Franz Sauter

Die tonale Musik

Anatomie der musikalischen Ästhetik

Books on Demand

Das Buch behandelt die Ästhetik der tonalen Musik. Analysiert werden Klangformen wie Konsonanz, Dissonanz, Tonalität, Takt, Kontrapunkt oder Motiv. Dabei zeigt sich: Alle harmonischen, rhythmischen und melodischen Klanggestalten sind ihrem Wesen nach Verhältnisse des klanglichen Zusammenpassens. Als solche sind sie systematisch aufeinander aufgebaut und bilden ein Ensemble aus acht ästhetischen Prinzipien, denen jeweils ein Kapitel dieses Buches gewidmet ist. In der logischen Abfolge dieser Kapitel wird der innere Zusammenhang von Harmonie, Rhythmus und Melodie offen gelegt. Musikalische Erscheinungen, die bisher von Musiktheoretikern nur interpretiert wurden, werden in diesem Zusammenhang erklärt. Von bislang gängigen Dogmen lässt sich die Untersuchung nicht beirren. Das Vorurteil zum Beispiel, der Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz sei nicht objektiv fassbar, ist für eine rationelle Musiktheorie nicht maßgeblich. Auch der Problematisierung und Relativierung, welche die Tonalität vielfach erfährt, kann sich das Buch nicht anschließen – aus guten Gründen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage 2000
2., verbesserte Auflage 2001
3., ergänzte Auflage 2003
4., überarbeitete Auflage 2010

© 2010 Franz Sauter, Hamburg

Internet: www.tonalemusik.de

Redaktionelle Mitarbeit: Mathias Günther, Till Martin

Herstellung: Books on Demand GmbH

Alle Rechte liegen beim Autor.

ISBN 978-3-7322-2087-8

Inhalt

„Seit längerer Zeit ist man bemüht, unsere Musik theoretisch zu begründen. Noch immer müssen wir uns gestehen, daß wir eigentlich kein wahres System haben ... Der musikalische Galilei fehlt uns noch ...“ (Heinrich Josef Vincent, Die Einheit in der Tonwelt, Leipzig 1862, Vorwort)

„... eine echte Theorie, eine wissenschaftlich fundierte Musiktheorie, die ihren Namen verdient, ... gibt es indessen noch nicht.“ (Martin Vogel, Die Lehre von den Tonbeziehungen, Bonn 1975, S. 358)

Vorwort

Harmonie, Rhythmus und Melodie sind die drei grundlegenden Wesensmerkmale unserer heutigen Musik, die meist in einem Atemzug genannt werden. Dass sie nur zufällig in der Musik zusammenträfen, wird daher niemand ernsthaft behaupten wollen. Dennoch findet man bisher nirgends eine Darstellung der Musik, die den Nachweis für die notwendige Zusammengehörigkeit dieser drei ästhetischen Charaktereigenschaften erbringt und die musikalischen Begriffe entsprechend entwickelt. Stattdessen werden Harmonik, Rhythmik und Melodik in Musiklehren als Teilgebiete nebeneinander gestellt, die keinerlei inneren Zusammenhang erkennen lassen. Dies ist symptomatisch für einen Zustand der Musikwissenschaft, auf den noch immer das zutrifft, was bereits im 19. Jahrhundert über die Bemühungen um ihre theoretische Fundierung bemerkt worden ist:

„Alle Versuche der Art sind bis jetzt nicht im stande gewesen, ein wirklich haltbares wissenschaftlich-musikalisches System, nach welchem durch ein Grundprinzip alle Erscheinungen im musikalischen Gebiete als stets notwendige Folgerungen sich dargestellt finden, zu schaffen ... Was aber in musikalischen Lehrbüchern von wissenschaftlicher Begründung niedergelegt ist, hat sich bisher nicht bewährt, weil es teils ... ebensowenig im stande war, ein in sich abgeschlossenes System mit zweifellosen Folgerungen zu schaffen, teils als phantastisches Gebilde aller wissenschaftlichen Grundlage entbehrte.“ 1

Das vorliegende Buch über die tonale Musik und die Gesetze ihrer Schönheit ist hervorgegangen aus dem 1980 begonnenen Projekt, eine alte Forderung endlich einmal einzulösen und die musikalischen Grundgestalten systematisch und in sich schlüssig darzustellen. Der Leser soll nunmehr Auskunft darüber erhalten, was harmonische, rhythmische und melodische Strukturen gemeinsam haben, worin sie sich unterscheiden und wie sie innerlich zusammenhängen. Dass eine solche Analyse auch ein paar überraschende Ergebnisse erbringt, liegt in der Natur eines Vorhabens, das sich nicht mit dem bisherigen Erkenntnisstand der Musikwissenschaft zufrieden geben wollte. Der Leser ist also herzlich eingeladen, eine ganze Reihe von ungewohnten Feststellungen und Schlussfolgerungen auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen.


1 Ernst Friedrich Richter, Lehrbuch der Harmonie, Leipzig 1886, Vorwort zur ersten Auflage (von 1853)

I. Harmonik

1. Konsonanz

a) Harmonie der einfachen Konsonanz

Die tonale Musik ist Musik auf harmonischer Grundlage. Den Schlüssel zu ihrer Ästhetik liefert die Analyse der Dur- und Mollklänge, der Grundklänge der tonalen Musik. Es wird sich dann im Fortgang der Untersuchung herausstellen, wie auf der Harmonie dieser beiden Klangfiguren jegliche Harmonik, Rhythmik und Melodik der tonalen Musik aufgebaut ist.

Dur- und Mollklänge

Dur- und Mollklänge sind Dreiklänge, deren Töne miteinander harmonieren. Charakteristisch für diese Dreiklänge sind die Verhältnisse zwischen den drei Tönen, die Grundton, Terz und Quinte heißen. Nur wegen und innerhalb dieser Verhältnisse fungieren Töne als Grundton, Terz oder Quinte. Es ist daher durchaus sachgemäß, dass die Töne Terz und Quinte nach ihrem Verhältnis zum Grundton benannt sind, der seinerseits ohne diese Verhältnisse kein Grundton wäre.

Das Verhältnis zwischen den Tönen Terz und Quinte ist wiederum eine Terz. Jeder Dur- oder Mollklang enthält in seiner Grundform eine kleine und eine große Terz, die sich zu einer Quinte ergänzen. Beim Durklang liegt die große Terz unten, beim Mollklang oben. Beiden Klangformen gemeinsam ist eine besondere Harmonie, die man Konsonanz nennt. Das Wesen dieser Harmonie soll nun geklärt werden.

Die Harmonie der Dur- und Mollklänge hängt offensichtlich mit den charakteristischen Schwingungsverhältnissen zusammen, die sich an diesen Klängen feststellen lassen:

Tonfrequenzen bei zwei Dreiklängen

Die Frequenzverhältnisse in diesen Klängen sind:

Quinte: 660 Hz : 440 Hz = 3:2
Große Terz: 550 Hz : 440 Hz = 660 Hz : 528 Hz = 5:4
Kleine Terz: 660 Hz : 550 Hz = 528 Hz : 440 Hz = 6:5

Die mathematischen Verhältnisse zwischen den Frequenzen harmonierender Töne sind beim Instrumentenbau von Interesse, wo diese Proportionen im Hinblick auf die Abmessungen von Hohlräumen oder Saiten berücksichtigt werden müssen. Eine Orgelpfeife zum Beispiel muss um so länger sein, je tiefer ihr Ton und je kleiner daher die zugehörige Tonfrequenz ist. Die Bünde an einem Gitarrenhals müssen so angebracht sein, dass zwei Töne, die sich wie Grundton und Quinte zueinander verhalten, auf derselben Saite gespielt werden können, weil sich die Längen der zum Schwingen gebrachten Saitenteile wie 2:3 verhalten. Da die Länge einer schwingenden Saite umgekehrt proportional zur Anzahl der pro Sekunde ausgeführten Schwingungen ist, haben die für harmonierende Töne maßgeblichen Zahlenverhältnisse eine anschauliche Erscheinungsform. Es ist daher kein Wunder, dass die Proportion 2:3 als Längenverhältnis von Saitenteilen längst vor der Kenntnis von Tonfrequenzen, nämlich schon im Altertum bekannt war.

Die im Zusammenhang mit Dur- und Mollklängen beobachtbaren quantitativen Verhältnisse – die Proportionen 3:2, 5:4 und 6:5 – kennzeichnen jedoch nur die äußeren Verhältnisse zwischen den Tonfrequenzen. Die Frage nach dem harmonischen Charakter dieser Klangverhältnisse ist damit noch keineswegs beantwortet. Harmonie als Kennzeichnung dessen, was beim Erklingen von Dur- und Mollkängen wahrgenommen wird, meint nämlich ein inneres Verhältnis der jeweils zusammenklingenden Töne: ein Verhältnis, worin die Töne zusammenpassen.

Die Grundlage dafür, dass Wahrnehmungsinhalte zusammenpassen – und darum geht es übrigens bei jeglicher Ästhetik –, liegt stets in der Eigenart dieser Dinge. Im Falle des Dur- und Mollklanges sind es offenbar die Töne selbst, die etwas an sich haben, worin sie übereinstimmen können. Die Beschaffenheit der Töne ist also näher zu betrachten.

Ein Ton mit einer Frequenz von 500 Hz schwingt definitionsgemäß 500 mal in einer Sekunde, also einmal in zwei Millisekunden. Auf einem Oszillographen erscheinen diese Schwingungen zum Beispiel folgendermaßen:

Vier Schwingungen eines Tons von 500 Hz

Regelmäßige Schwingungen sind, wie der Physiker und Mathematiker Jean Baptiste Fourier ganz allgemein nachgewiesen hat, aus einfachen Sinusschwingungen zusammengesetzt. In der Musik spricht man von den Teiltönen eines Tons.2 Eine einzelne Schwingung der obigen Form besteht aus vier Teiltönen:

Überlagerung von Teilschwingungen

Während der erste Teilton eine Schwingung ausführt, vollführt der zweite zwei, der dritte drei und der vierte vier Schwingungen. Entsprechend schwingen die Teiltöne in der Grundfrequenz, der doppelten, dreifachen und vierfachen Frequenz. Durch Überlagerung der Schwingungen ergibt sich eine Gesamtschwingung der dargestellten Form.

In der Abbildung ist nur ein einfaches Beispiel gewählt. Musikalische Töne sind gewöhnlich aus sehr viel mehr Teiltönen zusammengesetzt, so dass auch der fünfte, sechste, siebte usw. Teilton mitklingt, also eine ganze Reihe von Teiltönen, deren Frequenz jeweils ein ganzzahlig Vielfaches der Grundfrequenz ist. Die einzelnen Teiltöne können dabei mehr oder weniger stark bzw. laut mitschwingen, so dass sich verschiedene Schwingungsformen ergeben, die wir als besondere Klangfarbe an den Tönen wahrnehmen. Mit Hilfe der Fourier-Analyse kann man feststellen, wie stark die einzelnen Teiltöne im Klang eines Tons enthalten sind. Man erhält so das charakteristische Klangspektrum eines Tons, worin dargestellt ist, bei welcher Frequenz eine Schwingung stattfindet und in welcher Lautstärke.

Klangspektrum eines Geigentons von 440 Hz

Der Klang eines Tons ergibt sich aus seiner inneren Zusammensetzung. Dass ein Ton immer Klangcharakter hat, ist einerseits ziemlich natürlich, da mechanische Schwingungen schon aus physikalischen Gründen ein mehr oder weniger ausgeprägtes Klangspektrum besitzen. Der Reichtum der musikalischen Töne an Teiltönen ist andererseits schon weniger natürlich, denn er ist das Ergebnis eines ausgeklügelten Instrumentenbaus. Die Klangfülle der Töne wird durch verschiedenste Techniken zuwege gebracht: durch die Positionierung des Geigenbogens beim Streichen über die Saite, durch Resonanzkörper, durch Koppelung von Orgelregistern usw. Der Klang wird in der Musik eben um seiner selbst willen kultiviert, er ist zum Objekt des Genusses ausgestaltet.

Die Beschaffenheit der Töne, durch die sie zum Harmonieren prädestiniert sind, lässt sich also so zusammenfassen: Es handelt sich um klangvolle Töne, insofern sie aus einer ganzen Reihe von Teiltönen zusammengesetzt sind. Auf die Besonderheit der Klangfarbe kommt es bei der Harmonie offensichtlich nicht an. Man kann den klangvollen Ton daher schematisch darstellen, indem man von der Schallintensität der einzelnen Teiltöne abstrahiert:

Schematisches Klangspektrum des klangvollen Tons

In dieser Darstellung sind die Frequenzen logarithmisch skaliert. Dies hat den Vorteil, dass gleiche Frequenzverhältnisse als gleiche Abstände erscheinen, wie es der Vorstellung der Musiker am nächsten kommt, die diese Sichtweise von der Notenschrift, der Tastatur des Klaviers usw. gewohnt sind.

Vergleicht man die Klangspektren zweier Töne, deren Frequenzen sich wie 3:2 verhalten, so kann man feststellen, dass jeder zweite Teilton des oberen Tons in der gleichen Frequenz schwingt wie jeder dritte Teilton des unteren Tons.

Konsonanzschema der Quinte

Die beiden klangvollen Töne haben also zusammenfallende Teiltöne. Im Zusammenklang der Töne überlagern sich die Schwingungen der gemeinsamen Teiltöne jeweils zu einer Teilschwingung, bei der auch die Fourier-Analyse nicht angeben kann, welchem Ton welcher Anteil an der Schallintensität eines Teiltons angehört. Nur in der schematischen Trennung der Töne wird der unterschiedliche Ursprung des betreffenden Teiltons verdeutlicht.

Nun zeigt sich, inwiefern die beiden Töne einer Quinte harmonieren: Sie passen als klangvolle Töne zusammen aufgrund einer Übereinstimmung ihrer Klangteile. Dieser Effekt soll einfache Konsonanz heißen.3

Das Harmonieren klangvoller Töne ist dabei, wie gesagt, unabhängig von der besonderen Klangfarbe der Töne. Im Klangspektrum von Tönen können daher einzelne Teilschwingungen völlig fehlen, ohne dass dies den Effekt der Konsonanz schmälert. Dies gilt zum Beispiel für die Klarinette, die keine geradzahligen Teiltöne im Klangspektrum ihrer Töne hat. Die Koinzidenz von Teiltönen schließt auch den Fall ein, dass die Teilschwingung eines Tons auf einer Frequenz liegt, die bloß ein Vielfaches der Grundfrequenz eines andern Tones ist. Dass diesem andern Ton an der betreffenden Stelle ein Teilton fehlt, ist für das Ohr kein Grund, die prinzipielle Zuordnung von Schwingungen zu einer Grundschwingung zu ignorieren. Die gehörte Schwingung hat daher Teiltoncharakter für beide Töne auch dann, wenn sie von ihrer Entstehung her gesehen nur einem der beiden Töne angehört. Einfache Konsonanz ist also genau genommen die Harmonie von Zusammenklängen, in denen Schwingungen vorkommen, die für die zusammenklingenden Töne gleichermaßen Teiltoncharakter haben.

Dass Teiltöne unter Umständen subjektiv wahrgenommen werden können, obwohl sie objektiv nicht vorhanden sind; dass bei entsprechender Eingewöhnung der Ohren auch Verhältnisse zwischen Sinustönen – selbst bei gesonderter Darbietung in Kopfhörern – für Konsonanz gehalten werden können; dies alles widerlegt nicht den Begriff der Konsonanz, sondern belegt allenfalls die Anfälligkeit der Wahrnehmung für Täuschungen, die unter Mitwirkung anderer Geisteskräfte wie Gedächtnis, Vorstellungskraft, Verstand und Interesse zustande kommen können.4

Vergleicht man die Schemata verschiedener Konsonanzen, so kann man feststellen, dass das Ausmaß der Koinzidenz der Teiltöne durch das Verhältnis der Gesamtschwingungen der Töne ausgedrückt werden kann: Bei der Quinte entspricht das Schwingungsverhältnis 3:2 einer Harmonie, bei der jeder zweite Teilton des einen Tons mit jedem dritten des andern zusammenfällt. Das Frequenzverhältnis der großen Terz (5:4) korrespondiert mit einer Harmonie, bei der jeder fünfte Teilton des einen Tons mit jedem vierten des andern zusammenfällt.

Konsonanzschema der großen Terz

Die auffallenden Zahlenverhältnisse, die für harmonische Zusammenklänge charakteristisch sind und die sich demgemäß an den Längenproportionen schwingender Saiten oder Luftsäulen ablesen lassen, haben also ihren Grund im Klangaufbau der Töne. Die Proportionen, die in den äußeren Verhältnissen der Töne beobachtet werden können, sind die notwendige Erscheinung eines inneren Verhältnisses, das die klangvollen Töne aufgrund ihrer inneren Struktur haben. Nicht in den Zahlenverhältnissen liegt das Wesen der Harmonie, sondern im Zusammenpassen der Töne auf Basis ihres Klangcharakters.

Der Unterschied im Maß des Harmonierens, der an den Konsonanzschemata abgelesen werden kann, wird beim akustischen Vergleich der Tonverhältnisse intuitiv empfunden. Da die stärkere oder schwächere Harmonie der zusammenklingenden Töne mit der Proportion ihrer Frequenzen zusammenhängt, die leicht zu ermitteln ist, entsteht der Anschein, als ob die Frequenzverhältnisse selbst einen harmonischen Charakter hätten. Die theoretische Vertiefung dieser Verwechslung landet denn auch konsequent bei der Zahlenmystik, die sich dem Glauben widmet, die einem Zusammenklang immanente Harmonie der Töne sei eine Eigenschaft der zugehörigen äußeren Zahlenproportionen.

In der Harmonie eines Dur- oder Mollklangs fasst sich die Konsonanz von Quinte und Terzen zusammen:

Konsonanzschema von Dur- und Mollklang

Die bloße Zusammenfassung der Konsonanzen im Dreiklang verstärkt den Effekt der einfachen Konsonanz. Denn der Zusammenklang von zwei Konsonanzen schließt automatisch eine dritte Konsonanz ein, deren Harmonie somit als Gratisgabe hinzukommt. Dies gilt für Dur und Moll gleichermaßen. Die schematische Darstellung ihrer Konsonanz zeigt allerdings auch einen spezifischen Unterschied in der harmonischen Struktur von Dur und Moll.

Beim Durklang erstrecken sich die Koinzidenzen von Teilschwingungen über mehr Frequenzen als beim Mollklang. Dies liegt zum einen daran, dass diese Koinzidenzen beim Durklang breiter gestreut sind, während sie beim Mollklang mehr auf Frequenzen konzentriert sind, an denen alle drei Töne gemeinsame Teilschwingungen haben. Zum andern gibt es im Durklang insgesamt mehr Übereinstimmung. Innerhalb der oben dargestellten Bandbreite hat der Durklang zwölf mal gemeinsame Teilschwingungen, wo der Mollklang nur zehn solche Koinzidenzen aufweist. Dieser harmonische Unterschied ist die Grundlage dafür, dass Musiker Dur und Moll intuitiv vom Klang her unterscheiden können. Auch die größere Konsonanz des Durklangs wird beim akustischen Vergleich bemerkt.

Der konsonante Dreiklang perfektioniert das Prinzip der Harmonie, die in seinen Komponenten, den konsonanten Zweiklängen, enthalten ist. Für Quinte und Terzen folgt daraus, dass ihre eigentliche harmonische Potenz in ihrer Bestimmung als untergeordnete Momente in der Harmonie des konsonanten Dreiklangs zur Geltung kommt. Ihre harmonische Rolle in der tonalen Musik ist ganz entsprechend: Die Quinte ist ein Klang, der nur in den Klangverhältnissen von Dur und Moll Bestand hat. Sie ist in der einen oder anderen Weise durch Terzen unterteilt. Ebenso sind große und kleine Terzen keine selbständigen Harmonien, sondern jeweils Bestandteil entweder eines Dur- oder eines Mollklangs.

b) Zusammengesetzte Konsonanz

Der Musiker unterscheidet die Grundform eines Dur- oder Mollklangs von den übrigen Formen, bei denen einzelne Töne um eine oder mehrere Oktaven versetzt erklingen oder durch entsprechende Töne ergänzt sind. Diese Unterscheidung ist maßgeblich für die praktische Handhabung der Harmonien in der tonalen Musik.

Grundform, Umkehrungen und erweiterte Formen des C-Dur-Klangs

Alle diese Klänge heißen C-Dur, obwohl sie durchaus verschieden sind: Es klingen darin Töne von unterschiedlicher Anzahl und Höhenlage zusammen. Andererseits handelt es sich hierbei nicht um eine zufällige Namensgleichheit, wie sie etwa bei Personen gegeben ist, die alle Paul heißen. Vielmehr geht es hier um eine sachgerechte Zusammenfassung von Klängen unter einem Sammelbegriff. Die Redeweise vom C-Dur-Klang beruht also darauf, dass aufgrund einer tatsächlichen Gemeinsamkeit dieser Klänge von deren Unterschieden abstrahiert wird. Wovon aber wird abstrahiert und was ist die Gemeinsamkeit all dieser Klänge?

Zunächst einmal klingen alle diese Klänge sehr ähnlich. Insofern ist die Gemeinsamkeit der Formen eines Dur- oder Mollklangs ihre Zugehörigkeit zu einer Familie von Klängen, die sich beim Anhören nur wenig unterscheiden. Diese Gemeinsamkeit, die der Musiker intuitiv erfasst, liegt jedoch auf der Ebene der unmittelbaren Erscheinung und begründet noch keine begriffliche Abstraktion, die gegenüber Irrtümern und Wahrnehmungstäuschungen Bestand haben kann. In der Biologie zum Beispiel ist die äußerliche Ähnlichkeit von Tierarten zwar Ausgangspunkt einer ersten Klassifikation, aber nicht auch schon der Weisheit letzter Schluss. So sind Wale allem Anschein zum Trotz keine Fische, sondern Säugetiere.

Wenn Musiker einen Dur- oder Mollklang unabhängig von seiner besonderen Erscheinungsform identifizieren, so abstrahieren sie von einem Unterschied, der in der Tat nur eine harmonische Nuance darstellt. Es handelt sich um jenen Unterschied, der sich bemerkbar macht, wenn man in einem Zusammenklang einen Ton durch einen anderen ersetzt oder ergänzt, der eine oder mehrere Oktaven höher oder tiefer liegt. Das Klangverhältnis der Oktave stiftet offensichtlich von Haus aus keine wesentlichen harmonischen Unterschiede.

Konsonanzschema der Oktave

Im Zusammenklang erscheint die Oktave als Zweiklang von unübertrefflicher Konsonanz, weil der komplette Klang des oberen Tons mit dem halben Klang des unteren Tons zusammenfällt. Was sich im harmonischen Vergleich als Ähnlichkeit darstellt, ist dasselbe, was in der Wahrnehmung des Zusammenklangs als besonders starke Harmonie erscheint: die Übereinstimmung der Klänge in den Frequenzen ihrer Teiltöne. Bei der Realisierung von Dur- und Mollklängen und demgemäß in der ganzen Harmonik, die auf Dur und Moll aufgebaut ist, wird also von der Harmonie der Oktave abgesehen.

Die Vernachlässigung der Oktave in der Bestimmung von Dur- und Mollklängen ist der Sache nach allerdings keine Missachtung der Oktave, sondern ihre Berücksichtigung. Die musikalische Behandlung der Oktave entspricht ganz ihrer harmonischen Eigenart. Dass aus der Oktave nur eine unwesentliche harmonische Differenz hervorgeht, ist ja nur die andere Seite eines Superlativs der Konsonanz. Die Bedeutungslosigkeit der Oktave in der Sphäre, in der es um die harmonische Identität der Klänge geht, ist die Form, in der ihre absolut beherrschende Stellung in der Harmonik der tonalen Musik zur Geltung kommt. Insofern ist die Oktave prinzipiell eingeschlossen in der Harmonik der Dur- und Mollklänge oder, was dasselbe ist, im Wesen der Konsonanz.

Was auf die Dur- und Mollklänge insgesamt zutrifft, gilt auch für ihre Komponenten, die Terzen und Quinten. Auch diese sind abstrakt aufzufassen und ihrem harmonischen Wesen nach festzuhalten gegen ihre besonderen Erscheinungsformen:

Umkehrung der Quinte und der großen Terz

Die Quarte (4:3) ist harmonisch dasselbe wie die Quinte (3:2), und die kleine Sexte (8:5) dasselbe wie die große Terz (5:4), wie bereits Rameau bemerkte.5 Der Grund liegt offensichtlich in der Harmonie der Oktave, die das Klangbild von Quarte und Sexte bestimmt. Die Harmonie der solchermaßen abgewandelten Formen von Quinte und Terzen soll daher zusammengesetzte Konsonanz heißen.

Die Quarte als zusammengesetzte Konsonanz

Die gestrichelten Linien im Konsonanzschema der Quarte kennzeichnen einen gedachten Ton, der mit dem oberen Ton der Quarte eine Oktave, mit dem unteren eine Quinte bildet. Sie verdeutlichen den Vermittlungsschritt zur harmonischen Konstitution der Quarte. Die Harmonie der Quarte ist nicht auf die unmittelbare Koinzidenz der Teiltöne in diesem Zusammenklang reduziert, sondern vereinigt die Harmonie von Oktave und Quinte in sich:

4:3 = (2:3)·(2:1)

Die praktische Gleichsetzung der verschiedenen Formen von Dur- und Mollklängen lässt also einen Schluss zu auf die spezifische Leistung der musikalischen Wahrnehmung, Klangverhältnisse intuitiv in ihre einfachen Bestandteile zu zerlegen.

Wollte man das, was die Quarte ist und was der Musikhörer an ihr wahrnimmt, adäquat darstellen, so könnte man das Schwingungsverhältnis in der Form 22:3 schreiben. Es ist dies aber auch nur eine mathematische Bebilderung der zusammengesetzten Konsonanz auf der Ebene der äußeren Frequenzverhältnisse. Auf dieser Ebene ist die Konsonanz ohnehin nicht zu fassen, und die Formel

3:2 = 4:3

erscheint als mathematischer Unsinn. Entsprechend erscheint in den Schwingungsverhältnissen der Unterschied zwischen einfacher und zusammengesetzter Konsonanz ausgelöscht. Theoretiker, welche die äußere Erscheinung der Harmonien mit ihrem Wesen verwechseln, siedeln die Quarte harmonisch zwischen Quinte und Terz an, weil sie von der mathematischen Reihe

2:1, 3:2, 4:3, 5:4, 6:5

fasziniert und geblendet sind. Werden Quinte und Quarte in einer solchen Reihe vorgestellt, dann wird der Unterschied in der Art der Konsonanz ebenso ignoriert wie die Gemeinsamkeit im abstrakten harmonischen Wesen. Es ist dann nicht verwunderlich, dass solche Theoriebildung in Schwierigkeiten kommt, wenn sie die Konsonanz zuerst als Verhältnis kleiner Zahlen missversteht, um dann herumzurätseln, ob das Verhältnis 16:5 (eine Erscheinungsform der großen Terz) nun eine Konsonanz sein kann oder nicht.6

Die abstrakte Identität der konsonanten Klänge reflektiert sich schließlich in den Tönen, aus denen sie bestehen:

Die Töne, die im Verhältnis 2:1 erklingen, sind identisch, weil und insofern von ihrem unwesentlichen Beitrag zur harmonischen Differenzierung in allen Zusammenklängen abstrahiert ist. Neben den konkreten Ton tritt also der Ton in seiner abstrakten Bestimmung, so dass wegen dieser doppelten Bedeutung des Ausdrucks Ton gesagt werden kann, dass die Oktave ein harmonisches Verhältnis zwischen identischen Tönen ist. Es ist daher durchaus konsequent und angemessen, wenn die betreffenden Töne den gleichen Namen erhalten.7

Der Musiker stellt sich die Sache in der Regel umgekehrt vor: Die Identität zweier Harmonien leuchtet ihm insofern ein, als die Harmonien aus den gleichen Tönen bestehen. Und dass diese Töne gleich sind, ist ihm nicht als harmonische Abstraktion bewusst, sondern durch die Namen geläufig, unter denen ihm die Töne vorgestellt worden sind. Das funktioniert in der Praxis ganz gut. Wozu soll man sich auch den Kopf zerbrechen über die Absurdität, dass Sprachregelungen sich auf die Identität von Harmonien auswirken sollen?

Die abstrakte Bestimmung der Töne schlägt sich auch in der Kennzeichnung der Töne eines Dur- oder Mollklangs nieder: Grundton, Terz und Quinte sind unabhängig von ihrer jeweiligen Oktavlage die einzigen Komponenten dieser Klänge, die insofern nicht nur in der eingangs untersuchten Grundform, sondern auch in allen anderen Formen konsonante Dreiklänge im abstrakten Sinne sind. Der untere Ton eines Klanges ist daher nicht dasselbe wie sein Grundton. Dies gilt auch für die harmonischen Komponenten der Dreiklänge: Die Quarte hat den Grundton oben, ist also die auf den Kopf gestellte Quinte.

Grundton, Terz und Quinte in C-Dur-Klängen

c) Theorien über Dur und Moll

Gioseffo Zarlino hat zuerst die Auffassung vertreten, dass Dur- und Mollklänge die Elementarformen des Harmonischen seien. Er wandte sich gegen die damals übliche Behandlung der Terzen als „unvollkommener“ Zusammenklänge und die dieser Behandlung zugrunde liegende pythagoreische Stimmung, welche alle Tonverhältnisse aus Quinten ableitet, so dass das Schwingungsverhältnis der großen Terz nicht den Wert

5:4 = 1,25

hat, sondern

81:64 = 1,265625

Zum Nachweis des harmonischen Charakters der Dur- und Mollklänge fehlten ihm allerdings die notwendigen Grundlagen, nämlich Kenntnisse über die innere Struktur der Töne. Eigentlich hätte er feststellen müssen, dass er das Harmonieren der Töne nicht erklären kann. Nichtsdestotrotz bemerkte er, dass konsonante Tonverhältnisse sich durch Teilung einer schwingenden Saite durch 2, 3, 4, 5 und 6 vorführen lassen. In der Tat ergeben sich dadurch die Schwingungsverhältnisse von Oktave, Quinte, Quarte und Terzen. Dies verleitete Zarlino dazu, den Zusammenhang zwischen Konsonanz und den bemerkten Zahlenverhältnissen in einer Besonderheit der Zahl sechs zu ergründen. Dazu brachte er zwei traditionelle Denkfiguren der Zahlenspekulation in Anschlag:

Erstens behauptet er eine mathematische Besonderheit der Zahl sechs, mit der er die Darlegung der ihm bekannten Zahlenarten wie Primzahlen usw. schöpferisch ergänzt: „Vollkommene Zahlen sind diejenigen, die sich aus ihren Teilen addieren lassen ...“ 8 Um das Vollkommene besser zu verdeutlichen, sagt er, die Zahl sechs besitze „ein gewisses Maß, bei dem nichts zuviel und nichts zuwenig ist.“ (S. 84)

Zweitens macht er auf die Rolle der Zahl sechs in vielerlei bedeutsamen Kontexten aufmerksam. Das geht in der Heiligen Schrift gleich mit der Schöpfungsgeschichte los und wird dann bald aus guten Gründen abgebrochen: „Es würde lange dauern, alle Dinge im einzelnen zu erzählen, die mit der Zahl 6 zu einem Abschluß kommen.“ (S. 85)

Die Bemühung, bestimmte Tonverhältnisse als notwendige Erscheinungsformen der Konsonanz nachzuweisen, kommt auf diese Weise nie zum Wesen der Konsonanz, weil sie nicht deren Besonderheit thematisiert, sondern die Besonderheit einer Zahl. Als Erklärung der Dur- und Mollklänge wird deren Beglaubigung durch Gesetze angeboten, die unabhängig von jeglicher Musik walten, also ihre Deutung im Rahmen einer Weltanschauung.

Als 200 Jahre später die Zusammensetzung der Töne aus Teiltönen bekannt war, hätte der Ergründung der Konsonanz nichts mehr im Wege gestanden. Tatsächlich wurden Dur- und Mollklang mit den Partialtönen in Verbindung gebracht, aber als Fortsetzung des Unterfangens, die Befunde über Dur und Moll durch unabhängig von ihnen vorfindliche Erscheinungen zu beglaubigen. Die innere Struktur der Töne fungiert von nun an in der spekulativen Musiktheorie als Vorbild, als Muster der Natur, dem die Harmonie nachgebildet ist. Die Attraktivität dieses Vorbilds liegt in ihrem Charakter als unzweifelhafte und experimentell nachweisbare Naturerscheinung. Diese soll getrennt von den Harmonien, um die es geht, Harmonie verbürgen.

Sehr verbreitet ist die Interpretation des Durklangs als Nachbildung des vierten, fünften und sechsten Teiltons. Beim Mollklang wird entweder ein direktes Vorbild im Verhältnis von 10., 12. und 15. Teilton ausfindig gemacht, oder man findet nur die große und kleine Terz in der Obertonreihe vorgebildet, woraus dann Dur- und Mollklänge zusammengefügt sind, oder man erfindet eine umgekehrte „Untertonreihe“, die zwar in der Natur nicht nachweisbar ist, aber so gut zu der Vorstellung von einer „Naturwahrheit des dualen Harmonieprinzips“ 9 passt ... Die spekulative Musikwissenschaft kann auf einen unerschöpflichen Pluralismus derartiger Theorien zurückgreifen, die sich selbst in einen Richtungsstreit zwischen Monisten und Dualisten einordnen und erst recht von einem wissenschaftlichen Berichtswesen so eingeordnet werden, dem es eher um Übersichtlichkeit als um Klarheit geht.10

Die Gegensätze der Theorien über Dur und Moll sind rein weltanschaulicher Natur. Einig sind sich die Kontrahenten nämlich im ideologischen Ausgangspunkt der Debatte: Sie bemerken an der Harmonie nicht das Werk ästhetisch interessierter Subjekte und ihres auf Klanggenuss erpichten Materialismus, sondern unterstellen das Walten eines in der Natur vorgegebenen höheren Prinzips, nach dem die Welt im wahrsten Sinne des Wortes konstruiert ist. Die beliebtesten Argumente sind daher Bekenntnisse zum jeweils eigenen Weltbild, wie zum Beispiel in der folgenden Polemik gegen den Dualismus:

„Alles Irdische sucht einen Stützpunkt ... Wenn nun aber die Natur nur nach oben hin baut und wachsen läßt, niemals aber auch „symmetrisch-gegensätzlich“ nach unten hin, so ist der zum Beweis angeführte „Naturwille“ nicht vorhanden und der Beweis hinfällig.“ 11


2 Um Verwechslungen vorzubeugen, sei auf gewisse Unterschiede in der physikalischen und musikalischen Terminologie hingewiesen: Was dem Physiker ein Klang ist, gilt dem Musiker als Ton. Der Ton in der Physik ist in der Musik ein Teilton (auch Partialton oder Oberton). Die physikalische Definition einer harmonischen Schwingung hat mit Harmonie im ästhetischen Sinn nichts zu tun: „Unter einer harmonischen Schwingung versteht man eine Schwingung, bei der die Rückstellkraft der Elongation proportional und stets zur Gleichgewichtslage gerichtet ist, für die also ein lineares Kraftgesetz gilt ... Das Weg-Zeit-Diagramm der harmonischen Schwingungen ist eine Sinuskurve.“ (Oscar Höfling, Physik, Bonn 1985, S. 197 f.).

3 Noch am deutlichsten formuliert diesen Gedanken Husmann: „Da für die Konsonanz somit das Zusammenfallen gemeinsamer Obertöne verantwortlich wäre, hat der Verfasser seine Theorie als Koinzidenztheorie der Konsonanz bezeichnet ... Es ist die größere Harmonie des sich über den Grundtönen erhebenden Obertonaufbaus der Intervalle mit einfachen Schwingungsverhältnissen, die sie als konsonant erscheinen lässt ...“ (Heinrich Husmann, Einführung in die Musikwissenschaft, Heidelberg 1958, S. 134 f.).

4 Husmann lässt sich durch solche Experimente theoretisch verwirren und konzediert Konsonanz im Verhältnis von bloßen Sinusschwingungen: „Da bei den binauralen Versuchen neben den Obertönen nur noch die Primärtöne selbst vorhanden sind, läßt sich die Annahme nicht ausschließen, daß die Konsonanz auch schon in den Primärtönen allein begründet sei ...“ (Ebenda, S. 135) Näheres zu Husmanns Theorie der Konsonanz in: Franz Sauter, Die Musikwissenschaft in Forschung und Lehre – Kritik einer bürgerlichen Wissenschaft, Norderstedt 2010, 3. Kapitel)

5 Jean-Philippe Rameau nennt insofern die Quarte in Anlehnung an einen Ausdruck von Descartes das „Schattenbild“ (l’ombre) der Quinte (Traité de L’ Harmonie, Paris 1722, S. 11).

6 „Die Töne konsonanter Klänge stehen zueinander in einfachen Schwingungszahlproportionen. Allerdings läßt sich das Konsonanzphänomen weder mathematisch noch physikalisch eindeutig erklären.“ (Meyers kleines Lexikon Musik, Mannheim 1986, S.186) Den Weg zur musikalischen Erklärung der Konsonanz haben sich die Theoretiker mit ihrer Vorliebe für außermusikalische Deutungsmuster verstellt.

7 Bereits Jean-Philippe Rameau bemerkte, dass die gleiche Benennung unterschiedlicher Töne einen objektiven harmonischen Sachverhalt widerspiegelt. In Begriffen wie „Umkehrung“, „Grundton“ usw. prägte er die heute durchgesetzte Terminologie, die dieser Erkenntnis Rechnung trägt. Er erkannte jedoch nicht die Abstraktion, auf deren Grundlage die Rede von identischen Tönen bei der Oktave Sinn macht. Ebenso entging ihm das zugrunde liegende Harmonieren der Töne, weil er in der (bis heute) gängigen Vorstellung einer in den Zahlenverhältnissen hausenden Harmonie befangen war. Im Bemühen um eine Erklärung verfabelte er die Identität der gleichnamigen Töne in eine Eigenschaft der Proportion 2:1. „La proportion du tout à sa moitié, ou de la moitié au tout est si naturelle, qu’ elle se conçoit d’ abord; ce qui doit nous prévenier en faveur de l’ Octave, dont la raison est comme 1. à 2. L’ Unité est le principe des nombres, & 2. En est le premier, se trouvant un grand rapport entre ces deux Epithetes, Principe & Premier, dont l’ application est très juste. Aussi dans la pratique, l’ Octave n’ est distinguée que sous le nom de replique.“ (Traité de L’ Harmonie, Paris 1722, S. 6).

8 Gioseffo Zarlino, Theorie des Tonsystems, Das erste und zweite Buch der Istituzioni harmoniche (1573), Übersetzung v. Michael Fend, Frankfurt am Main 1989, S. 79.

9 Hugo Riemann, Handbuch der Harmonielehre, Leipzig 1918, S. 214

10 „Dur und Moll sind demnach einer Wurzel entsprungen ... Dieses System heißt „Monismus“ ... Riemanns Dur- und Mollklang entspringt verschiedenen Wurzeln ... Dies ist das System des Dualismus.“ (Hermann Grabner, Allgemeine Musiklehre, Kassel 1974, S. 155)

11 Josef Achtélik, Der Naturklang als Wurzel aller Harmonien, II. Teil, Leipzig 1922, S. 104

2. Tonalität

a) Kadenz

Dur- und Mollklänge, die fertigen Gestalten der Konsonanz, treten ihrerseits in harmonische Verhältnisse: als Dreiklänge, die im Quintverhältnis zueinander stehen, bilden sie die Elemente der Tonalität. Diese Art von Harmonie drückt sich zunächst in einer Abfolge von konsonanten Dreiklängen aus, die Kadenz heißt.12

Kadenzen in A-Dur und a-Moll

Jean-Philippe Rameau hat für die Klänge in einer solchen Konstellation die Begriffe Tonika, Dominante und Subdominante geprägt. In den obigen Beispielen hat die Tonika (T) den Grundton a, die Dominante (D) den um eine Quinte höheren Grundton e, und die Subdominante (S) den Grundton d, der eine Quinte unter dem tonischen Grundton liegt. Das Wesen der Kadenz liegt jedoch nicht im Verhältnis der Grundtöne, sondern in der Harmonie zwischen den kompletten Dreiklängen.

Für sich genommen sind diese Dreiklänge nur die bereits im ersten Kapitel untersuchten – einfachen oder zusammengesetzten – Konsonanzen, die im unmittelbaren Harmonieren der Töne ihre Grundlage haben, die aber eben deswegen abstrakt bestimmt sind, also unabhängig von der Form des Dreiklangs und von der Oktavlage der Töne. Die Konsonanzform als solche ist aber gerade nicht das, was Tonika, Dominante und Subdominante ausmacht, denn diese haben ihre Bestimmung nur durch ihr wechselseitiges Verhältnis zueinander, wie dies ja auch bei Grundton, Terz und Quinte im Dur- oder Mollklang der Fall ist.13

Mit der Harmonie zwischen den Dreiklängen verhält es sich ebenso wie mit derjenigen innerhalb der Dreiklänge: Sie liegt nicht in dem Frequenzverhältnis 3:2, sondern in der Konsonanz, die in einem solchen Schwingungsverhältnis in Erscheinung tritt. Abgesehen von der Oktave, die ja kein Verhältnis zwischen verschiedenen Klängen begründen kann, ist die Quinte das stärkste harmonische Verhältnis, das zwischen Dur- und Mollklängen bestehen kann. Übrigens notwendigerweise auch das einzige, wie sich bei näherer Betrachtung noch zeigen wird. Die Tonalität ist also, wenn man so will, ein konsonantes Verhältnis zwischen Konsonanzen. Allerdings hat sich dieses konsonante Verhältnis damit zu einer neuen Form von Harmonie gemausert: von einem Verhältnis zwischen Tönen ist es zu einem Verhältnis zwischen Dreiklängen geworden, und genau dies ist das Wesen des tonalen Verhältnisses.

Jeder konsonante Dreiklang kann dieses harmonische Verhältnis nach zwei Seiten hin haben, nach oben und nach unten. Tritt er in dieser doppelten Beziehung in Erscheinung, so ist er eine Tonika. Die doppelseitig angelegte Harmonie der Tonika bedingt an ihren Gegenpolen eine einseitige Beziehung von Dominante und Subdominante auf die Tonika, auf ihr gemeinsames harmonisches Zentrum. Die Gegenklänge haben aber darüber hinaus ein spezielles Verhältnis zueinander, das sich aus ihrer Beziehung zur Tonika ergibt:

9:4 = (3:2)2

In diesem Verhältnis, das zwei Quinten umspannt, drückt sich eine Harmonie aus, die durch die Tonika vermittelt ist. Im Verhältnis von Dominante und Subdominante ist die Tonika somit indirekt enthalten.

Dass der Klang, mit dem die Kadenz beginnt, eine Tonika ist, zeigt sich dem Hörer erst im Nachhinein. Denn die Verhältnisse, in denen sich die Tonika als solche zeigt, können mit dem ersten Klang noch nicht aufgetreten sein. Erst wenn Dominante und Subdominante erklungen sind, existieren die tonalen Verhältnisse und damit Tonika und Dominanten für die Wahrnehmung. Danach erscheint die Tonika während ihres Erklingens unmittelbar als das, was sie harmonisch ist. Für die Wahrnehmung wirkt sie nach der Konfrontation der Dominanten als Einlösung der darin indirekt enthaltenen Harmonie, als harmonische Auflösung der Spannung, die im Verhältnis der Dominanten liegt. Oder anders ausgedrückt: Das Wesen der Auflösung in die Tonika liegt darin, dass die harmonische Spannung zwischen den Gegenklängen durch denjenigen Klang aufgehoben wird, durch dessen Vermittlung sie überhaupt nur existiert.

Die Bewegung, in der die Dominanten einander entgegentreten und sich in die Tonika auflösen, vollzieht sich in zweierlei Formen:

authentische und plagale Kadenz

Bei der plagalen Kadenz verwandelt sich die subdominantische Quinte im Akt der Auflösung in den tonischen Grundton. Diese Verwandlung vollbringt dieser Ton nicht von sich aus, sondern als Folge des Auftretens von Terz und Quinte der Tonika. In der authentischen Auflösung tritt dagegen der tonische Grundton als derjenige Ton auf, mit dem sich die Tonika gegen die Dominante absetzt.

Die beiden Formen der Kadenz sind Formen, in denen sich die Tonalität realisiert. Diese Tonalität ist nichts anderes als die harmonische Beziehung, die zwischen Dreiklängen besteht und die sich in der Bestimmung dieser Klänge als Tonika, Dominante und Subdominante niederschlägt. Eine ganz andere Auffassung von der Tonalität hat durch die „Lehre von den tonalen Funktionen der Harmonie“ 14 von Hugo Riemann Verbreitung gefunden. Riemann bestimmt Tonalität unter Berufung auf Fétis, der diesen Terminus geprägt hat, als

„Beziehung einer Melodie, einer Harmoniefolge, ja eines ganzen Tonstückes auf einen Hauptklang als das Centrum, durch die Stellung, zu welchem alle übrigen Harmonien ihren speciellen Sinn, ihre Bedeutung für die harmonische Logik, die Kadenzbildung usw. erhalten.“ 15

Zunächst einmal verwandelt Riemann in seiner Theorie die harmonischen Beziehungen zwischen konsonanten Dreiklängen in Beziehungen, die etwas mit Sinn und Bedeutung zu tun haben. Es geht ihm nämlich darum,

„die Gesetze aufzuweisen, nach denen unser Geist die Bedeutung der Töne in der Melodiefolge wie im Zusammenklange mit anderen auffasst.“ 16

Was das Musikhören und den Musikgenuss betrifft, so verwechselt er – wie viele andere auch – die Leistungen der Wahrnehmung mit denjenigen des Verstandes. Ästhetische Verhältnisse erscheinen ihm daher als logische, insofern sie angeblich ein Verständnis ermöglichen. Logische Zusammenhänge wiederum erschließen sich für Riemann, indem er die Beziehungen zwischen Dominanten und Tonika ihres harmonischen Charakters entkleidet und ihnen einen für Bedeutungen charakteristischen Repräsentationszusammenhang überstülpt: Alle Klänge außer der Tonika sind demnach nicht sie selbst, sondern recht eigentlich Vertreter der Tonika. Als solche werden sie angeblich subjektiv aufgefasst, dies aber – streng idealistisch – mit objektiven harmonischen Konsequenzen:

„Erst der in seiner Beziehung zu andern vorgestellte, d.h. seinem logischen Zusammenhange nach verstandene Accord ist Konsonanz oder Dissonanz.“ 17

Riemann ist weit davon entfernt, Konsonanz und Tonalität als Formen des Harmonierens voneinander zu unterscheiden. Er fasst das Harmonische nur in der Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz, und das ist für ihn der Unterschied von „aus sich selbst heraus verständlich“ und „im Verhältnis zur Tonika begreiflich“. Seine ganze Funktionenlehre ist ein programmatisch durchgezogenes Verfahren, jegliche Harmonie „im Sinne“ eines Klanges zu deuten, der diese Harmonie nicht ist:

„Wenn eine Harmonie erst ihren vollen ästhetischen Wert durch Beziehung auf eine Tonika erhält, ... so wird ja doch jeder Klang, der nicht selbst Tonika ist, eigentlich nicht als er selbst, sondern vielmehr im Sinne desjenigen Klanges gehört, welcher Tonika ist, das heißt: eigentlich ist nur der tonische Akkord selbst absolute Konsonanz.“ 18 Oder an anderer Stelle: „Für die Tonika ist charakteristisch ihre vollständige Konsonanz, ihre Schlußfähigkeit; da alle anderen Harmonien in ihrem Sinne verstanden werden, ist eigentlich keine von jenen, sondern nur sie selbst für sich befriedigend (absolut konsonant).“ 19

Die Konstruktion, wonach das Wesen der Tonika gewissermaßen darin liegt, sich selbst zu bedeuten, enthält keine Ahnung davon, dass Tonika und Dominante gleichermaßen Bestimmungen sind, die Konsonanzen erst durch ihr harmonisches Verhältnis zueinander erhalten. In dieser Theorie wird die Tonika umgekehrt als gegebene Voraussetzung vorgestellt, auf die sich die übrige Klangwelt nur noch beziehen muss.

b) Dissonanz

Die Kadenz ist die Form, in der Tonika, Dominante und Subdominante sich durch ihr harmonisches Verhältnis zueinander definieren, indem sie aufeinander folgen. In dieser Form erklingen die tonalen Klänge als die Konsonanzen, die den Ausgangspunkt dieses Verhältnisses bilden. Die harmonischen Verhältnisse zwischen den tonalen Grundklängen können aber auch als Zusammenklang auftreten. Dieser Zusammenklang ist dann allerdings keine Konsonanz.

Vergleich zwischen Kadenz und Dissonanz

In den obigen beiden Klangfolgen werden jeweils Subdominante und Dominante einander gegenübergestellt und in die Tonika aufgelöst. Die harmonische Sache ist die gleiche. Nur die Form ist verschieden. Auf der rechten Seite erscheint die Konfrontation der Dominanten in einem Zusammenklang und daher als Dissonanz. Die Auflösung der Entgegensetzung von Dominante und Subdominante nimmt daher die Form der Auflösung einer Dissonanz an.

Die Dissonanz unterscheidet sich also dadurch von der Konsonanz, dass sie ein tonales Verhältnis in sich enthält. Sie ist kein Zusammenklang von unmittelbar harmonierenden Tönen, sondern von Tönen, die als Bestandteile der tonalen Dreiklänge harmonieren. Dabei müssen nicht immer alle Bestandteile eines Dreiklangs in einer Dissonanz vorkommen. Die Dissonanz kann beliebige Einzelteile von Tonika, Dominante und Subdominante in sich vereinigen, so dass es eine ganze Reihe von Dissonanzen gibt, die man je nach Zusammensetzung in verschiedene Gruppen einteilen kann.

Um die harmonische Analyse der Dissonanzen zu vereinfachen, sollen im folgenden Grundton, Terz und Quinte als Striche hinter den Kürzeln von Tonika, Dominante und Subdominante notiert werden. Die Striche symbolisieren die Lage der Töne in der Grundform des Dreiklangs: Der Grundton wird in dieser harmonischen Formel unten notiert, die Quinte oben. Beispiele in F-Dur:

Dissonanzen aus Dominante und Subdominante

Soweit der Schwerpunkt einer Dissonanz auf der Subdominante liegt, wird die Auflösung in die Tonika auch gerne über die Dominante vermittelt, um eine authentische Bewegung zu erzielen:

Authentische Auflösung subdominantischer Dissonanzen

Ein zweiter Typ von Dissonanzen besteht aus Tonika, Dominante und Subdominante. Innerhalb einer solchen Dissonanz hat die Tonika natürlich nicht den Charakter einer Auflösung. Als Auflösung erscheint die Tonika nur, wo sie für sich erklingt, also in der Gestalt der Konsonanz.

Dissonanz aus Tonika, Dominante und Subdominante

Die obige Dissonanz aus den Terzen der tonalen Dreiklänge enthält die Tonika nicht nur ideell im Verhältnis der Dominanten, sondern sehr reell. Dieses Hinzukommen der Tonika hat jedoch nichts, was die Dissonanz entschärft, sondern bringt die Auflösungsbedürftigkeit in die für sich erklingende Tonika nur noch krasser zum Ausdruck. Die Auflösung selbst erhält dadurch eine doppelte Bestimmung: Sie ist erstens Auflösung des Gegensatzes der Dominanten und zweitens Herauslösung der Tonika aus dem Zusammenklang mit den Dominanten.

Eine Dissonanz aus Tonika, Dominante und Subdominante muss immer die tonische Terz enthalten. Denn Grundton und Quinte der Tonika sind zugleich Töne der Dominante bzw. Subdominante und werden auch ausschließlich als solche wahrgenommen, wenn die tonische Terz fehlt. Es besteht dann kein Anlass, eine Dissonanz aus drei tonalen Klängen zu unterstellen.

Die mildeste Form der Dissonanz ist der Zusammenklang der Tonika mit nur einer ihrer Dominanten.

Dissonanz aus Tonika und Dominante in verschiedener Harmonienfolge

Diese Form der Dissonanz enthält nicht den Gegensatz der Dominanten, sondern nur den Zusammenklang eines unmittelbar konsonanten Verhältnisses von Konsonanzen. Infolgedessen erscheint die Auflösung des Gegensatzes der Dominanten, in den die Dissonanz nur eingebettet ist, nicht als ihre Auflösung, und die Auflösung der Dissonanz ist reduziert auf die Herauslösung der für sich klingenden Tonika, gegebenenfalls vermittelt über die Dominante.

Hier noch weitere Beispiele dieses dritten Typs von Dissonanzen: