AUS DEN SATZUNGEN DER GESELLSCHAFT

Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Ermittlungen, Nachforschungen und Expeditionen nur dann, wenn ihr der Auftrag moralisch gerechtfertigt erscheint.

§

Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Expeditionen in alle Teile der bewohnten und unbewohnen Erde, soweit deren Ausführung nicht den Gesetzen des betreffenden Landes widerspricht. Sollten aber die Gesetze eines Landes den Gesetzen der Menschlichkeit widersprechen, so wird die Gesellschaft bereit sein, übernommene Aufträge auch dort auszuführen.

§

Die Kosten einer Expedition werden vom Chef-Expeditionsleiter geschätzt. Die eine Hälfte des angesetzten Betrages ist vor dem Aufbruch der Expedition zu zahlen, die andere nach deren Beendigung. Überschreiten die tatsächlichen entstandenen Kosten den veranschlagten Betrag, so werden sie zur Hälfte vom Auftraggeber, zur Hälfte von der Gesellschaft getragen.

§

Betrifft eine Ermittlungs- oder Erforschungsaufgabe Menschen, die in Not sind und niemand haben, der sich ihrer annehmen kann, so übernimmt die Gesellschaft die Kosten der notwendigen Hilfs- oder Rettungsaktion.

§

Die Teilnehmer an einer Expedition haben sich über deren Ziel, Zweck und Ergebnis zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Berichte über Expeditionen werden nur dann veröffentlicht, wenn der Generaldirektor der Gesellschaft und der Auftraggeber damit einverstanden sind. Nichtveröffentlichte Expeditionsberichte werden im Geheimarchiv der Gesellschaft niedergelegt und dort dreißig Jahre lang aufbewahrt.

UBIQUE TERRARUM

(ÜBERALL IN DER WELT)

LIMITED COMPANY

GESELLSCHAFT MIT BESCHRÄNKTER HAFTUNG

WWW.UBIQUE-TERRARUM.NET

EXPLORING AND RESEARCHING OF ALL KIND NACHFORSCHUNGEN UND ERMITTLUNGEN JEDER ART

EHRENPRÄSIDENT

LORD HAYSTACK, P.R.A., K.C.I.E.

GENERALDIREKTOR

ARTHUR MILLER

CHEFEXPEDITIONSLEITER

STEPHAN SLANTON, V.C.

EXPEDITIONSFORSCHER

DR. PHIL. DR. RER. NAT. PETER GEIST

EXPEDITIONSARZT: DOCTEUR EN MÉDECINE

GASTON DE MONTFORT
COMTE DE DARIFANT-CROY

EHRENRITTER DES SOUVERÄNEN MALTESERORDEN S

UND IHRE MANNSCHAFT

PATRICK CROMBY aus Irland

BERTRAM KUNKE aus Deutschland

CYPRIAN BOMBARDON aus Frankreich

Weitere Informationen

über HERBERT KRANZ und

die UBIQUE-TERRARUM-SERIE

finden Sie im Internet unter

www.herbert-kranz.de

www.ubique-terrarum.de

ISBN: 978-3–7322–5177-3

1. Auflage 2007

Alle Rechte vorbehalten

©2007 Kranz

Herausgeber:

Georg Kranz, Born/Darß

Einband:

Willy Kretzer

Überarbeitung der Wort- und Sacherklärungen:

Georg Kranz, Born/Darß

ASvonPio, Dresden

Rückseitentext:

ASvonPio, Dresden

Satz und Layout:

voigt&kranz GbR, Ostseebad Prerow

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

VORBEMERKUNG

In diesem Band unserer Reihe nennen wir das Land nicht, in dem sich die abenteuerlichen Vorgänge abspielen, die wir berichten. Wir verschweigen auch den Namen der Insel, den sie auf den Karten hat. Wir müssen Rücksicht auf Menschen nehmen, die noch leben; ihnen haben wir darum in unserem Buch andere Namen gegeben, als sie in Wirklichkeit führen. Diese äußeren Veränderungen lassen die innere Wahrheit unberührt.

INHALT

Befreit den Befreier!

„Oh ich unseliger Sohn meines seligen Vaters“, stöhnte Neunauge auf, „was ist das nun wieder!“

Wahrhaftig, die dunklen, rätselhaften und beunruhigenden Vorgänge, in die sie offenbar verwickelt waren, rissen nicht ab. Gestern Abend waren sie auf dem Flugplatz der Haupt- und Hafenstadt des kleinen südamerikanischen Staates angekommen; das Flugzeug hatte die Strecke von Los Angeles bis hierher ohne Zwischenlandung zurückgelegt. Zu sechsen hatten sie die Maschine verlassen – ihr Sechsergespann hatte die tollsten Abenteuer in den Schluchten des Hindukusch bestanden, bei der aufregenden Expedition in den brasilianischen Dschungel und der unheimlichen Mordaffäre in Arizona waren sie alle sechs gewesen, in allen Gefahren hatten die Sechs zusammengehalten–, und jetzt waren sie nur noch drei! Denn kaum hatten sie den Flughafen verlassen, als sie nach einem anscheinend wohlüberlegten Plan getrennt wurden: ihr Chef, der Engländer Slanton, und die beiden Deutschen, Dr. Peter Geist und sein Begleiter, wurden in einen Buick genötigt, der mit seinen drei Insassen sofort losbrauste. Ein Bugatti brachte die andern drei in das Gran Hotel. Hier fanden sie aber ihre Kameraden ganz gegen ihre Erwartung nicht vor, und auch beim Frühstück am andern Morgen waren sie immer noch nur zu dritt: der Graf, Gaston de Montfort, sein französischer Assistent Neunauge und der Ire Plumpudding. Selbstverständlich hatte ein gütiges Geschick diese beiden Männer davor bewahrt, solche merkwürdige Namen in ihren amtlichen Papieren zu führen. Der Franzose hieß in Wahrheit Cyprian Bombardon, war von Beruf Koch und träumte davon, so bald wie nur irgend möglich in Paris ein kleines Bistro aufzumachen, dem er den verlockenden Namen „Zum vergnügten Neunauge“ geben wollte, und Plumpudding war in seiner Heimatstadt Limerick als Patrick Cromby bekannt. Sein fülliger Körper, sein freundliches Vollmondgesicht erklärten jedem vollauf, weshalb sein Spitzname über seinen amtlich beglaubigten Namen siegte.

Aber jetzt sah man auch ihm an, dass er sich keineswegs wohl fühlte, wenn es auch ganz gegen seine Natur gewesen wäre, sich darüber so temperamentvoll zu äußern wie der Marseiller. Sie saßen in dem Frühstückssalon des Gran Hotel, dessen in Weiß und Gold gehaltene Möbel und mit weinroter Seide bespannte Wände den Eindruck erweckten, als befänden sie sich in einem französischen Königsschloss. Der Kaffee war ausgezeichnet gewesen und der Grapefruchtsaft von jener Eiseskälte, die einerseits so wohl tut, anderseits Magenärzten Dauerpatienten verschafft. Sie wollten sich eben ihre Zigaretten anzünden, als der Satz fiel, der Neunauges entsetzten Ausruf zur Folge hatte.

„Nobody has seen the other side of the moon (Niemand sah die andere Seite des Mondes)“, sagte der Kellner, der mit ihnen englisch gesprochen hatte, und setzte vor jeden einen Aschbecher. Dann sagte er dasselbe auf französisch, denn er hatte gemerkt, dass Neunauge kein Englisch verstand: „Personne n’a vu l’autre côté de la lune“, und nun, das war das allermerkwürdigste, sagte er den Satz auf spanisch: „Nadie ha visto el otro lado de la luna“ – und obwohl er genau wusste, dass keiner der drei Spanisch konnte, wiederholte er den sonderbaren Satz ganz langsam, jedes Wort betonend, und sagte ihn dann sogar noch ein drittes Mal. Doch ehe ihn einer der Herren hätte fragen können, was das denn bedeuten solle, war er verschwunden und ließ sich nicht mehr sehen.

„Der Mann hat mit seinem Ausspruch etwas durchaus Richtiges bemerkt“, sagte der Graf. „Die Rotationsdauer des Mondes ist gleich seiner Umlaufzeit, vermutlich durch die Gezeitenwirkung der Erde, und so sehen wir von der Erde aus tatsächlich immer nur ein und dieselbe Seite – aber warum uns der Kellner darauf aufmerksam machte, das verstehe ich nicht.“

„Vielleicht ist er verrückt“, fauchte Neunauge.

„Den Eindruck machte er eigentlich nicht“, sagte der Graf.

„Die verrückt sind, aber gar nicht so aussehen, sind die allergefährlichsten“, sagte Neunauge hartnäckig.

Sie verließen zusammen das Hotel. Der Türsteher, der mit einer goldbetressten Uniform ausgestattet und mit einem langen Rohrstock bewaffnet war, drosch damit auf ein Rudel zerlumpter kaffeebrauner Betteljungen ein, die sich sofort auf die Fremden stürzen wollten, und schlug sie in die Flucht. Zwei barfüßige, abgerissene Gestalten, die vor dem Hotel auf dem Rinnstein saßen, ließen sich dadurch nicht stören. Als die Drei an ihnen vorüberschritten, sagte der eine laut und deutlich: „Nadie ha visto el otro lado le la luna“, und bückte sich nach einem Zigarettenrest. Der andere erhob sich und ging langsam quer über die Plaza Central, an der das Hotel lag.

„Haben Sie das gehört?“ fragte der Graf.

„Noch ein Verrückter“, sagte Neunauge.

„Nein, nein“, sagte der Graf. „Der rätselhafte Satz hat etwas zu bedeuten! Kommen Sie, wir gehen dem Manne nach. Aber wir tun so, als ob wir uns die Stadt besehen! Wahrhaftig – er dreht sich nach uns um!“

Der Zerlumpte war stehen geblieben. Als er jetzt sah, dass ihm die Fremden folgten, schlenderte er langsam weiter.

Sie hatten den Platz überquert, und der Mann, der etwa zehn Schritte vor ihnen ging, bog in die breite Avenida de Todos Los Santos ein. Jetzt umfing sie der tosende Lärm einer südamerikanischen Hauptstraße. Wild hupende Autos jagten in einem rasenden Tempo vorüber, als müssten sie an der nächsten Straßenkreuzung im Zusammenstoß mit ebenso rasenden Fahrzeugen zerschmettern. Elegante Wagen auf Gummirädern mit wunderschönen Pferden, von deren Köpfen bunte Federbüsche nickten, überholten langsam vorwärts kommende Ochsengespanne. Die Tiere mit den großen Hörnern zogen plumpe, zweirädrige Karren, deren Räder aus großen Holzscheiten bestanden, die entsetzlich quietschten. Laut singend zogen Obstverkäufer durch das Menschengewühl – ein Gewimmel von Weißen, Schwarzen, Indianern und Mestizen.

„Wir müssen aufpassen, dass wir den Mann nicht verlieren, sagte der Graf – und da war ihnen ihr Lotse auch schon aus den Augen gekommen. Ein langer Zug von schwerbeladenen Eseln versperrte ihnen an der Einmündung einer Querstraße den Übergang, und nun standen sie an der Straßenecke, ohne zu wissen, wohin sie nun gehen sollten.

Ein überaus eleganter Herr trat auf sie zu und lüftete den Hut. „Ich sehe, Sie sind fremd“, redete er sie auf französisch an. Der Graf lächelte höflich. „Wir besehen uns nur die Stadt“, erwiderte er, „es ist uns eigentlich gleich, wo wir hinkommen, wenn wir nur unser Hotel wiederfinden!“

„Personne n’a vu l’autre côté de la lune!“ bemerkte der elegante Herr, lüftete wiederum den Hut und bog in die Querstraße rechts ein. Sie hieß „Calle de las Pumas“, wie den Grafen ein Blick auf das Straßenschild belehrte.

Sie gingen dem eleganten Herrn nach. „Offenbar werden wir hier von einer Hand in die andere übergeben“, sagte er nachdenklich.

„Ich finde das großartig organisiert“, sagte Neunauge begeistert. Er war ebenso rasch entzückt wie empört. „Wenn uns immer nur derselbe Mann führte, fiele das vielleicht auf – so aber merkt kein Mensch, dass hier etwas im Gange ist!“

Plumpudding äußerte sich nicht. Er drehte sich um. Vorhin, als sie an der Straßenecke nicht weiter wussten, schien es ihm so, als stünde an der anderen Ecke ein barfüßiger Mann in einer zerfetzten grauen Leinenhose. Darüber hing ihm ein verwaschenes rotes Hemd, dessen linker Ärmel zum größeren Teil abhanden gekommen war. Hatte er den Mann nicht gegenüber ihrem Hotel unter einer der Palmen sitzen sehen, die auf der Plaza Central wuchsen? Tatsächlich – da bummelte der Kerl mit dem Viertelärmel auch die Straße entlang, die sie jetzt gingen. Wurden sie etwa nicht nur geführt, sondern auch verfolgt?

Der elegante Herr steuerte jetzt durch das Marktgewühl eines riesigen Platzes. Sie gingen langsam an Pyramiden von Ananas vorüber, an Bergen von Bananen, von Papayas, von großen gelben Mangopflaumen, aus denen Saft quoll wie Harz aus Baumrinde. Mitten auf dem Steinpflaster lagen Haufen von Reis, von Zucker, von Salz, von Kakao und von Bohnen. Lebende Schweine waren an ihren Hinterbeinen aufgehängt und quiekten schrecklich. Daneben zeigte ein Feuerschlucker seine Kunst, in einer Bude hantierte ein Juwelier, der silberne Ringe und goldene Nadeln feilbot. Jetzt kamen sie an aufgeschnittenen Hammeln vorüber, an gevierteilten Ochsen, um deren rotes Fleisch Schwärme von dicken blauen Fliegen summten. Eine alte Indianerin, die wie die Hexe im Märchenbuch aussah, briet Hühner auf dem Rost und pries sie den Fremden in unverständlichen Worten an.

„Wer sieht unsern eleganten Vorreiter?“ fragte der Graf.

Alle blickten sich vergebens um. Er war verschwunden. Auch den Mann mit dem Ärmelrest konnte Plumpudding nicht mehr erspähen.

Die weichen Klänge einer Marimba wehten zu ihnen herüber, und unwillkürlich gingen sie auf die Musik zu. Jetzt standen sie vor dem Holzklavier. Es war so lang, dass es von sechs Farbigen bedient wurde. Unter rechteckigen, in einer Ebene angeordneten Holztäfelchen waren Flaschenkürbisse angebracht, die den Resonanzboden abgaben. Die Plättchen waren nach ihrer Größe abgestimmt, und die Musiker schlugen auf sie mit hölzernen Klöppeln. An den tiefen Tönen hockte ein uralter Mann, der so selbstvergessen anmutete, als sei er gar nicht mehr auf dieser Erde. Die Musik, die seine kleinen Klöppel hervorriefen, klang wie die Tropfen eines endlosen Regens. Die Männer neben ihm waren von verschiedenem Alter, je höher die Töne, desto jünger der Spieler – die schrillen und höchsten bediente ein Junge, der nicht älter als acht Jahre schien. Er hockte nicht wie die andern auf dem Boden, sondern auf einer Kiste, denn sonst hätte er die Holzplättchen gar nicht erreicht.

Ein Mädchen trat heran, eine Mulattin, mit großen Ohrringen. In ihren Augen lag die stumme Frage, die in dem Blick mancher Tiere so ergreift. Sie hielt den Fremden ihre Hand hin. Ehe der Graf seine Börse herausgezogen hatte, legte Neunauge ihr schon ein Geldstück in die geöffnete Handfläche. „Gracias, señor!“ sagte sie mit unbewegtem Gesicht und rief den Musikern ein paar Worte zu. Rascher fielen die Klöppel auf die klingenden Hölzer, die Töne rauschten auf, sie schwollen zu einem Fortissimo, und dann plötzlich sanken sie wie zu einem Flüstern ab. Doch da erhob sich die Stimme der Mulattin, und sie sang, wobei Töne der Marimba ihren Gesang untermalten.

Die Fremden verstanden natürlich kein Wort ihres Liedes, sie wussten nicht einmal, in welcher Sprache sie sang – auf einmal aber stockte ihnen der Atem. Plötzlich nämlich verstanden sie, was die Mulattin sang: „Nadie ha visto el otro lado de la luna!“ Ehe aber die Männer wussten, was sie nun unternehmen sollten, war sie davongesprungen. Doch ein paar Meter von ihnen, wo gebündeltes Brennholz und Haufen von Kohlen feilgeboten wurden, stand ein Mulattenjunge, dessen fahlgelbe Haut schwarz von Kohlenstaub war, und er sang, als wäre er ein Echo des eben verklungenen Liedes: „Nadie ha visto el otro lado de la luna“ – und singend wandte er sich einer Gasse zu, die auf den Marktplatz mündete.

Die drei sahen sich an und folgten ihm wortlos.

Das Viertel, das sie jetzt betraten, sah anders aus als der Stadtteil mit den Hauptstraßen. Keine Wolkenkratzer mehr mit zwanzig Stockwerken, keine Paläste mehr, keine prunkvollen Villen – niedrige Häuser aus Lehm, armselige Baracken. Noch war die Straße, die sie gingen, gepflastert, aber sie hatte überall tiefe Löcher. Es roch nicht zum Besten. Aus schlechtgehaltenen Ställen meckerten Ziegen, blökten Schafe. Es waren keine Weißen mehr zu sehen, nur Schwarze und Mischblut.

Plumpudding blickte sich um. Eben kam der Mann, den er immer schon gesehen hatte, um die Ecke und blickte gelangweilt in die Richtung, in der sie gingen. Aber er folgte ihnen anscheinend nicht länger, sondern blieb bei einer Schwarzen stehen, die ihm Papayas anbot.

Jetzt hielt der Junge an, schaute noch einmal nach ihnen und verschwand in einer schmalen Tür, die in eine Lehmmauer eingefügt war.

Einen Augenblick zögerten die drei, als sie jetzt bei der Tür angekommen waren.

„Ich habe meine Smith-Wesson mit, Herr Graf“, sagte Neunauge.

„Dann kann uns ja nichts passieren!“ sagte der Graf und drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Sie gab nach.

Sie standen zwischen Lehmmauern, die einen schmalen Gang bildeten. An dessen Ende wartete der Junge mit dem Kohlenstaub im Gesicht und winkte ihnen. Aus dem Gang kamen sie in einen Hof. Hier standen alte Blechkanister, in denen einmal Benzin gewesen war. Sie waren mit Erde gefüllt, aus der schöne, rotblühende Pflanzen wuchsen. Ein verfallendes einstöckiges Haus schloss den Hof ab. Durch die offene Tür sahen sie eine Treppe, die nach oben nicht mehr zu begehen war. Doch der Junge zeigte auf Stufen, die in einen Keller hinabführten.

„Hast du deine Taschenlampe mit?“ fragte der Graf.

„Am helllichten Tag?“ antwortete Neunauge empört.

„Ich mache dir ja keinen Vorwurf“, antwortete der Graf. „Ich habe es mir immer höchst reizvoll gedacht, mir in völligem Dunkel den Hals zu brechen!“

Der Lichtschein, der von der Türöffnung hinabfiel, reichte nicht weit. Vorsichtig tasteten sie sich weiter und kamen in einen ganz dunklen Raum. Der Graf hatte das bestimmte Gefühl, dass hier noch andere Menschen waren.

„Ist hier jemand?“ fragte er auf Französisch.

„Ja, Messieurs“, flüsterte eine Stimme in derselben Sprache. „Wir danken Ihnen, dass Sie zu uns gekommen sind!“

„Das ist kein Franzose, der da spricht“, dachte der Graf. „Das ist jemand, der aus seiner Muttersprache langsam Wort für Wort übersetzt.“

„Wir bedauern, dass wir Sie in einem dunklen Loch empfangen müssen“, sagte die Stimme. „Wir bedauern, dass wir uns vor Ihnen nicht sehen lassen dürfen. Wir bitten Sie, uns trotzdem zu glauben. Es ist besser für Sie wie für uns, wenn sie unsere Worte hören, aber nie sagen können, wer sie zu ihnen gesprochen hat. Es geht dabei nicht um Sie oder um uns. Es geht um viel mehr: es geht um das Schicksal unseres Landes.“

„Ich nehme an“, sagte der Graf, „dass Sie zu unseren Auftraggebern gehören.“

„Das ist richtig“, sagte die Stimme.

„Dann sagen Sie uns vor allem: wo sind unsere Freunde?“

„Seien Sie unbesorgt. Es ist alles in Ordnung. Wir sollen Sie von Ihnen grüßen. Wenn Sie in ihr Hotelzimmer kommen, werden Sie eine schriftliche Botschaft von ihnen vorfinden.“

Der Graf übersetzte das rasch, weil Plumpudding kein Französisch sprach und er wusste, wie sehr es den treuen Mann bekümmern musste, über Stephen Slanton im Ungewissen zu sein, und dann fragte er: „Was haben Sie uns nun mitzuteilen?“

„Sie wissen, weshalb wir Sie gerufen haben?“

„Wir sollen einen Gefangenen auf der Bagno-Insel befreien.“

„Wissen Sie, wer der Gefangene ist?“

„Nein.“

Schweigen. Dann sagte die Stimme auf spanisch: „Sprich du, Judith!“

Wieder war einige Augenblicke völlige Stille. Der Graf und seine beiden Begleiter vernahmen, wie unweit von ihnen jemand erregt atmete. Dann redete wieder eine Stimme – aber eine andere, eine dunkle Frauenstimme. Sie sprach ein fließendes Französisch, doch ganz einfache Sätze, als wäre die Sprecherin gewohnt, zu Menschen zu reden, die nur langsam denken konnten. Doch wie die Stimme sprach, das erschütterte den Grafen. Es war ihm, als klänge darin tiefer Schmerz und das Leid, das die Menschen sich antun.

„In dieser Stadt“, so begann die dunkle Stimme, „lebte ein Mann, der hieß Carlos Delgado. Das Haus, in dem er wohnte, stand in der Straße, wo die Häuser der Reichen stehen, und er wuchs auf, wie die Söhne der Reichen aufwachsen. Was er sich wünschte, das bekam er, und so konnte er sein Dasein genießen, wie es die andern jungen Reichen hier genossen, die nicht fragen, woher ihr Reichtum kommt.

Carlos Delgado aber sah sich um in unserm kleinen Lande. Er besuchte die Holzfäller im Urwald und fragte: ,Wem gehört das Edelholz, das ihr hier schlagt?’ und sie antworteten: ,Alle Wälder dieses Landes gehören seit undenklichen Zeiten der Familie Montoya.’ Carlos Delgado reiste weiter und sah die großen Plantagen, in denen Bananen angepflanzt waren, und die Frauen, die sie zu den Dampfern schleppten, fragte er: ,Wem gehören die Pflanzungen?’, und sie antworteten: ,Alle Plantagen dieses Landes gehören seit undenklichen Zeiten der Familie Pelaza!’

Carlos Delgado reiste weiter. Überall stellte er dieselbe Frage, und überall erhielt er dieselbe Antwort: vier Fünftel dieses Landes gehörten den beiden Familien Montoya und Pelaza.“

Die Sprecherin schwieg, als wollte sie ihren Zuhörern Zeit lassen, das Gesagte in sich aufzunehmen, und dann fragte sie:

„Was sagen Sie dazu, meine Herren?“

„Nun“, sagte der Graf, „ich finde diese Feststellungen nicht aufregend. Die Familien Montoya und Pelaza werden mit den spanischen Eroberern hier gelandet sein und sich ihren gewaltigen Besitz in vier Jahrhunderten erworben haben.“

„Es ist keine Schande, sehr reich zu sein“, sagte Neunauge.

Die Stimme sprach weiter, als hätte die unsichtbare Frau die Antworten gar nicht gehört.

„In diesem Land“, so sagte sie, „zahlen die Mitglieder der Familien Montoya und Pelaza, die vier Fünftel des Landes besitzen, an Steuern zwei Centavos am Tag – die Tagelöhner aber, die nichts besitzen, bezahlen von ihrem Arbeitslohn zwei Centavos die Stunde. In diesem Land können vier Fünftel der Männer und Frauen weder lesen noch schreiben. In diesem Land sind drei Viertel aller Menschen unterernährt. In diesem Land sterben mehr als die Hälfte aller Kinder, die geboren werden, vor ihrem sechsten Jahr. In diesem Land werden die Menschen im Durchschnitt nicht älter als 37 Jahre. In diesem Land werden sie heimgesucht von Malaria, Typhus und Gelbfieber – in diesem Land kommt aber auf 50 000 Menschen nur ein einziger Arzt. Was sagen Sie dazu, meine Herren?“

„Das sind unerhörte Zustände!“ rief Neunauge empört.

„In diesem Land müssen die Gesetze geändert werden“, sagte der Graf.

„In diesem Lande werden die Gesetze nicht geändert“, sagte die Stimme, „denn der Präsident des Landes heißt Montoya, und sein Erster Minister Pelaza. Die Ämter des Landes besetzen sie mit ihren Verwandten, und wer etwa die Stimme gegen sie erheben will, den kaufen sie.“

„Wie können die Menschen hier eine solche Ungerechtigkeit ertragen?!“ rief Neunauge.

„Was Sie fragen“, sagte die Stimme, „das fragte auch Carlos Delgado. Er ging hin und gründete mit seinem Geld eine Zeitung. Er nannte sie ,La Verdad’, die Wahrheit, und darin sagte er, wie es in diesem Land in Wahrheit aussah, und er setzte hinzu: ,Sie sagen, das Eigentum sei heilig. Ich aber sage, es ist nur dann heilig, wenn die Pflichten erfüllt werden, die das Eigentum auferlegt. Wo der Besitz nur dazu da ist, dem Besitzer ein genussvolles Leben zu verschaffen, da ist das Eigentum nicht heilig, sondern schmutzig!’“

„Wahrhaftig“, sagte Neunauge aufgeregt, „das musste hier einmal laut und deutlich ausgesprochen werden!“

„In einem Lande, in dem die Familien Montoya und Pelaza herrschen, darf das niemand aussprechen“, sagte die Stimme, die jetzt vor Zorn bebte. „,La Verdad’ wurde verboten, Carlos Delgado verfemt. Minister Pelaza ließ ihn verhaften. Mit Geld, Orden und hohen Ämtern können der Präsident Montoya und er alles kaufen: Richter, Zeugen, gefälschte Dokumente. Mit den Zeugen und den gefälschten Papieren wurde Carlos Delgado von den bestochenen Richtern überführt, dass er im Auftrag einer fremden Macht die Regierung stürzen und die Macht an sich reißen wolle. Die gekauften und bestochenen Richter sagten, es ginge um Staatsgeheimnisse. Daher wurde alles hinter verschlossenen Türen verhandelt und Carlos Delgado als Landesverräter auf die Bagno-Insel verschickt – lebenslänglich.“

Die dunkle Stimme der unsichtbaren Frau brach ab, als könne sie vor Schmerz und Empörung nicht weitersprechen.

„Das ist ein niederträchtiges Verbrechen“, sagte der Graf. „Ich nehme natürlich an, dass sich alles genau so verhält, wie Sie es darstellen!“

Neunauge sagte gar nichts. In ihm kochte es.

Jetzt sprach der Mann wieder, den sie zuerst gehört hatten.

„Bei allem, was mir heilig ist“, sagte er, „schwöre ich Ihnen, dass es sich genau so verhält, wie Sie es vernahmen. Versetzen Sie sich in unsere Lage: uns ist es unmöglich, Carlos Delgado zu befreien. Das Land ist zu klein. Hier kennt einer den andern. Von uns käme keiner unbemerkt auf die Hölleninsel. Nur unsichtbar können wir ihn retten. Deshalb nennen wir uns die Invisibles, die Unsichtbaren. Wir haben gesammelt, und noch die Ärmsten haben für Carlos Delgado einen halben Centavo gegeben. Als wir das Geld hatten, haben wir nach London geschrieben, die Gesellschaft ,Ubique Terrarum’ solle uns die Befreier schicken. Der Direktor antwortete uns, Sie würden kommen und nun sind Sie da. Morgen geht der Dampfer ,Bella Vista’ nach der Hölleninsel ab. Er bringt neue Gefangene hin. Unter den Gefangenen werden Sie Ihre drei Kameraden finden. Wir haben für sie gefälschte Urteile beschafft. Danach sind sie wegen Falschmünzerei zu zehn Jahren verurteilt. Anders ist es unmöglich, eine Verbindung zu Carlos Delgado herzustellen. Sie, Herr Graf, bekommen ein gefälschtes Empfehlungsschreiben an den Gobernador. Sie treten als Arzt auf, der sich um die Heilung des Gelbfiebers bemüht. Sie und ihre beiden Begleiter werden sich also auf der Insel außerhalb des Gefangenenlagers aufhalten, Ihre drei Kameraden sind im Lager – und wir sind überzeugt, Sie werden Carlos Delgado befreien.“

„Ich hoffe es“, sagte der Graf. „Aber wenn wir ihn frei bekommen haben, dann darf er nicht wieder hierher zurück. Er muss vor der Rache der Montoya und Pelaza sicher sein!“

„Wir hoffen“, sagte der unsichtbare Mann, „dass er in dieses Land zurückkommen wird.“

„Wir brauchen ihn“, sagte die Stimme der Frau.

Der Graf wurde stutzig. Mit einem Male hatte er das Gefühl, ihm werde hier nicht alles gesagt.

„Wozu brauchen Sie ihn?“ fragte er.

Keine Antwort.

„Wenn Sie uns nicht vertrauen“, sagte der Graf, „können wir nur schwer für Sie arbeiten!“

Keine Antwort. Aber die drei hörten erregtes Flüstern, und dann sprach der unsichtbare Mann wieder.

„Wir legen unser aller Schicksal in Ihre Hand“, sagte er. „In diesem Lande kann es nur besser werden, wenn die Familien Montoya und Pelaza nicht mehr herrschen.“

„Sie müssen gestürzt werden!“ rief Neunauge.

„Die Invisibles hoffen, dass der Tag kommt, wo es geschieht“, sagte der Mann.

„Hoffen Sie es nur?“ fragte der Graf.

Noch ein letztes Zögern, dann kam die entscheidende Antwort:

„Wir arbeiten dafür.“

„Aber wenn Sie Montoya und Pelaza zum Teufel gejagt haben“, rief Neunauge, „dann brauchen Sie doch uns gar nicht! Dann verfügt die neue Regierung sofort, dass Carlos Delgado entlassen wird!“

„Niemand weiß“, sagte die Frau langsam, „ob der Umsturz gelingt. Vielleicht wird er in unserm Blut erstickt. Dann wäre Carlos Delgado für immer verloren. Doch wenn wir auch umkommen – er soll leben! Deshalb muss er von Ihnen befreit werden.“

„Das scheint mir richtig gedacht“, sagte der Graf, „und ich wünsche Ihnen, dass Ihnen das erspart bleibt, was Sie befürchten. Aber wie können wir Sie wieder erreichen, wenn das nötig werden sollte?“

„Sie haben die Marimbaspieler auf dem Markt gesehen?“

„Ja.“

„Sagen Sie ihnen das Losungswort der Invisibles, und man wird Sie zu uns führen.“

„Und das Losungswort?“

„Sie kennen es: Niemand sah die andere Seite des Mondes. Das war das einzige, was wir für Carlos Delgado tun konnten: wir haben ihm die Losung auf seinen schweren Weg mitgegeben.“

Der Graf wusste noch nicht alles, was er wissen wollte.

„Sagen Sie mir ein Wort über den Gobernador der Bagno-Insel – was ist das für ein Mann?“

„Ein Teufel!“ rief die Frauenstimme voller Empörung.

„Der Gobernador“, sagte der unsichtbare Mann beherrscht, aber erbarmungslos, „ist sowohl mit dem Präsidenten Montoya wie dem Minister Pelaza verwandt. Er bereichert sich dadurch, dass er die Rationen, die für die Gefangenen bestimmt sind, zum größeren Teil für sich behält und verkauft. Der Gobernador lässt die Gefangenen verhungern und verkommen. Der Gobernador hat unter den Gefangenen schlimme Mörder – aber keiner seiner Gefangenen hat so viele Menschenleben auf dem Gewissen wie er selbst.“

„Hoffentlich habe ich Gelegenheit, diesem Miststück von Menschen meine ehrliche Meinung zu sagen!“ rief Neunauge.

„Sie werden jetzt am besten gehen“, sagte der unsichtbare Mann. „Finden Sie in Ihr Hotel zurück?“

Der Graf bejahte das und wollte eben noch ein gutes Wort zum Abschied sagen, als Plumpudding ihn am Arm berührte. „Sagen Sie den Leuten noch, dass mir so war, als wäre uns ein Mann vom Hotel bis in diese Straße nachgegangen.“ „Wie sah er aus?“ fragte der Graf.

„Graue Hose, rötliches Hemd – der linke Ärmel fast ganz abgerissen.“

Der Graf übersetzte das. „Seien Sie unbesorgt“, war die Antwort. „Wir passen schon auf.“

„Wir gehen“, sagte der Graf. „Hoffentlich gelingt uns alles, was wir und Sie vorhaben!“

„Viva Carlos Delgado, el Libertador! Gott schütze Sie und Carlos Delgado!“ Die Stimme des Mannes, der das sagte, klang so gedämpft wie bisher, aber jetzt bebte sie in leidenschaftlicher Erregung.

„Befreit den Befreier!“ sagte die dunkle Frauenstimme.

Die drei tasteten sich wieder zu dem schwachen Lichtschein der Treppe, schritten über den Hof und kamen durch den Gang auf die Straße. Das Dunkel, aus dem sie kamen, hatten sie hinter sich, aber von dem, was sie gehört hatten, waren sie noch ganz benommen.

„Das ist der großartigste Auftrag, den wir je bekommen haben“, sagte Neunauge begeistert. „Bei Gott, hier müsste den Herrschaften Montoya und Pelaza in die Suppe geniest werden.“

„Wann treffen wir den Chef?“ fragte Plumpudding.

Der Graf unterrichtete ihn. Plumpudding sah bekümmert aus. „Auch in Irland hat es schon schlimm ausgesehen“, sagte er. „Aber in diesem Land muss es ja höchst übel sein!“

„Ein wahres Glück, dass es unsere Company in London gibt“, sagte Neunauge. „Wenn sie nicht schon existierte, dann müsste sie sofort gegründet werden!“

Der Rückweg war ihnen klar: von hier mussten sie erst zu dem Markt, dann durch die Calle da las Pumas bis zu der großen Avenida, und von ihr kamen sie zu der Plaza Central. Noch waren sie in der verwahrlosten Straße ohne Namen. Immer noch meckerten aus den schlechtgehaltenen Ställen die Ziegen, blökten Schafe. Aber nirgends war mehr ein Mensch zu sehen. Es war, als ob sie alle wie auf einen Befehl verschwunden waren. Die Leere hatte etwas Unheimliches. Unwillkürlich sahen sie sich im Gehen suchend um.

Plumpudding blieb stehen. „Da!“ sagte er und wies auf ein unbebautes Grundstück.

Zwischen zwei Abfallhaufen lag ein Mann. Er hatte eine graue Hose und ein rötliches Hemd an. Sein linker Arm war nicht zu sehen.

„Der schläft!“ sagte Neunauge.

Sie gingen auf den Mann zu. Jetzt sahen sie, dass der linke Hemdsärmel fast ganz abgerissen war.

„Er schläft nicht“, sagte der Graf, „er ist tot.“

„Erstochen“, sagte Neunauge.

„Ja. Mitten ins Herz.“

„Die Unsichtbaren lassen nicht mit sich spaßen“, sagte Neunauge.

Der Graf sah auf den Unglücklichen, der da für immer stumm auf der Erde lag. „Schrecklich“, sagte er. „Jetzt wollen die Invisibles an die Macht kommen, damit es hierzulande besser wird – aber wie kann es besser werden, wenn sie selbst nicht einmal vor einem Mord zurückschrecken?!“

Rasch gingen sie weiter. Sie mussten den Toten liegen lassen, wo er lag, damit sie nicht noch in den Verdacht gerieten, mit der bösen Sache zu tun zu haben. „Mir ist, als gingen wir über einen Boden, aus dem in jedem Augenblick ein Vulkan ausbrechen kann“, sagte der Graf.

Als sie in das Gran Hotel kamen, gab ihnen der Portier einen großen Briefumschlag und ein Paket. „Für Sie abgegeben, Señores!“

Sie gingen auf das Zimmer des Grafen. Das Paket enthielt die Pistolen der drei, die sie als verurteilte Sträflinge nicht mehr bei sich haben konnten, und in dem Umschlag steckte ein verschlossener Brief mit der Aufschrift: „An seine Exzellenz Carillo de Montoya y Pelaza, Marqués de la Genuela, Gobernador de la Isla del Baño.“

„Und hier ist ein Zettel vom Chef“, sagte der Graf und las vor: „Lieber Graf, wir fahren morgen auf demselben Schiff zu der Insel, wir drei als Gefangene, Sie mit dem Gobernador. Er wird an Bord sein. Verhältnisse auf der Insel sind unbekannt, Sie sind draußen, wir drinnen. Erste Aufgabe: wie uns verständigen? Dann weitersehen. S.“

„Aber warum muss der Chef als Zuchthäusler gehen?“ fragte Plumpudding bekümmert. „Das hätte man ihm doch abnehmen müssen.“

„Das ist mir jetzt ganz klar“, sagte der Graf. „Der Chef muss dort sein, wo es am gefährlichsten ist – mitten in der Hölle. Und GG muss bei ihm sein, weil er Spanisch spricht, und Figur ist wohl für diese sonderbare Lage auch genau der richtige Mann!“

„Jedenfalls hoffe ich zweierlei“, sagte Neunauge. „Erstens, dass wir diesen Monsieur Delgado herausholen, denn das scheint ja ein Mann zu sein, von denen es auf dieser Erde zu wenig gibt, und zweitens, dass wir dem Gobernador dazu verhelfen, aus diesem Lande zu verschwinden, denn er gehört zweifellos zu denen, die niemand vermissen wird.“

,Bella Vista’ – Schöne Aussicht

Der Hafen war tief genug, dass hier auch die großen Bananentransporter ankern konnten, die ,Bella Vista’ aber war nur ein kleiner Küstendampfer und hatte unmittelbar an dem mittleren Landungssteg festgemacht. Eine dichte Menschenmenge umlagerte ihn. Soldaten verwehrten den Zugang. Es waren dunkelhäutige, barfüßige Indianer in zerlumpten Uniformen, mit Bajonetten auf den geladenen Karabinern und Handgranaten im Koppel. Zu den großen Schiffen dröhnten Lastwagen heran, die Ladekrane rasselten, die Luft war schwer von Staub und Gewürzgerüchen. Kein Windhauch ging, die breiten Wedel der Uferpalmen rührten sich nicht, die Segel der kleinen Boote hingen schlapp, schwarzbraune, orangerote, safrangelbe, rostfarbene bunte Flecken, und auf Meer und Erde brannte von dem wolkenlosen Himmel eine gnadenlose Sonne herab.

Mühsam bahnten sich der Graf und seine beiden Begleiter mit dem Gepäck einen Weg durch die Menschenmauern, und das wäre ihnen nicht so leicht geglückt, wenn nicht vor ihnen ein Offizier in einer hellblauen Uniform, mit blitzenden Adjutantenschnüren über der rechten Schulter, das gleiche Ziel wie sie gehabt hätte. Mit seiner Reitpeitsche schlug der geschniegelte Herr unbekümmert auf die Menschen ein, die daraufhin schreiend Platz machten, und gewissermaßen in seinem Kielwasser kamen die drei weiter. Aber als sie bis an die Soldatenkette vorgedrungen waren, die der Offizier natürlich passiert hatte, hielten ihnen die Krieger ihre Bajonette vor den Leib. Der Graf zeigte seinen Brief an den Gobernador – jedoch alle schüttelten den Kopf, keiner von ihnen konnte lesen. Sie schrieen aber etwas zum Schiff hin, worauf ein hochgewachsener Mestize erschien, barfuß wie die andern auch, in verschlissener Hose und ebensolchem Rock, jedoch mit einem abgeblassten roten Winkel auf dem Ärmel. Der nahm den Brief und besah gewichtig die Adresse. Aber er hielt die Aufschrift verkehrt und tat offenbar nur so, als ob er lesen könne. „Gobernador?“ sagte der Graf deshalb, hielt ihm dabei eine Schachtel Zigaretten hin, und „Está bien, Señor, esta bien (Ist in Ordnung)!“ rief der Unteroffizier begeistert, gab den Brief mit einer Verbeugung zurück, schimpfte die Soldaten ungebildete Urwaldaffen, die mit Señores nicht umzugehen wüssten, und brachte die Herren an Bord.

Sie betraten das Deck, und als sie erst von nah sahen, was sie vom Lande aus schon bemerkt hatten, blieben sie unwillkürlich stehen. Der Dampfer war niedrig und breit. Auf seinem Heck erhob sich ein großer eiserner Käfig, etwas mehr als mannshoch und fast über die ganze Breite des Schiffes. Der Unteroffizier grinste wohlgefällig: „Para los criminales (Für die Verbrecher)!“

Keiner von den dreien sagte etwas, aber jeder von ihnen dachte dasselbe: in diesem Käfig werden unter den Verbrechern auch ihre Kameraden hocken...

„Harán el favor, señores (Wenn ich bitten darf)!“ sagte der Mestize und zeigte auf die Kajüte, die sich unter der Kommandobrücke befand. Offenbar hielt sich dort der Gobernador auf. Im selben Augenblick jedoch zuckte der Unteroffizier zurück. Denn aus der Kajüte kam ein furchtbares Gebrüll, ihre Tür flog auf, und der Offizier, der sich so rücksichtslos seinen Weg durch die Menge gebahnt hatte, schoss durch sie davon, als wäre der Gottseibeiuns hinter ihm her. Aus der Kajüte aber, deren Tür noch offen stand, brüllte es weiter.

Der Unteroffizier wagte nicht mehr, den Fremden beim Gobernador anzumelden. Er wies nur stumm auf die offene Tür und verschwand. Der Graf trat heiter und nicht ohne eine gewisse Spannung ein. Sofort brach das Gebrüll ab. Aber er stand vor dem Manne, der es ausgestoßen hatte.

Eine schneeweiße Uniform umschloss einen menschlichen Koloss. „Lebendgewicht: zweieinhalb Zentner!“ dachte der Graf. Über dem goldbestickten Kragen stand der vor Zorn rote, völlig haarlose Schädel wie ein eben aufgegangener Mond. Vorn quoll ein Doppelkinn aus dem Goldrand, im Nacken eine gewaltige Speckfalte.

„Ich habe wohl das Vergnügen“, sagte der Graf auf französisch, „dem Herrn Gobernador meine Aufwartung zu machen. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Ich bin Gaston de Montfort, Comte de Darifant-Croy.“

Der Name verfehlte seine Wirkung nicht. Stumm wies der Gobernador auf einen Stuhl und sank selbst auf eine Sitzgelegenheit, die ächzte, als er sich ganz in ihr niedergelassen hatte.

„Ich habe die Ehre, Eurer Exzellenz diesen Brief zu überreichen“, sagte der Graf und übergab sein Empfehlungsschreiben.

Wortlos nahm der weißgoldene Koloss es entgegen, riss den Umschlag auf, überflog die Zeilen, warf den Brief auf den Tisch und den Umschlag auf den Fußboden. „Der Innenminister schreibt mir“, bemerkte er keuchend, „Sie wollen sich auf der Bagno-Insel um das Gelbfieber kümmern. Der Innenminister bittet mich, für Sie zu tun, was mir nur möglich ist. Aber ich will Ihnen etwas sagen, mein Herr: der Innenminister kann –“

Jetzt schlug der Gobernador Seiner Exzellenz dem Herrn Innenminister eine Tätigkeit vor, die in keinem Verhältnis zu seinem hohen Amt, zu seiner Würde stand und die eigentlich überhaupt keinem Menschen zugemutet werden sollte. Damit aber war diese Sache für ihn abgetan, und aus ihm brach wieder auf, was seine brüllende Wut hervorgerufen hatte.

„Dieser General!“ schrie er. „Dieser menschliche Unglückshaufen, der sich General nennt – wissen Sie, was ein General ist, Herr?!“

„Mit ,General’“, sagte der Graf, „bezeichnet man meines Wissens die höchste Rangklasse der Offiziere, und sie hat ihrerseits wieder verschiedene Stufen –“

Der Gobernador machte eine wegwerfende Bewegung. „Dieser General, von dem ich rede, ist ein Mann ohne Scham. Sehen Sie, eines Tages esse ich in einem kleinen Restaurant, weil ich gehört habe, dass man da gut isst. Ich bestelle als Vorspeise eine Torta de espargos, und ich bekomme sie, wie sie mir noch nie in meinem Leben serviert worden ist. Darauf bestelle ich einen Kapaun, und mir wird ein Kapaun vorgesetzt, wie ich ihn auch noch nie bekommen habe: mit frischem Hirn gedämpft und einer halben Unze Zimt! Ich lasse mir den Koch holen. Ich sage ihm: ,Du kommst mit auf meine Insel, und ich zahle dir ein fürstliches Honorar!’ Der Kerl sagt nein. Ich biete ihm das Dop