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Am 15. Dezember 2009 jährte sich der Todestag des spanischen Gitarristen Francisco Tárrega Eixea zum 100. Mal. Viele Kompositionen dieses romantischen Ausnahmekünstlers wirken bis heute auf die Musikpraxis in Konzertsälen, Musikschulen und Musikzimmern ein. In allen Ecken der Welt klingen Takte des „Gran Vals“ und geben die Besitzer von Nokia Handys zu erkennen. Firmen haben Tárregas populäre Stücke für Werbezwecke und Regisseure als Musik für ihre Filme genutzt. Der Eiscreme Hersteller Häagen-Dasz verwendete zum Beispiel den ersten Teil des Präludiums „Lágrima“ für einen Fernsehwerbespot und eine Popversion der Etüde „Recuerdos de la Alhambra“ von Mike Oldfield verhalf dem Film „The killing fields“ 1984 zu einem Oskar.
In Faksimile-Ausgaben und unveröffentlichten Manuskripten tauchen in Titeln und Widmungen mehr als 25 Namen von scheinbar unwichtigen Personen auf. Es sind Familienmitglieder, Freunde und Schüler des Komponisten, denen die Werke als Anerkennung der Freundschaft oder einfach als kleine Geschenke gewidmet wurden. Diese Kompositionen Tárregas sind folglich keine in sich geschlossenen, absoluten Kunstwerke. Die Widmungen sind liebenswürdige Gesten und bezeugen einen zwischenmenschlichen Teil seines Künstlertums. Offensichtlich liegen diesen Werken Erlebnisse zugrunde, die an die sozialen Beziehungen zwischen dem Komponisten und den Widmungsträgern erinnern: Mit der Mazurka „¡Marieta!“ bewies Tárrega seine Dankbarkeit gegenüber der Tochter María Rosalia, das Stück „Tango“ schuf er als Liebeserklärung für seine Frau María und die spielerische Komposition „Alborada“ erfüllte den Zweck einer Aufstehmusik für den Sohn Paquito. Die Familie Tárrega erlitt den schmerzhaften Verlust zweier Töchter, Concepción und Josefa, die ebenfalls das kompositorische Wirken des Vaters beeinflussten. Es entstanden hinsichtlich dieses schweren Schicksals das Präludium „La Lágrima“, das ein Gefühl der traurigen Einsamkeit vermittelt und die Polka „Pepita“, die eine hoffnungsvolle Traumwelt eröffnet, in der auch schöne Erinnerungen weiterleben.
Diese und andere teils tragischen, teils erfreulichen Familienerlebnisse werden in diesem Buch in Form von überlieferten Anekdoten, persönlichen Dokumenten und anhand gewissenhaft zusammengetragener Informationen aus neuer Literatur der Kulturgeschichte Spaniens nacherzählt und erklärt. Ich wollte der Frage nachgehen, welche Persönlichkeiten Tárrega mit seiner Musik in Verbindung bringt. Aufgrund der Fülle der von ihm genannten Personen, schien mir eine Begrenzung auf das Familienumfeld sinnvoll. Die Schicksale der Familienmitglieder, denen der Gitarrist seine Musik widmete, treten deshalb in dieser Arbeit in den Vordergrund.
Emilio Pujol diente als üppige und verlässliche Informationsquelle für dieses Buch. Der spanische Tárrega Biograf wurde am 7. April 1886 in La Granadella in der Provinz Lérida geboren und starb am 15. November 1980 in Barcelona. Er widmete sein ganzes Leben der klassischen Konzertgitarre, indem er übte, Konzerte gab, unterrichtete, sich schriftstellerisch betätigte und komponierte. Sein wichtigstes, musikwissenschaftliches Werk ist die Biografie „Tárrega“. 1960 erschien diese umfangreiche Arbeit, die auf langjährigen Nachforschungen beruht, in Lissabon. Pujol sammelte Dokumente, befragte Zeitgenossen und konnte ebenfalls auf eigene persönliche Erinnerungen zurückgreifen, die er als einer seiner letzten Schüler im Gedächtnis angehäuft hatte. Ihm ist es gelungen, das musikalische Erbe des romantischen Gitarristen größtenteils zu bewahren.
Erst lange nach dem Tod des Diktators Franco hat in einigen spanischen Universitäten der Versuch einer intensiven wissenschaftlichen Aufarbeitung der Kulturgeschichte Spaniens begonnen. In den letzten Jahren sind so eine Reihe von interessanten Publikationen entstanden, die es nun ermöglichen, Arbeits- und Lebenswelten zur Zeit Tárregas mit neuen Informationen und guten Argumentationen zu reflektieren und zu verstehen, darunter beispielsweise „Género y políticas del trabajo en la España contemporánea 1836-1936“, ein Sammelband mit Beiträgen verschiedener Autoren, koordiniert von Cristina Borderías, erschienen 2007 in Barcelona. Die Bemühungen Pujols sollen mithilfe dieser Neuerscheinungen hinsichtlich der Darstellung eines sozialkritischen Verständnisses, der von Tárrega initiierten weltweiten Gitarrenbewegung, ergänzt werden.
Wolf Moser ist der einzige deutschsprachige Biograf des spanischen Ausnahmegitarristen. Er bringt das Werden und die Wirkung Tárregas in größere Zusammenhänge mit der Geschichte spanischer Gitarrenmusik. Eine Zeittafel, ein Werkeverzeichnis und viele Abbildungen ergänzen sein sehr umfangreiches Werk.
Adrián Rius hat mit seiner 2002 veröffentlichten Biografie die Ergebnisse Pujols erneut aufgelegt, korrigiert und teilweise mit neuen Quellen ergänzt. Er versuchte mit seinen Kontakten zu den Personen, die über Privatarchive verfügen, alle existierenden Dokumente zusammenzutragen. So konnte er unbekannte Faksimiles, Briefe, Fotos und andere Erinnerungsstücke in seine Darstellung mit aufnehmen. Er fügte auch eine revidierte Fassung der Werkverzeichnisse von Pujol (1960) und Moser (1996) hinzu.
Dass Tárregas musikalische Persönlichkeit immer noch aktuell in der Gesellschaft wirkt, zeigt das städtische Museum Casa de Polo in Vila-real. In einem liebevoll eingerichteten Saal werden viele familiäre Gegenstände, wie zum Beispiel eine Gitarre, ein Klavier, viele Bilder, Plastiken und intime Dokumente, unter anderem auch ein Tagebuch, ausgestellt. Etwa 200 Artikel wurden für Zeitungen und Fachzeitschriften über Tárrega verfasst und befinden sich größtenteils im Stadtarchiv in der Nähe des Museums. Die Stadtregierung Vila-real veröffentlichte 2004 das 350seitige Buch „Memòria gràfica de Tàrrega“ von Onofre Flores Sacristan und Salustiano López Orba mit vielen Abbildungen von Ausstellungsstücken des Museums und von Dokumenten, auch privater Archive. Das Geburtshaus am Platz vor der renovierten Kirche San Pascual in Vila-real und das Wohnhaus der Familie Tárrega in der Straße Valencia in Barcelona sind nur einige der sichtbaren Zeitzeugen des verehrten spanischen Gitarristen. Nach ihm benannte Straßen, viele Denkmäler und nicht zuletzt einer der wichtigsten, nach ihm benannten Gitarrenwettbewerbe weltweit, der jährlich in Benicassim stattfindet, bezeugen die Verwurzelung Tárregas im heutigen Bewusstsein der Menschen. In verschiedenen Ecken auf der ganzen Welt schlummern in vielen Regalen individueller Sammler und gitarristischer Vereinigungen unzählige Andenken und Dokumente des ewigen Maestros der Gitarre: Francisco Tárrega Eixea.
Geographisch betrachtet stammen die Ahnen von Francisco Tárrega Eixea und seiner Familie aus dem Nordosten Spaniens. Der erste Nachname lässt auf Wurzeln in der gleichnamigen gotischen Stadt Tárrega schließen, die etwa 100 Kilometer westlich von Barcelona in der Provinz Lleida liegt. 1239 gründet der katalanische Eroberer und Herrscher Jaume I nach seinen Feldzügen in der spanischen Levante das autonome Königreich Regne de València. Danach folgt eine Besiedelung mit Christen aus dem Norden, unter denen sich auch die Vorfahren der Familie Tárrega befinden. Der Aktionsradius im Leben des Vaters Francisco Tárrega Tirado umschließt bis auf wenige Ausnahmen die Gegenden der beiden benachbarten Ortschaften Vila-real und Castelló. Geboren wird er in den größeren der beiden Städten, in Castelló. Dort halten sich zeitlebens ebenfalls seine Eltern Salvador Tárrega und Vicenta Tirado sowie sein Bruder Salvadoret und andere Verwandte auf.
1852 heiraten Francisco Tárrega Tirado und Antonia Eixea y Broch in Vila-real. Die Frau Antonia bringt dort noch im selben Jahr der Eheschließung am Sonntag, den 21. November, ihr erstes Kind zur Welt. Der Familientradition folgend, bekommt der Sohn den Vornamen des Vaters. Der Familienname setzt sich gemäß des damaligen Namensrechts aus dem ersten Nachnamen des Vaters und dem ersten Nachnamen der Mutter zusammen. Der vollständige Taufname ist daher Francisco Tárrega Eixea. Später wird ihn seine Ehefrau María einfach Paco nennen. Der Rufname Paco für Francisco wird oft mit dem heiligen Franz von Assisi in Verbindung gebracht, weil der Ordensvater Dokumente mit „Pater Comunitas“I unterschrieb. Obwohl es in verschiedenen Regionen auch weltliche Herleitungen für diese Kurzform des Namens gibt, scheint der kirchliche Bezug am ehesten zuzutreffen, denn vereinzelt wird der Name des Gitarristen mit religiösem Gehalt besetzt, um ihm besondere Anerkennung zukommen zu lassen. Nach dem Tod des Maestros beeinflusst hingegen eine übermäßige Verehrung die Suche nach einer passenden Anrede. Seine außergewöhnliche Hingabe, unaufhörlich Gitarre zu spielen, lässt ihn in den Augen vieler Bewunderer übersinnlich erscheinen. Der venezolanische Gitarrist Manuel Enrique Pérez Díaz verglich Tárrega sogar mit „Jesus aus dem Neuen Testament einer imaginären gitarristischen Bibel“. Weiter fasst er die Namensgebungen einiger Persönlichkeiten der Gitarrenwelt zusammen:
„Tárrega ist für Regino Sainz de la Maza der `Assisi der Gitarre´, für Emilio Pujol, der `spirituelle Phönix der Gitarre´ und für Andrés Segovia der `Heilige Francisco Tárrega´.“1
Erst 1999 erlaubt sich Jesuo de las Heras in einem kurzen Text auf seiner persönlichen Webseite eine Kritik an der Mystifizierung des Musikers. Er weist darauf hin, dass durch den Verlust der Objektivität in der geschichtlichen Überlieferung eine übertriebene Darstellung seiner künstlerischen Fähigkeiten stattgefunden hat und darüber hinaus Tárrega fälschlicherweise Stücke zugeschrieben worden sind, die nicht von ihm stammen. Die unübertroffene Kreativität des Künstlers hinsichtlich seiner kompositorischen Arbeit und seiner Konzertaktivität sowie die positiven Eigenschaften seines Charakters bleiben jedoch auch für Jesuo de las Heras einzigartig:
„Trotzdem, die Musik von Francisco Tárrega scheint aus sich selbst heraus. Lassen Sie uns sie unter einem anderen Aspekt hören, nicht im Schatten eines Gottes, sondern im Licht eines guten Menschen, eines fruchtbaren Komponisten und einem exzellenten Gitarristen.“2
Dem Familienoberhaupt Francisco Tárrega Tirado wird Klugheit und Ehrlichkeit nachgesagt. Obwohl er kein Studium und keine Berufsausbildung absolviert, ist er dennoch in der Dorfgesellschaft angesehen und beliebt. Er wird mit ländlichen Tugenden erzogen. Geduld, Fleiß und Wertschätzung der Arbeit sollen ihm in seiner bäuerlichen Umgebung von Nutzen sein. In seiner Freizeit macht er Musik. Der Gesang und die Akkorde bringen Vergnügen und sind kultureller Ausgleich zu den alltäglichen Sorgen. Die Gitarre ist im Hause der Familie Tárrega ein wichtiges Medium. Sie steht häufig im Mittelpunkt der Kontakte zwischen Nachbarn und Freunden, fördert die Geselligkeit und steigert das emotionale Wohlbefinden. In ihrem Glanz wird Tárregas Elternhaus zu einem wichtigen sozialen Treffpunkt des Ortes. Nicht nur Familienmitglieder, sondern auch Bekannte suchen den Vater auf, um ihn um Rat zu fragen. Er hilft in seiner Umgebung, wo er kann, mit guten Ratschlägen weiter und nimmt Stellung zu religiösen, politischen oder sozialen Fragen. Er kann darüber hinaus bei geschäftlichen Problemen weiterhelfen und gibt Empfehlungen zu Anbau und Export von Früchten.
Das Einkommen des Vaters Francisco, der neben seinen vielen Nebenjobs als Aufpasser im benachbarten Konvent San Pascual angestellt ist, reicht für die Versorgung seiner Angehörigen nicht. Es gibt im Hause der Familie immer Geldsorgen. Überdies fehlt ihnen Land, das für viele andere Bewohner der Ortschaft ein wichtiges Zusatzeinkommen erbringt. Die Frau und Mutter muss folglich ebenfalls Geld verdienen. Um den Haushalt bestreiten zu können, hilft sie den Nonnen im Konvent, unter anderem als Botin. Auch der musikbegabte Sohn bessert die Haushaltskasse auf. Er hilft im Ort bei der Seilherstellung. Die Seilmacherei ist eines der wichtigsten Industriezweige in Castelló. In Gedanken an die Gitarre seines Vaters versunken, läuft der Junge schon frühmorgens mit dem Hanf um den Bauch immer wieder die Bahnen munter herauf und herunter und wird so „taktfest“. Pujol erinnert an die Strapazen des kleinen Jungen:
„Unendlich viele Male musste QuiquetII die Spur jener Strecken abschreiten, die Seile tragen und aufpassen, dass sich das Hanf richtig dreht, um der Mutter beim Haushalten zu helfen.“3
Nach dem Umzug von Vila-real nach Castelló im Jahr 1858 versucht Francisco Tárrega Tirado als Wächter eines Warenlagers zu arbeiten. Eine Beschäftigung, die offenbar mit seiner Großzügigkeit unvereinbar ist. Darüber hinaus nutzen Kunden seine Sehschwäche aus, um sich Vorteile zu verschaffen. Schließlich findet der Vater als Hausmeister in einer wohltätigen kirchlichen Institution, der Casa de Beneficencia im Konvent Santo Domingo, eine Arbeitsstelle, die er bis zum Ende seines Lebens innehatte.
„Zum Rhythmus der `Albaes´ und `Jotas´ exaltieren Musiker auf den Saiten ihrer Gitarren und erfrischen so seit Generationen ihre heiligen Liebesgeschichten von der Wiege bis zum Grab.“4
Der Vater folgt der alten valencianischen Musiktradition und versüßt mit Melodien und Rhythmen spanischer Folklore die Kindheit seiner Nachkommen. Als ältester Sohn der Familie besitzt Quiquet das Vorrecht, bei Abwesenheit des Vaters auf der Gitarre zu spielen. Sein künstlerisches Erfassungsvermögen ist so groß, dass er das Familienoberhaupt schon nach kurzer Zeit des Übens mit seinen gitarristischen Fähigkeiten überflügelt. Beschämt und stolz zugleich vermeidet der Vater immer mehr, im Beisein seines Sohnes zur Gitarre zu greifen. Einem direkten Vergleich ihrer musikalischen Darbietungen vor Freunden kann er nicht mehr standhalten. Quiquet ist entschlossen, seinem Papa die musikalische Vorreiterrolle streitig zu machen. Doch der Missmut steigert sich, als er so sehr von der Musik vereinnahmt ist, dass sich alle seine Anstrengungen nur noch auf die Gitarre richten und das Interesse für die Schule abnimmt.
Der Vater ist auf eine profunde Schulbildung seines Sohnes bedacht. In der ortsansässigen Grundschule lernt Tárrega sehr früh Lesen, Schreiben und Rechnen. Außerdem hat er Religionsstunden. Der Unterricht in der Schule wird durch einen strengen Kirchendienst ergänzt, der unter anderem darin besteht, dass sonntags und festtags gebetet und gesungen wird. Eines Tages kommt es zu einem Zwischenfall. Als Tárrega kaum sieben Jahre alt ist, rebelliert er mit einem Schulstreich und wird vom Lehrer streng bestraft. Dieser schlägt dem kleinen Jungen mit einem Stab so sehr auf seine Hand und seinen Arm, dass ein Arzt gerufen werden muss, der einen kleinen chirurgischen Eingriff vornimmt. Der Vater geht erbost zur Schule, um sich über den Vorfall zu informieren. Als er den Lehrer sieht, stürmt er beherzt und ungestüm auf ihn zu. Er will seinen Sohn beschützen und rächen. Doch seine Frau Antonia und umherstehende Leute verhindern eine körperliche Auseinandersetzung. Sie ziehen es vor, die Vorgesetzten zu benachrichtigen. Noch bevor sich der Aufruhr in der Schule legt, ziehen die Tárregas nach Castelló. Quiquet erholt sich und verliert trotz der ungerechten erzieherischen Maßnahme des Lehrers die Lust am Gitarre spielen nicht. Die Angelegenheit wird vergessen.
Adrián Rius schildert in seiner Biografie eine Kindheitsszene, die nicht musikalischer, sondern vielmehr menschlicher Natur, ein Schlüsselerlebnis in Tárregas frühem Leben ist. Wegen eines kleinen nächtlichen Malheurs wird er zur Strafe von einer Bekannten, die sich wegen Abwesenheit der Eltern zum Kinderhüten im Hause aufhält, samt nasser Bettwäsche zu einem schmutzigen Abflusskanal gezerrt, dort hinein gestoßen und liegen gelassen. Aufmerksame Nachbarn retten den damals dreijährigen QuiquetAdrián Rius