Erinnerungen –
einer besseren Zukunft wegen
Max Bräutigam
Autor
Max Bräutigam wurde 1939 in München geboren. Nach Volksschule, Handwerkerlehre, zweitem Bildungsweg, Maschinenbaustudium ein sehr interessantes und vielseitiges Arbeitsleben im Anlagen- und Apparatebau. Seit einigen Jahren im „Ruhestand“, lebt er abwechselnd im Chiemgau und in München. Kultur, Technik und Gesellschaft sind seine Schwerpunkte in geselliger Diskussion.
In der Kindheit in der Umgebung von Ruinen und Schutt in den Kriegs- und Nachkriegsjahren im Zentrum der Stadt München aufgewachsen. Der Vater am Ende des Krieges gefallen – die Mutter mit zwei Kindern bewältigte den Alltag.
Die Biographie des Autors ist in seiner Trilogie „Des bin I“ mit den Titeln: „Es war überwiegend heiter“, „Eine etwas andere Betrachtungsweise“ und „Fragen, die sich stellen – mein eigenes Interview“ beschrieben.
Nach der Zerstörung
ist vor der Zerstörung
Widmung an meine Enkel Amelie, Charlotta, Felix und Filippa
Amelie und Felix sind im Abstand von drei Jahren, Charlotta und Filippa ebenfalls und die vier in Reihe sind im Abstand von etwa einem Jahr geboren. Als das älteste Enkelkind drei Jahre war, erwachten bei mir Erinnerungen an diese Zeit, ich versuchte, diese abzurufen. Wie war es bei mir in diesem Alter, wie war der Alltag, wie war es zu Hause, im Sommer und im Winter?
Vorab eine Ergänzung zum Titel „Erinnerungen – für ein besseres Leben“. Es soll nicht heißen, bitte noch mehr Kaviar, sondern, wie können wir den Frieden sichern?
Es war vorgesehen, dass dieser Text in Ergänzung zum Bildband „Ruinen-Jahre“, herausgegeben von Richard Bauer, dem langjährigen Leiter des Stadtarchivs in München, ausgehändigt werden kann. Dies ist leider nicht möglich. Dieses Buch ist vergriffen und wird voraussichtlich nicht wieder neu aufgelegt – dies ist sehr bedauerlich!
Die beschriebenen Erlebnisse und die eindrucksvollen Fotos vermitteln ein Gesamtbild. Die Fotografien beginnen zu sprechen. Die Fotos zeigen die Straßenszenen, nachdem der Schutt bereits geräumt war. Bilder in den Stunden und Tagen der Zerstörung sind ausgenommen.
Ein Rückblick soll es sein und dabei soll die Veränderlichkeit der Bewertungen von prägenden Erlebnissen aus eigener Erfahrung und eigenem Erleben aufgezeigt werden. Es soll aber auch aufzeigen, wie wichtig frühe eigene Erlebnisse und Erfahrungen für den weiteren Weg und den Umgang mit Gefahren sind.
Eine Reportage-Literatur soll es werden, wobei Subjekt und Objekt in einer Person eingebracht werden – ähnlich wie in meinem Buch „Fragen, die sich stellen – mein eigenes Interview“.
Meine Kindheit ist in meinem ersten Buch „Es war überwiegend heiter“ bereits kurz beschrieben. Dennoch werde ich manche Szenen nochmals aufführen, um so dem Leser auch die gesamte Situation stimmig zu vermitteln.
In der Welt ist alles eine Frage des Maßstabes, alles ist relativ, so auch die Bewertung der beschriebenen Erlebnisse.
Ich bin erschüttert, begeistert, fassungslos zugleich, was sich seit meiner Geburt in den mehr als sieben Jahrzehnten verändert hat. Nun, danach kann man bei Interesse unterhaltsam in der Bibliothek stöbern, nachlesen und auch Filme ansehen.
Ich will es meinen Kindern, besonders meinen Enkeln in einem Vis-à-vis erzählen. Primär den Enkeln, denn aus eigener Beobachtung sind sie die besseren Zuhörer. Die Eltern sind voll im Alltag und werden vermutlich erst später daran Interesse zeigen.
Der Reiz dieser Niederschrift ist, zu erfahren, wie die Erinnerungen wieder lebendig werden und wie diese sich hier mit denen meiner älteren Schwester schrittweise zu einem relativ geschlossenen Bild fügen und ergänzen.
Den Auftrag für diese Niederschrift habe ich mir selbst erteilt. Diese soll bei meinen Enkeln, Kindern, Freunden und allen interessierten Lesern in Ergänzung zu den Geschichtsbüchern und Dokumentationen als persönliches Erlebnis hinzugefügt werden. Es werden überwiegend beobachtete Details beschrieben, die aber auch teilweise mit heutigen Bewertungen beleuchtet werden.
Die Struktur für diese Niederschrift ist zunächst konzentrischen Kreise vergleichbar, die sich nach einem Steinwurf in ein stilles Wasser nach allen Seiten ausbreiten. Der große Wurf war natürlich meine Geburt (als mich der Herrgott schuf). Je weiter zurückliegend, umso detaillierter die Beschreibung – so mein Ansinnen. Die Erlebnisse vom Opa für die Nachkommenschaft erzählt, sind lebendiger als die Infos aus einem Lesebuch. Es sind die Szenen des Alltags die den Stoff liefern – auch in schwierigster Zeit hat das Leben einen Alltag.
Bei der Niederschrift der Situationen, der Ereignisse und Eindrücke hatte noch die Entscheidung angestanden, zwischen Erinnerung und der sich ständig wiederholenden Erzählung zu unterscheiden. Die Grenzen sind und bleiben aber unscharf.
Das Buch hätte ich auch mit „Frühe Erfahrungen und Prägungen“ überschreiben können. Dieser Titel hätte mein ständiges Thema getroffen, da aus meiner Beobachtung in den letzten Jahrzehnten überwiegend nur noch Lehrstoff vermittelt und Verordnungen produziert werden und dabei die „erlebte Physik“ vernachlässigt wird. Mein Leitsatz hingegen lautet, dass das Wissen erst durch Erfahrung brauchbar wird.
Die Erzählungen aus der frühen Zeit, den Anfängen der Erinnerung, sind besonders reizvoll, da die Bewertungen im Vergleich zu denen aus der Gegenwart entweder ein Schmunzeln, überwiegend aber ein Kopfschütteln erzeugen. Diese Stimmung, die erlebte Vergangenheit besonders der Vierzigerjahre und im Vergleich die Beobachtung der Gegenwart führt zu Unverständnis. Wie können die Personen, die dieses Desaster der Vierzigerjahre, diesen Weltuntergang, diese Apokalypse überstanden haben, die heute in der Rolle der Großeltern sind, eine Gesellschaft aufbauen, bei der nur noch Gier, Anspruchsdenken und Schuldzuweisung das Leben bestimmen und diese Lebensform den Kindern als Vorlage präsentieren. Eine große Chance wurde vergeben. Die Freude an der eigenverantwortlichen Gestaltung seines Lebens wurde nur von Einzelnen als persönliches Leitmotiv umgesetzt. So versteht sich auch das Ergebnis dieser Veränderung in der Bewertung, dass nun Deutschland eine der reichsten Nationen auf dieser Erde ist, aber bei der Bevölkerung die Zufriedenheit im Vergleich mit anderen Ländern auf dieser Welt auf Rang 37 eingeordnet wird.
Fürs Erste eine großartige Leistung – aber letztlich: Ziel verfehlt!
Der Titel wurde letztlich zu „Erinnerungen – einer besseren Zukunft wegen“ fixiert. Damit ist auch das Ziel verbunden, die veränderte Bewertung sozialer Sicherheit und deren Gesetze zu beleuchten.
Einen besonderen Dank gilt meiner Schwester, die in vielen Gesprächen mit vielen Fragen belastet wurde.
Diese Niederschrift werte ich als Denk-mal an die Eltern.
Bilder der Erinnerung wurden aufgerufen, Szenen rekonstruiert, Zeitzeugen hinterfragt, Fotoalben aus dem Schrank geholt und begleitende Literatur aus dem Bücherschrank vorgelegt. Gelegenheiten wurden genutzt, sowohl bei den Treffen mit Gleichaltrigen als auch bei der Recherche zu meinem ersten Buch. Im Stadtarchiv sammelte sich einiges an Bildern, Schilderungen und Bemerkungen an. Ich begann mit der Niederschrift meiner Erinnerungen, als der Krieg schon im vollen Gange war – Stalingrad im Winter 1942/43 und ich nahezu vier Jahre war – ein Alter, in dem biologisch die ersten Bilder gespeichert werden können. Zu der Zeit kam der Krieg von allen Seiten nach Deutschland. Nun, die Schilderung und die Wiedergabe der Erinnerung und gleichzeitig die Beobachtung der Heranwachsenden, der Enkel und deren soziales und wirtschaftliches Umfeld forderten mehr und mehr Aufmerksamkeit.
Die Niederschrift beginnt mit den frühesten Erinnerungen, die etwa auf das Alter von drei bis vier Jahren zurückgehen. Es wird gleich zu Beginn aus zwei Gründen schwierig, zum einen, was ist davon wahr und was resultiert aus den sich ständig wiederholenden Erzählungen? Zum anderen, war alles vom Dialekt geprägt. Dieser ist ausdrucksvoll in der Aussprache und in der unterstützenden Gestik und Mimik, jedoch für den Dialekt existiert keine Schreibschrift, bestenfalls eine internationale Lautschrift.
Erinnerung ist bei uns Menschen ein sehr komplexer und komplizierter Vorgang, der auch geübt werden kann. Auch Säugetiere verfügen über ein Erinnerungsvermögen. Erinnerungen sind primär auf Erfahrungen begründet und sichern so die Arterhaltung. Bei uns Menschen hat es sich in den letzten Jahrzehnten etwas anders entwickelt. Ursache ist die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnik und deren Konsum. Man hört und sieht, nimmt aber das Geschehen nicht wahr – es verfliegt. Abhilfe ist bereits eingeleitet – die Bilder und die Töne werden deshalb schockierender dargeboten, bis eine weitere Steigerung erforderlich ist. Natürlicher und effektiver ist es, sein Gehirn bereits als Kind in klaren und ausbaufähigen Strukturen aufzubauen und dann die einzelnen Felder mit Wissen und Erfahrung zu füttern.
Im vorliegenden Fall ist es schwierig, denn diese meine Erinnerungen liegen so weit zurück, dass der geneigte Leser es nur glauben, nicht aber mit seinen eigenen Erlebnissen verknüpfen kann.
Jedoch erscheint es mir wichtig, dass die Erlebnisse, wie ich sie aus der Erinnerung darlege, nicht verlorengehen. Es war eine bittere Realität, deren Wiederholung es zu vermeiden gilt.
Vielleicht hilft es auch, die Nachrichten zu verstehen – nicht nur die Meldung aufzunehmen. Aktuell die Szenen in Syrien. Selbst sehr gravierende auch erschütternde Nachrichten und Bilder werden nicht länger als drei Tage nacheinander gemeldet – dann Szenenwechsel. Spätestens am vierten Tag weiß keiner mehr von diesem Geschehen.
Die Diskussion über den Wert und die Gestaltung des Geschichtsunterrichts ist überflüssig geworden. Es wird scheinheilig der Stellenwert hochgehalten, gesellschaftlich werden aber nur Zahlen vermittelt, denn diese sind in den Prüfungen eindeutig zu bewerten.
Anfang der Sechzigerjahre, damals als jugendlicher Draufgänger, war ich in den Wüsten Nordafrikas unterwegs. Tief beeindruckt von diesen Landschaften, die auch die großen monotheistischen Glauben prägten, stellte sich mir die Frage: Wie kann ich dies mit meinen Fotos vermitteln? Ich wagte ein kleines Experiment und zeigte bei einem Lichtbildervortrag eine relativ große Serie nur mit Bildern aus der Wüste – ohne Worte. Es wurde mir anschließend bestätigt, dass der Eindruck der Wüste vermittelt werden konnte.
Ob man nur über eine Landschaft fliegt oder sie erwandert oder ob man zur Information und aus Interesse über ein Land liest oder nur im Internet surft – es sollen Bausteine für ein stabiles, belastbares Gedankengebäude werden.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist in diesem Buch verschiedentlich vorzufinden – es ist der Bezug zur die Gegenwart und ihrer gesellschaftlichen Bewertung in Gesetzen und Verhaltensregeln. Das Ergebnis wird bei den Lesern unterschiedlich ausfallen. Manches führt zum Schmunzeln, manchmal zeigt sich ein „dicker Hals“.
Die Vergangenheit aufarbeiten. Ein großes Thema in der Nation, in der Gesellschaft und in all den Ecken und Spalten bis hin zu den Familien. Wir fragten schon vor der revolutionären Achtundsechziger Bewegung, wer in der nächsten Umgebung war denn Nazi? Wir lernten mit deren Antworten umzugehen.
Wie war dies alles möglich und wie kann eine Wiederholung vermieden werden? Nahezu siebzig Jahre nach dem Kriegsende werden überraschend viele informative Dokumente im Fernsehen gezeigt. Ein wesentlicher Beitrag gegen das Vergessen. Es sind auch viele institutionelle und bürgerliche Initiativen aufgestellt. Das Problem wird in der Zukunft sein, dass der Personenkreis der Erlebnisgeneration immer kleiner und der der Erkenntnisgeneration immer größer wird. Mein Leitsatz, von einem Philosophen entliehen, dass Wissen erst durch Erfahrung brauchbar wird, hat auch hier seine Gültigkeit. Dennoch brauchen wir keinen Krieg gegen das Vergessen. Dieses Buch soll ein Beitrag gegen das Vergessen sein.
Ein Bengel im trotzigen Alter – irgendetwas war quergelaufen und ich war in Hochform. Ich war auf dem Arm meines Vaters, der im Fronturlaub zu Hause ein Idyll erwartet hatte. Er versuchte mich zu beruhigen, vergeblich.
Es war im Stadtkern von München irgendwo zwischen Viktualienmarkt und Heilig Geist Kirche, die ich von Kind auf liebte, vermutlich wegen ihrer vielen zu entdeckenden barocken figürlichen und gemalten Details. Die Gebrüder Asam waren mir in jener Zeit kein Begriff, dennoch, die Darstellungen zeigten Wirkung. Und so muss wohl mein Schmerz unendlich gewesen sein, der mich zu der Aussage brachte: „Ein Busserl (Küsschen) mag ich nicht und ein Guatl (Bonbon) mag ich auch nicht und in d‘ Kirch‘ geh ich auch nicht.“
Der Viktualienmarkt und die Heilig Geist Kirche waren die westliche, der Vater-Rhein-Brunnen nördlich des Deutschen Museums zwischen den beiden Isararmen die östliche Begrenzung meiner Welt. Nach Süden und Norden hingegen waren die Grenzen weiter gesteckt. Es existieren noch Fotos von Radausflügen, ich auf dem Kindersitz auf Papas Rad isaraufwärts bis Talkirchen oder isarabwärts nach Ismaning, dem Geburtsort der Eltern.
Meine Eltern wurden Städter. Beide aufgewachsen in einer sehr ländlichen Umgebung, wenn auch nur zwölf Kilometer Luftlinie entfernt vom Stadtzentrum der bayerischen Landeshauptstadt. Die Eltern meiner Mutter bewirtschafteten einen mittelgroßen Bauernhof mit Vieh und Ackerflächen, beides in der gesamten Produktpalette. Meine Mutter ist dort mit drei weiteren Schwestern und zwei Brüdern aufgewachsen. Der älteste Bruder wanderte im wirtschaftlichen Desaster zwischen den beiden Weltkriegen im Jahr 1923 in die USA aus, vermutlich hatte er keine Erbansprüche. Um die Reise zu finanzieren, verkauften die Eltern ein Schwein. Dieses wurde auf der Dorfstraße zum Metzger geführt. Mit dem Geld, dem Bargeld, vermutlich in einer großen Tüte, ging man direkt zum Schalter, um das Billet‘l zu kaufen – die Inflation ging im Stundentakt voran. Ich kannte ihn nur aus Erzählungen und auch nur unter dem Namen „Amerika‑Franzl“. Er hatte in München eine Lehre als Elektromechaniker absolviert und war sehr geschickt. Er bastelte Radioempfänger und baute sich auch ein Motorrad. Im Dorf war er für die Jugend und auch allgemein ein bewunderter junger Mann. Eines Tages beantragte einer seiner Fans bei ihm, sein Motorrad putzen zu dürfen. Franzl gestattete es ihm, jedoch mit der Auflage zuerst die Hände zu waschen. Mein Onkel und späterer Vaterersatz machte Musik und verweilte in jungen Jahren in Hamburg und sonst wo. Meine Mutter ging ebenfalls mangels besserer Aussichten als Haushälterin zu nobleren Haushaltungen, überwiegend jüdisch geprägte Familien, nach Holland und in die Schweiz.