Mit Konfuzius zur Weltmacht
Das chinesische Jahrhundert
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Uwe C. Beyer, Hamburg
Umschlagfotos: George Hammerstein / Corbis;
Godong / Robert Harding World Imagery / Corbis
Karte: Peter Palm, Berlin
Datenkonvertierung E-Book:
Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-1663-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
China auf dem aufsteigenden, der Westen
auf dem absteigenden Ast
Vom Scheunenaufseher zum Weltphilosophen –
die Karriere des Konfuzius
Mao – der rote Gott
Der neue Kurs der Kommunisten:
Harmonie statt Klassenkampf
Comeback des Konfuzius
Pisa-Schock und Tigermutter
Operation Gold –
wie China im Sport siegt
Im Weltall werden die Letzten die Ersten sein
Die Missionare des Konfuzius in Europa
Reich werden mit Konfuzius
Von der Werkbank der Welt zur Bank der Welt
Afghanistan – Grab zweier Supermächte,
Geburtsstätte der neuen
Afrika fest in chinesischer Hand
Die Energie des Konfuzius
Dreischluchtendamm – fünfmal stärker als Fukushima
Die größte Stadt der Erde
Chinas sexuelle Revolution
Konfuzius’ Kinder kämpfen gegen Korruption
Was der Westen von Konfuzius lernen kann
Quellen
»Ohne Konfuzius und ohne den Konfuzianismus sind die in der Weltgeschichte einmalig lange Lebensdauer und die Vitalität der chinesischen Kultur und des Reiches der Mitte schwer vorstellbar.«
Altbundeskanzler Helmut Schmidt
Für chinesische Jugendliche ist Bill Gates ein Idol wie für ihre amerikanischen Altersgenossen Britney Spears. Das Idol der amerikanischen Jugendlichen aber ist – eben Britney Spears. Diesen Vergleich bringt Thomas L. Friedman gern, Kolumnist der New York Times, dreifacher Pulitzerpreisträger und Autor des internationalen Bestsellers Die Welt ist flach. Weiter sagt er dann: »Und genau das ist unser Problem.«
Fragt man Bill Gates persönlich, so erzählt er, dass die »Qualität der Ideen« im Forschungszentrum von Microsoft in Peking am größten ist. Auf der ACM SIGGRAPH (Association for Computing Machinery’s Special Interest Group on Computer Graphics and Interactive Techniques), der globalen Konferenz für Computergrafik und interaktive Technologien, überholten die Microsoft-Entwickler aus Peking die Eliteuniversitäten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Stanford in der Zahl wissenschaftlicher Aufsätze.
Historisch gesehen ist das nichts Neues. Noch im Jahr 1820 erwirtschaftete das Reich der Mitte ein Drittel des Bruttoso-zialprodukts der Welt. 800 Jahre vor Gutenberg schon druckten die Chinesen Bücher. 1300 Jahre vor den Europäern stellten sie Stahl her. Sie erfanden das Papier, das Porzellan, das Schießpulver und den Kompass.
Aus alten Berichten geht hervor: Die Barbaren im Westen achteten nur wenig auf ihre Sauberkeit, stanken vor sich hin. Chinesen hingegen wuschen sich mit Seife und heißem Wasser. Ihre Sterblichkeitsrate lag niedriger. Über weite Strecken der Menschheitsgeschichte war China die führende Weltmacht.
Als Marco Polo im Jahr 1275 nach Peking kam, staunte er nicht nur über 100 000 Pferde, die Fürsten dem Kaiser zum Geburtstag schenkten, und über die 25 000 Huren, die außerhalb des Palasts ihre Dienste anboten. Ihn schockierte die Größe der Stadt: Zu jener Zeit lebten in Peking schon 1,2 Millionen Menschen, verglichen mit 100 000 in seiner Heimatstadt Venedig, damals der zweitgrößten Stadt Europas. Über den Kaiser von China schrieb Marco Polo: »Die Zahl seiner Untertanen, die Ausdehnung seiner Länder und die Größe seiner Einkünfte übertreffen die aller anderen Fürsten, die je gelebt haben und noch leben. Auch dient kein anderes Volk seinem Fürsten mit so unbedingtem Gehorsam.« Erstmals bekam er die damals in Europa noch wenig bekannte Steinkohle zu Gesicht: »Im ganzen Land Kataia (China) findet man einen schwarzen Stein, den man aus den Bergen holt, wo er in Adern läuft.« Er halte »das Feuer viel besser als Holz«.
Heute staunen sie wieder, die Langnasen, wie Chinesen die Weißen nennen. The Atlantic, meinungsbildende Zeitschrift in den USA seit 1857, bezeichnete im Dezember 2010 die Volksrepublik als das führende Land bei der Entwicklung von »sauberer Kohle«, also ihrer abgasarmen Nutzung: »Wer lernen will, wie die Kraftwerke der Zukunft funktionieren, muss nach Tianjin, Shanghai oder Chengdu fahren.« Doch nicht nur im Umgang mit den alten fossilen Energien ist China vorn. Umgerechnet 35 Milliarden US-Dollar investierte das Land 2009 in erneuerbare Energien, doppelt so viel wie die USA und achtmal so viel wie Deutschland.
In 24 Minuten schafft es der Expresszug vom Hongkonger Flughafen ins Zentrum der Metropole, mit kostenlosem Pendelbus-Anschluss zu allen größeren Hotels. »Es ist traurig, aber wahr«, sagt eine elegant gekleidete Passagierin mit hanseatischem Akzent zu ihrem Mann, »die Chinesen sind auf dem aufsteigenden, wir auf dem absteigenden Ast.« In Hamburg-Fuhlsbüttel müssen sich aus dem Ausland Eintreffende erst einmal europäische Münzen besorgen, da Gepäckwagen nur gegen Geld zu haben sind. In China ist dieser Service kostenfrei. Auf dem Frankfurter Flughafen benutzt man die wenigen Computer mit Internetanschluss im Stehen, wenn sie ausnahmsweise einmal funktionieren. In der Volksrepublik dagegen bietet fast jeder Provinzflughafen bequeme Internetcafés.
Bei einem Peking-Besuch, Ankunft Samstagabend, ist die Straße vor dem Hotel aufgerissen, die Gäste balancieren über Balken. Am nächsten Morgen ist von der Baustelle nichts mehr zu sehen, denn trotz Wochenende ist das Loch schon wieder geschlossen, die Straße geteert und der Teer bereits getrocknet. In Deutschland sind Straßenbaustellen scheinbar für die Ewigkeit.
Chinas Wachstum sprengt alle Vorstellungen: In nur einer Generation, seit 1980, hat sich das Bruttoinlandsprodukt verdreißigfacht. Während dieser Zeit entwickelten sich enorme Unterschiede in den Einkommen. Doch entgegen landläufigen Vorstellungen im Westen ist die Zahl der Armen nicht gestiegen, sondern zurückgegangen. 1981 lebten noch 53 Prozent der Chinesen unter dem Existenzminimum. Jetzt sind es weniger als 3 Prozent. Noch nie zuvor in der Geschichte wurden so viele Menschen in so kurzer Zeit von bitterer Armut befreit.
»China und Indien erobern ihre alten Positionen zurück«, sagt Singapurs Staatsgründer Lee Kuan Yew, der seinen Stadtstaat selbst von einem verkommenen Rattenloch zu gewaltigem Wohlstand geführt hat. »China ist das größte Comeback der Geschichte«, meint auch Jörg Wuttke, Chefrepräsentant der BASF in Peking und langjähriger Präsident der Europäischen Handelskammer dort.
Zum Lachen sind politische Witze vor allem dann, wenn das Leben sie einholt. Wie der vom sowjetischen Wahrsager, der einst die Parade zum 1. Mai auf dem Roten Platz in Moskau für den Zeitraum von zehn Jahren so voraussah: »Ich sehe Spruchbänder: Frieden, Fortschritt, Sozialismus.« 20 Jahre später: »Die Losung lautet jetzt: Mehr Frieden, mehr Fortschritt, mehr Sozialismus.« 30 Jahre später: »Ich kann es nicht lesen. Es ist alles Chinesisch.« Die Sowjetunion ging unter. Danach blieben die USA als einzige Weltmacht.
Und heute befinden auch sie sich im Siechtum. Die Amerikaner haben über ihre Verhältnisse gelebt und sich ruiniert. Auch der Euro steht für Krise. Ursprungsländer der europäischen Hochkultur wie Griechenland und Italien sind pleite oder stehen kurz davor. Gleichzeitig hat China 3200 Milliarden Dollar Devisenreserven angehäuft, so viel wie kein Land zuvor. Schon mit einem Drittel dieser Summe könnte Peking sämtliche Dax-Unternehmen aufkaufen. In wenigen Jahren wird China die USA als größte Volkswirtschaft der Erde ablösen. Der bisherige Exportweltmeister Deutschland ist bereits übertroffen.
Den unterschiedlich großen Bankguthaben entsprechen gegensätzliche Befindlichkeiten: Während Amerikaner und Deutsche pessimistisch in die Zukunft blicken, meinen 76 Prozent der Chinesen, dass sie in fünf Jahren besser leben werden. Damit sind sie das optimistischste Volk der Erde.
Der Kontrast könnte größer nicht sein. In Stuttgart protestieren »Wutbürger« gegen einen neuen Bahnhof, der seit 15 Jahren geplant ist. Monatelang dreht sich alles um den Protest der »Wutbürger« gegen das Projekt. Der Schutz des Juchtenkäfers, welcher zur Unterfamilie der Rosenkäfer gehört, wird vorgeschoben, um die Bauarbeiten zu stoppen. Polizeieinsätze mit Wasserwerfern und Knüppeleien, endlose Fernsehdebatten und am Ende ein Regierungswechsel demonstrieren die Verweigerungshaltung großer Teile der Bevölkerung.
In eineinhalb Jahrzehnten stampften die Chinesen andererseits ganze Mega-Citys aus dem Boden.
Während an Berliner Schulen der Unterricht im Chaos versinkt, erreicht Shanghai bei der Pisa-Studie Platz 1. Es folgen Hongkong, Singapur und Südkorea. Sie alle berufen sich auf einen Mann, der seit fast 2500 Jahren tot ist: Konfuzius. Er predigte Lernen und Disziplin, genau das, was heute im globalen Wettlauf zählt. Eine repräsentative Umfrage unter 1878 Studenten von 24 chinesischen Universitäten kam 2011 zu dem Ergebnis: Konfuzius gilt ihnen als erster Symbolbegriff für ihre Nation und als die wichtigste Person, die chinesische Werte nach außen vermitteln kann. Mao landet weit abgeschlagen auf Rang 30.
»Beide Hände strecken, dreimal verbeugen!«, schreit der Tempeldiener. Die junge chinesische Touristin in Qufu, dem Heimatort von Konfuzius, trägt ein orangefarbenes Sweatshirt und eine weiße Hose, umklammert einen brennenden Räucherstab, weiß nicht, wie hoch sie ihn halten und wie tief sie sich verbeugen soll. »Richtig so?«, fragt sie. Der Tempeldiener geht nicht auf sie ein, er ruft: »Erste Verbeugung für gute Studienleistungen.« – »Soll ich anfangen?« Stur fährt er mit seinem Ritual fort: »Noch einmal verbeugen. Dafür, dass alle Wünsche wahr werden.« Als sie zögert, befiehlt er: »Verbeugen Sie sich jetzt!« Dann schreit er den nächsten Wunsch in die Welt hinaus, den die Frau vor der Zeremonie angegeben hat: »Dritte Verbeugung für Frieden in der Familie.« In anderen chinesischen Tempeln bleiben solche Wünsche unausgesprochen, aber hier ist es anders. »Gehen Sie zurück, machen Sie noch drei Kotaus«, ordnet der Tempeldiener an.
Der alte Konfuzius ist den Chinesen neu. Viele der traditionellen Bräuche sind verlernt und müssen erst wieder geübt werden, denn bis vor wenigen Jahrzehnten pflegte China noch ganz andere Riten. Damals gab es nur einen Philosophen, der in roter Personalunion Kaiser und Gott war: der Kommunist Mao Zedong. Konfuzius’ Schriften ließ er verbieten und auch fast alle anderen Bücher. Dafür veröffentlichte er eines, das alle immer bei sich führten: die kleine rote Mao-Bibel. Hunderttausende Jugendliche schwenkten sie ekstatisch auf dem Platz des Himmlischen Friedens und versuchten, einen Blick des »Großen Vorsitzenden« zu erhaschen, der ihnen vom Tor des Himmlischen Friedens aus zuwinkte. Dazu erklang das Lied »Der Osten ist rot«:
»Der Osten ist rot, die Sonne geht auf,
China hat Mao Zedong hervorgebracht.
Er plant Glück für das Volk,
Hurra, er ist der große Erlöser des Volkes!
Der Vorsitzende Mao liebt das Volk.
er führt uns,
um das neue China aufzubauen,
Hurra, er führt uns nach vorn!
Die Kommunistische Partei ist wie die Sonne,
Und scheint genauso hell.
Wo es eine Kommunistische Partei gibt,
Hurra, da ist die Befreiung des Volkes!«
Alle trugen blaue und braune Arbeitskittel, weshalb damals im Westen das Bild von den »blauen Ameisen« entstand. Eine Generation später gehen Chinesinnen und Chinesen in modischen Kostümen und dunklen Anzügen ins Büro, tragen in ihrer Freizeit bunt bedruckte T-Shirts und Miniröcke – noch nie hat sich ein Land so schnell verändert. Das kann nicht ohne geistige Folgen bleiben.
Sinologe Tilman Spengler, Jahrgang 1947, beobachtet das damit verbundene Comeback des Konfuzius. Den Geburtsort des Meisters, Qufu, besuchte er schon 1987, als nur wenige Autos dorthin fuhren – und das, in dem Spengler saß, brach dann auch noch 30 Kilometer vor dem Ziel zusammen. Spenglers letzte Hoffnung blieb damals eine Fahrradrikscha. Doch deren Fahrer blickte den Deutschen lange an, spuckte auf den Boden und meinte: »Qufu ist zu weit, und Sie sind zu fett.« Nach halbstündiger Verhandlung einigten sie sich: Der Fahrer radelt die erste Hälfte der Strecke, der Sinologe die zweite. »So kamen die Bewohner des Geburtsorts von Konfuzius in den Genuss eines seltenen Spektakels«, erinnert sich Spengler. »Ein übergewichtiger Ausländer mit hochrotem Kopf radelt auf einer Rikscha deren dürren Besitzer durch die Straßen des kleinen Ortes. Der Besitzer winkt freundlich den staunenden Passanten zu.«
Deutlich weniger Lustiges ereignete sich 2011. Es war ausgerechnet eine Ausstellung über die Kunst der Aufklärung, die von deutschen Museen in Peking gestaltet und von Außenminister Guido Westerwelle eröffnet wurde. Tilman Spengler gehörte zu dessen offizieller Delegation, doch wurde ihm die Einreise verweigert, da er ein Jahr zuvor eine Laudatio auf den chinesischen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo gehalten hatte.
Spengler wohnt in Berlin, wenn er sich nicht am Starnberger See aufhält und gerade nicht nach China darf. An den Wänden hängen chinesische Tuschzeichnungen und Kalligrafien. »Die Gründe für die fast triumphale Rückkehr des Konfuzianismus liegen erst einmal darin, dass eine Kultur irgendeine Identität braucht«, meint der Sinologe. »Das ganz Merkwürdige für die chinesische Kultur ist, dass sie in den letzten 60 Jahren radikal immer wieder von anderen Seiten ausradiert worden ist. Es hat eine sozialistische Kampagne gegeben, dann hat es eine kapitalistische Kampagne gegeben und viele Bewegungen mehr. Da blieb nicht nur kein Stein, da blieb keine Seele aufeinander. Irgendetwas Ordnungsstiftendes musste her.«
Ein Samstagmorgen im Konfuzius-Tempel von Peking, 1302 erbaut. Der Meister ist in Stein gehauen, auf Tafeln stehen einige seiner wichtigsten Sätze. Eine Konfuzius-Schule eröffnet ihr neues Unterrichtsjahr. Die meisten der 60 Schüler sind im Kindergartenalter. Die Jungen tragen blaue, die Mädchen rosarote Trachten aus der Han-Dynastie, die China von 206 vor Christus bis 220 nach Christus regierte. Schulleiterin Ji Jiejing, deren Umhang schwarz und rot gemustert ist, hängt ständig am Mobiltelefon. Für sie gehören Han-Dynastie und Handy zusammen. Die neuen Konfuzius-Jünger sind stolz auf das China von damals und auf das China von heute. Sie sehen sich als Vertreter einer uralten Kultur, die jetzt ihre Wurzeln sucht. »Die Kultur, die auf Konfuzius zurückgeht, macht seit Jahrtausenden die Seele Chinas aus«, sagt die Leiterin der Konfuzius-Schule. »Unsere traditionelle Kultur ist herzensgütig und rechtschaffen, vernünftig und weise. Schon vor mehr als 2000 Jahren waren wir die führende Kultur. Die jetzige Gesellschaft muss sich auf diese Wurzeln besinnen. Dabei bleiben wir lebensnah und übertragen den Konfuzianismus auf die Gegenwart.«
Der Mann hieß eigentlich Kong Qiu. Er war das außereheliche Kind eines 70-jährigen verarmten Adligen mit einer 16-jährigen Konkubine. Der Junge wurde 551 vor Christus geboren, ein knappes halbes Jahrhundert bevor Rom in Europa zur Republik wurde. Er kam nahe der Stadt Qufu zur Welt, die im damaligen Staat Lu lag und heute zur chinesischen Provinz Shandong gehört. Wegen seiner weisen Reden wurde der Mann später Kong Fuzi genannt, was »Lehrmeister Kong« bedeutet. Jesuitenpater, die im 17. Jahrhundert in China missionierten, übertrugen diesen Namen ins Lateinische, woraus im Westen die Aussprache »Konfuzius« entstand.
Als er zwei war, starb sein Vater. Dessen rechtmäßige Ehefrauen lehnten den Jungen ab, seine Mutter und er durften nicht dabei sein, als der Vater beerdigt wurde. Seine Familie unterstützte die beiden nicht. Und so hungerten sie. Das Kind musste arbeiten, putzen und Botengänge erledigen. Wie überliefert ist, sah es hässlich aus, hatte einen unförmigen Kopf, fiel aber gleichzeitig als fleißiger Schüler auf. Als er 22 Jahre alt war, starb die Mutter. Mit großen Mühen fand der Junge das Grab seines Vaters. Es war ihm wichtig, seine Mutter nach alten Riten mit ihm gemeinsam zu beerdigen. Mit 19 hatte er selbst geheiratet, doch verlief die Ehe unglücklich − nach allem, was man weiß. Der 1,80 Meter große Mann, für damalige chinesische Verhältnisse ein Riese, suchte seine Erfüllung in der Bildung. Geprägt von seinen eigenen Kindheitserfahrungen meinte er, Bildung müsse das Maß aller Dinge sein, nicht die Herkunft. Er vertrat einen revolutionären Gedanken: »Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keine Standesunterschiede machen.«
Daran hielt er sich auch selbst, als er eine eigene Schule gründete. Er nahm jeden auf, selbst wenn einer, wie es hieß, »nur ein Bund Dörrfleisch« brachte. Schreiben, Rechnen und Musik unterrichtete er ebenso wie Bogenschießen und Wagenlenken. Vor allem aber vermittelte er Riten und Regeln des Verhaltens. Die Lehranstalt entwickelte sich zu einer Denkschule, zur Keimzelle einer Geistesrichtung. Konfuzius scharte eine immer größere Zahl von Schülern um sich, insgesamt sollen es 3000 gewesen sein. Ein halbes Jahrtausend vor Jesus Christus predigte er Nächstenliebe. Er sagte seinen Anhängern: »Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen.« Mehr als 2000 Jahre bevor Immanuel Kant umständlich formulierte: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.«
Konfuzius war ein fernöstlicher Pionier von Vernunft und Aufklärung und entwickelte praktische Ideen, wie Menschen zivilisiert zusammenleben sollten. Es waren simple Vorschläge, aber gerade darin lag ihre Stärke: »Wer ohne Sittlichkeit ist, wird ein Leben in Bedrängnis nicht lange aushalten können. Er wird auch kaum lange in Freude leben. Wer hingegen zu anderen Menschen gut ist, findet darin Zufriedenheit. Darum ist der Weise immer bestrebt, sich so zu verhalten.« Oder: »Der Edle schämt sich, wenn seine Worte seine Taten übertreffen.« Manches, was er vor ewig langen Zeiten formulierte, klingt so, als sei es dem heutigen Arbeitsalltag entnommen: »Fordere viel von dir selbst und erwarte weniger von anderen! So wird dir Ärger erspart bleiben.«
Wie bei Jesus oder Sokrates kennt man auch von Konfuzius keine eigenen Schriften. Seine Anhänger notierten, was er sagte, und hinterließen es der Nachwelt. Sie ordneten seine Worte. Das Hauptwerk des Konfuzianismus heißt Lun-yu, »Geordnete Worte«, eine Sammlung von Zitaten des Meisters (im Deutschen Analekte, Lehrgespräche oder einfach Gespräche genannt). Als Darstellungsform werden darin oft Dialoge zwischen Konfuzius und seinen Schülern genutzt: »Zi-gong fragte, was einen Edlen ausmache. Der Meister antwortete: ›Erst handelt er, wie er denkt. Dann spricht er, wie er handelt.‹«
Um in Harmonie zusammenzuleben, brauchen die Menschen laut Konfuzius Humanität (ren), sie müssen gerecht sein (yi), für ihre Eltern sorgen und den Vorgesetzten folgen (xiao) sowie sich an bewährte Riten halten (li). Darüber zu reden reichte Konfuzius nicht. Er strebte in die Politik und wollte seine Visionen verwirklichen. Zunächst bekleidete er nur niedere Verwaltungsposten. So leitete er eine Kornkammer und führte die Aufsicht über öffentliche Weiden. Erst mit 50 gelang ihm der Durchbruch, in einem hohen Alter, gemessen an der geringen Lebenserwartung der Menschen damals.
Sinologe Tilman Spengler sagt über diese späte Karriere: »Dieser Mann wurde dann aber aufgrund seines Talents, seiner Klugheit und seiner Eloquenz Berater eines Fürsten. Das war außerordentlich erfolgreich. Er sagte dem Fürsten, was er tun soll, entwickelte Prinzipien, wie man ein Land ordentlich regiert. Das hat ihn sehr populär gemacht – so populär, um es mit chinesischen Erinnerungen zu sagen, dass der Name des Konfuzius wie ein Gesang von Mund zu Mund weiterwanderte.«
Schließlich soll Konfuzius es sogar zum Bau- und dann zum Justizminister des Staates Lu gebracht haben. Bilder von damals zeigen Frauen und Männer, die auf breiten Fußgängerpromenaden spazieren. Kinder üben an Zupf- und Schlaginstrumenten. Als die Germanen noch Wilde waren, schuf Konfuzius im Staat Lu ein zivilisiertes Gemeinwesen. Die Bewohner genossen gute Bildung, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, entsprechend dem Motto des Konfuzius: »Unter dem Himmel dient alles der Gemeinschaft.« Er ließ die Nahrungsmittel gerecht verteilen und führte kostenloses Schulessen ein.
Doch Herzog Ding, der Konfuzius gefördert hatte, geriet bald unter Druck. Der beim Volk beliebte Konfuzius wurde immer mehr zu einer umstrittenen Person, denn den führenden Familien des Staates Lu passte es überhaupt nicht, was Konfuzius erklärte: Bildung und Moral seien wichtiger als soziale Herkunft. Es braute sich etwas zusammen in China, das damals in mehrere Länder zersplittert war. Auch die Herrscher der Nachbarstaaten von Lu hielten nichts von dem, was da zu ihnen herüberwehte. Sie griffen zu einem Mittel, das in Ost wie West gleichermaßen funktioniert: Sex. Konfuzius wusste, wie das wirkt, hatte er doch selbst gesagt: »Ich habe noch niemanden gesehen, der innere Werte genauso liebt wie äußere Schönheit.«
»Der Fürst des Nachbarstaats schickte eine Truppe von 80 Gesangsmädchen«, erzählt Tilman Spengler. »Sie verführten den Herzog von Lu. Der ließ darauf von Konfuzius ab und gab sich den Sinnesfreuden hin. Konfuzius war wieder arbeitslos und einsam, zog mit seinen Schülern durch die Welt. Er lebte danach noch fast 20 Jahre, starb, verkannt.«
Bevor Konfuzius im damals äußerst hohen Alter von 72 Jahren verstarb, trat er eine Reise an: 13 Jahre lang wanderte er mit seinen Schülern durch die Teilstaaten Chinas – und unterrichtete. »Lernen und sich immer wieder darin zu üben, bringt das nicht große Freude?«, sagte er damals. Auf seiner Wanderschaft geriet er immer wieder in Gefahr, mehrmals verhungerte er beinahe. Trotzdem stritt er weiter für seine Lehren, was entscheidend zu seinem Ruhm unter den Nachgeborenen beigetragen hat.
Heute ist Konfuzius’ Heimatort Qufu ein Provinznest. Anders als in Peking oder Shanghai stauen sich nicht Autos auf den Straßen, stattdessen drängen sich Fahrräder und Mopeds. Shops von Apple oder Louis Vuitton findet man hier keine, dafür einen kleinen Laden nach dem anderen, der Krimskrams verkauft oder Obst anbietet. Doch von hier kamen die Ideen, die China und ganz Ostasien seit Jahrtausenden prägen. Dabei erlebte der Siegeszug des Konfuzius immer wieder Rückschläge.
Qin Shihuangdi (»Erster erhabener Gottkaiser von Qin«) vereinigte 221 vor Christus sieben streitende Reiche zu einem riesigen Imperium. Als erster Kaiser regierte er es bis zum Jahr 210 vor Christus (mehr als 100 Jahre vor der Geburt von Gaius Julius Cäsar, mit dem der europäische Kaiserbegriff entstand). Obwohl Qin Shihuangdi ganz China nur kurz beherrschte, wirkt sein Einfluss bis heute: Er vereinheitliche die Schriftzeichen, das Geld und die Maßeinheiten für Gewichte, Längen- und Hohlmaße. Unter seiner Führung entstand ein Straßennetz, das ganz China durchzog und 6800 Kilometer lang war. Auf den Namen seiner Dynastie, Qin, so vermutet man, geht die im Westen gebräuchliche Landesbezeichnung China zurück. Chinesisch heißt der Staat bis heute zhongguo: »Reich der Mitte«.
Der erste Kaiser von China jedoch misstraute den Ideen des Konfuzius, die bereits stark verbreitet waren in dem von ihm beherrschten Kulturraum. Er ließ die Schriften über den Philosophen verbrennen und einige seiner Anhänger lebendig begraben. Das veranlasste einen anderen Konfuzius-Hasser, Mao, 1958 zu der Aussage: »Qin Shihuangdi hat nur 460 konfuzianische Gelehrte lebendig begraben, wir 46 000.«
Schon 656 vor Christus wurden in China Festungsanlagen erwähnt, die an eine Mauer erinnerten. Ab 214 vor Christus ließ Qin Shihuangdi die Chinesische Mauer mit gestampfter Erde und Feldsteinen ausbauen, um das Reich vor Nomadenstämmen aus dem Norden zu schützen. Damals erreichte die Mauer bereits eine Länge von 4800 Kilometern. Eine Million Chinesen arbeiteten daran, das entsprach einem Fünftel der männ-lichen Bevölkerung: Sie wurden aus allen Teilen der Bevölkerung und aus allen Provinzen des Kaiserreichs zwangsrekrutiert. In einem zeitgenössischen Bericht hieß es: »Wird dir ein Sohn geboren, so lass ihn nicht heranwachsen, ist es aber ein Mädchen, ernähre es mit Hackfleisch. Denn zahllose Söhne des Volkes wurden von der Wache des Kaisers aufgegriffen und zum Bau der Mauer geschleift. Und wer ergriffen wurde, kam nie mehr nach Hause zurück. Oh, du Leid der Menschen, oh, du Qual des Tods, verflucht sei die Willkür der Hochstehenden! Einem Berg gleich türmten sich die Gebeine der Gestorbenen, denn der Kaiser baute, und das Volk stöhnte unter der Last seines Vorhabens.« Die Körper derer, die erschöpft zusammenbrachen, wurden als Baumaterial genutzt. Manchmal bestraften die Aufseher derart auch diejenigen, die gepfuscht hatten. »Bissigen Hunden gleich waren die Aufseher. Hatten sie irgendein Loch entdeckt, ein kleines Loch, in das der Finger eines Knaben hineinpasste, so wurden zehn – ja ganze zehn Bauarbeiter an dieser Stelle lebend eingemauert. Mehr Menschen fraß die Mauer als Steine und Mörtel.«
Spätere Dynastien bauten die Mauer weiter aus, besonders die Ming (1368 – 1644), die Befestigungen aus Bruchsteinen und Ziegeln errichteten – und damit die Mauer, wie wir sie heute kennen. Sie erreichte schließlich eine Länge von fast 9000 Kilometern. Das entspricht ungefähr der Entfernung von Hamburg nach Los Angeles. Bis heute ist die Mauer das bei Weitem größte Bauwerk der Erde. Vom Mond aus kann man sie allerdings nicht sehen – zumindest heute nicht mehr, auch wenn das manchmal behauptet wird. Viele Abschnitte bestehen nur noch aus Ruinen oder sind von Sträuchern überwuchert. Trotzdem wird die historische Dimension der Mauer in einem Scherz deutlich, der am Ende der DDR die Runde machte. Danach sagt Erich Honecker auf der Chinesischen Mauer, die er tatsächlich bestiegen hat: »Zugegeben, unsere Mauer ist nicht so schön wie eure. Dafür wird unsere länger stehen.«
Die Krieger des ersten Kaisers stehen vor dem Betrachter stramm. Ihre Gesichter sind voller Emotionen. Manche starren furchterregend, anderen huscht ein Lächeln über die Lippen. Sie bilden eine Armee aus 8000 Männern, 150 Kavalleriepferden sowie 520 weiteren Pferden vor 130 Kampfwagen, umgeben von einem sechs Kilometer langen Wall. Die Terrakotta-Krieger nahe der zentralchinesischen Stadt Xi’an sind, neben der Chinesischen Mauer, das andere große Weltwunder, das auf den ersten Kaiser von China zurückgeht. Schon mit 13, als er König von Qin wurde, begann er mit den Planungen für sein Leben nach dem Tod. Er wollte das gewaltigste Mausoleum, das je für einen Herrscher erbaut wurde. Und bis heute ist er unübertroffen – besonders dank der Armee, die ihn auf ewig schützen soll. Keine der Figuren aus gebranntem Ton gleicht der anderen. Alte Männer sind ebenso dabei wie junge Rekruten, Bogenschützen genauso wie Reiter. Verschiedene Uniformen lassen den jeweiligen Dienstrang erkennen. Wahrscheinlich wurden die Tonfiguren nach dem Vorbild von lebenden Menschen geschaffen, Pferde aus Bronze ziehen vierspännige Wagen.
Im Frühjahr 1974, 2184 Jahre nach dem Ableben des Ersten erhabenen Gottkaisers, gruben der Bauer Yang Xinman und weitere Männer aus seinem Dorf nach Wasser. »Es war sehr trocken in jenem Jahr, auf den Feldern starb das Korn«, erinnert sich der 81-Jährige heute. »Die Vorsteher unseres Dorfes entschieden, dass wir einen neuen Brunnen bohren müssen. Die rote Erde war sehr hart. Am dritten Tag stieß ich auf etwas, das ich für einen Krug hielt. In Wahrheit war es der Kopf eines Terrakotta-Kriegers. Aber davon wussten wir damals nichts. Als wir weiter gruben, kam ein ganzer Körper aus Ton zum Vorschein. Eine Statue aus einem Tempel, vermuteten wir. Ich meldete es.«
Die Regierung schickte Experten, sie gruben in der Umgebung, immer weitere Krieger kamen zum Vorschein. Sie stellen fest: Der Zufallsfund war die größte archäologische Sensation des 20. Jahrhunderts. Bauer Yang blickt auf die Krieger in Grube eins, eine der drei Fundstellen, in denen die Soldaten des ersten Kaisers heute ausgestellt sind, überdacht und vor zu viel Licht geschützt, das sie zerstören könnte. »Hier haben wir den ersten gefunden«, sagt er und zeigt auf eine weiße Platte, die an ihre Tat erinnert. Yang ist in China ein Prominenter geworden, Touristen scharen sich um ihn, lassen Bücher über die Terrakotta-Krieger von ihm signieren. Der erste Kaiser Chinas hatte 20 Familien nahe seinem Mausoleum ansiedeln lassen, sie sollten über die Grabstätte wachen. »Ich bin einer der Nachfahren von ihnen«, meint der Bauer.
Heute sind es allerdings vor allem Wissenschaftler, die diese gigantische Grabstätte beschützen. Beim Kontakt mit der Luft verlieren die Krieger ihre bunten Farben. Doch nun besteht eine Verbindung nach Bayern. Chemieprofessor Heinz Langhals von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität entwickelte eine Konservierungsmethode. Aktiv beteiligt ist auch Professor Erwin Emmerling, der an der Technischen Universität München den Lehrstuhl für Restaurierung, Kunsttechnologie und Konservierungswissenschaft innehat. Sie arbeiten mit chinesischen Kollegen zusammen, die vor Ort eine Art Lazarett für Tonsoldaten betreiben, denn ständig werden neue gefunden.
Drei Frauen stehen um einen Krieger, dessen abgebrochene Glieder sie bereits zusammengefügt haben. Mit Linealen messen sie ihn aus und tragen die Daten in eine Liste ein. »Die Krieger sind wie Kranke«, sagt Xia Yin, Vizedirektor des Konservierungsinstituts beim Museum für die Terrakotta-Soldaten. »Wir kümmern uns darum, dass sie wieder so werden wie vorher.« Auch die Waffen der Krieger sind erhalten. Mit Begeisterung in den Augen zeigt Museumsführerin Han Donghong auf Bronzeschwerter. »Sie wurden vor mehr als 2200 Jahren mit Chrom überzogen, um sie vor Korrosion zu schützen«, sagt sie. »Das zeigt, was für eine entwickelte Zivilisation China damals war.« Auf dem Schild in der Glasvitrine steht: »Wissenschaftliche Tests haben ergeben, dass die Oberfläche der Schwerter Chrom in einer Dicke von 10 bis 15 Millionstel Meter enthält. Diese Technik für Chromüberzüge wurde in Deutschland 1937 und in den USA 1950 erfunden – aber in China entstand sie schon vor 2200 Jahren.«
Und das größte Geheimnis ist noch gar nicht gelüftet: Nahe dem Museum liegt der Grabhügel, in dem der Erste erhabene Gottkaiser von Qin selbst begraben ist. Was darin zu sehen sein soll, beschrieb der Historiker Sima Qian in seinem 109 bis 91 vor Christus geschriebenen Werk Shiji so: »An einer hohen Decke sind Tausende von Perlen und Edelsteinen befestigt, die den Sternenhimmel symbolisieren. Auf dem Boden befindet sich ein Panorama von China mit Seen und Flüssen aus Quecksilber. Eine Mechanik hält sie ständig am Fließen. Der Kaiser liegt in der Mitte der Halle in seinem Sarg.« Tatsächlich wurde an dem Hügel eine weit überdurchschnittliche Quecksilberkonzentration nachgewiesen. Noch kann er nicht geöffnet werden, da die Archäologen befürchten, ohne ausreichende Vorbereitung das zu zerstören, wonach sie suchen. Und es spielt auch Angst mit. Die Museumsführerin sagt, auf die immer wieder verschobenen Ausgrabungen am Hügel selbst angesprochen: »Der Geist des Ersten Kaisers lebt weiter.«
Als der erste Kaiser starb, brachen in China Unruhen aus, die mit dem Sturz der Qin-Dynastie endeten. »Die Despotie hatte Staat und Gesellschaft auseinandergerissen und die Stabilitätsbreite des politischen Systems so minimiert, dass die Macht bereits nach 15 Jahren zu Ende war«, schreibt Professor Ralf Moritz, deutscher Konfuzius-Herausgeber und Gründungsdirektor des Ostasiatischen Instituts in Leipzig. Die späteren Kaiser Chinas erkannten: Der Konfuzianismus kann mit seiner Philosophie der Ordnung und Harmonie die Entwicklung des Reichs fördern. Sie konnten ihn gut für sich gebrauchen. Zwar stellte Konfuzius hohe Anforderungen an die Herrscher, doch verlangte er vom Untertanen auch, dem Herrscher zu gehorchen.
Han Gaozu stürzte die Qin-Dynastie mit seinem Rebellenheer und ernannte sich selbst zum ersten Kaiser der Han-Dynastie (206 vor bis 220 nach Christus). Zunächst äußerte er noch seine Skepsis über die Gelehrten und ihre Bücher Shi und Shu, zwei konfuzianische Klassiker: »Ich habe das Reich zu Pferde gewonnen – was soll ich da mit dem Shi und dem Shu?« Der Konfuzius-Anhänger Lu Jia antwortete ihm: »Ihr habt das Reich auf dem Pferde gewonnen. Aber könnt Ihr es auch zu Pferde regieren?« Schließlich reiste der erste Han-Kaiser nach Qufu, um das Grab des Konfuzius zu besuchen. Seine Nachfolger erhoben die Lehre des Philosophen – vielmehr das, was ihnen davon passte – zur Staatsideologie. Sie befahlen, dem Konfuzius viermal im Jahr zu opfern, und zwar jeweils ein Rind, ein Schaf und ein Schwein.
Die Tang-Kaiser (618 – 907) ordneten an, in allen Städten Chinas Konfuzius-Tempel zu errichten, dem Tempel in Qufu nachgebildet, dem Heimatort des Philosophen. Der selbst hatte mit Religion nichts am Hut: »Worüber der Meister nicht sprechen mochte, das waren Zauberei, Kraftstücke, Aufruhr und Geister«, heißt es in den Gesprächen des Konfuzius. Und an anderer Stelle: »Wer nicht den Menschen zu dienen versteht, wie kann der den Geistern dienen?«
Wichtiger als solche Kulthandlungen aber war ein System, das China für immer prägen sollte, besonders ab der Song-Dynastie (960 – 1279): die Auswahl von Beamten durch Aufnahmeprüfungen. Bei denen mussten die Anwärter zeigen, wie sie mit den vier Hauptwerken des Konfuzianismus vertraut waren, nämlich Das große Lernen, Gespräche des Konfuzius, Mitte und Maß sowie dem Buch des Mengzi (des bedeutendsten Nachfolgers von Konfuzius, der ungefähr von 370 bis 290 vor Christus lebte). Weitere Pflichtlektüre waren die »Fünf Klassiker«, Buch der Wandlungen, Buch der Lieder, Buch der Riten, Buch der Urkunden und Frühlings- und Herbstannalen. Diese Werke bestanden aus insgesamt 431 000 Schriftzeichen, welche die Kandidaten auswendig lernen mussten. In manchen Jahren fielen 98 Prozent von ihnen durch. Doch sie lernten nicht nur stupide auswendig. In einer Prüfung mussten sie etwa folgenden Satz des Konfuzius erörtern: »Sei gewissenhaft in deinem Verhalten und nur im Umgang mit dem Volk nachsichtig.« In Europa gelangte damals nur in Führungspositionen, wer in den Adelsstand geboren war, während in China im Prinzip jeder Minister werden konnte – auch wenn man natürlich einen gewissen Wohlstand brauchte, um die Zeit zu finden, sich auf die Prüfung vorzubereiten.
»Ohne die Lehre des Konfuzius kann das Reich auch nicht einen Tag bestehen«, heißt es in einer Inschrift aus der Ming-Dynastie (1368 – 1644). Während ihrer Herrschaft wurde in Peking der Kaiserpalast gebaut, eines der Prunkstücke der Weltarchitektur – auch Verbotene Stadt genannt, denn nur der Kaiser und seine Angehörigen durften diese stadtähnliche Palast-anlage betreten, außerdem Minister und Gesandte, Konkubinen und Eunuchen. Ihre Bauweise entspricht der Philosophie der Ordnung, die Konfuzius entwickelt hat. Alle Tore und Zeremonialgebäude stehen auf der Nord-Süd-Achse. Die Haupthallen, etwa die Halle der Kultivierung des Herzens und die Halle der Vollkommenen Harmonie, schauen nach Süden. Zur Verbotenen Stadt gehören acht Paläste, acht Hallen und fünf Torbogen, insgesamt 9999 Räume. Geschwungene Dächer in kräftigem Gelb, der Farbe des Kaisers, erheben sich über Mauern in Rot, der Farbe von Glück und Erfolg. Zeugnisse von Chinas alter Größe.
Den Ming-Kaisern diente auch der Eunuch Zheng He (1371 – 1433), der es bis zum Admiral brachte. Verglichen mit ihm war Kolumbus ein Hobbysegler. Zheng He befehligte 27 870 Seeleute auf 300 Schiffen, unternahm sieben Expeditionen nach Südostasien, Indien, Afrika und Arabien. Astronomen und Meteorologen begleiteten ihn. Kolumbus hingegen hatte gerade mal 90 Mann, seine drei Nussschalen waren lediglich halb so groß wie Zheng Hes 140 Meter langes neunmastiges Schiff.
Die Geschichte von Zheng He zeigt aber auch etwas anderes: Wer die Fenster zur Außenwelt schließt, der erstickt. Ein Land, das sich nicht erneuert, geht unter. Denn unmittelbar nach dem Tod des Eunuchen beging China einen historischen Fehler, der den späteren Abstieg der Weltmacht einleitete: Der Kaiser verbot den Bau von hochseefähigen Schiffen, ließ die bisherigen vernichten und die Eigentümer verhaften. Begründung: Das Reich der Mitte brauche keine Verbindungen zur Außenwelt. Die europäischen Nationen entwickelten sich und expandierten − zum Leid der Kolonialvölker. China blieb stehen.