in der­sel­ben Hal­tung dun­kel vorm Fens­ter. Ab­ge­se­hen da­von, dass ein paar See­leu­te an Bord der klei­nen Schie­fer­trans­port­schif­fe im Ha­fen san­gen, war der Abend sehr still. Drau­ßen stan­den die Spit­zen des Ei­sen­huts und Del­phi­ni­ums reg­los und auf­recht vor dem Schat­ten des Hü­gels. Ir­gend et­was blitz­te in Is­bis­ters Geist auf; er fuhr zu­sam­men, lehn­te sich über den Tisch und lausch­te. Ein un­an­ge­neh­mer Ver­dacht wur­de stär­ker, wur­de Über­zeu­gung. Er­stau­nen fass­te ihn und wur­de zur – Angst!

Die sit­zen­de Ge­stalt gab kein Geräusch des At­mens von sich.

Er schlich lang­sam und ge­räusch­los um den Tisch und hielt zwei­mal inne, um zu lau­schen. Schließ­lich konn­te er die Hand auf den Rücken des Lehn­stuhls le­gen. Er bück­te sich, bis die bei­den Köp­fe mit den Ohren ne­ben­ein­an­der stan­den.

Dann bück­te er sich noch tiefer, um von un­ten her in das Ge­sicht sei­nes Be­su­chers zu bli­cken. Er fuhr hef­tig zu­sam­men und stieß einen Aus­ruf aus. Die Au­gen wa­ren lee­re wei­ße Fle­cken.

Er blick­te noch ein­mal hin und sah, dass sie of­fen, und dass die Pu­pil­len un­ter das Lid hin­auf­ge­rollt wa­ren. Er fürch­te­te sich plötz­lich. Von der Un­heim­lich­keit der Lage des Man­nes über­wäl­tigt, fass­te er ihn an der Schul­ter und schüt­tel­te ihn. »Schla­fen Sie?« sag­te er, und sei­ne Stim­me schnapp­te über; und noch­mals: »Schla­fen Sie?«

Sei­nen Geist er­griff die Über­zeu­gung, dass der Mann tot war. Er wur­de plötz­lich be­weg­lich und ge­räusch­voll, ging durchs Zim­mer und schell­te.

»Bit­te, brin­gen Sie so­fort Licht«, sag­te er im Gang. »Mit mei­nem Freund ist et­was nicht in Ord­nung.«

Dann kehr­te er zu der reg­lo­sen, sit­zen­den Ge­stalt zu­rück, fass­te die Schul­ter, schüt­tel­te sie und schrie. Das Zim­mer wur­de von gel­bem Licht über­flu­tet, als sei­ne er­staun­te Wir­tin mit der Lam­pe ein­trat. Sein Ge­sicht war weiß, als er sich ihr blin­zelnd zu­wand­te. »Ich muss so­fort einen Dok­tor ho­len«, sag­te er. »Es ist ent­we­der der Tod oder ein An­fall. Gibt es einen Dok­tor im Dorf? Wo ist ein Dok­tor zu fin­den?«

2. Scheintod

Der Zu­stand ka­ta­lep­ti­scher Starr­sucht, in den die­ser Frem­de ver­fal­len war, dau­er­te eine noch nie da­ge­we­se­ne Zeit, und dann ging er lang­sam in den schlaf­fen Zu­stand über, in eine lose Hal­tung, die an tie­fe Ruhe er­in­ner­te. Da erst konn­te man ihm die Au­gen schlie­ßen.

Aus dem Ho­tel wur­de er in das Ho­spi­tal von Bos­cast­le ge­schafft, und aus dem Ho­spi­tal ei­ni­ge Wo­chen dar­auf nach Lon­don. Aber noch wi­der­stand er je­dem Ver­such der Wie­der­be­le­bung. Nach ei­ni­ger Zeit wur­den die­se Ver­su­che aus Grün­den, die sich spä­ter zei­gen wer­den, nicht mehr fort­ge­setzt. Lan­ge lag er in je­nem selt­sa­men Zu­stand, reg­los und still – we­der tot noch le­ben­dig, son­dern gleich­sam in der Schwe­be, auf­ge­hängt zwi­schen dem Nichts und dem Da­sein. Sein Dun­kel war durch kei­nen Strahl des Ge­dan­kens oder der Emp­fin­dung ge­bro­chen, es war eine traum­lo­se Lee­re, ein un­ge­heu­rer Raum des Frie­dens. Der Tu­mult sei­nes Geis­tes war zu ei­ner un­ver­mit­tel­ten Kli­max des Schwei­gens ge­schwellt und ge­stie­gen. Wo war der Mann? Wo ist der Mensch, wenn die Be­sin­nungs­lo­sig­keit ihn fasst?

»Es ist, als sei es ges­tern ge­we­sen«, sag­te Is­bis­ter. »Ich weiß noch al­les, wie wenn es ges­tern ge­we­sen wäre – kla­rer viel­leicht, als wenn es ges­tern ge­we­sen wäre.«

Es war der Is­bis­ter des letz­ten Ka­pi­tels. Aber er war kein jun­ger Mann mehr. Das Haar, das braun und ein we­nig län­ger ge­we­sen war, als die ele­gan­te Mode er­for­der­te, war ei­sen­grau und kurz ge­scho­ren, und das Ge­sicht, das rosa und weiß ge­we­sen war, war le­der­braun und rot. Er trug einen spit­zen und grau­ge­spren­kel­ten Bart. Er sprach mit ei­nem ält­li­chen Herrn, der einen Som­mer­an­zug aus Dril­lich an­hat­te (der Som­mer die­ses Jah­res war un­ge­wöhn­lich heiß). Das war War­ming, ein Lon­do­ner An­walt und der nächs­te Ver­wand­te Gra­hams, des Frem­den, der in den Starr­krampf ge­fal­len war. Und die bei­den Män­ner stan­den Sei­te an Sei­te in ei­nem Hau­se in Lon­don und blick­ten auf sei­ne lie­gen­de Ge­stalt.

Es war eine gel­be Ge­stalt, die lose auf ei­nem Was­ser­bett lag und ein lan­ges Hemd trug, eine Ge­stalt mit ver­run­zel­tem Ge­sicht und lan­gem Stop­pel­bart, mit ha­ge­ren Glie­dern und lan­gen Nä­geln, und ihn um­gab ein Ge­häu­se aus dün­nem Glas. Die­ses Glas schi­en den Schlä­fer von der Rea­li­tät des Le­bens um ihn ab­zu­tren­nen, er war ein Ding für sich, eine selt­sa­me, iso­lier­te Anor­ma­li­tät. Die bei­den Män­ner stan­den nah am Glas und späh­ten hin­ein.

»Die Sa­che gab mir einen Stoß«, sag­te Is­bis­ter. »Ich spü­re noch jetzt ein son­der­ba­res über­rasch­tes Grau­en, wenn ich an sei­ne wei­ßen Au­gen den­ke. Sie wa­ren ganz weiß, wis­sen Sie, nach oben ge­dreht. Jetzt, da ich hier vor ihm ste­he, kommt mir all das ins Ge­dächt­nis zu­rück.«

»Ha­ben Sie ihn seit der Zeit nie ge­se­hen?« frag­te War­ming.

»Woll­te oft kom­men«, sag­te Is­bis­ter; »aber das Ge­schäft ist heut­zu­ta­ge eine zu ernst­haf­te Sa­che, als dass es viel Fe­ri­en zu ma­chen er­laub­te. Ich bin die meis­te Zeit in Ame­ri­ka ge­we­sen.«

»Wenn ich mich recht er­in­ne­re«, sag­te War­ming, »wa­ren Sie Künst­ler.«

»War. Und dann wur­de ich Ehe­mann. Ich sah sehr bald, dass es mit der Schwarz- und Weiß­kunst aus war – we­nigs­tens für einen mit­tel­mä­ßi­gen Künst­ler, und ging mit dem Fort­schritt wei­ter. Die Pla­ka­te auf den Klip­pen bei Do­ver sind von mei­nen Leu­ten.«

»Gute Pla­ka­te«, gab der An­walt zu, »ob­gleich es mir leid tat, sie da zu se­hen.«

»Hal­ten so lan­ge wie die Klip­pen, wenn’s sein muss«, rief Is­bis­ter mit Ge­nug­tu­ung aus. »Die Welt än­dert sich. Als er vor zwan­zig Jah­ren ein­sch­lief, saß ich da un­ten in Bos­cast­le mit ei­nem Kas­ten voll Was­ser­far­ben und ei­nem ed­len, alt­mo­di­schen Ehr­geiz. Ich er­war­te­te nicht, dass mei­ne Pig­men­te noch ein­mal die gan­ze eng­li­sche Küs­te von Lands End her­um bis wie­der zum Li­zard schmücken wür­den. Das Glück kommt oft zum Men­schen, wenn er nicht dar­an denkt.«

War­ming schi­en zu zwei­feln, ob dies ein Glück war. »Ich ver­fehl­te Sie nur ge­ra­de, wenn ich mich recht er­in­ne­re.«

»Sie ka­men mit dem Wa­gen zu­rück, der mich zum Ca­mel­ford-Bahn­hof ge­bracht hat­te. Es war kurz vor dem Ju­bi­lä­um, Vik­to­ri­as Ju­bi­lä­um, denn ich er­in­ne­re mich der Tri­bü­nen und Fah­nen in West­mins­ter und des Streits mit dem Kut­scher in Chel­sea.«

»Das Dia­mant­ju­bi­lä­um war es«, sag­te War­ming; »das zwei­te.«

»Ah ja! bei dem ei­gent­li­chen Ju­bi­lä­um – der Fünf­zig Jahrs-Ge­schich­te – war ich un­ten in Woo­key – als Jun­ge. All das hab’ ich ver­säum­t… Was für eine Auf­re­gung wir mit ihm hat­ten! Mei­ne Wir­tin woll­te ihn nicht ha­ben – woll­te ihn nicht blei­ben las­sen – er sah so wun­der­lich aus, als er starr war. Wir muss­ten ihn auf ei­nem Stuhl ins Ho­tel hin­auf­tra­gen. Und der Dok­tor in Bos­cast­le – es war nicht der jet­zi­ge Bur­sch’, son­dern der vor ihm – war bis fast zwei Uhr an der Ar­beit, und ich und der Wirt hiel­ten ihm die Lam­pen und so wei­ter.«

»Es war erst eine ka­ta­lep­ti­sche Starr­sucht, nicht wahr?«

»Steif! – wie man ihn auch bog, so blieb er. Man hät­te ihn auf den Kopf stel­len kön­nen, und er wäre da ge­blie­ben. Sol­che Steif­heit hab ich nie wie­der­ge­se­hen. Na­tür­lich ist dies« – er zeig­te mit ei­ner Be­we­gung des Kop­fes auf die lie­gen­de Ge­stalt – »ganz an­ders. Und na­tür­lich hat­te der klei­ne Dok­tor – wie hieß er gleich?«

»Smit­hers?«

»Ganz recht, Smit­hers – nach al­len Be­rich­ten voll­stän­dig un­recht, als er ver­such­te, ihn so schnell wie mög­lich zu we­cken. Was er al­les an­fing! Noch jetzt fühl ich mich ganz – uh! Senf, Schnupf­ta­bak, Na­deln. Und eins von den scheuß­li­chen klei­nen Din­gen – nicht Dy­na­mos –«

»In­duk­ti­ons­ap­pa­ra­ten.«

»Ja. Man konn­te sei­ne Mus­keln zu­cken und sprin­gen se­hen, und er wand sich um­her. Wir hat­ten ge­ra­de zwei fla­ckern­de Ker­zen, und all die Schat­ten zit­ter­ten, der klei­ne Dok­tor war ner­vös und auf­ge­regt, und er – wand sich auf die un­na­tür­lichs­ten Ar­ten, trotz sei­ner Starr­heit. Ah, ich habe noch lan­ge da­von ge­träumt.«

Pau­se.

»Es ist ein un­heim­li­cher Zu­stand«, sag­te War­ming.

»Es ist eine Art voll­stän­di­ger Ab­we­sen­heit«, sag­te Is­bis­ter. »Hier ist der Kör­per, leer. Tot kei­ne Spur und doch nicht le­ben­dig. Er ist wie ein lee­rer Stuhl, auf dem ›be­leg­t‹ steht. Kein Ge­fühl, kei­ne Ver­dau­ung, kein Herz­schlag, kei­ne Zu­ckung. Das gibt mir nicht das Ge­fühl, wie wenn ein Mensch an­we­send wäre. In ge­wis­sem Sinn ist er voll­stän­di­ger tot als der Tod sel­ber, denn die Dok­to­ren sa­gen mir, selbst das Haar habe zu wach­sen auf­ge­hört. Aber bei den rich­ti­gen To­ten wächst das Haar wei­ter fort –«

»Ich weiß«, sag­te War­ming mit ei­nem Blitz des Schmer­zes in sei­nem Aus­druck.

Sie blick­ten wie­der durch das Glas. Gra­ham war frei­lich in ei­nem selt­sa­men Zu­stand, er lag in der schlaf­fen Pha­se ei­nes Starr­krampfs da, aber ei­nes in der Ge­schich­te der Me­di­zin un­er­hör­ten Starr­krampfs. Starr­krämp­fe hat­ten wohl schon bis zu ei­nem Jahr ge­dau­ert – aber nach der Zeit war ent­we­der das Er­wa­chen oder der Tod ein­ge­tre­ten; bis­wei­len erst das eine und dann das an­de­re. Is­bis­ter sah die Stel­len, wo der Arzt die Nah­rung inji­ziert hat­te, denn um die Ent­kräf­tung hin­aus­zu­schie­ben, hat­te man zu die­sem Aus­weg ge­grif­fen; er zeig­te sie War­ming, der ver­sucht hat­te, sie nicht zu se­hen.

»Und wäh­rend er hier ge­le­gen hat«, sag­te Is­bis­ter mit dem Wohl­ge­fühl ei­nes frei ver­brach­ten Le­bens, »habe ich mei­ne Le­ben­splä­ne ge­än­dert, ge­hei­ra­tet, eine Fa­mi­lie ge­grün­det, mein äl­tes­ter Jun­ge – da­mals hat­te ich noch nicht an­ge­fan­gen, an Söh­ne zu den­ken – ist ame­ri­ka­ni­scher Bür­ger und soll dem­nächst Har­vard ver­las­sen. In mei­nem Haar ist eine Spur von Grau. Und die­ser Mensch, kei­nen Tag äl­ter oder klü­ger (tat­säch­lich), als ich in mei­nen Flaum­ta­gen war. Es ist ein wun­der­li­cher Ge­dan­ke.«

War­ming dreh­te sich um. »Und ich bin auch alt ge­wor­den. Ich habe mit ihm Kricket ge­spielt, als ich ein Bursch war. Und er sieht trotz­dem jung aus. Gelb viel­leicht. Aber er ist trotz­dem ein jun­ger Mensch.«

»Und dann liegt der Krieg da­zwi­schen«, sag­te Is­bis­ter.

»Von An­fang bis zu Ende.«

»Und die­se Leu­te vom Mars.«

»Ich habe ge­hört«, sag­te Is­bis­ter nach ei­ner Pau­se, »er hat­te sel­ber ein be­schei­de­nes Ver­mö­gen?«

»Das ist rich­tig«, sag­te War­ming. Er hus­te­te ge­zwun­gen. »Zu­fäl­lig habe ich die Ver­wal­tung.«

»Ah!« Is­bis­ter dach­te nach, zö­ger­te und sprach: »Ohne Zwei­fel – sein Un­ter­halt hier ist nicht sehr teu­er – ohne Zwei­fel wird es sich auf­bes­sern – sich ver­meh­ren?«

»Das tut es. Wenn er auf­wacht – wenn er eben auf­wacht – wird er sich viel bes­ser ste­hen, als zur Zeit sei­nes Ein­schla­fens.«

»Als Ge­schäfts­mann«, sag­te Is­bis­ter, »hat mich der Ge­dan­ke na­tür­lich be­schäf­tigt. Ich habe so­gar bis­wei­len ge­meint, na­tür­lich kom­mer­zi­ell ge­spro­chen, die­ser Schlaf kön­ne für ihn eine sehr gute Sa­che sein. Er wird wis­sen, wor­an er ist, so­zu­sa­gen, dass er so lan­ge be­sin­nungs­los bleibt. Wenn er ru­hig wei­ter ge­lebt hät­te –«

»Ich zweifle, ob er sich das über­legt hät­te«, sag­te War­ming. »Er war kein weit­sich­ti­ger Mann. Kurz –«

»Ja?«

»Wir wa­ren da ver­schie­de­ner An­sicht. Ich ver­trat ihm ge­gen­über ein we­nig die Stel­le des Vor­munds. Sie ha­ben wahr­schein­lich ge­nug von der Welt ge­se­hen, um an­zu­er­ken­nen, dass ge­le­gent­lich eine ge­wis­se Rei­bung – Aber selbst wenn das der Fall wäre, so ist es zwei­fel­haft, ob er je er­wa­chen wird. Die­ser Schlaf er­schöpft lang­sam, aber er er­schöpft. Of­fen­bar glei­tet er lang­sam, sehr lang­sam und läs­sig einen lan­gen Hang hin­un­ter, wenn Sie mich ver­ste­hen?«

»Es wäre scha­de, wenn man um sei­ne Über­ra­schung käme. In die­sen zwan­zig Jah­ren hat sich eine Men­ge ver­än­dert. Es wäre, als wür­de das Mär­chen von Rip Van Winkle zur Wirk­lich­keit.«

»Es wäre Bel­la­my«, sag­te War­ming. »Si­cher­lich hat sich eine Men­ge ver­än­dert. Und un­ter an­de­rem habe ich mich ver­än­dert. Ich bin ein al­ter Mann.«

Is­bis­ter zö­ger­te und spiel­te dann ein nach­träg­li­ches Er­stau­nen. »Das hät­te ich nicht ge­dacht.«

»Ich war drei­und­vier­zig, als sein Ban­kier – Sie wis­sen, Sie te­le­gra­fier­ten an sei­nen Ban­kier – zu mir schick­te.«

»Ich fand sei­ne Adres­se in dem Scheck­buch in sei­ner Ta­sche«, sag­te Is­bis­ter.

»Nun, die Ad­di­ti­on ist nicht schwie­rig«, sag­te War­ming.

Es folg­te wie­der eine Pau­se, und dann gab Is­bis­ter ei­ner un­ver­meid­li­chen Neu­gier nach. »Er kann noch Jah­re so lie­gen blei­ben«, sag­te er und zö­ger­te einen Mo­ment. »Das ha­ben wir zu be­den­ken. Sie wis­sen, sei­ne An­ge­le­gen­hei­ten kön­nen ei­nes Ta­ges in die Hän­de von – von je­mand an­ders fal­len, wis­sen Sie.«

»Das, wenn Sie mir glau­ben wol­len, Mr. Is­bis­ter, ist eins von den Pro­ble­men, die mir be­stän­dig vor Au­gen ste­hen. Wir sind – tat­säch­lich exis­tie­ren kei­ne sehr ver­trau­ens­wür­di­gen Ver­wand­ten von uns mehr. Es ist eine gro­tes­ke und un­er­hör­te Lage.«

»Das ist es«, sag­te Is­bis­ter. »Es ist wirk­lich ein Fall für einen öf­fent­li­chen Be­trau­ten, wenn wir nur einen sol­chen Be­am­ten hät­ten.«

»Mir scheint, es ist ein Fall für eine öf­fent­li­che Kör­per­schaft, für einen prak­tisch un­s­terb­li­chen Ver­wal­ter. Wenn er wirk­lich wei­ter­le­ben soll­te – wie die Dok­to­ren, ei­ni­ge von ih­nen, glau­ben. Ich bin auch tat­säch­lich schon da­mit an ein oder zwei Leu­te der Öf­fent­lich­keit her­an­ge­tre­ten. Aber bis­lang ist nichts ge­sche­hen.«

»Es wäre kein schlech­ter Ge­dan­ke, ihn ei­ner öf­fent­li­chen Kör­per­schaft zu über­ge­ben – der Ver­wal­tung des Bri­ti­schen Mu­se­ums oder dem kö­nig­li­chen Ärz­te­kol­le­gi­um. Klingt na­tür­lich et­was wun­der­lich, aber der gan­ze Fall ist wun­der­lich.«

»Die Schwie­rig­keit ist die, sie zu ver­an­las­sen, dass sie ihn neh­men.«

»Be­am­ten­zopf, ver­mut­lich?«

»Zum Teil.«

Pau­se. »Es ist auf je­den Fall eine son­der­ba­re Ge­schich­te«, sag­te Is­bis­ter. »Und Zin­ses­zin­sen ha­ben eine Art, in die Höhe zu lau­fen!«

»Ja«, sag­te War­ming. »Und jetzt, wo die Gold­zu­fuhr aus­geht, ist die Ten­denz stei­gend … Preis­er­hö­hung.«

»Das hab ich füh­len müs­sen«, sag­te Is­bis­ter mit ei­ner Gri­mas­se. »Aber für ih­n wird es da­durch nur bes­ser.«

»Wenn er er­wacht.«

»Wenn er er­wacht«, echo­te Is­bis­ter. »Se­hen Sie, wie ein­ge­knif­fen sei­ne Nase aus­sieht, und wie son­der­bar sei­ne Au­gen­li­der zu­ge­fal­len sind?«

War­ming blick­te eine Zeit lang hin und sann. »Ich zweifle, ob er auf­wa­chen wird«, sag­te er schließ­lich.

»Ich habe nie recht ver­stan­den«, sag­te Is­bis­ter, »wel­che Ur­sa­che dies ei­gent­lich her­bei­ge­führt hat. Er sag­te mir et­was von Über­ar­bei­tung. Ich habe mich oft ge­wun­dert.«

»Er war ein Mensch von be­deu­ten­den Ga­ben, aber ner­vös, von Ge­füh­len ab­hän­gig. Er hat­te schwe­ren, häus­li­chen Kum­mer, ließ sich von sei­ner Frau schei­den, und ich glau­be, um sich da­von zu er­ho­len, be­gann er Po­li­tik von der wil­des­ten Art zu trei­ben. Er war ein fa­na­ti­scher Ra­di­ka­ler – So­zia­list – oder, wie sie sich zu nen­nen pfleg­ten, ein ty­pi­scher Li­be­ra­ler von der Fort­schritts­schu­le. Ener­gisch – fan­tas­tisch – un­dis­zi­pli­niert. Über­ar­bei­tung in ei­ner Streit­sa­che hat­te die­se Fol­gen. Ich er­in­ne­re mich sei­ner Bro­schü­re noch – eine merk­wür­di­ge Pro­duk­ti­on. Wil­des, wir­beln­des Zeug. Ein oder zwei Pro­phe­zei­un­gen stan­den drin. Ei­ni­ges da­von ist schon ex­plo­diert, an­de­res ist an­er­kann­te Tat­sa­che. Aber meist, wenn man sol­che Sät­ze liest, fühlt man, wie voll die Welt von un­ge­ahn­ten Din­gen ist. Er wird viel zu ler­nen ha­ben, wenn er er­wacht, viel zu ver­ler­nen. Wenn ein Er­wa­chen je­mals kommt.«

»Ich wür­de al­les dar­um ge­ben, wenn ich da­bei sein könn­te«, sag­te Is­bis­ter, »nur um zu hö­ren, was er zu all dem sa­gen wür­de.«

»Ich auch«, sag­te War­ming. »Ah ja, ich auch«, mit der plötz­li­chen Wen­dung des al­ten Man­nes zum Selbst­mit­leid. »Aber ich wer­de ihn nie er­wa­chen se­hen.«

Er stand da und blick­te nach­denk­lich auf die wäch­ser­ne Ge­stalt. »Er wird nie er­wa­chen«, sag­te er schließ­lich. Er seufz­te. »Er wird nie wie­der auf­wa­chen.«

3. Das Erwachen

Aber dar­in hat­te War­ming un­recht. Es kam ein Er­wa­chen.

Was für ein wun­der­bar kom­pli­zier­tes We­sen! Die­se ein­fach schei­nen­de Ein­heit – das Selbst! Wer kann sei­ne Nach­bil­dung ver­fol­gen, wie wir Mor­gen für Mor­gen er­wa­chen, den Fluss und Zu­sam­men­strom sei­ner zahl­lo­sen Fak­to­ren, die sich ver­schlin­gen und wie­der auf­bau­en, die dunklen, ers­ten Re­gun­gen der See­le, das Wachs­tum und die Syn­the­se des Un­be­wuss­ten zum Un­ter­be­wuss­ten, des Un­ter­be­wuss­ten zur däm­mern­den Be­wusst­heit, bis wir uns schließ­lich sel­ber wie­der­er­ken­nen. Und wie es den meis­ten von uns nach dem Schlaf der Nacht geht, so war es mit Gra­ham am Schluss sei­nes un­ge­heu­ren Schla­fes. Eine dunkle Wol­ke der Emp­fin­dung, die Ge­stalt an­nahm, eine wol­ki­ge Öde, und er fühl­te sich un­be­stimmt ir­gend­wo, wo er lag, schwach, aber le­ben­dig.

Die Pil­ger­fahrt zu ei­nem per­sön­li­chen Sein schi­en durch un­ge­heu­re Ab­grün­de zu ge­hen, Epo­chen zu dau­ern. Gi­gan­ti­sche Träu­me, die zu der Zeit furcht­ba­re Wirk­lich­kei­ten wa­ren, hin­ter­lie­ßen un­be­stimm­te, ver­wir­ren­de Erin­ne­run­gen selt­sa­mer Ge­schöp­fe, selt­sa­mer Land­schaft, wie von ei­nem an­dern Pla­ne­ten. Auch ein deut­li­cher Ein­druck von ei­ner ge­wich­ti­gen Un­ter­hal­tung war vor­han­den, von ei­nem Na­men – er konn­te nicht sa­gen, von wel­chem Na­men – der spä­ter wie­der auf­tau­chen soll­te, von ei­ner wun­der­li­chen, lang ver­ges­se­nen Emp­fin­dung der Adern und Mus­keln, von ei­nem Ge­fühl rie­si­ger, hoff­nungs­lo­ser An­stren­gung, der An­stren­gung ei­nes Men­schen, der im Dun­keln na­he­zu er­trinkt. Dann kam ein Pa­n­ora­ma von blen­den­den, un­sta­bi­len, ver­schwim­men­den Sze­nen.

Gra­ham merk­te, dass sei­ne Au­gen of­fen wa­ren und et­was Un­ge­wohn­tes an­sa­hen.

Es war et­was Wei­ßes, ir­gend­ein Rand, ein Holz­rah­men. Er be­weg­te den Kopf ein we­nig, in­dem er dem Um­riss die­ses Ge­gen­stan­des folg­te. Er ging über den Be­reich sei­ner Au­gen hin­aus. Er ver­such­te nach­zu­den­ken, wo er sein moch­te. Kam es dar­auf an, wo er so elend war? Die Far­be sei­ner Ge­dan­ken war die düs­te­rer De­pres­si­on. Er fühl­te das aus­drucks­lo­se Elend des­sen, der ge­gen die Stun­de der Däm­me­rung auf­wacht. Er hat­te die un­be­stimm­te Emp­fin­dung, dass Ge­flüs­ter und Schrit­te sich rasch ent­fern­ten.

Die Be­we­gung sei­nes Kop­fes deu­te­te auf das Be­wusst­sein äu­ße­rer phy­si­scher Schwä­che. Er nahm an, er lie­ge im Bett des Ho­tels in dem Ort im Tal – aber er konn­te sich nicht auf den wei­ßen Rand be­sin­nen. Er muss­te ge­schla­fen ha­ben. Er er­in­ner­te sich jetzt, dass er hat­te schla­fen wol­len. Er ent­sann sich wie­der der Klip­pe und des Was­ser­falls, und dann be­sann er sich auf et­was wie ein Ge­spräch mit ei­nem Vor­über­ge­hen­den …

Wie lan­ge hat­te er ge­schla­fen? Was war das für ein Geräusch von klap­pern­den Fü­ßen? Und dies Stei­gen und Fal­len, wie das Mur­meln bre­chen­der Wel­len und Kie­sel? Er streck­te sei­ne mat­te Hand aus, um sei­ne Uhr von dem Stuhl zu neh­men, auf den es sei­ne Ge­wohn­heit ge­we­sen war, sie zu le­gen, und er be­rühr­te eine glat­te har­te Ober­flä­che, et­was wie Glas. Das war so un­er­war­tet, dass es ihn au­ßer­or­dent­lich er­schreck­te. Ganz plötz­lich wälz­te er sich her­um, starr­te einen Mo­ment um sich und ar­bei­te­te sich dann in eine sit­zen­de Stel­lung em­por. Die An­stren­gung war un­er­war­tet schwer, und er war schwind­lig und schwach – und ver­blüfft.

Er rieb sich die Au­gen. Das Rät­sel sei­ner Um­ge­bung war ver­wir­rend, aber sein Geist war ganz klar – of­fen­bar hat­te sein Schlaf ihm wohl­ge­tan. Er lag über­haupt in kei­nem Bett, wie er das Wort ver­stand, son­dern er lag nackt auf ei­ner sehr wei­chen und nach­gie­bi­gen Ma­trat­ze in ei­ner Mul­de aus dunklem Glas. Die Ma­trat­ze war zum Teil durch­sich­tig, eine Tat­sa­che, die er mit ei­nem selt­sa­men Ge­fühl der Un­si­cher­heit be­ob­ach­te­te, und dar­un­ter lag ein Spie­gel, der ihn grau zu­rück­warf. Um sei­nen Arm – und er sah mit ei­nem Schreck, dass sei­ne Haut selt­sam tro­cken und gelb war – war ein merk­wür­di­ger Gum­mi­ap­pa­rat ge­bun­den, so kunst­voll ge­bun­den, dass er oben und un­ten in die Haut über­zu­ge­hen schi­en. Und die­ses selt­sa­me Bett lag in ei­nem Ge­häu­se aus grün­lich ge­färb­tem Glas (wie ihm schi­en), zu des­sen weißem Rah­men­werk die Leis­te ge­hör­te, die zu­erst sei­ne Auf­merk­sam­keit ge­fes­selt hat­te. Im Win­kel des Ge­häu­ses stand ein Stän­der mit glit­zern­den und fein ge­ar­bei­te­ten Ap­pa­ra­ten, zum größ­ten Teil ihm ganz fremd­ar­ti­gen Er­fin­dun­gen, ob­gleich er ein Ma­xi­mal- und Mi­ni­malt­her­mo­me­ter er­kann­te.

Der leicht grün­li­che Ton der glas­ar­ti­gen Sub­stanz, die ihn auf al­len Sei­ten um­gab, ver­dun­kel­te, was da­hin­ter lag, aber er sah, dass es ein rie­si­ges Ge­mach von pracht­vol­ler Archi­tek­tur war, das ihm ge­gen­über einen sehr großen und ein­fa­chen wei­ßen Bo­gen­durch­gang zeig­te. Nah an den Wän­den sei­nes Kä­figs stan­den Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de, ein mit ei­nem silb­ri­gen Tuch ge­deck­ter Tisch – silb­rig wie die Sei­te ei­nes Fi­sches, ein Paar an­mu­ti­ger Stüh­le, und auf dem Tisch eine An­zahl von Schüs­seln, auf de­nen al­ler­lei lag, eine Fla­sche und zwei Glä­ser. Er wur­de sich be­wusst, dass er in­ten­si­ven Hun­ger hat­te.

Er konn­te kein mensch­li­ches We­sen se­hen, und nach ei­ner Zeit des Zö­gerns klet­ter­te er von der durch­schei­nen­den Ma­trat­ze her­un­ter und ver­such­te auf dem sau­be­ren, wei­ßen Bo­den sei­nes klei­nen Ge­ma­ches zu ste­hen. Er hat­te sich je­doch mit sei­ner Kraft ver­rech­net, stol­per­te und streck­te die Hand nach ei­ner glas­ar­ti­gen Schei­be aus, um sich zu stüt­zen. Ei­nen Mo­ment wi­der­stand sie sei­ner Hand, in­dem sie sich wie eine auf­ge­bla­se­ne Bla­se nach au­ßen bog, dann zer­brach sie mit ei­nem lei­sen Knall und ver­schwand – wie eine an­ge­sto­che­ne Sei­fen­bla­se. Er tau­mel­te in den Raum der Hal­le hin­aus. Er war sehr er­staunt. Er griff nach dem Tisch, um sich zu hal­ten und warf da­bei eins der Glä­ser zu Bo­den – es klang, zer­brach aber nicht. Dann setz­te er sich in einen der Ses­sel.

Als er sich ein we­nig er­holt hat­te, füll­te er das an­de­re Glas aus der Fla­sche und trank – es war eine farb­lo­se Flüs­sig­keit, aber kein Was­ser – von an­ge­neh­mem, leich­tem Aro­ma und Ge­schmack und un­mit­tel­bar kräf­ti­gend und an­re­gend. Er setz­te das Ge­fäß hin und blick­te sich um.

Das Ge­mach ver­lor nichts an Grö­ße und Pracht, jetzt, wo der grü­ne, durch­schei­nen­de Stoff, der da­zwi­schen ge­le­gen hat­te, be­sei­tigt war. Der Bo­gen, den er sah, führ­te zu ei­ner Trep­pen­flucht, die ohne tren­nen­de Tür zu ei­nem ge­räu­mi­gen Qu­er­gang hin­ab­führ­te. Die­ser Gang lief zwi­schen po­lier­ten Pfei­lern aus ei­ner weiß­ge­äder­ten, tief ul­tra­ma­rin­blau­en Sub­stanz hin und von dort drang der Schall mensch­li­cher Be­we­gun­gen und Stim­men, und ein tiefer, un­abläs­si­ger, sum­men­der Ton her­auf. Er saß jetzt völ­lig wach da und lausch­te auf­merk­sam; er ver­gaß in sei­ner Span­nung die Spei­sen.

Dann be­sann er sich mit ei­nem Schreck, dass er nackt war, und als er sich nach ei­ner Be­de­ckung um­blick­te, sah er ein lan­ges, schwar­zes Ge­wand, das auf einen der Stüh­le ne­ben ihm ge­wor­fen war. Das hüll­te er um sich und setz­te sich zit­ternd wie­der nie­der.

Sein Geist war noch im­mer eine wo­gen­de Ver­wir­rung. Of­fen­bar hat­te er ge­schla­fen und war in sei­nem Schlaf an­ders­wo­hin ge­bracht wor­den. Aber wo­hin? Und wer wa­ren die­se Men­schen, die fer­ne Men­ge hin­ter den tief­blau­en Pfei­lern? Bos­cast­le? Er schenk­te sich ein zwei­tes Glas von der farb­lo­sen Flüs­sig­keit ein und trank es halb aus.

Was für ein Ort war dies? Die­ser Ort, der sei­nen Sin­nen so fein wie ein le­ben­dig Ding zu be­ben schi­en? Er blick­te um sich auf die sau­be­re und schö­ne Form des Ge­machs, das durch kei­nen Zier­rat be­fleckt wur­de, und sah, dass das Dach an ei­ner Stel­le von ei­nem kreis­run­den Schacht vol­ler Licht durch­bro­chen wur­de, und wäh­rend er hin­sah, kam ein ste­ti­ger, flie­gen­der Schat­ten und lösch­te es aus und ver­schwand, und kam wie­der und ver­schwand wie­der. »Schlag, Schlag;« die­ser Schat­ten hat­te in dem ge­dämpf­ten Tu­mult, der die Luft er­füll­te, einen ei­ge­nen Ton.

Er woll­te ru­fen, aber sei­ner Keh­le ent­rang sich nur ein lei­ser Ton. Dann stand er auf, und mit den un­si­che­ren Schrit­ten ei­nes Be­trun­ke­nen ging er auf das Bo­gen­tor zu. Er stol­per­te die Stu­fen hin­un­ter, trat auf einen der Zip­fel des schwar­zen Man­tels, den er um sich ge­schlun­gen hat­te, und hielt sich auf­recht, in­dem er nach ei­nem der blau­en Pfei­ler griff.

Der Gang lief an ei­ner küh­len Hal­le aus Blau und Pur­pur hin und en­de­te fern in ei­nem wie ein Bal­kon um­frie­dig­ten Raum, der hell er­leuch­tet war und in einen Raum des Ne­bels vor­sprang, einen Raum, der dem In­ne­ren ei­nes gi­gan­ti­schen Bau­es glich. Da­hin­ter und in der Fer­ne sah er rie­si­ge und un­be­stimm­te Archi­tek­tur­for­men. Der Tu­mult der Stim­men stieg jetzt laut und klar her­auf, und auf dem Bal­kon stan­den, den Rücken ihm zu­ge­kehrt, ges­ti­ku­lie­rend und of­fen­bar in leb­haf­ter Un­ter­hal­tung, drei reich in lose und leich­te Ge­wän­der von hel­len, wei­chen Far­ben ge­klei­de­te Ge­stal­ten. Der Lärm ei­ner großen Volks­men­ge ström­te über den Bal­kon her­auf, und ein­mal schi­en es, als zie­he die Spit­ze ei­nes Ban­ners vor­über und ein­mal blitz­te ein hell­far­be­ner Ge­gen­stand, viel­leicht eine in die Luft ge­wor­fe­ne blass­blaue Müt­ze oder ein Ge­wand quer über den of­fe­nen Raum und fiel wie­der nie­der. Die Rufe klan­gen wie Eng­lisch: das Wort »Er­wa­che!« kam häu­fig vor. Er hör­te einen un­deut­li­chen schril­len Schrei, und plötz­lich be­gan­nen die­se drei Män­ner zu la­chen.

»Ha, ha, ha!« lach­te ei­ner – ein rot­haa­ri­ger Mensch in ei­nem kur­z­en Pur­pur­ge­wand. »Wenn der Schlä­fer er­wacht – Wenn!«

Er wand­te die Au­gen la­chend den Gang ent­lang. Sein Ge­sicht ver­wan­del­te sich, der gan­ze Mensch ver­wan­del­te sich, wur­de starr. Die bei­den an­de­ren wand­ten sich auf sei­nen Aus­ruf rasch um und stan­den reg­los da. Ihre Ge­sich­ter nah­men den Aus­druck der Be­stür­zung an, einen Aus­druck, der sich bis zur Scheu ver­tief­te.

Plötz­lich knick­ten Gra­hams Knie un­ter ihm zu­sam­men, sein ge­gen den Pfei­ler ge­lehn­ter Arm sank schlaff her­ab, er tau­mel­te vor­wärts und fiel aufs Ge­sicht.

4. Der Lärm eines Aufruhrs

Gra­hams letz­ter Ein­druck, ehe er ohn­mäch­tig wur­de, war der ei­nes lär­men­den Glo­cken­läu­tens. Er er­fuhr spä­ter, dass er den grö­ße­ren Teil ei­ner Stun­de be­sin­nungs­los zwi­schen Tod und Le­ben hing. Als er zu Sin­nen kam, lag er wie­der auf sei­nem durch­schei­nen­den La­ger, und er fühl­te in Herz und Keh­le eine be­le­ben­de Wär­me. Der dunkle Ap­pa­rat an sei­nem Arm war, wie er sah, ab­ge­nom­men und durch einen Ver­band er­setzt. Das wei­ße Rah­men­werk um­gab ihn noch, aber die grün­li­che, durch­sich­ti­ge Sub­stanz, die es ge­füllt hat­te, war fort. Ein Mann in ei­nem tief vio­let­ten Ge­wand, ei­ner von de­nen, die auf dem Bal­kon ge­stan­den hat­ten, blick­te ihm scharf ins Ge­sicht.

Fern aber be­harr­lich hör­te er ein Glo­cken­läu­ten und wir­re Töne, die in sei­nem Geist das Bild ei­ner großen An­zahl durch­ein­an­der­schrei­en­der Leu­te weck­ten. Ir­gend et­was schi­en sich über die­sen Aufruhr zu sen­ken, eine Tür schloss sich plötz­lich.

Gra­ham be­weg­te den Kopf. »Was be­deu­tet dies al­les?« sag­te er lang­sam. »Wo bin ich?«

Er sah den rot­haa­ri­gen Men­schen, der ihn zu­erst ent­deckt hat­te. Es schi­en, als frag­te eine Stim­me, was er ge­sagt habe, und dann wur­de sie plötz­lich zum Schwei­gen ge­bracht.

Der Mann in Vio­lett ant­wor­te­te, in­dem er das Eng­li­sche mit ei­nem leich­ten aus­län­di­schen Ak­zent sprach – oder we­nigs­tens schi­en es den Ohren des Schlä­fers so –: »Sie sind ganz si­cher. Sie sind von da aus, wo Sie ein­sch­lie­fen, hier­her­ge­bracht. Sie sind ganz si­cher. Sie ha­ben ei­ni­ge Zeit hier ge­le­gen – ge­schla­fen. In ei­nem Starr­krampf.«

Er sag­te noch et­was, was Gra­ham nicht hö­ren konn­te, und ihm wur­de eine klei­ne Phio­le ge­reicht. Gra­ham fühl­te küh­len­de Trop­fen, ein duf­ti­ger Ne­bel spiel­te ihm einen Mo­ment über die Stirn, und das Ge­fühl der Er­fri­schung wuchs. Er schloss be­frie­digt die Au­gen.

»Bes­ser?« frag­te der Mann in Vio­lett, als Gra­ham die Au­gen wie­der auf­schlug. Es war ein Mann von drei­ßig Jah­ren, mit hei­te­rem Ge­sicht, spit­zem Flachs­bart und ei­ner gol­de­nen Schnal­le am Hals sei­nes vio­let­ten Ge­wan­des.

»Ja«, sag­te Gra­ham.

»Sie ha­ben ei­ni­ge Zeit ge­schla­fen. In ei­nem ka­ta­lep­ti­schen Starr­krampf. Sie ha­ben da­von ge­hört? Ka­ta­lep­sie? Es mag Ih­nen zu­erst selt­sam er­schei­nen, aber ich kann Sie ver­si­chern, dass al­les gut ist.«

Gra­ham ant­wor­te­te nicht, aber die­se Wor­te er­füll­ten ih­ren be­ru­hi­gen­den Zweck. Sei­ne Au­gen schweif­ten von Ge­sicht zu Ge­sicht über die drei Män­ner, die ihn um­ga­ben. Sie sa­hen ihn son­der­bar an. Er wuss­te, er soll­te ir­gend­wo in Corn­wall sein, aber er konn­te all dies nicht da­mit in Ein­klang brin­gen.

Et­was, was ihm wäh­rend sei­ner letz­ten wa­chen Mo­men­te in Bos­cast­le im Sinn ge­le­gen hat­te, fiel ihm wie­der ein, et­was, was er be­schlos­sen aber ir­gend­wie ver­nach­läs­sigt hat­te. Er räus­per­te sich.

»Ha­ben Sie mei­nem Vet­ter ge­drah­tet?« frag­te er. »E. War­ming, 27, Chan­ce­ry Lane.«

Sie müh­ten sich alle, ihn zu ver­ste­hen. Aber er muss­te es wie­der­ho­len. »Was für ein ko­mi­sches Zie­hen in sei­nem Ak­zent!« flüs­ter­te der Rot­haa­ri­ge. »Ge­drah­tet, Herr?« frag­te der jun­ge Mann mit dem Flachs­bart in of­fen­ba­rer Ver­le­gen­heit.

»Er meint, ein elek­tri­sches Te­le­gramm ge­schickt«, er­klär­te der drit­te, ein an­ge­neh­mer Jüng­ling von neun­zehn oder zwan­zig. Der Flachs­bär­ti­ge stieß einen Ruf des Ver­ste­hens aus. »Wie stu­pid von mir! Sie kön­nen si­cher sein, dass al­les ge­sche­hen soll, Sir«, sag­te er zu Gra­ham. »Ich fürch­te, es wäre schwie­rig, Ihrem Vet­ter zu – drah­ten. Er ist nicht mehr in Lon­don. Aber ma­chen Sie sich noch kei­ner­lei Sor­ge um ir­gend­wel­che Ar­ran­ge­ments; Sie ha­ben sehr lan­ge ge­schla­fen, und die Haupt­sa­che ist, dar­über fort­zu­kom­men, Sir.« (Gra­ham sag­te sich, er müs­se »Sir« ge­sagt ha­ben, aber die­ser Mann sprach das Wort wie »Sire« aus.)

»O!« sag­te Gra­ham und ver­stumm­te.

Es war al­les sehr rät­sel­haft, aber of­fen­bar wuss­ten die­se Leu­te in der un­ge­wohn­ten Klei­dung, wor­an sie wa­ren. Aber sehr son­der­bar wa­ren sie, und auch der Raum war son­der­bar. Es schi­en, er war in ei­nem neu er­rich­te­ten Ge­bäu­de. Ihm blitz­te ein plötz­li­cher Arg­wohn auf. Dies war doch nicht etwa eine öf­fent­li­che Aus­s­tel­lungs­hal­le? Wenn ja, woll­te er War­ming ein­mal sei­ne Mei­nung sa­gen. Aber da­nach sah sie kaum aus. Und an ei­nem öf­fent­li­chen Aus­s­tel­lungs­ort hät­te er nicht nackt ge­le­gen.

Dann plötz­lich, ganz un­ver­mit­telt, wur­de ihm klar, was ge­sche­hen war. Er mach­te kei­nen merk­li­chen Über­gang des Arg­wohns durch, kei­ne Däm­me­rung bis zu die­sem Wis­sen. Plötz­lich wuss­te er, dass die­ser Starr­krampf eine un­ge­heu­re Zeit ge­dau­ert hat­te; als hät­te er durch ge­hei­me Pro­zes­se des Ge­dan­ken­le­sens die Ehr­furcht in den Ge­sich­tern ge­deu­tet, die ihm in sei­nes blick­ten. Er blick­te sie selt­sam, voll in­ten­si­ver Er­re­gung an. Es schi­en, sie la­sen in sei­nen Au­gen. Er be­weg­te die Lip­pen zum Spre­chen und konn­te nicht. Ein wun­der­li­cher Im­puls, sein Wis­sen zu ver­ber­gen, trat fast im Mo­ment sei­ner Ent­de­ckung in sei­nen Geist. Er blick­te auf sei­ne nack­ten Füße und sah sie schwei­gend an. Sein Ver­lan­gen zu re­den ging vor­über. Er zit­ter­te stark.

Sie ga­ben ihm eine ro­si­ge Flüs­sig­keit mit grün­li­cher Fluo­res­zenz und von Fleisch­ge­schmack, und die Ge­wiss­heit zu­rück­keh­ren­der Kraft wuchs.

»Das – das macht mir bes­ser«, sag­te er hei­ser, und er hör­te Ge­mur­mel re­spekt­vol­len Bei­falls. Jetzt wuss­te er es ganz klar. Er müh­te sich noch ein­mal, zu spre­chen, und wie­der konn­te er nicht.

Er drück­te sich die Keh­le und ver­such­te ein drit­tes Mal. »Wie lan­ge?« frag­te er mit ru­hi­ger Stim­me. »Wie lan­ge habe ich ge­schla­fen?«

»Eine be­trächt­li­che Zeit«, sag­te der Flachs­bär­ti­ge und warf einen ra­schen Blick auf die an­de­ren.

»Wie lan­ge?«

»Eine sehr lan­ge Zeit.«

»Ja – ja«, sag­te Gra­ham plötz­lich ei­gen­sin­nig. »Aber ich will – sind es – sind es – ein paar Jah­re? Vie­le Jah­re? Da war et­was – ich weiß nicht mehr. Ich füh­le mich – wirr. Aber Sie –« Er schluchz­te. »Sie brau­chen nicht mit mir fech­ten. Wie lan­ge –?«

Er hielt un­re­gel­mä­ßig at­mend inne. Er press­te die Au­gen mit den Fin­gern und saß und war­te­te auf eine Ant­wort.

Sie spra­chen im Flüs­ter­ton.

»Fünf oder sechs?« frag­te er schwach. »Mehr?«

»Sehr viel mehr als das.«

»Mehr?«

»Mehr.«

Er sah sie an, und es war, als zuck­ten Fä­den in sei­nen Ge­sichts­mus­keln. Er blick­te sei­ne Fra­ge.

»Vie­le Jah­re«, sag­te der Mann mit dem ro­ten Bart.

Gra­ham ar­bei­te­te sich in sit­zen­de Stel­lung em­por. Er wisch­te sich mit ei­ner ha­ge­ren Hand eine nas­se Trä­ne aus dem Ge­sicht. »Vie­le Jah­re!« wie­der­hol­te er. Er schloss die Au­gen fest, öff­ne­te sie wie­der und saß da und blick­te von ei­nem un­ge­wohn­ten Ding aufs an­de­re.

»Wie vie­le Jah­re?«

»Sie müs­sen auf eine Über­ra­schung ge­fasst sein.«

»Ja?«

»Mehr als ein Gros Jah­re.«

Ihn reiz­te das frem­de Wort. »Mehr als ein was

Zwei von ih­nen spra­chen mit­ein­an­der. Ei­ni­ge schnel­le Be­mer­kun­gen, die über das »De­zi­mal­sys­tem« ge­macht wur­den, ver­stand er nicht.

»Wie lan­ge, sag­ten Sie?« frag­te Gra­ham. »Wie lan­ge? Bli­cken Sie nicht so. Sa­gen Sie es mir!«

Un­ter den Be­mer­kun­gen im Flüs­ter­ton fing sein Ohr fünf Wor­te auf: »Mehr als ein Paar Jahr­hun­der­te.«

»Was?« rief er und wand­te sich dem Jüng­ling zu, der, wie er mein­te, ge­spro­chen hat­te. »Wer sagt –? Was war das? Ein Paar Jahr­hun­der­te?«

»Ja«, sag­te der Rot­bär­ti­ge. »Zwei­hun­dert Jah­re.«

Gra­ham wie­der­hol­te die Wor­te. Er war dar­auf ge­fasst ge­we­sen, von ei­ner sehr lan­gen Ruhe zu hö­ren, und doch ent­nerv­ten ihn die­se kon­kre­ten Jahr­hun­der­te.

»Zwei­hun­dert Jah­re«, sag­te er noch ein­mal, und in sei­nem Geist öff­ne­te sich sehr lang­sam das Bild ei­nes großen Ab­grunds; und dann: »O, aber –!«

Sie sag­ten nichts.

»Sie – sag­ten Sie –?«

»Zwei­hun­dert Jah­re. Zwei Jahr­hun­der­te«, sag­te der Mann mit dem ro­ten Bart.

Es folg­te eine Pau­se. Gra­ham blick­te auf ihre Ge­sich­ter und sah, dass das, was er ge­hört hat­te, wirk­lich wahr sei.

»Aber es ist un­mög­lich«, sag­te er kla­gend. »Ich träu­me. Starr­krämp­fe. Starr­­­­­­­­­­