Cover

Das Buch

Die schönsten Wochen des Jahres verbringt das deutsche Ehepaar Werner und Vivian Faenzi stets auf seiner Yacht im Mittelmeer. Nur diesen Sommer muss Vivian die Reise in Nizza aus beruflichen Gründen für zwei Wochen unterbrechen. Werner möchte nach Korsika, aber ihm graut ein wenig vor der langen nächtlichen Überfahrt allein auf See. Durch Zufall trifft er den sympathischen deutschen Seemann Malte, der auch nach Korsika will. Gemeinsam fahren sie los. Was Werner nicht weiß: Vor Kurzem hat Malte einen Menschen umgebracht und ist auf der Flucht. Nun wittert er die große Chance einer ganz neuen Existenz auf diesem prachtvollen Schiff. Dabei stört eigentlich nur Werner. Und Vivian. Und jeder, der ihm sonst in die Quere kommt. Darunter auch die Marescialla Manuela Sentini und der Carabiniere Donato Neri, der den Sommer über auf der Insel Elba stationiert ist.

Die Autorin

Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u. a. Das Haus am Watt, Der Mörder und sein Kind, Stich ins Herz und mehrere Folgen für die Reihen Tatort und Polizeiruf 110). Ihr Debütroman Der Kindersammler war ein sensationeller Erfolg, und auch all ihre weiteren Thriller standen monatelang auf der Bestsellerliste. Zuletzt bei Heyne erschienen: Bewusstlos.

www.sabinethiesler.de

SABINE THIESLER

Versunken

THRILLER

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Zitat aus: »Was wird morgen sein« (Dietrich Kessler / Jan Witte).
Berlin: VEB Lied der Zeit Musikverlag, 1980.
Copyright © 2014 by Sabine Thiesler
und Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,
unter Verwendung eines Bildes von © o-che/Vetta/GettyImages
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-12602-5
V005
www.heyne-verlag.de
www.sabinethiesler.de

Für Klaus,

mit dem ich jeden Kurs halten,

jede Klippe umschiffen

und jeden Sturm des Lebens durchstehen kann.

In Liebe.

Seemannsbraut ist die See,

und nur ihr kann er treu sein.

Wenn der Sturmwind sein Lied singt,

dann winkt mir

der großen Freiheit Glück.

»La Paloma«

ERSTES BUCH

DIE INSEL

1

Westliches Mittelmeer

Malte lag in seiner Koje und starrte an die Holzdecke direkt über seinem Kopf. Er kannte jede Maserung und jedes Loch im wurmstichigen Holz, den Verlauf der Risse konnte er bei geschlossenen Augen nachzeichnen, und das Wort »Fuck«, das irgendjemand schon vor Jahren ungelenk und kraklig in die spröden Bretter gekratzt hatte, war das Letzte, was er jeden Tag vor dem Einschlafen mit in seine Träume nahm.

Er hatte Seeleute erlebt, die drei Monate auf dem Kahn arbeiteten und sich allein mit diesem Fluch durchschlugen. Sie brüllten ihn, wenn das Essen verdorben und die Suppe sauer war, aber auch, wenn es ausnahmsweise einen Viertelliter Whisky gab. Sie brummten ihn, wenn sie die Wache verließen oder sich, noch völlig verschlafen, zur Stelle meldeten. Und wenn sie das Deck schrubbten und sahen, dass ein Schiff auf Kollisionskurs war, oder wenn der Sturm ihnen um die Ohren fegte, schrien sie dasselbe Wort. Mehr brauchte man offensichtlich nicht auf der Blue Bird, diesem miesen Seelenverkäufer, der Eisenschrott geladen hatte, auf dem Weg von Brisbane nach Bremerhaven war und unter philippinischer Flagge fuhr, um Steuern und Versicherungen zu sparen. Das Schiff war verrostet, reparaturbedürftig und völlig am Ende. Malte wunderte sich jeden Tag, dass es überhaupt noch schwamm.

Seine Augen flackerten. Er hatte jetzt achtundzwanzig Stunden nicht geschlafen, eine Doppelschicht geschoben, bei der Arbeit unentwegt Kaffee getrunken und dazu nur ein paar staubige Kekse gegessen, die nach Mottenpulver schmeckten. Er war hundemüde und sehnte sich danach, einfach abzutauchen und nach einigen Stunden ausgeruht zu erwachen, aber es gelang ihm nicht.

Vor zehn Jahren hatte er seinen alten Job als Binnenschiffer sausen lassen und als einfacher Seemann angeheuert, weil er die Flussfahrerei satthatte und nur noch hinaus aufs Meer wollte.

In kürzester Zeit hatte er sich auf der Blue Bird hochgearbeitet und immer mehr Verantwortung übernommen. Und schließlich übte er den einigermaßen gut bezahlten, aber auch verhasstesten Job aus, den ein Frachter überhaupt zu vergeben hatte: Malte hatte als Bootsmann die Aufgabe, die Befehle des Kapitäns an die Mannschaft weiterzuleiten und alle anfallenden Arbeiten zu koordinieren.

Alle Nationalitäten dieser Welt waren normalerweise in so einer Mannschaft zusammengewürfelt, von denen kaum einer einen Brocken Englisch verstand. Eine fast unlösbare Aufgabe. Malte hatte zwischen Malaien, Kroaten, Bulgaren und Rumänen vermittelt und sein Bestes versucht, sich aber nur Feinde geschaffen.

Denn da war Chiang Lu.

Chiang Lu war ein kleiner, dicker Chinese mit einem runden, fleischigen Gesicht, in dem es keine Augen zu geben schien. Auf den ersten Eindruck wirkte er plump, aber er hatte ungeheure Kraft, die man bei einer so fetten und behäbig scheinenden Person gar nicht vermutete. Außerdem konnte er sich blitzschnell bewegen, die Beine gegen die Deckenlampe oder gegen Köpfe schnellen lassen und aus der Hocke einen Meter hoch springen.

Chiang Lu war der Chef über eine Gang von sieben Chinesen und einem Ukrainer. Die Jungs schienen ihm hörig und taten alles, was er wollte.

Aber vor allem hatte Chiang Lu seinen Schatten Yao Yan.

Yao Yan war mager und relativ schwachsinnig. Er verstand nie, worum es ging, aber er tat alles, was Chiang Lu ihm befahl. Bedingungslos. Er hätte sich selbst die Hand abgehackt, wenn Chiang Lu es verlangt hätte. Yao Yan war eine zähe, blöde Kampfmaschine, die keinen Schmerz und keine Empathie kannte – nur die Befehle von Chiang Lu.

Malte hatte mehrere Male mit dem Kapitän gesprochen und ihn gebeten, Yao Yan sobald wie möglich abzuheuern, aber der Kapitän hatte jedes Mal abgewinkt. »Er arrrbeitet gutt«, hatte er geknurrt, »wass willst du noch? Mit wem er befreundet ist, interrresssierrt mich nicht.«

Kapitän Jósef Adamczyk kam aus Danzig, hatte schon als Kind immer am Hafen herumgelungert, sich durchgebissen, aus den allerärmsten Verhältnissen hochgearbeitet und es bis zum Kapitän geschafft. Er ertrank zwar regelmäßig im Wodka, war aber immer bereit, einem armen Hund wie Yao Yan eine Chance und einen Job zu geben. Es musste schon viel passieren, bis Adamczyk einen rausschmiss.

Denn Yao Yan arbeitete wirklich wie in Pferd. Er schien nie zu schlafen, nie zu essen, er war immer auf dem Sprung. Wenn er versuchte, etwas zu sagen, schlug sich Chiang Lu einmal kurz aufs Knie, und Yao Yan hielt die Klappe. Yao Yan funktionierte wie ein Motor, den man programmieren und an- und abschalten konnte.

Und den Schalter hatte Chiang Lu in der Hand.

Vor knapp zwei Monaten waren sie in Brisbane in See gestochen, und ihre Route führte sie über Sydney, Melbourne, Adelaide, Marseille, Antwerpen, Rotterdam bis nach Bremerhaven. Eine gewaltige Tour. Unzählige lange Tage auf See, in denen er Chiang Lu, seiner Gang und all den anderen Idioten nicht aus dem Weg gehen konnte. Eine Tortur, denn je länger nichts als Wasser um die Mannschaft herum war, desto aufsässiger wurde sie. Es gab nur fünfzehn Besatzungsmitglieder an Bord, die rund um die Uhr im Schichtdienst arbeiteten, chronisch übermüdet waren und jede Minute Schlaf brauchten.

Sie hatten die entsetzlich lange Fahrt über den Indischen Ozean, durch das Rote Meer und den Suezkanal nach vierzig Tagen hinter sich gebracht, das Mittelmeer erreicht, waren jetzt östlich von Korsika und nahmen Kurs auf Marseille.

Malte konnte Chiang Lus selbstgefälliges Grinsen, das er ständig an den Tag legte, nicht mehr ertragen. Denn er tat grundsätzlich nie das, was man von ihm verlangte, sondern nur das, was er selbst wollte. Wenn Malte Chiang Lus fleischiges, dickes, rosafarbenes Gesicht sah, hatte er Lust, es platt zu klopfen wie ein Filetsteak.

Malte lag in Jeans und T-Shirt auf dem Bett. Seine Kabine war so eng, dass er nur aus der Koje aufstehen konnte, wenn er den Tisch einklappte. Aber es war ihm egal. Hauptsache, allein. Das war schon ein großes Privileg, die Matrosen teilten sich zu viert eine Kabine, dort war weniger Platz als in einer Legebatterie. Und es stank wie im Pumakäfig.

Hier in seiner eigenen Enge konnte Malte wenigstens atmen.

Er zählte die Wurmlöcher an der Decke, versuchte einzuschlafen, aber fand keine Ruhe. Seine Gedanken rasten. Nach einer Weile wurde ihm klar, dass er nicht einschlafen konnte, weil er die Schritte von Chiang Lu und den anderen nicht hörte. Das Deck, auf dem sie Wache schieben sollten, war genau über seiner Kabine, und Chiang Lu war als Rudergänger eingeteilt. Normalerweise hörte er jeden Schritt, nur heute herrschte Totenstille.

Er horchte, konzentrierte sich – und wurde immer wacher.

Diese verfluchte Bande. Wahrscheinlich saßen sie im Aufenthaltsraum oder sonst irgendwo und spielten Karten. Nie würde er auf diesem Dampfer Ruhe finden und auch nur für fünf Minuten die Verantwortung ablegen können. Nie.

Und wer – zum Teufel – fuhr das Schiff? Denn dass der Alte, der Erste Offizier oder der Steuermann auf der Brücke waren, glaubte er nicht.

»Hau dich hin«, hatte der Kapitän vor einer Stunde gesagt, »du kannst ja kaum noch aus den Augen gucken. Chiang Lu übernimmt das Rrrruder, und die zwei anderrrn Chinesen schieben Wache. Penn dich aus.«

Er horchte weitere zehn Minuten, dann zog er seine Bootsschuhe an und ging auf die Brücke.

Dort war weit und breit niemand zu sehen. Kein Chinese, kein Steuermann und kein Kapitän. Der Einzige, der auf diesem Schiff anscheinend noch arbeitete, war der Autopilot.

Malte fluchte, trat gegen den Kartenschrank, dass die Tür bedenklich krachte, und zog los, um die faule Bande zu suchen.

Auf dem oberen Vorderdeck saßen sie in trauter Eintracht, rauchten Opium in der Wasserpfeife, waren total bekifft und interessierten sich einen Dreck für den Kurs des Schiffes.

»Was soll das, ihr Idioten?«, schrie Malte. »Seid ihr bescheuert? Ihr sollt aufpassen, verdammte Scheiße! Ihr habt Wache! Chiang Lu, du sollst am Ruder stehen, du fauler Hund! Oh, Shit! Kapiert ihr das nicht, ihr Schwachköpfe?«

Chiang Lu schwieg und grinste wie immer.

Das brachte Malte vollkommen aus der Fassung. Er ging zwei Schritte auf Chiang Lu zu, entriss ihm die Wasserpfeife und warf sie über Bord.

Chiang Lu sprang auf und schrie: »Yao Yan!«

Sein Schatten war in Bruchteilen von Sekunden zur Stelle, und Malte sah aus dem Augenwinkel im Licht der Decksbeleuchtung etwas aufblitzen. Es war eine Warnung, nur eine Hundertstelsekunde lang, aber es genügte, denn Malte war immer auf der Hut.

Als der Chinese auf ihn zusprang, war Malte schneller, riss sein Messer aus dem Gürtel und rammte es Yao Yan bereits im Sprung in die Kehle.

Yao Yan fiel wie ein Stein, und das Blut sprudelte wie eine Fontäne aus seinem Hals.

Chiang Lu stieß einen Schrei aus, der die Chinesen alarmierte, und Malte sah, dass jetzt alle auf ihn zustürzten.

Im letzten Moment schoss er davon, rannte übers Deck, verschwand im Niedergang, sprang, immer drei Stufen auf einmal nehmend, noch zwei Treppen tiefer, dann flüchtete er vorwärts bis unter die Back, in die fensterlose, dunkle Werkstatt, in die niemals Tageslicht oder frische Luft drang. Dort wusste er von einem Spind, verborgen hinter Kabeln und Gerümpel.

Er hörte die Chinesen laut schreiend durchs Schiff laufen. Sie suchten ihn.

Rasend vor Angst, wühlte er sich durch Stühle, Styroporplatten, Holzreste und Werkzeug, stemmte die Tür zum Spind auf, drückte sich zwischen Feuerlöscher und Wasserschlauch, zog die Tür so weit zu, dass nur noch ein winziger, kaum sichtbarer Schlitz zum Atmen blieb, den er erst ein bisschen vergrößern konnte, wenn er sicher war, dass sich kein Chinese in der Nähe befand.

Hier war er relativ sicher, denn er hatte noch nie erlebt, dass mal jemand in diesen Spind geschaut hätte. Nur wenn es brannte, würde man sich eventuell an ihn erinnern und ihn öffnen. Und dann war sowieso alles egal. Ob ihn die Chinesen oder das Feuer umbrachten, machte keinen Unterschied.

Malte horchte und wagte kaum zu atmen.

Ständig hörte er Stimmen, Schritte, Poltern, Rufe – es wollte einfach nicht aufhören. Und nie konnte er mit Gewissheit sagen, ob sie näher kamen oder endlich aufgaben.

Nach einer halben Stunde keuchte er bereits. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht und den Rücken hinab, und er konnte kaum noch stehen.

Aber mit großer Wahrscheinlichkeit verging ihnen bald die Lust, auf dem zweihundert Meter langen Schiff nach ihm zu suchen. Auf so einem Seelenverkäufer war es keine große Sache, wenn einer über Bord ging. Im nächsten Hafen gab es neues, vielleicht noch billigeres Menschenmaterial.

Noch vierzehn Stunden bis Marseille.

Wenn er dann noch leben sollte, hatte er dort vielleicht die Chance, sich unbemerkt von Bord zu schleichen.

Die Blue Bird passierte Elba, aber das interessierte die Chinesen wenig.

Chiang Lu zog Yao Yans Lider hoch. »Er ist so tot wie eine Ratte«, sagte er. »Kommt, wir werfen ihn ins Meer.«

»Wollen wir nicht dem Alten Bescheid sagen?«, fragte Sang, der bei allem immer mehr Angst als Vaterlandsliebe hatte und auf einem Schiff wie der Blue Bird eigentlich nichts verloren hatte.

»Bist du verrückt? Kein Wort. Yao Yan ist weg, und Malte ist weg. Wenn der Alte den Blutfleck sehen sollte oder wenn er sich wundert, warum die beiden nicht zum Dienst erscheinen, werden wir die Achseln zucken. Von uns hat niemand was gehört oder gesehen. Klar?«

»Alles klar.«

»Wir werden natürlich vermuten, dass sich Yao Yan und Malte gestritten haben, der Alte weiß ja auch, dass die beiden sich nicht ausstehen konnten … Und vielleicht haben sie sich gegenseitig abgestochen und sind beide im Kampf über Bord gegangen. Aber wir wissen es nicht. Wir wissen gar nichts. Sonst hätten wir ja auch den Mann-über-Bord-Alarm ausgelöst.«

»Sicher.«

»Wer eine andere Version erzählt, wandert genauso über Bord wie Yao Yan. Habt ihr mich verstanden?«

»Na klar. Und du meinst, Malte ist noch an Bord?«

Chiang Lus Schweinsäuglein wurden noch kleiner. »Natürlich! Wo soll er denn sonst sein? Glaubst du, er ist über die Reling gesprungen? Zig Seemeilen von der Küste entfernt, um sich von den Fischen fressen zu lassen oder jämmerlich zu ersaufen? Nein, mein Lieber, bevor wir Marseille erreichen, haben wir ihn gefunden, das schwöre ich dir.«

»Und dann?« Sang hatte große, angstgeweitete Augen.

»Dann stechen wir ihn ab und werfen ihn Yao Yan hinterher«, sagte Chiang Lu. »Noch Fragen?«

»Nein.«

»Also dann: Sang, nimm die Füße.«

Chiang Lu hob das Leichtgewicht Yao Yan unter den Achseln, Sang packte die Fesseln, sie nahmen Schwung und warfen ihn ins Meer.

Es tat Chiang Lu in der Seele weh. So einen Getreuen wie Yao Yan würde er nie wieder finden. Und er schwor diesem Dreckschwein, diesem Mörder Malte, ewige Rache.

Das Schiff fuhr schnell, und Chiang Lu hatte bereits nach wenigen Sekunden seinen Freund Yao Yan aus den Augen verloren.

Er verdrückte keine Träne, aber er wandte sich ab und gab Sang ein Zeichen, dass er anfangen konnte, das Deck zu schrubben.

2

Er hätte nie gedacht, dass man sich an Angst sogar gewöhnen konnte.

Vollkommen in sich zusammengesunken, hing er zwischen Feuerlöscher und Wasserschlauch und war davon überzeugt, sich nie wieder bewegen zu können, falls er hier jemals rauskommen sollte. Jeder einzelne Knochen tat ihm weh, seine Muskeln krampften, wurden taub, kribbelten, piekten und juckten – und dennoch dämmerte er immer mal ein paar Minuten ein.

Jedes Mal, wenn er wieder wach wurde, wunderte er sich, dass sie ihn noch nicht gefunden und ihm die Kehle durchgeschnitten hatten.

Warum hatte er auch bloß diese dämliche Opiumpfeife ins Wasser geschmissen? Warum diese Provokation? Hätte er Meldung beim Alten gemacht, hätte er jetzt sicher nicht diese Probleme.

Er drückte die Tür einen Spalt auf. Aber draußen in der Werkstatt war die Luft genauso stickig wie in dem Schrank, und er spürte kaum eine Erleichterung.

Seine Uhr konnte er in der Dunkelheit des Spinds nicht lesen, und er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange war es noch bis Marseille? Zehn Stunden? Fünf Stunden oder nur noch eine?

Ob es ihm gelingen würde, von Bord zu kommen, war mehr als fraglich. Sein Überleben stand in den Sternen. Er wusste im Moment nur, dass er sein Versteck offensichtlich verdammt gut gewählt hatte.

Dieser dämliche Chiang Lu, der nichts weiter im Kopf hatte, als seine Leute zu scheuchen, kam nicht auf die Idee, hier nach ihm zu suchen.

Plötzlich hörte er Schritte. Schwere, lange Schritte. Das musste Larssen sein, der schwedische Maschinist. Mit ihm hatte er sich gut verstanden, Larssen hatte auch immer sofort begriffen, was Malte ihm mitzuteilen hatte.

Freundschaft gab es an Bord nicht, doch Larssen würde ihn niemals in die Pfanne hauen.

Aber konnte er es wagen, ihn um Hilfe zu rufen?

Nein. Lieber nicht. Niemals. Denn vielleicht war es auch der schwerfällige rumänische Tellerwäscher Citicc, der die Treppe herunterpolterte und den er einmal verprügelt hatte, weil Citicc ihn beim Pokern betrogen hatte. Er würde ihn sofort bei den Chinesen verpfeifen. Citicc war nichts weiter als eine feige Sau.

Im Grunde konnte er auf niemanden zählen.

Außer den Chinesen waren da noch der Erste Offizier, auch ein Pole und Befehlsempfänger des Kapitäns, der lettische Zweite Offizier, der sich für was Besseres hielt und dem sofort die Augen zufielen, wenn er eine halbe Minute auf einer Stelle stand. Der ägyptische Bordelektriker, mit dem er sich noch nie vernünftig unterhalten hatte, grinste unentwegt dümmlich vor sich hin, der Koch und sein Gehilfe waren rund um die Uhr betrunken und lebten in ihrer eigenen Welt. Was sonst noch auf dem Schiff geschah, interessierte sie überhaupt nicht.

Ohne Larssen hatte er keine Chance. Er war vollkommen auf sich allein gestellt.

Malte schreckte auf, denn er spürte, dass die Maschinen gedrosselt wurden. Das Dröhnen nahm ab. Im Bootsrumpf wurde es leiser.

Da sich das Schiff so gut wie gar nicht bewegte und auch nicht rollte, konnte es nur eins bedeuten: Sie waren dabei, in den Hafen von Marseille einzufahren.

Minuten später hörte er das laute Rasseln der Maschinen, die gerade aufgestoppt wurden. Bug- und Heckschraube arbeiteten, dann ein Ruck.

Malte sah im Geiste vor sich, wie die kleinen, flinken Chinesen Taue zum Kai warfen, die von Hafenarbeitern über die Poller gelegt wurden, er sah die Gangway ausfahren und fragte sich, ob sie Yao Yan ins Meer geworfen oder dem Alten Meldung gemacht hatten.

Sicher nicht, daher vermisste ihn auch niemand, denn der Kapitän hatte ihm freigegeben und ging davon aus, dass er sich einmal richtig ausschlief.

Er überlegte. Nachts um zwei hatte er Yao Yan erstochen. Wenn sie wirklich in Marseille angelegt hatten, war es jetzt sechzehn Uhr. Noch konnte er sich nicht aus seinem Versteck wagen, denn an Bord waren Hauen und Stechen an der Tagesordnung. Sicher wäre er nur, wenn er direkt neben dem Kapitän stehen würde, aber bis auf die Brücke schaffte er es auf gar keinen Fall.

Also musste er noch fünf oder sechs Stunden warten, bis er versuchen konnte, sich in der Dunkelheit ungesehen von Bord zu schleichen. Dann waren bis auf die Wachen alle von Bord, um ins Bordell zu gehen und sich im Hafen volllaufen zu lassen, bevor morgen ein Teil des Schrotts abgeladen war und Marmor und Granit aufgeladen wurden.

Er hielt es kaum noch aus.

Das Problem war, dass er nicht einfach von Bord rennen konnte. Er brauchte seine Papiere, sein Geld, sein Handy und seine Klamotten. Er musste es irgendwie in seine Kabine schaffen, um den Kram zu holen.

Als er das Gefühl hatte, dass genug Zeit vergangen war, stemmte er die Tür auf und zwängte sich aus dem Spind.

Er schlich aus der Werkstatt durch den Lampenraum, vorbei an Laderaum eins und zwei und hoch zu Deck drei.

Vorsichtig sah er sich um. Weit und breit niemand.

Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber es war stockdunkel. Also schlich er weiter, drückte sich an der Wand entlang, von Nische zu Nische, wo er sich eventuell notdürftig verstecken konnte. Zwei Decks höher musste er noch, um seine Kabine zu erreichen, und dann wieder nach unten auf Wasserhöhe zur Gangway.

Er hatte verdammtes Glück. Das Schiff schien wie ausgestorben.

Und was war, wenn sie in seiner Kabine saßen und auf ihn warteten? Weil sie wussten, dass er ohne Papiere aufgeschmissen war? Dann säße er in der Falle. Chiang Lu würde nicht lange fackeln und ihm mit der Machete den Schädel spalten.

Die Chance, lebendig davonzukommen, stand höchstens zwanzig zu achtzig.

Während er noch überlegte, ob es nicht besser sei umzukehren, öffnete er die schwere Eisentür zu Deck vier und wagte sich hinaus.

Es war wie ein Albtraum. Links von ihm, nur wenige Meter entfernt, standen Chiang Lu, Sang und Wong, rechts Tsui, Cheng, Ying und der Ukrainer Andriy.

Jeder von ihnen hatte ein Messer, eine Machete oder einen Krummsäbel in der Hand. Niemand sagte ein Wort.

Sie warteten stumm darauf, ihn abzuschlachten.

Malte überlegte und zögerte nicht, er reagierte instinktiv wie ein Tier, das in der Falle sitzt, nahm Anlauf, hechtete über die Reling und sprang.

In das schwarze, stinkende Wasser des Industriehafens von Marseille.

Er trudelte durch das Wasser, um ihn herum nur undurchdringliches Schwarz. Die Sinne schwanden ihm, er verlor augenblicklich die Orientierung, wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war, und glaubte in der Hölle zu treiben.

Bis er irgendwann irgendwo auftauchte und sich wunderte, dass er noch lebte. Der Sprung vom Deck war bestimmt zehn Meter in die Tiefe gegangen.

Er schnappte nach Luft. Der riesige Schiffsrumpf der Blue Bird machte ihm Angst. Er musste sehen, dass er wegkam, ohne dass ihn die Chinesen entdeckten.

Scheinwerfer blendeten auf. Sie suchten das Wasser nach ihm ab.

Er tauchte so oft und so lange wie möglich und hielt sich dicht am Kiel des Schiffes auf. Dort konnten sie ihn nicht sehen. Die Schwierigkeit war, danach irgendwo unbemerkt an Land zu kommen. Vielleicht musste er noch an weiteren Schiffen genauso eng vorbeischwimmen.

Malte spürte, wie er erst den einen, dann den anderen Bootsschuh verlor, aber er verschwendete keinen weiteren Gedanken daran.

Er schwamm und tauchte, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht geschwommen und getaucht war, und hatte gleichzeitig eine solche Angst, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nie gehabt hatte.

Ein Containerschiff fuhr vorbei. Die Bugwelle ließ ihn im Wasser tanzen und schlug ihn gegen den Kiel eines Frachters. Bei Malte brach Panik aus. Ich bin hier zwischen diesen Riesen in der Nacht, wie soll ich jemals eine Leiter an Land finden?, dachte er verzweifelt. Ich kann sie ja noch nicht einmal sehen!

Als er am nächsten Frachter unbemerkt vorbeigeschwommen war und bestimmt bereits über einen halben Kilometer zurückgelegt hatte, verließen ihn die Kräfte.

Ich kann nicht mehr, dachte er, Himmel, ich kann nicht mehr.

Aber er biss die Zähne zusammen, schwamm weiter und wagte es, hinter einer riesigen Schiffsschraube zum Kai zu schwimmen, um eine Treppe zu suchen.

Die Chinesen werden schon auf mich warten und mir ihre Krummschwerter durchs Gesicht ziehen, dachte er, aber vielleicht ist das besser, als in dieser schwarzen, nach Öl und Diesel stinkenden Brühe, zwischen Essensresten und Fäkalien, abzusaufen.

Die Kaimauer war glitschig und veralgt. Er konnte kaum einen Meter weit sehen und tastete sie Zentimeter für Zentimeter ab. Wenn er keine Leiter fand, musste er noch um einen weiteren mindestens dreihundert Meter langen Riesen herumschwimmen.

Spätestens bei Sonnenaufgang würden die meisten Schiffe starten, dann kam Bewegung in den Hafen, und er war in Lebensgefahr. Aber so lange konnte er unmöglich schwimmen, ohne sich irgendwo festzuhalten.

Malte fand keine Treppe und kämpfte sich weiter durchs Hafenbecken.

Er versuchte einfach nur zu schwimmen und an gar nichts zu denken, die stinkende schwarze Brühe um sich herum zu vergessen. Er schwamm wie eine Maschine und merkte zum ersten Mal, dass eine Lunge wehtun kann.

Zum Glück tanzten keine Scheinwerfer mehr übers Wasser, vielleicht hatten sie die Suche nach ihm aufgegeben. Sie warteten entweder an Land oder hatten an Bord Besseres zu tun. Wer interessierte sich schon für einen schwachsinnigen toten Yao Yan? Wahrscheinlich niemand. Doch wenn sie die Messerstecherei der französischen Polizei gemeldet hatten, dann würden sie ihn weitersuchen. Er hätte in Frankreich keinen Moment mehr Ruhe.

Anderthalb Stunden später zog er sich völlig erschöpft an einer eisernen, glitschigen Sprossenleiter hinauf zum Kai. Zumindest war er noch am Leben.

Das war aber auch alles.

Malte hatte keine Ahnung, wo er war, und lief einfach los. Wollte nur weg vom Industriehafen, raus aus dem Bereich der Hafenpolizei, möglichst zu irgendeiner Landstraße, wo er versuchen konnte zu trampen.

In seinen nassen Sachen zitterte er am ganzen Körper, obwohl die Nacht lau war und ein sanfter, beinah warmer Wind vom Meer her wehte.

Alles, was er je besessen hatte, war an Bord der Blue Bird geblieben. Seine Sachen, Geld, Papiere, Handy – alles. Er war ärmer als eine Kirchenmaus. Ihm wurde klar, dass er notgedrungen auch sein Fahrten-, das heißt sein Schifferdienstbuch, an Bord zurückgelassen hatte. Das bedeutete, dass er nirgends anheuern konnte. Er hatte keinen Beweis mehr, dass er ausgebildeter Binnenschiffer und Bootsmann war, und konnte sein Fahrtenbuch auch nicht als verloren melden und ein neues beantragen, denn sicher suchten sie ihn längst.

Und keine Behörde der Welt würde ihm neue Papiere ausstellen, wenn er nicht beweisen konnte, wer er war. Er besaß ja noch nicht einmal eine Geburtsurkunde. Die hatte er damals bei Greta zurückgelassen, er war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, danach zu suchen.

Er hatte kein Dach über dem Kopf und nirgendwo auf der Welt eine Adresse, zu der er zurückkehren konnte. In seinem Leben gab es keinen Freund und keine Freundin, keine Eltern und keine Verwandten. Und er hatte keine einzige Telefonnummer für den Notfall. Niemand konnte bezeugen, wer er war.

Ohne Papiere war man kein Mensch. Bei keiner Bank der Welt ließ sich ohne Ausweis ein Konto eröffnen, auch seinen Auto- und Bootsführerschein konnte er nicht neu beantragen, und sollte er jemals auf die Idee kommen, irgendwo auf der Welt eine Wohnung zu mieten, dann war selbst dies unmöglich.

Denn wer gab einem Mann einen Job, der keine Ausbildung und keine Berufserfahrung und weder Papiere noch ein Konto hatte? Niemand. Vielleicht gelang es ihm hin und wieder, als Tagelöhner zu arbeiten, wo man nach zehn Stunden einen Geldschein in die Hand gedrückt bekam und anschließend mit einem Tritt zur Tür hinausbefördert wurde.

Seine Vergangenheit war vollständig ausgelöscht.

Es gab ihn nicht mehr.

Und alles nur wegen dieses kleinen, fetten Chinesen Chiang Lu und seines Schattens Yao Yan.

Es war einfach nur zum Kotzen.

3

Marina di Grosseto

Ganz allmählich drang das entfernte Tuckern eines Bootsmotors in ihr Bewusstsein, und dann erinnerte sie sich. Ja, richtig, sie waren wieder an Bord. Endlich, nach einem endlos langen Winter.

Zufrieden drehte sie sich noch einmal auf die Seite und zog die Decke bis unters Kinn. Vom Sonnenaufgang erahnte sie durch die kleinen Bullaugen der Achterkabine nur wenig, aber das Licht reichte, um halb schlafend zu registrieren, dass Werners Betthälfte leer war.

Sie hörte seine Schritte an Deck. Vielleicht ging er so früh schon zum Duschen. Wenn in einem Hafen die sanitären Anlagen gut waren, vermieden sie es, an Bord zu duschen, um nicht andauernd die Wasserreservoirs auffüllen zu müssen, was sehr zeitaufwendig war. Aber wenn er von Bord gehen wollte, würde er gleich die Gangway ausfahren. Nein. Jetzt schob er den Tisch und die beiden Stühle übers Teak, was unter Deck so deutlich zu hören war, als würde er es direkt neben ihrem Ohr tun. Wahrscheinlich wollte er den Tisch fürs Frühstück decken.

Seit fünf Jahren fuhren sie im Sommer mit der Aurora ein paar Wochen durchs Mittelmeer, und das erste Ablegen nach der Winterpause war immer ein aufregender Moment. Selbst Werner, der jede Menge Erfahrung hatte, wurde jedes Mal wieder ein klein wenig nervös.

Sie entspannte sich und versuchte noch ein wenig zu dösen. Der leichte Morgenwind ließ die Schäkel der Segelboote leise klimpern. Für sie war das die Musik der Häfen, die sie über alles liebte. So wie das Zirpen der Grillen auf der Terrasse eines toskanischen Landhauses.

Ein Bootsmotor knatterte durch den Hafen. Mit schnellem, rhythmischem Tock-Tock. Wahrscheinlich Ugo, überlegte sie, einer der fünf Fischer, die jeden Morgen von Marina di Grosseto aus hinausfuhren und bereits vier Stunden später ihren Fang in der Pescheria, einem winzigen Laden direkt am Kai, ablieferten. Ugo war lang und dünn, für einen Italiener eigentlich ungewöhnlich groß, und trug immer eine knallorangefarbene Öljacke. Im Sommer und im Winter. Bei jeder Temperatur. Steif stand er in seinem Boot, dessen Motor schneller tuckerte als die anderen, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Steuerpinne zwischen die Schenkel geklemmt. So lenkte er das Boot einzig und allein durch die Bewegung der Hüften.

Das Tuckern wurde lauter. Ugo fuhr vorbei. Als das Motorengeräusch wieder abschwächte, spürte sie, wie das Boot in den Wellen, die Ugo verursacht hatte, sanft schaukelte, und hörte die Wellen hart gegen den Stahlrumpf klatschen.

Sie mochte das. Nirgends konnte sie so gut schlafen und nirgends fühlte sie sich so geborgen wie auf einem Schiff, das sie sanft wiegte.

Vivian schloss die Augen und genoss den Augenblick. Sie hatte Urlaub. Herrlich! Wenn auch nur zehn Tage, aber es gab nichts Schöneres und kam ihr vor wie eine Ewigkeit.

Eine Möwe schrie kurz und grell, und ihr heftiger Flügelschlag verriet, dass sie auf dem Mast landete.

Vivian schlief ein und wusste nicht, ob sie nur wenige Sekunden oder eine Viertelstunde geträumt hatte, als ein anderer Motor, der einen viel langsameren Rhythmus und einen tieferen Klang hatte, durch den Hafen knatterte. Sie musste lächeln. Ja, genau, das war Vittorio, der hinausfuhr, um seine Fangleine auszulegen. Am Nachmittag gegen siebzehn Uhr würde er sie wieder einholen und sich überraschen lassen, ob er nur einen oder dreißig Fische gefangen hatte.

Werner polterte immer noch über Deck. Jetzt hörte sie gerade, dass er die Backskisten öffnete.

Vivian versuchte, ein letztes Mal wegzudämmern, aber ziemlich schnell wurde ihr klar, dass es damit heute früh wohl nichts mehr werden würde, sie war schon viel zu wach.

Sie gähnte herzhaft, streckte sich genussvoll und gab dabei grunzende und quiekende Geräusche von sich, als sie die Treppe knarren und Werner in die Achterkabine kommen hörte. Blitzschnell schloss sie die Augen. Wenn sie sich schlafend stellte, würde er sie fünf Minuten wach kraulen.

Er setzte sich an ihr Bett und küsste sie auf die Wange. »Vivian«, flüsterte er. »Vivian, hör zu. Ich hab alles startklar gemacht und lege jetzt ab, okay? Das Wetter ist herrlich. Willst du an Deck kommen oder liegen bleiben? Du kannst aber auch weiterschlafen, wenn du willst, ich komm schon allein klar.«

Vivian schoss unter der Decke hervor und setzte sich auf. »Was denn? Du legst ab? Bist du verrückt? Wie spät ist es denn?«

»Halb sieben.«

Sie stöhnte. »Oh Mann! Warum willst du denn so früh los? Wollten wir nicht erst nach dem Frühstück fahren?«

»Wir frühstücken unterwegs. Ist doch kein Problem. Und viel schöner.«

»Aber ich wollte noch duschen gehen.«

»Schatz, bitte!« Er küsste sie aufs Haar. »In vier bis fünf Stunden sind wir in Elba. Dann haben wir noch den ganzen Tag vor uns und kommen nicht erst am frühen Nachmittag an.«

»Ach, Werner! Fängst du am ersten Tag schon mit solchem Stress an? Ich bin nicht geduscht, nicht angezogen, sehe aus wie ein Besen … Aber wir müssen ja unbedingt schon los, als wären wir auf der Flucht.«

»Vivian, bitte!«

»Ich hasse das!« Sie schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

»Ich wusste nicht, dass das so ein Problem für dich ist«, sagte Werner besänftigend.

»Ja, ja, schon gut, ich komm gleich nach oben«, brummte Vivian.

Werner strich ihr kurz übers Haar, stand auf und verließ die Achterkabine.

Vivian zog sich Leggings, T-Shirt und Pullover über und ging hinauf an Deck. Sogar jetzt im Juli war es so früh am Morgen auch im Mittelmeerraum hin und wieder noch ziemlich kühl. Allerdings blieb sie barfuß. Bootsschuhe trug sie fast nie, es sei denn, sie fuhren noch im November hinaus. Auch bei heftigem Seegang zog sie sich, wenn es möglich war, keine Schuhe an, da sie glaubte, so den sichersten Stand auf dem Teakdeck zu haben.

In ihrer weitläufigen Altbauwohnung in Berlin ging sie nie barfuß. Das Gefühl von einem Teppich unter ihren nackten Füßen konnte sie nicht ausstehen.

Werner startete die Motoren und prüfte, ob der Kontrollstrahl backbord und steuerbord direkt über der Wasserlinie spuckend austrat. Alles prima. Die beiden Motoren arbeiteten ruhig und gleichmäßig und gaben ein vertrautes, brummendes Geräusch von sich.

Vor einer Woche hatten sie Luca angerufen, und der hatte das Boot abfahrbereit gemacht. Er hatte den Möwendreck auf dem Teak entfernt, alles geschrubbt und gesäubert, die Chromteile von der Salzkruste befreit und poliert und die Filter gewechselt.

Es war alles klar und konnte losgehen.

»Lassen wir die Festmacher hier?«, fragte sie.

»Natürlich«, antwortete Werner, während er einen Blick auf Tiefenmesser, Öltemperatur und Tankanzeige warf. »Ich werde ja nicht ewig weg sein. Und die Dinger können wir in keinem anderen Hafen dieser Welt gebrauchen.«

»Mach am Bug los, ich kümmere mich ums Heck!«, rief er dann, und Vivian lief nach vorn.

Die Leinen, die an den Mooringketten unter Wasser befestigt waren und an denen der Bug des Schiffes festgemacht wurde, hatten sich über den Pollern in den Wintermonaten so zugezogen, dass es eine gewaltige Kraftanstrengung erforderte, sie zu lösen.

Vivian sah zum Steuerstand. Werner hob fragend die Hand, was so viel hieß wie: Soll ich dir helfen?, aber sie winkte ab, schob die Leinen mit aller Kraft gegen die Zugrichtung, und nur wenig später hatte sie sie gelöst.

Als sie sie zurück ins Wasser warf, beobachtete sie noch, wie sie im Hafenbecken versanken, und hielt anschließend den Daumen hoch. Werner konnte ablegen. Es bestand keine Gefahr mehr, dass sich die Leinen an den Mooringketten in den Schiffsschrauben verfingen.

Während Werner langsam aus der Parkbucht fuhr, startete sie unten im Salon wie immer ihre Hymne »Biscaya« von James Last auf dem iPod und drehte sie laut.

Lautsprecher übertrugen die Musik an Deck. Jetzt war es endlich wieder so weit: Sie fuhren hinaus.

Vivian war eine Frau Anfang vierzig mit einer ganz eigenwilligen Schönheit. Aufgrund ihrer Natürlichkeit war es ihr immer gelungen, Sportlichkeit und Eleganz miteinander zu verbinden. Sie war schlank, hatte einen hellen Teint und blasse Sommersprossen. Ihre gleichmäßigen Gesichtszüge waren auch ungeschminkt ungeheuer reizvoll. Aber das Auffälligste und Schönste an ihr waren ihre langen, dichten, lockigen roten Haare. Als Kind hatte sie ihre Haarfarbe verflucht, da sie ständig mit »Feuermelder« oder »rote Laterne« gehänselt worden war, und auch als junge Frau war sie damit immer unzufrieden gewesen. Erst als sie Werner kennenlernte, änderte sich das. »Ich finde deine Haare faszinierend«, hatte er mehr als einmal gesagt. »Sie sind wie ein Flammenmeer und haben sich fest in mein Gehirn eingebrannt!«

Daraufhin schloss Vivian Frieden mit ihrer widerspenstigen, lockigen und flammend roten Mähne.

Zurzeit war sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie hatte sich als Kostüm- und Bühnenbildnerin einen Namen gemacht und war an den größten Theatern und Opernhäusern international gefragt. Ihre künstlerische Heimat war jedoch in Berlin die Staatsoper Unter den Linden.

Werner war zehn Jahre älter als Vivian und hatte vor fünf Jahren nach einem knapp überstandenen Herzinfarkt sein Unternehmen in der metallverarbeitenden Industrie zu einem enorm guten Preis verkauft. Seitdem genoss er das Leben, liebte es, lange Zeiten auf dem Boot sein zu können, und unterstützte Vivian, wo er nur konnte. Im Grunde war er ein glücklicher und zufriedener Mann.

Im Sonnenlicht konnte man sehen, dass seine blonden Haare bereits von silbrigen Strähnen durchzogen waren, was aber gut zu seinem gebräunten Teint passte und seine Attraktivität noch verstärkte.

Normalerweise hatte Vivian an der Berliner Staatsoper zwei Monate Theaterferien. In dieser Zeit flogen sie und Werner von Berlin nach Pisa, gingen in Marina di Grosseto, wo sie einen festen Liegeplatz für ihr Boot hatten, an Bord und schipperten wochenlang durchs Mittelmeer. Es war die schönste Zeit des Jahres, auf die sie monatelang hinfieberten.

Aber in diesem Jahr war alles anders.

Vivian hatte Bühnenbild und Kostüme für Carmen entworfen. Es war eine gefeierte Inszenierung, und die Staatsoper hatte sie komplett an die Opéra de Nice verkauft.

Das war ein fantastisches Prestigeobjekt und wurde ausgesprochen gut bezahlt, aber es erforderte auch sehr viel mehr Arbeit, vor allem in den Ferien.

Vivian hatte den Abbau des Bühnenbildes und das Verstauen der Kostüme überwacht und dafür schon eine gute Woche ihrer Sommerferien opfern müssen. Jetzt, während des Transportes, hatte sie zehn bis vierzehn Tage Urlaub, musste dann aber in Nizza sein, um den Aufbau des Bühnenbildes und die Anprobe der Kostüme zu leiten. Das Bühnenbild musste auf die Größe des Opernhauses in Nizza umgebaut und die Kostüme den Maßen der französischen Darsteller angepasst werden. Das Ganze erforderte noch einmal ungefähr zwei Wochen.

Dann blieben Vivian und Werner vier Wochen Urlaub, während Bühnentechniker und Schneiderinnen die Umbauten und Änderungen erledigten, bevor Vivian zu den Endproben und der Premiere wieder in Nizza sein musste.

»Warum machst du so etwas?«, hatte Werner entnervt und auch verärgert gefragt, als sie den Vertrag unterschrieben hatte. »Ist dir klar, dass du unseren gemeinsamen Urlaub zerhackst und in Scheibchen schneidest? Sind dir die paar Euro Zusatzverdienst so wichtig, verdammt?«

»Es sind nicht die paar Euro, Werner, das weißt du ganz genau«, antwortete sie spitz. »Tu nicht so, als ob ich es dir noch einmal erklären muss. Ich kann mein Baby nicht in andere Hände legen, so ist das nun mal. Ich habe Monate an dem Projekt gearbeitet. Mein Herzblut und meine Kreativität stecken darin. Und da soll ich irgendeinem dahergelaufenen Hansel die Änderungen für Nizza und die Premiere überlassen? Wer weiß, was dieser Trottel alles versaut? Oder er hat das Gefühl, das Rad neu erfinden zu müssen, und ich erkenne meine Arbeit nicht wieder! Es ist vielleicht Pech, dass die Inszenierung verkauft worden ist, aber ich werde mir die Carmen nicht wegen eines Urlaubs kaputt machen lassen.«

Darauf konnte Werner nichts erwidern, aber er war dennoch frustriert und wütend und hatte das Gefühl, ein Jahr seines Lebens verloren zu haben. Seit er nicht mehr arbeitete, schienen die Jahre doppelt zu zählen und gingen gefühlsmäßig zweimal so schnell vorbei. Wenn er nicht aufs Boot konnte, geriet er in Panik.

»Gut, das verstehe ich«, sagte Werner nach einer Weile. »Aber wie stellst du dir das vor? Wir haben einmal zehn Tage und einmal vier Wochen an Bord. Da kommen wir nirgends hin. Ich wollte in diesem Jahr mit dir nach Griechenland. Aber in diesem engen Zeitrahmen kommen wir noch nicht einmal nach Capri.«

»Ich weiß. Es tut mir auch leid. Fürs Bootsfahren nur ein kleines Zeitfenster zu haben ist im Grunde Blödsinn. Aber ich kann’s nun mal nicht ändern.«

»In Zukunft könntest du wenigstens mit mir sprechen, bevor du Verträge unterschreibst.«

»Und was hätte das geändert? Glaubst du, ich hätte den Vertrag sausen lassen, nur um zwei Wochen länger mit dir durch die Gegend schippern zu können?«

»Nein, aber …«

»Na also«, schnitt sie ihm das Wort ab, stand auf und deckte den Tisch.

»Ich dachte, du liebst unsere Urlaube auf dem Boot!«

»Oh Mann, Werner, du weißt ganz genau, wie sehr ich es genieße, an Bord zu sein und einen langen Bootsurlaub zu machen. Also was soll das jetzt? Willst du Stress?«

»Nein, aber du redest so abfällig von ›durch die Gegend schippern‹.«

»Weißt du was? Du kannst mich mal. Du machst deinen Kram, und ich mache meine Arbeit. Und wenn sich das verbinden lässt, ist es gut – wenn nicht, dann nicht.« Damit ging sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

Werner saß da und schüttelte nur den Kopf.

Fünf Minuten später kam sie wieder herein, als wäre nichts gewesen.

»Ich hab mir überlegt, du könntest mich zum Beispiel von Grosseto nach Nizza bringen«, sagte sie. »In unseren ersten zehn Urlaubstagen. Das wäre doch eine schöne und sinnvolle Sache. Und die Überfahrt von Korsika nach Nizza ist nicht von Pappe, sondern ein kleines Abenteuer. Da sind wir Tag und Nacht am Stück auf See. Dann steige ich aus, und du schipperst – entschuldige bitte den Ausdruck – an der Küste entlang von Hafen zu Hafen gemütlich zurück nach Elba. Nizza, Monaco, San Remo, Savona, Genua, La Spezia, Livorno, Piombino, Elba. Mein Lieber, das ist eine schöne Tour, da hast du zwei oder drei Wochen lang genug zu tun. Aber das wäre allein zu schaffen. Und wenn ich fertig bin, fliege ich nach Elba, dort treffen wir uns und setzen unseren Urlaub fort. Ist das nicht eine wunderbare Möglichkeit?«

Werner überlegte lange. Dann sagte er: »Ja. Du hast recht. Das wäre eine Möglichkeit. Obwohl sie nicht wunderbar ist. Es ist ein Horror, ständig die Häfen allein anlaufen zu müssen. Ich kann kaum Französisch, muss aber die Hafenmeistereien anfunken, und dann weiß ich nicht, was mich dort erwartet. Sind da Ormeggiatori, die mir beim Anlegen helfen, oder nicht? Wie sieht der Hafen aus? Allein ist das alles fürchterlich. Stress ohne Ende. Außerdem macht es an Bord keinen Spaß ohne dich.«

»Überleg’s dir. War ja nur ein Vorschlag. Du kannst natürlich auch in Berlin bleiben, und wir treffen uns dann, wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin, auf dem Boot.«

Werner seufzte. »Was ich auch mache, ich muss mein Leben nach deinen Terminen ausrichten. Das nervt.«

Vivian setzte sich ihm gegenüber und sah ihn an. »Zwei Dinge, Werner: Erstens, du kannst machen, was du willst. Du kannst allein mit dem Boot durch die halbe Welt fahren, und keiner wird dich dran hindern. Nur mich kannst du nicht mit einplanen. Zweitens, du vergisst immer, dass du keinen Terminstress mehr hast, aber ich schon. Ich habe einen Job, und von meinem Geld leben wir nicht schlecht. Wenn du dich langweilst, ist das nicht mein Problem. Jedenfalls finde ich es nicht fair, wenn du mir deine persönlichen Probleme auf die Stulle schmierst.«

Vivian setzte sich auf seinen Schoß und küsste ihn, als hätte sie ihn nicht gerade eben mit verbalen Widerhaken beschossen, die im Fleisch steckten.

Das war so typisch für sie, dachte Werner: Ohne zu zögern, wischte sie seine Pläne vom Tisch, und eine halbe Stunde später präsentierte sie eine Lösung, die ihr gut in den Kram passte, hackte noch ein bisschen auf ihm herum, hatte dann aber blendende Laune und tat, als wäre nichts gewesen.

Nur wenn er diese Vivian-Lösung akzeptierte, konnte er sich entspannen, denn es gab nichts Schlimmeres, als seinen eigenen Kopf durchzusetzen und unentwegt ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.

Selbstverständlich hatte er sich dazu entschieden, Vivian mit dem Boot nach Nizza zu bringen.

Vivian hatte es auch nicht anders erwartet.

Es war ein herrlicher Tag, und die Zehn-Tages-Tour nach Nizza hatte begonnen.

Vivian legte den Arm um Werners Hüfte und stand still neben ihm. Die bauchige, kutterähnliche Stahlyacht schob sich langsam durch das Hafenbecken. Werner hob die Hand und grüßte die Angler, die seit den frühen Morgenstunden auf der steinernen Hafenbuhne saßen und ihr Glück versuchten.

Als sie die flache Hafeneinfahrt passiert hatten, kam das Schiff über größeren Tiefen in kabbeliges Wasser. Werner gab mehr Gas, das Boot rollte heftig, aber beruhigte sich schließlich wieder.

Der Hafen lag hinter ihnen, sie fuhren hinaus aufs offene Meer.

Vivian sah zurück. Die Hafengebäude, der Überwachungsturm, der so gut wie nie besetzt war, und die Häuser von Marina di Grosseto wurden kleiner, der Strand war bereits nicht mehr auszumachen und nur noch durch einen hellen schmalen Streifen zu erahnen. Sie würden in ihren Heimathafen wohl erst zurückkehren, wenn die Saison vorbei und ihr gesamter Urlaub beendet war.

Vivian ging unter Deck, holte Handys, Sonnenbrillen, Sonnenöl, zwei Flaschen Wasser und das Hand-GPS an Deck. Die genaue Position zu wissen war jetzt nicht wichtig, aber sie konnte die Geschwindigkeit sehen, mit der die Aurora unterwegs war. Die Logge, der Geschwindigkeitsmesser an Bord, funktionierte nicht, da sie sich im Winter mit Muscheln vollgesetzt hatte.

»Okay.« Werner erhöhte die Drehzahl, bis er gut sechs Komma fünf Knoten erreicht hatte. Das war eine gute Marschgeschwindigkeit, bei der man einigermaßen vorankam, aber nicht allzu viel Diesel verbrauchte.

»Ich mach uns Kaffee, und dann sag ich dir den genauen Kurs, okay?«, sagte Vivian.

Die Kaffeemaschine blubberte. Hier in der Pantry, dem tiefsten Punkt des Schiffes, hörte man die Motoren besonders laut.

Der Hafen San Rocco in Marina di Grosseto war sowieso ein ungemein windiger Ort. Während hier der Wind tobte und die Boote tanzen ließ, war es zehn Seemeilen weiter in anderen Häfen ganz ruhig.

Vivian brachte Milchkaffee, Weißbrot mit Marmelade und Pfirsiche nach oben zum Außensteuerstand, deckte den Tisch des Achterdecks und setzte ihre Sonnenbrille auf. Das Licht auf dem Meer war gleißend hell.

»192 Grad«, sagte sie knapp, setzte sich und nahm den ersten Schluck Kaffee des Tages, während Werner den Autopiloten aktivierte.

Vor fünf Jahren hatten sie dieses Boot gekauft und es Aurora genannt, weil Werner nichts so sehr liebte wie Sonnenaufgänge. Er war ein Mensch, der scheinbar ohne Schlaf auskam und am liebsten immer schon bei Tagesanbruch aufstand. Sonnenaufgänge hatte er schon hundertfach miterlebt, sie selbst noch kaum einen.

Aurora

Aber es war ein erhebendes Gefühl, mit einem Boot auf dem Meer unterwegs zu sein, auf dem man eigentlich auch wohnen und leben könnte. Alles, was der Mensch brauchte, war vorhanden. In Bug- und Heckkabine genug Platz für vier Personen, zwei Badezimmer, eine fantastisch praktikable kleine Küche und ein heller Salon mit einem zweiten Steuerstand, falls man bei Dauerregen oder Gewitter nicht von draußen steuern konnte. Und der große Freiraum an Deck hinter dem Außensteuerstand war ihre Terrasse.