TOM CLANCY
DER KARDINAL
IM KREML
Thriller
Aus dem Amerikanischen von
HardoWichmann
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Ortiz war nicht überrascht, als der Major allein zurückkehrte. Der Bericht über die Schlacht nahm eine Stunde in Anspruch, und wieder erhielt der CIA-Offizier ein paar Rucksäcke voller russischer Geräte. Die Gruppe des Bogenschützen hatte sich den Rückzugsweg freigekämpft, und von den fast zweihundert Mann, die das Flüchtlingslager verlassen hatten, kehrten an diesem Frühlingsanfang keine fünfzig zurück. Der Major setzte sich sofort mit den Führern anderer Gruppen in Verbindung, und bald machten neue kampfeslustige Krieger seine Verluste wett. Die Übereinkunft, die der Bogenschütze mit Ortiz gehabt hatte, blieb in Kraft.
»Sie wollen schon wieder zurück nach Afghanistan?« fragte der CIA-Offizier den neuen Anführer.
»Natürlich. Jetzt sind wir am Gewinnen«, erwiderte der Major mit einer Zuversicht, über die er sich selbst wundern mußte.
Ortiz sah sie bei Einbruch der Nacht losziehen, eine lange Reihe wilder Krieger, nun geführt von einem Berufssoldaten. Er konnte nur hoffen, daß das einen Unterschied machen würde.
Gerasimow und Filitow sahen einander nie wieder. Die Vernehmungen nahmen Wochen in Anspruch und wurden an verschiedenen Orten durchgeführt. Filitow kam nach Camp Peary in Virginia, wo er einem jungen Major mit Brille erzählte, was er von dem Durchbruch bei der Laserleitung im Gedächtnis behalten hatte. Der alte Mann fand es seltsam, daß dieser Junge Dinge, die er sich gemerkt, aber nie richtig verstanden hatte, so aufregend fand. Dann befragte man ihn ausgiebig über seine zweite Karriere als Spion. Eine ganze Generation von Agenten kam ihn besuchen, um mit ihm zu essen und spazierenzugehen, von den Trinkgelagen, die sich KARDINAL auch von den Ärzten nicht verbieten ließ, ganz zu schweigen. Seine Unterkunft wurde streng bewacht und sogar abgehört. Seine Bewacher wußten, daß er im Schlaf sprach.
Ein CIA-Offizier, der kurz vor der Pensionierung stand, sah von seiner Zeitung auf, als es wieder losging. Alle seine Freunde sind tot, und er trifft sie nur noch im Traum. Das Gemurmel verstummte, und der Babysitter des KARDINALs las weiter.
Generalmajor Grigori Dalmatow hatte als Militärattaché an der Sowjetbotschaft in Washington Repräsentationspflichten, die im Konflikt mit seinem Hauptauftrag, dem Sammeln von Nachrichten nämlich, standen. So war er etwas verärgert, als man ihn aus dem Pentagon anrief und ersuchte, im Verteidigungsministerium zu erscheinen – und in voller Uniform dazu.
General Ben Crofter, Stabschef der US Army, empfing ihn und schritt mit ihm zum Hubschrauberlandeplatz des Pentagon, wo sie zu Dalmatows Erstaunen einen Helikopter der Marine bestiegen und nach Camp David flogen. Marinesoldaten in Paradeuniform standen stramm, als sie ausstiegen, und eskortierten sie in den Wald. Wenige Minuten darauf erreichten sie eine Lichtung. Dalmatow hatte nicht gewußt, daß hier Birken standen. Sie befanden sich über einer Hügelkuppe, von der aus man einen weiten Blick übers Land hatte.
Und im Boden war ein rechteckiges Loch, genau sechs Fuß tief. Seltsamerweise fehlte ein Grabstein, und der Rasen war sorgfältig ausgestochen und aufgeschichtet worden, um wieder zurückgelegt zu werden.
In der Umgebung konnte Dalmatow am Waldrand weitere Marineinfanteristen ausmachen, die Tarnanzüge und Pistolengürtel trugen. Dann erschien ein Jeep. Zwei Marines in Paradeuniform stiegen aus und bauten rund um das Loch ein Gestell auf. Nun kam ein leichter Lkw aus dem Wald, gefolgt von weiteren Jeeps. Auf der Ladefläche des Lkw lag ein Sarg aus poliertem Eichenholz. Kurz vor dem Loch hielt der Lkw an. Eine Ehrengarde trat an.
»Darf ich fragen, warum ich hier bin?« fragte Dalmatow, als er es nicht mehr aushielt.
»Sie waren bei den Panzern, nicht wahr?«
»Jawohl, General Crofter, wie Sie auch.«
»Da haben Sie Ihren Grund.«
Die sechsköpfige Ehrengarde hob den Sarg auf das Gestell. Ein Sergeant entfernte den Deckel. Crofter ging näher. Dalmatow schaute in den Sarg und fuhr zusammen.
»Mischa!«
»Ich dachte mir, daß Sie ihn kennen«, sagte eine neue Stimme. Dalmatow wirbelte herum.
»Sie sind Ryan.« Anwesend waren unter anderem auch Ritter von der CIA und General Parks.
»Jawohl, Sir.«
Der Russe wies auf den Sarg. »Woher … wie kommen Sie –«
»Ich komme gerade aus Moskau. Der Generalsekretär war so freundlich, mir die Uniform und die Auszeichnungen des Obersten zu geben, und meinte, er zöge es vor, ihn als Kriegshelden in Erinnerung zu behalten. Wir hoffen, Sie werden Ihrem Volk mitteilen, daß Oberst Michail Semjonowitsch Filitow, dreifacher Held der Sowjetunion, friedlich im Schlaf gestorben ist.«
Dalmatow wurde rot. »Er hat sein Land verraten. Ich denke nicht daran, hier zu stehen und –«
»General«, sagte Ryan scharf, »ich muß wohl klarstellen, daß Ihr Generalsekretär anderer Auffassung ist. Es kann gut sein, daß dieser Mann für Ihr – und unser – Land eine große Heldentat vollbracht hat. Sagen Sie, General, an wie vielen Schlachten haben Sie teilgenommen? Wie viele Wunden haben Sie für Ihr Land empfangen? Können Sie es wagen, diesen Mann einen Verräter zu nennen?« Ryan machte eine Geste zu dem Sergeant hin, der den Sarg schloß. Ein anderer Marineinfanterist legte eine sowjetische Flagge darüber. Am Kopfende des Grabes nahmen Schützen Aufstellung. Ryan zog ein Papier hervor und verlas Mischas Tapferkeitsauszeichnungen. Die Schützen schossen Salut. Ein Trompeter blies den Zapfenstreich.
Dalmatow nahm Haltung an und salutierte. Ryan fand es schade, daß die Zeremonie geheim bleiben mußte, aber sie war in ihrer Schlichtheit würdevoll, und das schien angemessen.
»Warum ausgerechnet an dieser Stelle?« fragte Dalmatow nachher.
»Ich hätte den Heldenfriedhof Arlington vorgezogen, aber dort wäre das Grab wohl aufgefallen. Hinter diesen Hügeln fand die Schlacht von Antietam statt. Am blutigsten Tag unseres Bürgerkriegs schlug die Union nach verzweifeltem Kampf General Lees erste Invasion zurück. Der Ort schien uns angemessen«, erklärte Ryan. »Wenn ein Held schon anonym begraben werden muß, dann wenigstens in der Nähe der Stelle, an der seine Kameraden fielen.«
»Seine Kameraden?«
»Irgendwie kämpfen wir ja alle für eine Sache, an die wir glauben. Das ist uns gemeinsam«, meinte Jack, ging zu seinem Wagen und ließ Dalmatow mit diesem Gedanken zurück.
Bonusmaterial
Werkverzeichnis der im Heyne Verlag von Tom Clancy erschienenen Titel
Der Autor
Tom Clancy wurde am 12.April 1947 in Baltimore, Maryland, geboren. Vor seiner Karriere als Schriftsteller arbeitet Clancy einige Jahre als Versicherungsagent. Er interessiert sich aber vor allem für rüstungstechnische Probleme und den amerikanischen Geheimdienst. Eine Meuterei auf einem sowjetischen Zerstörer regt Clancy dazu an, seinen ersten Roman Jagd auf Roter Oktober zu schreiben. Das Buch wird auf Anhieb zum Welterfolg, die Verfilmung von Roter Oktober mit Sean Connery in der Hauptrolle gilt als Klassiker. Mit seinem Debüt begründet Tom Clancy zudem ein neues Genre: den Techno-Thriller, der Elemente des klassischen Polit-Thrillers mit exakter militärisch-technischer Recherche verbindet. Auch alle weiteren Tom-Clancy-Romane erweisen sich als große Erfolge und führen regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an. Mit diesen faszinierenden Action-Thrillern erschafft Clancy ein Universum um seine berühmteste Figur: den Spezialagenten Jack Ryan, Protagonist fast aller Romane. Jack Ryan muss den Kalten Krieg verhindern, gegen Drogenkartelle kämpfen und immer wieder in brandgefährliche internationale Verwicklungen eingreifen. Kurzzeitig fungiert er sogar als Präsident der USA. In den Hollywood-Blockbuster-Verfilmungen wurde Jack Ryan u.a. von Harrison Ford und Ben Affleck gespielt.
Clancy schreibt seine Jack-Ryan-Abenteuer nicht chronologisch, sondern schiebt immer wieder Rückblenden ein: so agiert etwa in erst später veröffentlichten Bänden der junge Jack Ryan noch am Beginn seiner Agentenkarriere. Ihm zur Seite steht bei den meisten Abenteuern der Ex-Navy Spezialist John Kelly, die zweite große Clancy-Figur. Mit seinem vierzehnten Roman Gegen alle Feinde stellt Clancy seinen neuen Helden vor: Ex-Navy-SEAL Max Moore.
Neben seinen großen Romanen schrieb Tom Clancy Sachbücher zu Militärtechnik und übte die Schirmherrschaft über die unter seinem Namen erschienenen Serien Op-Center, Net Force und Power Plays.
Wie realistisch und gut recherchiert Tom Clancys Bücher sind, zeigt die Tatsache, dass der Autor nach den Anschlägen vom 11. September von der amerikanischen Regierung als spezieller Berater hinzugezogen wurde – in Befehl von oben hatte er ein Szenario entworfen, dass der späteren Realität erschreckend nahekam.
Tom Clancy ist neben John Grisham der erfolgreichste amerikanische Autor und lebt mit seiner Familie im US-Bundesstaat Maryland, nicht weit von Washington D.C.
»Es ist schon gespenstisch: Vieles, was ich erfinde, wird Wirklichkeit.«
Tom Clancy
»Keiner ist besser als Tom Clancy.«
Los Angeles Times
»Die unbestrittene Nummer Eins unter den Thrillerautoren.«
Die Welt
Einzeltitel
(Alle Heyne-Titel in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung; in Klammern die Jack-Ryan-Chronologie)
Jagd auf Roter Oktober (Jack Ryan 4)
Der Politoffizier der russischen Marine erfährt, dass »Roter Oktober«, das modernste russische Raketen-U-Boot, in den Westen überzuwechseln droht. Innerhalb kürzester Zeit machen sich 30 Kriegsschiffe und 58 Jagd-U-Boote an die Verfolgung. Es beginnt ein atemberaubendes Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Großmächten.
Mit diesem Roman begründete Tom Clancy seinen Weltruhm, die gleichnamige Kino-Verfilmung mit Sean Connery gilt als Klassiker des modernen Thriller-Kinos.
Im Sturm
Nach einem Attentat arabischer Fundamentalisten auf das größte Ölfeld Sibiriens steht die Welt am Abgrund. Die einzige Rettung aus der wirtschaftlichen Katastrophe liegt für Moskau am Persischen Golf. Die Hardliner im Kreml schrecken auch vor einem Schlag gegen die NATO nicht zurück. Das Unternehmen »Roter Sturm« läuft an …
Die Stunde der Patrioten (Jack Ryan 2)
Jack Ryan, Professor für Militärgeschichte und Ex-CIA-Agent, hält sich zu Recherchezwecken in London auf. Als ahnungsloser Passant gerät er in einen Terroranschlag, den eine Splittergruppe der IRA auf die Familie des britischen Thronfolgers verübt. Ryan gelingt es zwar, den Anschlag zu vereiteln – doch die Terroristen schwören blutige Rache. Für Jack Ryan und seine Familie beginnt ein verzweifelter Kampf ums Überleben.
In der gleichnamigen Kino-Verfilmung wird Jack Ryan von Harrison Ford gespielt.
Der Kardinal im Kreml (Jack Ryan 5)
Bei der Auswertung ihrer Satellitenbilder stellen die Amerikaner entsetzt fest, dass die Sowjets eine hochmoderne Laserwaffe errichtet haben. Jack Ryan wird mit Nachforschungen betraut und erkennt, dass die Russen den Amerikanern bereits überlegen sind. Sie sind in der Lage, Satelliten und anfliegende Atomraketen zu zerstören. Der hochrangige Top-Spion »Kardinal« wird darauf angesetzt, Näheres über die Laseranlage zu erfahren und begibt sich, vom KGB verfolgt, in höchste Gefahr.
Der Schattenkrieg (Jack Ryan 6)
Geheimdienstmitarbeiter Jack Ryan erfährt, dass kolumbianische Drogenbosse drei hochrangige Amerikaner getötet haben. Ryan und eine Gruppe erprobter Männer nehmen die Verfolgung auf, doch Verwicklungen in der Heimat bis in die höchste Ebene bedrohen den Einsatz der Männer: Niemand weiß, wohin dieser Schattenkrieg führt.
Die Kino-Verfilmung mit Harrison Ford als Jack Ryan lief in Deutschland unter dem Titel Das Kartell.
Das Echo aller Furcht (Jack Ryan 7)
Der Kalte Krieg scheint Vergangenheit, die Weltmächte verhandeln im Zeichen der Kooperation und setzen auf eine friedliche Zukunft. Doch ein seltsamer Bombenfund genügt, um einen weltumspannenden tödlichen Konflikt zu entfachen. Jack Ryan muss einen nahezu aussichtslosen Kampf gegen die Zeit gewinnen – es beginnt ein neues Kapitel des Kalten Krieges.
Die Kino-Verfilmung mit Ben Affleck als Jack Ryan lief in Deutschland unter dem Titel Der Anschlag.
Gnadenlos (Jack Ryan 1)
John Kelly, ehemaliger US-Marine und Spezialist für riskante Missionen, erhält den Auftrag, amerikanische Geiseln aus einem vietnamesischen Lager zu befreien – eine beinahe aussichtslose Mission, zumal Kelly sich gerade durch einen privaten Rachefeldzug in Lebensgefahr gebracht hat. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, und der geringste Fehler könnte Kellys letzter sein.
Ehrenschuld (Jack Ryan 8)
Nach dem Ende des Kalten Krieges wiegen sich viele in Sicherheit, hoffen auf eine neue, eine friedlichere Welt. Doch der Schein trügt, und Jack Ryan, vom CIA-Agenten zum politischen Berater des Präsidenten aufgestiegen, muss feststellen, dass die Bedrohung geblieben ist. Nur die Form hat sich geändert – aus alten Freunden sind gefährliche neue Feinde geworden …
Befehl von oben (Jack Ryan 9)
Bei einem Flugzeugangriff auf das Capitol kommt der amerikanische Präsident ums Leben. Spezialagent Jack Ryan, vor Kurzem zum Vizepräsidenten ernannt, muss von einem Tag auf den anderen die Amtsgeschäfte übernehmen. Derweil nutzen Amerikas Feinde ihre Chance: China und Taiwan stehen kurz vor einem Krieg, und der Iran plant, amerikanische Großstädte mit einem tödlichen Virus zu infizieren.
Befehl von oben ist die Fortsetzung von Ehrenschuld.
Operation Rainbow (Jack Ryan 10)
John Clark, ehemaliger Angehöriger einer Elitetruppe der Marine, wird zum Leiter einer neuen Antiterroreinheit mit dem Namen »Rainbow« ernannt. Diese multinationale Spezialtruppe hat es mit einem Gegner zu tun, wie ihn die Welt bisher noch nicht erlebt hat. Sollte er Erfolg haben, würde es das Ende für einen Großteil der Menschheit bedeuten.
Tom Clancys Thriller ist näher an der Realität, als die Supermächte sich einzugestehen bereit sind.
Im Zeichen des Drachen (Jack Ryan 11)
Ein fehlgeschlagenes Attentat auf den Chef des russischen Geheimdienstes ist der Auslöser für eine weltweite Krise. Jack Ryan – neu gewählter Präsident der USA – ist gezwungen, seine schärfste Waffe einzusetzen: den Antiterrorspezialisten John Clark. Tom Clancy entwirft ein Szenario von erschreckender Aktualität.
Red Rabbit (Jack Ryan 3)
Der Kalte Krieg hat eine kritische Phase erreicht. Der junge Jack Ryan soll einen russischen Überläufer ausforschen, der hochbrisantes Material zu bieten hat: Es geht um eine Verschwörung, die die gesamte westliche Welt gefährdet. Tom Clancy führt uns zurück zu Jack Ryans Anfängen als Wissenschaftler und Berater des CIA.
Im Auge des Tigers (Jack Ryan 12)
In Wien schlägt ein Mann namens Mohammed dem Vertreter eines kolumbianischen Drogen-Kartells in den USA einen Deal vor. Er hat ein Netzwerk fundamentalistischer Terroristen in Europa aufgebaut – und prophezeit den Kolumbianern riesige Gewinne, wenn sie ihm helfen, seine Männer nach Amerika einzuschleusen.
Eine neue Form des internationalen Terrorismus fordert eine neue Generation von Jägern heraus: Es kommt die Zeit für Jack Ryan Jr. und seinesgleichen.
Dead or Alive (Jack Ryan 13)
Mit modernsten technischen Mitteln bedroht der Terrorismus die zivilisierte Welt – und nur Jack Ryan und John Clark könnten sie retten. Ihr Ziel ist ein sadistischer Killer, der sich »Emir« nennt und plant, Amerika durch weitere perfide Anschläge zu destabilisieren. Ihn gilt es zu stoppen – tot oder lebendig.
Gegen alle Feinde (Max Moore 1)
Seit Jahren tobt der Konflikt im Mittleren Osten. Nun sieht es aus, als ob sich der Kriegsschauplatz verlagert. Die Taliban bedienen sich für ihre Machenschaften eines mexikanischen Drogenkartells und tragen den Kampf ins Heimatland des Erzfeindes – in die Vereinigten Staaten von Amerika. Ex-Navy-SEAL Max Moore stellt eine Spezialeinheit zusammen: Der Kampf kann beginnen!
Es ging ums Geschäft, es wurde verhandelt. Alle Anwesenden wußten das. Alle brauchten es. Und doch war jeder Anwesende so oder so entschlossen, ihm ein Ende zu setzen. Für jeden in der St.-Georgs-Halle im Kremlpalast gehörte dieser Dualismus zum normalen Leben.
Die Teilnehmer waren vorwiegend Russen und Amerikaner und zerfielen in vier Gruppen.
Zuerst die Diplomaten und Politiker. Diese erkannte man leicht an überdurchschnittlich guter Kleidung und aufrechter Haltung, roboterhaftem Lächeln und vorsichtiger Ausdrucksweise, die auch das häufige Zuprosten unbeschadet überstand. Sie waren die Herren, sich dessen auch bewußt, und demonstrierten es mit ihrem Verhalten.
Zweitens die Soldaten. Abrüstungsverhandlungen gab es nicht ohne diese Männer, die über die Waffen bestimmten, sie prüften und pflegten und sich dabei einredeten, die Politiker würden den Befehl zum Start niemals geben. Die Militärs in ihren Uniformen standen vorwiegend in geschlossenen kleinen Gruppen, gegliedert nach Waffengattungen, jeder mit einem halbvollen Glas und einer Serviette in der Hand; ihre ausdruckslosen Augen schienen den Raum nach einer Bedrohung abzusuchen wie ein unbekanntes Schlachtfeld. Und genau das war diese Umgebung auch für sie, ein unblutiges Schlachtfeld, auf dem echte Treffen definiert wurden. Die Soldaten trauten nur ihresgleichen – und oftmals ihren Feinden in andersfarbigen Uniformen mehr als ihren eigenen Herren im weichen Tuch. Bei einem Soldaten, selbst bei einem aus dem anderen Lager, wußte man wenigstens, woran man war; etwas, das man von Politikern, auch von den eigenen, nicht immer behaupten konnte. Sie sprachen leise miteinander, achteten immer darauf, wer zuhörte, hielten gelegentlich inne, um einen raschen Schluck zu trinken, begleitet von einem erneuten Rundblick im Raum. Sie waren die Opfer, aber auch die Raubtiere – Hunde vielleicht, an Leinen gehalten von Herren, die sich für die Meister der Lage hielten.
Auch dies zu glauben, fiel den Soldaten schwer.
Drittens die Reporter. Auch sie waren an der Kleidung zu erkennen, immer zerknittert, weil zu oft in zu kleine Koffer gepackt. Es fehlte ihnen die Glattheit der Politiker, das starre Lächeln; statt dessen hatten sie fragende Blicke und den Zynismus der Zügellosen. Viele hielten ihr Glas in der Linken, manchmal zusammen mit einem kleinen Notizblock anstelle der Papierserviette, die Rechte barg halb versteckt einen Stift. Sie zogen ihre Kreise wie Raubvögel. Einer fand jemanden, der zu reden bereit war, andere merkten das und kamen herüber, um die Information aufzusaugen. Wie interessant die Information war, erkannte der flüchtige Beobachter an der Geschwindigkeit, mit der sich die Reporter zur nächsten Quelle bewegten. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Presseleute aus Amerika und anderen westlichen Ländern von ihren sowjetischen Kollegen, die sich um ihre Herren scharten wie Günstlinge bei Hof – um ihre Loyalität unter Beweis zu stellen und als Puffer gegen ihre ausländischen Kollegen zu wirken. Zusammen aber stellten sie das Publikum dieser Theatervorstellung dar.
Viertens die letzte Gruppe, die unsichtbare, die kaum jemand zu identifizieren vermochte. Das waren die Spione und die Abwehragenten, die sie jagten. Sie ließen sich leicht von den Sicherheitsoffizieren unterscheiden, die vom Rande aus argwöhnisch alle beobachteten, unsichtbar wie die Kellner, die mit Champagner und Wodka in Kristallgläsern auf Silbertabletts ihre Runden machten. Selbstverständlich waren unter den Kellnern Abwehragenten, die sich mit gespitzten Ohren durch den Raum bewegten, auf einen Konversationsfetzen lauschend, eine zu leise Stimme oder ein Wort, das nicht zur Stimmung des Abends paßte. Eine leichte Aufgabe war das nicht. Ein Streichquartett in der Ecke spielte Kammermusik, der offenbar niemand zuhörte; doch auch dies gehörte zu diplomatischen Empfängen. Hinzu kam das Gewirr der Stimmen der über hundert Anwesenden. Jene, die in der Nähe des Streichquartetts standen, mußten laut sprechen, um sich überhaupt verständlich zu machen. Die resultierende Kakophonie war gefangen in dem sechzig Meter langen und zwanzig Meter breiten Ballsaal mit Parkettboden und Stuckwänden, die den Schall reflektierten. Und die Spione nutzten ihre Unsichtbarkeit und den Krach, um sich zu den Gespenstern des Festes zu machen.
Aber sie waren gegenwärtig. Das wußte jeder. Jedermann in Moskau hat etwas über Spione zu erzählen. Wer sich einigermaßen regelmäßig mit jemandem aus dem Westen traf, meldete das. Kam es nur zu einem Treffen, und ein vorbeigehender Beamter der Moskauer Miliz oder Offizier der Armee bemerkte es, wurde die Sache zur Kenntnis genommen. Seit Stalins Zeiten hatte sich zwar einiges geändert, aber Rußland war noch immer Rußland, und sein Argwohn Fremden und ihren Ideen gegenüber war viel älter als jede Ideologie.
Die meisten Anwesenden dachten nur am Rande daran – abgesehen von denen, die aktiv mit diesem Spiel befaßt waren. Die Diplomaten und Politiker, in vorsichtiger Ausdrucksweise geübt, machten sich im Augenblick nicht übermäßig viele Gedanken. Die Reporter sahen darin lediglich ein amüsantes Spiel, das sie nicht direkt anging. Am meisten dachten die Militärs darüber nach. Sie kannten die Bedeutung von Geheiminformationen, schätzten und begehrten sie – und verachteten jene, die sie mit List und Tücke sammelten.
Selbstverständlich gab es auch eine Handvoll Leute, die sich nicht so leicht in eine Kategorie einordnen ließen – oder in mehr als eine paßten.
»Und wie hat Ihnen Moskau gefallen, Dr. Ryan?« fragte ein Russe. Jack drehte sich um.
»Ich fand es leider nur kalt und dunkel«, antwortete Ryan nach einem Schluck Champagner. »Wir bekamen wenig Gelegenheit, uns etwas anzusehen.« Das sollte sich auch kaum ändern. Das amerikanische Team war erst seit gut vier Tagen in der Sowjetunion und sollte nach Abschluß der der Plenarsitzung vorausgehenden technischen Verhandlungen am nächsten Tag heimfliegen.
»Das ist sehr schade«, bemerkte Sergej Golowko.
»Ja«, stimmte Jack zu. »Wenn der Rest Ihrer Architektur so stilvoll ist wie dieses Gebäude, würde ich gerne noch ein paar Tage dranhängen.« Er nickte anerkennend zu den schimmernd weißen Wänden, der gewölbten Decke und dem Blattgold hin.
»Jaja, die dekadenten Romanows«, stellte Golowko fest. »Für diese Pracht mußten die Bauern schwitzen und bluten.« Ryan lachte.
»Nun, wenigstens wurde aus ihren Steuern etwas Schönes, Harmloses und Unsterbliches. Wenn Sie mich fragen, ist das besser als häßliche Waffen, die in zehn Jahren technisch überholt sind. Ist doch eine großartige Idee, Sergej Nikolajewitsch. Lenken wir unseren politisch-militärischen Wettstreit auf das Gebiet der Schönheit um.«
»Sie sind also mit den Fortschritten zufrieden?«
Zurück zum Geschäft. Ryan hob die Schultern und setzte seine Inspektion des Raumes fort. »Über die Tagesordnung sind wir uns wohl einig. Nun müssen die Herren da drüben am Kamin die Details ausarbeiten.«
»Und halten Sie auch die Frage der Verifizierbarkeit für befriedigend geregelt?«
Damit ist es bestätigt, dachte Ryan und lächelte dünn. Golowko ist von der GRU. ›Nationale Technische Mittel‹, ein Begriff, der Spionagesatelliten und andere Methoden der Überwachung fremder Länder bezeichnete, gehörte in den USA überwiegend zum Gebiet der CIA, fiel aber in der Sowjetunion in den Zuständigkeitsbereich des militärischen Nachrichtendienstes GRU. Eine vorläufige Vereinbarung über die Vorortinspektion war zwar im Prinzip erzielt worden, doch die Hauptlast der Verifizierung würde die Satellitenaufklärung zu tragen haben – Golowkos Bereich.
Daß Jack Ryan für die CIA arbeitete, war kein besonderes Geheimnis. Seine Teilnahme an den Abrüstungsverhandlungen war ein Gebot der Logik. Sein gegenwärtiger Auftrag war die Überwachung bestimmter strategischer Waffensysteme in der Sowjetunion. Bevor ein Abrüstungsabkommen unterzeichnet werden konnte, mußten beide Seiten ihre krankhaft mißtrauischen Institutionen davon überzeugen, daß ernste Streiche des Gegners ausgeschlossen waren. Jack beriet den Chefunterhändler auf diesem Gebiet, wenn dieser sich die Mühe machte, zuzuhören.
»Verifizierbarkeit«, erwiderte er nach einem Augenblick, »ist ein sehr technisches und diffiziles Problem, mit dem ich leider nicht besonders gut vertraut bin. Was halten Ihre Leute von unserem Vorschlag zur Begrenzung landgestützter Systeme?«
»Wir sind von unseren landgestützten Raketen abhängiger als Sie«, sagte Golowko und war nun, da sie zum Kern der sowjetischen Position kamen, mehr auf der Hut.
»Ich verstehe nicht, warum Sie nicht ebensoviel Gewicht auf U-Boote legen wie wir.«
»Eine Frage der Zuverlässigkeit, wie Sie wohl wissen.«
»Ach wo, Unterseeboote sind doch verläßlich«, köderte ihn Ryan und betrachtete dabei eine prachtvolle antike Uhr.
»Ich muß leider sagen, daß es bedauernswerte Zwischenfälle gab.«
»Ach ja, das Yankee, das vor den Bermudas sank.«
»Und das andere.«
»Wie bitte?« Ryan drehte sich wieder um und mußte sich zusammennehmen, um nicht zu lächeln.
»Ich bitte Sie, Dr. Ryan, beleidigen Sie meine Intelligenz nicht. Der Fall Roter Oktober ist Ihnen genauso bekannt wie mir.«
»Wie war der Name noch mal? Ach ja, das Typhoon, das Sie vor den Karolinen verloren. Ich war damals in London und wurde nicht informiert.«
»Ich finde, daß diese beiden Zwischenfälle unsere Probleme gut illustrieren. Wir können uns auf unsere Raketen-U-Boote nicht so uneingeschränkt verlassen wie Sie auf Ihre.«
»Hmm.« Von den Kommandanten ganz zu schweigen, dachte Ryan und war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.
Golowko blieb hartnäckig. »Darf ich Ihnen eine Frage zur Substanz stellen?«
»Gerne, solange Sie keine Antwort zur Substanz erwarten.« Ryan lachte in sich hinein.
»Werden Ihre Nachrichtendienste Einwände gegen den Vertragsentwurf erheben?«
»Also bitte, wie soll ich darauf eine Antwort wissen?« Jack machte eine Pause. »Wie sieht es denn bei Ihnen aus?«
»Unsere Staatssicherheitsorgane befolgen ihre Anweisungen«, versicherte Golowko.
Wie du willst, dachte Ryan. »Wenn unser Präsident einen Abrüstungsvertrag akzeptiert und glaubt, ihn durch den Senat bringen zu können, ist es gleich, was CIA und Pentagon denken –
»Aber Ihr militärisch-industrieller Komplex –«, unterbrach Golowko.
»Darauf reitet man bei Ihnen viel zu gerne herum. Ehrlich, Sergej Nikolajewitsch, das wissen Sie doch besser.«
Golowko aber war vom militärischen Nachrichtendienst und mochte in der Tat ahnungslos sein, sagte sich Ryan zu spät. Das Ausmaß der Mißverständnisse zwischen Amerika und der Sowjetunion war amüsant und überaus gefährlich zugleich. Ryan fragte sich, ob die hiesigen Nachrichtendienste die Wahrheit ans Tageslicht brachten, wie es die CIA gewöhnlich tat, oder ihren Herren lediglich sagten, was sie hören wollten, wie es die CIA in der Vergangenheit allzuoft getan hatte. Vermutlich letzteres, dachte er. Die russischen Nachrichtendienste waren zweifellos ebenso politisiert wie einstmals die CIA. Eine gute Seite von Judge Moore war, daß er hart gearbeitet hatte, um dem ein Ende zu setzen. Andererseits hatte Moore keinen besonderen Ehrgeiz, Präsident zu werden; das unterschied ihn von seinen sowjetischen Pendants. Hier hatte es ein Direktor des KGB bis an die Spitze geschafft; mindestens ein weiterer hatte den Versuch unternommen. Das machte das KGB zu einer politischen Größe und beeinträchtigte damit seine Objektivität. Jack seufzte in sein Glas. Die zwischen den beiden Ländern existierenden Spannungen würden nicht verschwinden, wenn alle falschen Vorstellungen ausgeräumt waren, doch die Beziehungen mochten dann einfacher zu handhaben sein.
»Darf ich einen Vorschlag machen?«
»Aber sicher«, antwortete Golowko.
»Lassen wir die Fachsimpelei. Erzählen Sie mir lieber etwas über diesen Saal, und ich lasse mir derweil den Champagner schmecken. Das spart uns beiden morgen eine Menge Zeit, wenn wir unsere Kontaktberichte abfassen müssen.«
»Gut. Soll ich Ihnen einen Wodka holen?«
»Danke, der Sekt ist vorzüglich. Einheimisches Gewächs?«
»Ja, aus Georgien«, sagte Golowko stolz. »Schmeckt besser als Champagner aus Frankreich, finde ich.«
»Ein paar Flaschen würde ich schon gerne mit nach Hause nehmen«, gestand Ryan zu.
Golowkos Lachen war ein heiteres, machtbewußtes Bellen. »Ich werde dafür sorgen. So, der Palast wurde 1849 fertiggestellt, Baukosten elf Millionen Rubel, damals eine beträchtliche Summe. Der letzte große Palast, der erbaut wurde, und meiner Meinung nach der schönste …«
Ryan war natürlich nicht der einzige, der einen Rundgang im Saal machte. Die meisten Mitglieder der amerikanischen Delegation hatten ihn noch nie gesehen. Russen, die sich bei dem Empfang langweilten, führten sie herum und erklärten. Mehrere Mitglieder der Botschaft zockelten hinterher und behielten das Ganze im Auge.
»Nun, Mischa, was hältst du von den amerikanischen Frauen?« fragte Verteidigungsminister Jasow seinen Referenten.
»Was uns da entgegenkommt, ist nicht unattraktiv, Genosse Minister«, bemerkte der Oberst.
»Aber es ist nicht genug an ihnen dran – ah, Ihre schöne Elena war ja auch dünn. Eine wunderbare Frau ist sie gewesen, Mischa.«
»Nett, daß Sie sie nicht vergessen haben, Dimitri Timofejewitsch.«
»Hallo, Oberst!« rief eine der Amerikanerinnen auf Russisch.
»Ah, Mrs. …«
»Foley. Wir haben uns im letzten November beim Hockey kennengelernt.«
»Kennen Sie die Dame?« fragte der Verteidigungsminister seinen Referenten.
»Mein Großneffe Michail spielt in der Juniorenliga, und ich wurde zu einem Spiel eingeladen. Hallo, was tun Sie hier?«
»Mein Mann arbeitet an der Botschaft. Dort drüben ist er und führt Journalisten herum. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!« Ihre glänzenden Augen sprachen von mehreren Gläsern – vermutlich Champagner, dachte der Minister. Sie sah aus, als spräche sie diesem Getränk gerne zu, war aber attraktiv genug und hatte sich die Mühe gemacht, ein annehmbares Russisch zu lernen, was für Amerikaner ungewöhnlich war.
»Die Böden sind so schön, daß es fast ein Frevel ist, auf ihnen zu laufen. So etwas gibt es bei uns zu Hause nicht.«
»Bei Ihnen gab es zu Ihrem Glück auch keine Zaren«, erwiderte Jasow als guter Marxist. »Aber als Russe muß ich gestehen, daß ich auf den Kunstsinn der Romanows stolz bin.«
Mrs. Foley wandte sich zurück an Mischa.«Diese Orden trugen Sie bei unserer letzten Begegnung nicht«, sagte sie und wies auf drei goldene Sterne an seiner Brust.
»Vielleicht habe ich meinen Mantel nicht ausgezogen
»Er trägt sie nämlich immer«, versicherte ihr der Marschall. »Ein Held der Sowjetunion geht nie ohne seine Orden. Oberst Filitow ist der einzige lebende Mann, der sich drei dieser Orden an der Front verdient hat.«
»Wirklich? Was muß man tun, um gleich drei zu bekommen?«
»Gegen Deutsche kämpfen«, erwiderte der Oberst knapp.
»Deutsche töten«, warf Jasow unverblümt ein. »Mischa ist einer der besten Panzeroffiziere, die je gelebt haben.«
Nun wurde Oberst Filitow tatsächlich rot. »Wie viele andere Soldaten tat ich in diesem Krieg nur meine Pflicht.«
»Auch mein Vater wurde im Krieg ausgezeichnet. Er leitete zwei Kommandounternehmen und rettete Männer aus Kriegsgefangenenlagern auf den Philippinen. Er sprach nie viel darüber, bekam aber einen Haufen Orden. Erzählen Sie Ihren Kindern von diesen glänzenden Sternen?«
Filitow erstarrte. Jasow nahm ihm die Antwort ab.
»Oberst Filitows Söhne sind seit einigen Jahren tot.«
»Das tut mir leid!« rief Mrs. Foley und meinte das auch so.
»Es ist schon lange her.« Er lächelte. »Ich erinnere mich noch an Ihren Sohn bei diesem Spiel – ein prächtiger junger Mann. Lieben Sie Ihre Kinder, Sie werden sie nicht ewig haben. Würden Sie mich nun einen Augenblick entschuldigen?« Mischa entfernte sich in Richtung Toiletten. Mrs. Foley schaute den Minister betroffen an.
»Ich wollte ihn nicht treffen –«
»Sie konnten es ja nicht wissen. Mischa verlor im Abstand von wenigen Jahren seine Söhne und seine Frau. Ich begegnete ihr als junger Mann – reizendes Mädchen, Mitglied des Kirow-Balletts. Traurig. Genug. In welcher Mannschaft spielt Ihr Sohn noch einmal?« Ihr hübsches junges Gesicht verstärkte Marschall Jasows Interesse für Hockey noch.
Nach einer Minute fand Mischa die Toilette. Selbstverständlich wurden Amerikaner und Russen zu verschiedenen geschickt. Filitow wusch sich die Hände und schaute in den goldgerahmten Spiegel. Dabei hatte er nur einen Gedanken: Schon wieder. Wieder ein Auftrag. Er seufzte und ordnete seine Kleidung. Eine Minute später war er wieder draußen in der Arena.
»Entschuldigen Sie«, sagte Ryan, der beim Umdrehen mit einem älteren Herrn in Uniform zusammengestoßen war. Golowko sagte etwas in Russisch, das Ryan nicht mitbekam. Der Offizier machte eine Erwiderung zu Jack, die höflich klang, und ging hinüber zum Verteidigungsminister.
»Wer war das?« fragte Jack seinen russischen Begleiter.
»Der Oberst ist persönlicher Referent des Ministers«, erwiderte Golowko.
»Für einen Oberst ein bißchen alt, nicht wahr?«
»Er ist ein Kriegsheld. Wir zwingen nicht alle diese Männer in den Ruhestand.«
»Das ist wohl fair«, kommentierte Jack und ließ sich weiter über den Saal informieren.
Nach Mitternacht löste sich der Empfang auf. Ryan bestieg die ihm zugewiesene Limousine. Auf der Rückfahrt zur Botschaft sagte niemand etwas. Alle spürten die Wirkung des Alkohols, und in Autos, die leicht zu verwanzen waren, redete man in Moskau nicht. Zwei Männer schliefen ein, und auch Ryan wäre beinahe von Müdigkeit übermannt worden. Wach hielt ihn die Gewißheit, daß sie in fünf Stunden abflogen, und angesichts dieser Tatsache blieb er lieber müde, um dann im Flugzeug richtig schlafen zu können – etwas, das er erst seit kurzem fertigbrachte. In der Botschaft angekommen, zog er sich um und ging hinunter in die Kantine, um Kaffee zu trinken und sich Notizen zu machen.
Die Ergebnisse der vergangenen vier Tage waren erstaunlich positiv. Ein Vertragsentwurf lag auf dem Tisch. Wie alle ähnlichen Papiere der letzten Zeit waren sie von den Sowjets eher als Verhandlungswerkzeug denn als Verhandlungsdokument gedacht. Einzelheiten standen bereits in der Presse, und schon lobten gewisse Kongreßmitglieder im Plenum die Fairneß des Vorschlags. Warum ging man nicht einfach darauf ein?
In der Tat, warum nicht? fragte sich Jack und lächelte ironisch. Verifizierbarkeit war ein Grund. Der andere … Gab es denn einen anderen? Gute Fragen. Warum hatten die Russen ihre Haltung so radikal geändert? Es gab Hinweise, daß Generalsekretär Narmonow die Verteidigungsausgaben reduzieren wollte, aber entgegen den Vorstellungen in der Öffentlichkeit tat man das nicht bei Kernwaffen. Kernwaffen waren angesichts ihrer Wirkung billig, eine höchst kostengünstige Methode, Menschen zu töten. Ein Kernsprengkopf und seine Rakete waren zwar nicht billig, aber doch sehr viel billiger als die vergleichbare Vernichtungskraft von Panzern und Artillerie. War Narmonow aufrichtig an der Verringerung der Atomkriegsgefahr gelegen? Doch diese Gefahr ging nicht von den Waffen an sich, sondern wie immer von den Politikern und ihren Fehlern aus. War das Ganze nur symbolisch gemeint? Mit Symbolen konnte Narmonow leichter aufwarten als mit Substanz, sagte sich Ryan. Und wenn das Angebot nur symbolisch war – an wen richtete es sich dann?
Narmonow hatte Charisma und Macht. Was für ein Mann war er? Worauf wollte er hinaus? Ryan schnaubte. Dafür war er nicht zuständig. Ein anderes CIA-Team war hier in Moskau damit befaßt, Narmonows politische Verwundbarkeit zu untersuchen. Seine Aufgabe, die leichtere, war es, die technische Seite zu analysieren. Nur kannte er leider die Antworten auf seine eigenen Fragen noch nicht.
Golowko saß bereits wieder in seinem Büro und machte sich in Langschrift umständlich Notizen. Ryan, schrieb er, würde dem Verhandlungsangebot widerstrebend zustimmen. Und da Ryan das Ohr des Direktors hatte, bedeutete das wahrscheinlich auch, daß die CIA seiner Empfehlung folgen würde. Der Nachrichtendienstoffizier legte den Stift hin und rieb sich die Augen. Mit einem Kater aufzuwachen, war an sich schon schlimm genug, aber wach bleiben zu müssen, um mit ihm den Sonnenaufgang willkommen zu heißen, war mehr, als man von einem sowjetischen Offizier verlangen konnte. Er fragte sich, warum seine Regierung das Angebot überhaupt gemacht hatte und warum die Amerikaner so bereitwillig darauf einzugehen schienen. Selbst Ryan, der es doch eigentlich besser wissen sollte. Was hatten die Amerikaner im Sinn? Wer manövrierte hier wen aus? Eine ausgezeichnete Frage.
Er kehrte zurück zu Ryan, dem Mann, auf den er am vorhergehenden Abend angesetzt worden war. Weit gekommen war er für sein Alter, ein Rang, der dem eines Obersten im KGB oder GRU entsprach, und erst fünfunddreißig. Was hatte er geleistet, um so schnell nach oben zu kommen? Golowko zuckte die Achseln. Vermutlich Beziehungen, die waren in Washington ebenso wichtig wie in Moskau. Mut besaß der Mann – den hatte er vor fünf Jahren bei dieser Geschichte mit den Terroristen in London bewiesen. Außerdem war er ein fürsorglicher Familienvater, etwas, das Russen mehr respektierten, als die Amerikaner glauben wollten – das implizierte Beständigkeit und somit Berechenbarkeit. Und vor allem, dachte Golowko, war Ryan ein Denker. Warum leistete er dann keinen Widerstand gegen einen Pakt, von dem die Sowjetunion mehr profitierte als Amerika? Trifft unsere Einschätzung der Situation etwa nicht zu? schrieb er. Wissen die Amerikaner etwas, das uns unbekannt ist? Oder: Wußte Ryan etwas, das Golowko noch verborgen war? Der Oberst runzelte die Stirn und dachte dann an etwas, das er wußte, Ryan aber nicht. Der Gedanke provozierte ein schwaches Lächeln. Das gehörte alles zu dem großen Spiel.
»Sie müssen die ganze Nacht marschiert sein.«
Der Bogenschütze nickte ernst und stellte den Rucksack ab, unter dem er fünf Tage lang geächzt hatte. Er war fast so schwer wie der, den Abdul geschleppt hatte. Der junge Mann stand kurz vorm Zusammenbruch, wie der CIA-Offizier feststellte. Beide Männer suchten sich Sitzkissen.
»Trinken Sie etwas.« Der CIA-Mann hieß Emilio Ortiz, war ebenfalls dreißig Jahre alt und hatte die Muskeln eines Schwimmers, mit denen er sich ein Stipendium an der University of California erkämpft hatte. Ortiz verfügte über eine seltene Sprachbegabung: War er nur zwei Wochen einer Sprache, einem Dialekt oder einem Akzent ausgesetzt gewesen, konnte er als Einheimischer durchgehen. Zudem war er ein einfühlsamer Mann, der die Sitten der Menschen, mit denen er arbeitete, respektierte. So bot er auch jetzt kein alkoholisches Getränk an, sondern Apfelsaft.
»Allahs Segen über dieses Haus«, sagte der Bogenschütze, als er das erste Glas geleert hatte. Dem Mann stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, aber anmerken ließ er sich nichts. Anders als sein junger Träger schien der Bogenschütze gegen solche menschlichen Schwächen gefeit zu sein.
»Möchten Sie etwas essen?« fragte er.
»Das kann warten«, erwiderte der Bogenschütze und griff nach seinem Rucksack. »Ich habe acht Raketen abgeschossen und sechs Flugzeuge getroffen, aber eines hatte zwei Motore und entkam. Von den fünfen, die ich zerstörte, waren zwei Hubschrauber und drei Jagdbomber. Der erste Hubschrauber, den wir abschossen, war der neue Mi-24 Hind, von dem Sie uns erzählten. Sie hatten recht. Er hat einige neue Ausrüstungen. Hier sind ein paar Teile.« Der Bogenschütze holte sechs grüne Platinen für den Laserdesignator hervor, der nun zur Standardausrüstung des Mi-24 gehörte. Der Captain der US-Army, der bislang schweigend im Schatten gestanden hatte, trat vor, um sie zu untersuchen. Mit leicht zitternden Händen griff er nach den Gegenständen.
»Haben Sie auch den Laser?« fragte er in ungelenkem Paschtu.
»Er wurde zwar schwer beschädigt, aber ich habe ihn.« Der Bogenschütze drehte sich um. Abdul schnarchte. Er hätte beinahe gelächelt, aber dann fiel ihm ein, daß auch er einen Sohn hatte.
»Sind die neuen Raketen da?« fragte der Bogenschütze.
»Ich kann Ihnen zehn geben. Es ist ein leicht verbessertes Modell mit fünfhundert Metern größerer Reichweite. Und ich habe auch Rauchraketen da.«
Der Bogenschütze nickte ernst, und seine Mundwinkel verzogen sich zu etwas, das in einer anderen Zeit der Beginn eines Lächelns gewesen sein mochte.
»Dann kann ich mir jetzt vielleicht ihre Transportflugzeuge vornehmen. Die Rauchraketen funktionieren vorzüglich, mein Freund. Jedesmal treiben sie die Eindringlinge näher zu mir. Und der Feind hat diese Taktik noch nicht durchschaut.« Aha, kein Trick also, sondern eine Taktik, dachte Ortiz. Jetzt will er also Transportflugzeuge angreifen, hundert Russen auf einen Streich töten. Himmel, was haben wir aus diesem Schullehrer gemacht? Der CIA-Mann schüttelte den Kopf. Das war nicht seine Angelegenheit.
»Sie sind müde, mein Freund. Ruhen Sie sich aus. Essen können wir später. Bitte ehren Sie mein Haus, indem Sie hier übernachten.«
»Es ist wahr«, bestätigte der Bogenschütze. Zwei Minuten später war er eingeschlafen.
Ortiz und der Captain gingen die mitgebrachten Geräte durch. Darunter fanden sie ein Wartungshandbuch für die Laserausrüstung des Mi-24 und Sprechtafeln. Bis zur Mittagszeit war alles katalogisiert und zum Versand an die Botschaft bereit; von dort aus würde es sofort nach Kalifornien geflogen und einer kompletten Analyse unterzogen werden.
Die VC-137 der Air Force hob pünktlich ab. Es handelte sich um eine Sonderausführung der guten alten Boeing 707; das vorgestellte ›V‹ besagte, daß sie für den Transport von VIP-Passagieren gedacht war, und die Kabinenausstattung spiegelte dies auch wider. Jack lag auf der Couch und ergab sich seiner Müdigkeit. Zehn Minuten später wurde er an der Schulter gerüttelt.
»Der Chef will Sie sprechen«, sagte ein Teammitglied.
»Schläft der denn nie?« grollte Jack.
Ernest Allen hatte den größten Raum in der Maschine, eine Kabine direkt über den Flügeln mit sechs gepolsterten Drehsesseln. Auf dem Tisch stand eine Kaffeekanne. Wenn ich jetzt keinen Kaffee trinke, dachte Ryan, rede ich bald unzusammenhängendes Zeug. Trinke ich welchen, kann ich nachher nicht mehr schlafen. Nun ja, fürs Schlafen wurde er nicht bezahlt. Ryan goß sich eine Tasse ein.
»Läßt sich das verifizieren?« fragte Allen ohne Umschweife.
»Das kann ich noch nicht sagen«, erwiderte Jack. »Es ist nicht nur eine Frage der nationalen technischen Mittel. Die Überwachung der Zerstörung so vieler Raketen –«
»Man bietet uns beschränkte Vor-Ort-Inspektion an«, bemerkte ein jüngeres Mitglied des Teams.
»Das ist mir klar«, versetzte Jack. »Die Frage ist nur: Bedeutet das überhaupt etwas?« Und die andere Frage ist: Warum sind sie plötzlich mit etwas einverstanden, das wir schon seit über dreißig Jahren verlangen …? »Die Sowjets haben viel Arbeit auf ihre mobilen Startrampen verwandt. Und wenn sie nun mehr haben, als wir wissen? Meinen Sie vielleicht, wir könnten ein paar hundert mobile Raketen ausfindig machen?«
»Unsere neuen Satelliten tasten die Erdoberfläche mit Radar ab, und dann –«
»Das wissen die Russen auch, und dieser Art von Überwachung können sie sich entziehen, wenn sie wollen – Moment: Wir wissen, daß unsere Flugzeugträger den russischen Seeaufklärungssatelliten RORSAT ausweichen können und das auch tun. Schiffe bringen das fertig, warum dann nicht auch Züge?« gab Jack zu bedenken. Allen gab keinen Kommentar und überließ seinen Untergebenen das Argument. Schlauer alter Fuchs.
»Die CIA wird sich also dagegen aussprechen – verdammt, dabei ist das die größte Konzession, die die Sowjets je gemacht haben!«
»Gut, es ist also ein massives Zugeständnis. Das wissen wir hier alle. Doch ehe wir akzeptieren, sollten wir sicherstellen, daß sie nicht etwas konzediert haben, das inzwischen irrelevant ist. Es gibt auch noch andere Überlegungen.«
»Sie werden sich also dagegen aussprechen?«
»Nein, ich empfehle nur, daß wir uns Zeit lassen und unsere Köpfe benutzen, anstatt uns von der Euphorie mitreißen zu lassen.«
»Aber der Vertragsentwurf ist – ist fast zu gut, um wahr zu sein.« Der Mann hatte gerade Ryan recht gegeben, ohne es allerdings zu merken.
»Dr. Ryan«, sagte Allen, »was halten Sie von dem Abkommen, unter der Voraussetzung, daß die technischen Details zu Ihrer Zufriedenheit geregelt werden können?«
»Sir, vom technischen Standpunkt aus gesehen hat eine fünfzigprozentige Reduzierung der abwerfbaren Kernsprengköpfe überhaupt keine Auswirkung auf das strategische Gleichgewicht. Sie wäre –«
»Das ist doch Wahnsinn!« wandte der jüngere Mann ein.
Jack streckte den Arm aus und zielte mit dem Zeigefinger auf ihn. »Sagen wir mal, ich habe nun eine Pistole auf Ihre Brust gerichtet, eine Browning mit dreizehn Patronen. Ich erkläre mich einverstanden, sieben Patronen aus dem Magazin zu nehmen, aber damit bleibt mir immer noch eine mit sechs Patronen geladene Waffe, die auf Ihre Brust zielt – fühlen Sie sich jetzt sicherer?« Ryan lächelte. »Also, ich persönlich nicht, und darum geht es hier. Wenn beide Seiten ihre Inventare um die Hälfte reduzieren, bleiben noch immer fünftausend Sprengköpfe, die unser Land treffen können. Dieses Abkommen würde also nur den Overkill-Faktor reduzieren. Wenn wir aber anfingen, über eine Reduzierung auf jeweils tausend Sprengköpfe zu reden, fände ich, daß wir auf dem rechten Weg wären.«
»Halten Sie denn ein Limit von tausend Sprengköpfen für erreichbar?« fragte Allen.
»Nein, Sir. Manchmal wünsche ich mir das, aber andererseits sagt man mir, ein Limit von nur tausend Sprengköpfen könnte einen Atomkrieg ›gewinnbar‹ machen, was das auch immer bedeuten mag.« Jack zuckte die Achseln und schloß: »Sir, wenn das gegenwärtige Abkommen zur Unterzeichnung kommt, wird es sich besser ausnehmen, als es in Wirklichkeit ist. Mag sein, daß sein symbolischer Wert an sich schon einen Gewinn darstellt; dieser Faktor sollte berücksichtigt werden, aber das fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Die finanziellen Einsparungen auf beiden Seiten werden real sein, aber angesichts der Gesamtausgaben für die Verteidigung doch ziemlich gering. Beide Seiten behalten die Hälfte ihrer gegenwärtigen Arsenale – und selbstverständlich die modernere und wirkungsvollere Hälfte. Das Resultat bleibt konstant: Einen Atomkrieg könnte keine Seite überleben. Ich sehe nicht, daß dieser Vertragsentwurf die ›Kriegsgefahr‹, was immer das sein soll, reduziert. Dazu müßten die verdammten Dinger entweder ganz abgeschafft oder irgendwie funktionsunfähig gemacht werden. Und wenn Sie mich fragen, müßte erst letzteres getan werden, ehe man das erste versuchen kann. Dann wird die Welt sicherer – vielleicht.«
»Und es beginnt ein ganz neues Wettrüsten.«
»Sir, dieses Rennen hat schon längst begonnen.«