Der Grabstein fühlte sich genauso kalt an wie ihr Herz. Zu spät. Diese zwei Worte geisterten immer wieder in Brigittes Kopf herum. Zu spät. Ihr Vater war tot. Sie hatte zu lange gebraucht, um ihn ausfindig zu machen. Was nützte es, eine Halbgöttin zu sein, wenn man die, die einem am Herzen lagen, nicht retten konnte? Das war ungerecht.
Der kalte Dezemberwind löste ein paar Strähnen aus ihrem nachlässig zusammengebundenen Zopf und ein paar Haarspitzen stachen ihr ins Auge. Hektisch strich Brigitte sie hinter die Ohren. Auf Atlantis war ihr nie so kalt gewesen wie hier in London. Auf dem Teil der Insel, auf dem sie gelebt hatte, herrschte ein angenehmes mediterranes Klima. Doch dorthin, wo nun auch ihre Mutter Brigid lebte, konnte sie nicht mehr zurück, so sehr sie es sich wünschte. Was, wenn sie geblieben wäre, so wie ihre Brüder Dian und Harry? Dann hätte sie jetzt wenigstens ihre Mutter um sich. Aber nein, sie wollte ja unbedingt ihren menschlichen Vater suchen. Einen Sterblichen! Wie der Grabstein zu ihren Füßen bewies.
Schnee lag in der Luft. Die Kälte ignorierend setzte Brigitte sich auf den eisigen Boden. War es albern, mit einem Toten zu reden? Vielleicht, aber es gab sonst niemanden, mit dem sie hätte reden können.
»Hey Dad. Du bist sicher überrascht, dass ich dich so nenne, aber du bist mein Vater. Es tut mir leid, dass ich nicht rechtzeitig da war. Von Brigid habe ich die Fähigkeit zu heilen geerbt. Vielleicht hätte ich dein krankes Herz heilen können und wir hätten …« Der Kloß in ihrem Hals war zu groß, das Sprechen war nicht mehr möglich. Schlucken tat furchtbar weh, heiße Tränen liefen ihre Wangen hinunter. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so allein gefühlt.
Doch von nun an sein würde sie genau das sein: allein. Ihr Vater war tot. Ihre Mutter auf Atlantis. Ebenso ihre beiden Brüder. Poseidon hatte die Insel versteckt, damit die Götter dort in Frieden leben konnten, ohne die Menschen zu stören. Ein Zurück nach Atlantis gab es für sie nicht. Genau genommen war es nicht einmal ihre Heimat. London war es auch nicht. Ihre Mutter Brigid war eine keltische Göttin, hatte sich vor allem in Schottland und Irland aufgehalten. Doch was sollte Brigitte allein dort? Genauso gut konnte sie in London bleiben.
Sie hatte noch zwei Schwestern, Isabel und Liliana. Die beiden hatten Atlantis ebenfalls verlassen. Wo auf dieser Erde sie jetzt waren, wusste Brigitte nicht. Sie dachte an ihre Zeit auf der Insel zurück. Als kleine Kinder waren sie – fünf göttliche Nachfahren – vom Göttervater Zeus nach Atlantis gebracht worden, angeblich um alle Götter zu retten. Liliana war eine Nachfahrin der nordischen Götter, Isabel der griechischen, Dian der südamerikanischen Gottheiten und Harry der römischen. Doch Zeus hatte mit Thanatos und Hades eigene finstere Pläne gehabt. Jugendliche waren auf Atlantis in Lagern interniert worden und hatten bis zum Tod kämpfen müssen – nur die Stärksten durften überleben, um Brigitte und ihre Geschwister zu ehelichen. Zeus hatte dieses Zuchtprogramm erschaffen, um eine neue Götterdynastie zu gründen, zu erstarken und die Weltherrschaft an sich zu reißen. Mit Hilfe von Quinn, dem Sohn des Poseidon, hatten Brigitte und ihre Geschwister es geschafft, die Pläne zu vereiteln.
Quinn und Isabel waren nun ein Paar und auf der Suche nach Liliana. Die hatte sich für die falsche Seite entschieden. Hades, Zeus und Thanatos waren auch aus Atlantis entkommen.
Vielleicht hätte sie selbst sich Isabel und Quinn anschließen sollen. Doch sie wäre sich wie das dritte Rad am Wagen vorgekommen. Erst in ihren letzten Stunden auf Atlantis hatte sie ihre Mutter Brigid zum ersten Mal getroffen, die ihr von ihrem Vater erzählt und sie gebeten hatte ihn zu finden. Hatte Brigid gewusst, wie krank ihr Vater gewesen war? Hatte er schon vor ihrer Geburt ein schwaches Herz gehabt? So musste es gewesen sein. Warum sonst hätte sie freiwillig darauf verzichtet, ihre Tochter nach so vielen Jahren endlich kennenzulernen?
Bitte suche ihn. Er wird dich brauchen. Dein Vater hat mir alles bedeutet, finde ihn, waren die Worte ihrer Mutter gewesen. So hatte Brigitte Atlantis hinter sich gelassen.
»Ach, Mutter, ich bin zu spät gekommen«, flüsterte sie.
Langsam drang die Feuchtigkeit des Bodens in ihre Knochen und Brigitte stand auf. Aron Hallendale. Es war ein schöner Name, den ihr Vater getragen hatte. Als göttliches Kind hatte sie nie einen Nachnamen gehabt. Brigitte Hallendale. Mit diesem Namen würde sie sich ein neues Leben in London aufbauen. Ein menschliches Leben. Ein kleines bisschen Zuversicht breitete sich in ihrem Inneren aus. Sie drehte sich vom Grab weg und erstarrte.
Warum hatte sie die beiden nicht kommen hören?
Vor ihr standen mit einem bösartigen Grinsen in ihren Gesichtern Zeus, der Göttervater, und der Gott des sanften Todes, Thanatos.
»Hallo Brigitte, schön, dass wir dich endlich gefunden haben.« Thanatos’ säuselnde Stimme ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Außerdem sah er furchtbar aus, Verbrennungen im Gesicht und am Hals entstellten ihn. Zeus sah auch nicht besser aus. Zwar hatte er keine Verbrennungen, aber er schien um viele Jahre gealtert. Er sah aus wie ein Greis und nicht wie ein mächtiger Gott. Mühsam hielt er sich auf einen Stock gestützt aufrecht.
Nur langsam löste Brigitte sich aus ihrer Erstarrung, doch bevor sie fortlaufen konnte, musste sie feststellen, dass sie sich in einem Punkt getäuscht hatte: Zeus war nicht ganz so hilflos, wie es schien. Mit einer schnellen Bewegung hob er seinen Stock an und im nächsten Moment wurde die Welt um Brigitte schwarz.
London, England, ein Jahr später
»Alles Gute zum Geburtstag!« Ivy umarmte Brigitte und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
Gemischte Gefühle. Das traf ihren Zustand am besten. Sie freute sich. Und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie die Menschen um sich herum über ihre Herkunft anlog. Auch die Angst, aufzufliegen mit ihren Lügen, kam manchmal hoch. Was davon überwog, war immer wieder unterschiedlich. Ob heute, am 3. Dezember, ihr wirklicher Geburtstag war? Das war doch eher unwahrscheinlich. Aber es war der Tag, an dem Brigitte Hallendale geboren wurde und das Götterkind, das sie vorher gewesen war, sterben musste.
»Die anderen warten sicher schon am Glühweinstand!«
Ivy liebte den Weihnachtsmarkt in der Londoner Innenstadt, besonders, seit sie einmal in Deutschland gewesen war. Diese Märkte waren eine deutsche Tradition, die die Londoner aufgegriffen hatten. Es wurden Aachener Printen verkauft und es gab Eierpunsch und Glühwein. Auf Letzteren freute sich auch Brigitte.
Seit einem halben Jahr arbeitete sie im St. Mary’s Hospital. Dort hatte sie Ivy kennengelernt, die mit einundzwanzig nur geringfügig älter als sie selbst war. Ivy hatte gerade ihre Ausbildung zur Krankenschwester beendet, Brigitte dagegen nie eine gemacht. Sie war mit gefälschten Papieren im Krankenhaus untergekommen. Es war günstig gelegen für Brigitte, der Bahnhof Paddington war ganz in der Nähe. Von dort aus kam sie schnell mit dem Zug zu ihrer kleinen Wohnung. Die Pausen verbrachte sie oft im nahe gelegenen Hyde Park oder im Kensington Garden und die Arbeit in der Unfallstation befriedigte sie. Sie hatte ein paarmal überlegt ihre Papiere so zu fälschen, dass sie als Ärztin arbeiten konnte, aber dazu war sie noch zu jung. Die Frage war, ob sie überhaupt je altern würde. Vielleicht bliebe ihr dieser Weg damit immer versagt. Denn auch wenn sie ihre Identität als Göttin, so gut es ging, vor sich selbst leugnete, war es eine Tatsache: Sie war kein Mensch. Viele medizinische Dinge wusste sie von Natur aus, sie konnte erkennen, woran ein Patient litt, und auch wenn sie ihn nicht selbst heilte, konnte sie jederzeit sagen, welche Medikamente in Frage kamen. Schulmedizinisches Wissen hatte sie sich mit Hilfe von Fachbüchern angeeignet. Die Naturheilkunde war jedoch tief in ihrem Inneren immer präsent. Ihre wichtigste Gabe, das Heilen, unterdrückte sie, andere Fähigkeiten wie ihr fotografisches Gedächtnis musste sie leider nutzen. Gut fühlte sie sich nicht dabei. Sie lernte viel durch Beobachten und könnte ohne Mühe die schwierigsten Operationen durchführen, dazu musste sie nur einmal sehen, wie es ging, und wissen, warum die Dinge getan wurden. Doch das war nicht alles. Anhand von Büchern und Internetratgebern hatte sie sich beigebracht, wie sie die nötigen Dokumente fälschen konnte. Sie hasste es, diese Dinge tun zu müssen, doch sagte sie sich, dass es irgendwann aufhören würde. Sobald sie Fuß gefasst hatte und ein normales Leben führte.
Dazu gehörte auch Geburtstag zu haben und mit ihren Kollegen aus dem Krankenhaus auf den Weihnachtsmarkt zu gehen.
Es war nicht ihr Plan gewesen, sich auch mit irgendjemandem anzufreunden, aber Ivy hatte nicht lockergelassen. Durch sie war es unmöglich geworden, die anderen zu ignorieren. Ivy war beliebt im Krankenhaus und wenn sie ankündigte, dass Brigitte ihren Geburtstag auf dem Weihnachtsmarkt feierte, dann kamen sie alle.
»Schnee wäre romantisch.« In Ivys Stimme lag echtes Bedauern. Was man an Schnee romantisch finden konnte, würde Brigitte für immer ein Rätsel bleiben. Das Zeug war nass, kalt und man rutschte viel zu schnell aus.
»Du wirst Augen machen, wenn du dein Geschenk siehst!«
»Geschenk?« Brigitte konnte ihr Entsetzen nicht verbergen. Sie hatte ihren Kollegen doch tausendmal gesagt, dass sie kein Geld ausgeben sollten. Der Verdienst als Krankenschwester und -pfleger war nicht der Beste. Lieber sollten sie ihr Geld behalten. Geschenke hatte Brigitte ohnehin nicht verdient, nicht nachdem, was sie getan hatte.
»Ist nur eine Kleinigkeit. Jetzt freu dich doch ein bisschen. Ich hätte nicht gedacht, dass du eine von denen bist, die ein Problem mit dem Älterwerden haben. Mann, du bist doch gerade mal vierundzwanzig geworden!«
Laut gefälschtem Pass.
»Und du siehst aus wie ein Teenager«, ergänzte Ivy noch.
Sie konnte ja nicht ahnen, wie recht sie hatte.
Brigitte wollte ihrer Freundin und den anderen nicht den Spaß verderben. Sie atmete tief durch und lächelte. »Tut mir leid, ich denke an solchen Tagen halt immer daran, dass meine Eltern nicht mehr da sind.«
Kurz drückte Ivy ihre Hand. »Und genau deswegen musst du heute feiern. Deine Eltern hätten sicher nicht gewollt, dass du Trübsal bläst.«
Ob dem so war, konnte Brigitte nicht wissen, schließlich hatte sie ihre Mutter nur einmal getroffen und ihren Vater gar nicht. Laut der offiziellen Geschichte, die sie sich ausgedacht hatte, war sie mit sechs Jahren in ein Heim gekommen, weil ihre Eltern bei einem Autounfall verunglückt waren. Eine so tragische Geschichte würde hoffentlich niemand überprüfen. Denn wie sie ihre Vergangenheit lückenlos hätte fälschen sollen, das wusste auch sie nicht. Zeugnisse und Pässe, okay, aber alles andere? So was konnten wohl doch nur die Geheimdienste.
»Da sind sie!«
Der Hyde Park war wie jedes Jahr in eine große Kirmes umgewandelt worden, der Weihnachtsmarkt war ein Teil davon. Ivy und Brigitte schoben sich durch das Gedränge vor bis zu einem Glühweinstand, an dem ihre Kollegen von der Nachtschicht bereits auf sie warteten. Roberto hüpfte schon von einem Fuß auf den anderen. Der Brasilianer fror bereits bei milden fünfzehn Grad. Heute waren es um die acht Grad, was für ihn wohl einer Katastrophe gleichkam. Er war Mitte dreißig und suchte dringend die Frau fürs Leben, wie er ständig betonte. Allerdings hielt er es nie lange bei einer Frau aus. Neben ihm stand Susan, Anfang vierzig und seit Ewigkeiten hoffnungslos in Roberto verliebt. Neben den beiden zählte noch Ella zu ihrer »Nachtschicht-Clique«, sie war wie Ivy Anfang zwanzig, hatte Roberto schon hinter sich und war mittlerweile wieder so weit, sich in seiner Gegenwart entspannt geben zu können. Ivy hatte wohl auch schon was mit dem attraktiven Brasilianer gehabt. Seit ein paar Wochen war es offensichtlich, dass er ein Auge auf Brigitte geworfen hatte. Allerdings war sie nicht interessiert. Wenn sie sich überhaupt verlieben wollte, dann nicht in einen Kerl wie Roberto. Er war ein toller Kollege, charmant und mitfühlend im Umgang mit den Patienten, aber seine Einstellung in Liebesdingen sagte Brigitte nicht zu.
Allerdings hatte sie sich geschworen sich sowieso besser nicht zu verlieben. Unsterblich zu sein machte eine dauerhafte Liebe unmöglich, noch viel schwerer wog jedoch die Schuld, die sie auf sich geladen hatte. Denn eine Partnerschaft verlangte Ehrlichkeit, Vertrauen und Respekt. Nichts von dem würde sie bekommen, wenn sie jemandem die Wahrheit über sich und ihre Taten erzählen würde.
Roberto, Susan und Ella sahen sie und Ivy bereits kommen und umarmten sie zur Begrüßung. Sie gratulierten ihr alle so herzlich und Brigitte wurde ganz warm in ihrem Inneren. Für einen Moment wagte sie es, alles zu vergessen, und genoss die Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt stehen, das war noch nie etwas für sie gewesen. Dafür war eher ihre Schwester Liliana prädestiniert. Brigittes Gedanken schweiften wieder ab. Wie hatte alles nur so kommen können? Liliana war immer das Biest gewesen, egoistisch und gemein. Innerhalb kurzer Zeit hatte das Schicksal eine Kehrtwende gemacht und sie hatte zusammen mit Isabel Hades vernichtet, ihm die Unsterblichkeit genommen. Nun war sie glücklich und friedfertig. Konnte es sein, dass Liliana tatsächlich zu einer der Guten geworden war? Das zumindest hatten Zeus und Thanatos erzählt.
Auf Atlantis hatte Brigitte nie auch nur einer Fliege etwas zuleide tun können, sie war immer die Vorsichtige und Besonnene unter den Götterkindern gewesen. Oft hatte sie sogar geglaubt, sie wäre langweilig und die anderen duldeten sie nur, weil sie Geschwister waren. Doch je älter Brigitte wurde, desto mehr hatte sie gemerkt, dass es nichts Schlechtes war, so zu sein. Die anderen suchten oft ihren Rat und es war das Schönste für sie, wenn sie helfen konnte.
Jetzt nicht mehr. Brigitte nahm einen Schluck von dem Glühwein, den Ivy ihr in die Hand gedrückt hatte.
Sie war keine mehr von den Guten, das personifizierte Böse traf es besser.
»Und jetzt zu deinem Geschenk!« Ivy strahlte und Roberto zauberte ein kleines hübsch verpacktes Päckchen aus seiner Tasche hervor.
Brigitte nahm es in die Hand und fühlte sofort, dass es ein Buch sein musste. Sie las viel – was sollte sie auch sonst mit ihrer Freizeit anfangen – und freute sich über jeden Lesestoff. Doch als sie das Papier entfernte, gefror ihr Lächeln.
»Was ist? Oh nein, du hast es schon?«
»Äh was, nein, es ist … toll! Danke!« Brigitte schaffte es, ihr Lächeln wieder aufzusetzen. Das Buch hieß »Urkraft des Lichts«. Es ging um die irisch-keltische Göttin Brigid.
»Du hast letztens so lebhaft über Götter gesprochen, da dachten wir, das ist genau das Richtige«, sagte Susan. »Und wir können noch eins drauflegen.« Sie holte einen Umschlag aus ihrer Handtasche.
Brigitte riss sich zusammen. Wie konnte ein Sachbuch über ihre Mutter sie nur so aus der Fassung bringen, dass sie anfing zu zittern? Weil sie so ein verdammt schlechtes Gewissen hatte. Ihre Mutter war das Licht, die Liebe. Brigitte hätte ihr nacheifern müssen, den Menschen helfen, anstatt sich auf der dunklen Seite zu verlieren.
Der Umschlag enthielt eine Geburtstagskarte und einen Gutschein für die Teilnahme an einem Seminar: Die Weisheit der Druiden.
Ivy musste ihren fragenden Gesichtsausdruck bemerkt haben. »Hey, das ist keine Verarsche, ich hab mir das angesehen. Natürlich sind das keine echten Druiden, ich weiß gar nicht, ob es die gab, es ist mehr ein Naturheilkundekurs und da gibt es sogar ein Zertifikat, fürs offiziell anerkannte Salbenherstellen und so. Das ist doch was für dich!«
Mit einem täuschend echten Lächeln auf den Lippen umarmte sie Ivy und die anderen und bedankte sich. Die alte Brigitte hätte sich wirklich gefreut. Aber die neue war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, so ein Seminar zu besuchen. Der Gutschein in ihren Händen schien ihre Haut zu versengen. Druiden waren kein Hirngespinst, es gab sie ebenso wie die Götter selbst. Als geistige Elite der keltischen Gesellschaft kannten sie die keltischen Götter, die Geschichte. Würden sie Brigitte erkennen? Würden sie sehen, was sie jetzt war? Vor allem: Waren diese noch existierenden Druiden gut oder böse?
Natürlich könnte sie einfach zu Hause bleiben und das Seminar nicht besuchen, doch Brigitte wusste bereits, dass sie hingehen würde. So als könnte der Gutschein in ihrer Hand sie dazu zwingen.
»Auf euch! Eine Runde Glühwein für alle!« Vielleicht würde der Alkohol ihr heute Abend guttun.
»Und wie geht es dir? Hast du auch solche Kopfschmerzen?« Ivy verzog das Gesicht, als Brigitte ihre Spindtür zuschlug.
»Ich hab dir doch gesagt, du solltest bei Glühwein bleiben und nicht noch auf Guinness umsteigen.« Aber Brigitte hielt sich lieber zurück mit dem Kopfschütteln. So ganz wohl war ihr auch nicht. Bis weit nach Mitternacht hatte sie mit ihren Kollegen gefeiert. Wie genau sie es ins Bett geschafft hatte, konnte sie nicht mehr sagen. Bis in den späten Nachmittag hatte sie ihren Rausch ausgeschlafen und sich dann in Zeitlupentempo auf die Nachtschicht vorbereitet.
»Roberto hat Susan mit zu sich nach Hause genommen.«
»WAS?«, fragten Ivy und Brigitte gleichzeitig, als Ella mit der Neuigkeit in den Aufenthaltsraum platzte.
»Habt ihr das denn nicht mehr mitbekommen?«
Es wunderte Brigitte immer wieder, was für eine kräftige Stimme die zarte Ella hatte. Sie war höchstens einen Meter sechzig groß und konnte allerhöchstens fünfzig Kilo wiegen. Aber sie war resolut und sie konnte zupacken. Ivy dagegen war fast einen Meter achtzig groß und nicht gerade die Schlankste, trotzdem hatte sie eine zarte Stimme und schien nicht so stark zu sein wie Ella.
»Nein, dazu waren wir wohl zu besoffen«, war Ivys schonungslos ehrliche Antwort.
Menschen waren schon ein eigenartiges Völkchen. Brigitte zuckte bei dem Gedanken innerlich zusammen. Hatte sie nicht beschlossen, eine von ihnen zu sein? Keine Göttlichkeit mehr. Da sollte sie so nicht denken.
»Die beiden sind gerade zusammen angekommen. Susan müsste also jeden Moment …« Ella verstummte und Susan betrat den Raum.
Schweigend zog sie sich um, mehr als ein kurzes Grüßen hatte sie nicht hinbekommen. Sie musste doch sehen, wie erwartungsvoll sie angestarrt wurde.
»Wag es jetzt nicht, einfach so den Raum zu verlassen.« Ivy versuchte einen drohenden Unterton in ihre Stimme zu legen, es war aber offensichtlich, dass sie vor Neugierde platzte.
»Ja, er ist jünger als ich, ja, ich war schon lange scharf auf ihn, ja, ich war bei ihm zu Hause und nein, es ist nichts passiert.«
Keiner sagte ein Wort. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass Susan sich überhaupt äußern würde.
»Er war zu betrunken, um noch … na ja, ihr wisst schon.«
Ein gehauchtes Oh war die Antwort von Ivy, ein unterdrücktes Kichern die von Ella. Brigitte wusste nicht, was sie überhaupt dazu sagen sollte. Sie kam sich manchmal so furchtbar unzulänglich und kindisch vor. Ihre Freundinnen waren junge Erwachsene, richtige Erwachsene, Menschen, die ein Liebesleben hatten. Sie selbst war ein Teenager und dazu noch Jungfrau. Himmel, sie hatte ja noch nicht einmal den ersten Kuss hinter sich. Wie sollte sie je wirklich dazugehören, wenn sie bei diesen wichtigen Dingen nicht mitreden konnte?
Die blaue Lampe leuchtete und holte Brigitte aus ihren Gedanken. Das war das Zeichen, das ein Notfall eingeliefert worden war. Während Susan sich an den Empfang begab und Ivy und Ella sich mit Roberto um die anderen Patienten der Notaufnahme zu kümmern hatten, war Brigitte diese Woche im OP dran.
Schnurstracks machte sie sich auf den Weg. Der Notarzt lieferte gerade seinen Bericht: »Vermutlich ein Tierangriff, auch wenn ich nicht weiß, was das für ein Tier in London sein soll. Sieht übel aus, wir haben ihn stabilisiert.« In weiterem Fachchinesisch, das Brigitte schon immer mühelos verstanden hatte, erklärte er, dass das Gesicht zerfetzt worden war und eine Blutung am Kehlkopf hatte gestillt werden müssen. Der Angreifer hatte dem circa achtzigjährigen Mann eine Hand abgetrennt.
Wer machte so was? Welches Tier in London war denn dazu fähig? Ein Hund wahrscheinlich. Der Mann hatte keine großen Überlebenschancen, dennoch würden sie alles versuchen. Doch noch ehe sich die Ärzte und Schwestern kümmern konnten, verloren sie ihn. Jemand rief etwas, Erste-Hilfe-Maßnahmen wurden eingeleitet, aber Brigitte wusste, dass es aussichtslos war. Dieses Leben war vorbei.
Ihr Blick fiel auf den jungen Mann, der im Eingangsbereich stand. Er konnte nicht viel älter als sie selbst sein, um die zwanzig Jahre. Unruhig sah er in die Richtung, in die man den alten, schwer verletzten Mann gebracht hatte.
War er es, der ihn gefunden hatte? Oder war es ein Verwandter? Auf jeden Fall schien er sehr besorgt zu sein. Noch etwas fiel ihr auf: Die Leute, die an ihm vorbeigingen, machten einen kleinen Schritt zur Seite, sahen auf den Boden und beeilten sich dann ihren Weg fortzusetzen. Brigitte betrachtete sein Profil. Seine Lippen waren fest zusammengepresst, er hatte ausgeprägte Wangen- und Kieferknochen und leicht gelockte dunkelbraune Haare. Die Nase war von der Seite aus gesehen absolut perfekt, eines Gottes würdig – nicht zu groß und nicht zu klein.
Als hätte er gemerkt, dass er beobachtet wurde, drehte er sich in ihre Richtung.
Brigitte hielt kurz die Luft an. Sie konnte jetzt die andere Hälfte seines Gesichts sehen, das so perfekt hätte sein können. Doch das war es nicht. Er trug die Haare zwar so lang, dass sie seine halbe Stirn und sein rechtes Auge verdeckten, aber die wulstige Narbe, die von seiner Wange bis zur Lippe hinunter verlief, war deutlich sichtbar. Seine Oberlippe schien durchtrennt worden zu sein und an der rechten Seite schlecht wieder zusammengewachsen. Was seine Haare an Stirn und Auge verdeckten, konnte sie nur vermuten.
Er sah nicht weg, Brigitte konnte es ebenso wenig. Für einen kurzen Moment war sie versucht zu ihm zu gehen, ihre Hand aufzulegen und sein Gesicht in den gesunden Zustand zurückzuversetzen. Wenn das überhaupt möglich war bei einer alten Verletzung. Doch konnte sie so etwas nicht mehr tun. Heilen würde sie nie wieder.
Es wäre unhöflich gewesen, ihn weiter anzustarren, also ging sie auf ihn zu und ignorierte den spöttischen Zug um seinen Mund. Wahrscheinlich war das die beste Möglichkeit, den Menschen und ihrer Starrerei zu begegnen. Spott.
»Suchen Sie jemanden?«, fragte sie.
Er schien überrascht, dass sie ihn ansprach, fing sich aber sofort. »Ich habe den alten Mann in der Nähe des Hyde Parks gefunden, er war blutüberströmt, ich wollte …«
Er hielt inne. Brigitte war nicht gut darin, ihre Emotionen zu verbergen, das musste sie dringend üben.
»Er hat es nicht geschafft, oder?« Es lag ehrliches Bedauern in der Stimme des jungen Mannes.
»Nein, es tut mir leid.« Wahrscheinlich stellten sie gerade erst die Bemühungen ein, ihn zu retten, aber Brigitte hatte den Tod bereits gespürt – noch so eine göttliche Gabe, auf die sie gern verzichtet hätte. »Kannten Sie ihn?«
»Nein, ich habe ihn nur gefunden. Es war so furchtbar.« Er zögerte einen Moment. »Ich denke, die Polizei wird mit mir reden wollen.«
Das war naheliegend. Brigitte musste den Impuls unterdrücken, den Mann zu berühren. Es musste schrecklich sein, jemanden zu finden, der so übel zugerichtet war.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, betrachtete ihn nur. Seine Augen schienen beide in Ordnung zu sein, die Haare verdeckten eine weitere Narbe an seiner Schläfe und seiner rechten Augenbraue. Er hatte wunderschöne braune Augen mit langen schwarzen Wimpern.
Es gab nichts mehr zu sagen. Polizisten betraten den Empfangsbereich und der junge Mann hatte recht – sie würden ihn sicher sprechen wollen.
»Ich heiße Brigitte.« Warum hatte sie das gesagt?
Er grinste. »Ich weiß, steht ja auf dem Schildchen da.« Er deutete auf ihre Brust. »Nicht, dass ich auf deinen Busen gestarrt hätte, oder so.« Sein Grinsen wurde noch breiter, die Narbe spannte über der Wange, trotzdem sah er in diesem Moment irgendwie total süß aus.
Ihre eigenen Wangen glühten auf einmal. Wie hatte er das gemeint? Ihre Brüste waren in letzter Zeit um zwei Körbchengrößen gewachsen. Da man sie im Krankenhaus für erwachsen hielt, hatte sie Ivy erzählen müssen, dass sie sich die Brüste hatte vergrößern lassen. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Wachstum endlich abgeschlossen war, schließlich war sie jetzt neunzehn Jahre alt.
»Sorry, ich wollte dir nicht zu nahetreten oder dich verletzen.« Er sah beschämt auf den Boden. »Ich geh dann jetzt besser.«
Wahrscheinlich passierte ihm das immer wieder: Er versuchte sich normal zu verhalten und witzig zu sein, aber die Menschen reagierten abweisend wegen seines Aussehens. Dabei war es in ihrem Fall nicht der Grund für ihre Sprachlosigkeit. Sie war einfach zu unerfahren in Gesprächen mit Männern, besonders solchen, die so schöne Augen hatten und sie irgendwie durcheinanderbrachten.
»Warte. Wie heißt du denn?«
Er drehte sich um und lächelte zaghaft. »Derryn.«
Brigitte setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Langsam wurde es Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Was nützte es, seinen Namen zu kennen, sie würde ihn ja nie wiedersehen. Warum hatte sie überhaupt gefragt?
***
Brigitte warf noch einmal einen Blick auf das Buch, das auf dem Wohnzimmertisch lag: »Brigid, die Göttin des Lichts«. Die gute Göttin. War ihre Mutter wirklich unfehlbar gewesen, so wie es das Buch einem weismachen wollte? Als Tochter sollte sie es wissen, nur leider hatte sie Brigid nicht näher kennengelernt. Am Ende war es auch nur ein Buch. Ein Buch, geschrieben von einem Menschen, der es aus verschiedenen überlieferten Erzählungen und Sagen zusammengestellt hatte. Ein paar Fakten stimmten. Brigid konnte heilen. Diese Gabe hatte Brigitte schließlich geerbt. Aber ihre Mutter war auch die Göttin der Fruchtbarkeit. Die sexuelle Seite wurde vom Autor ihres Geburtstagsgeschenks ganz ausgelassen. Soweit Brigitte wusste, war ihr Vater nur einer von vielen Männern gewesen, mit dem ihre Mutter geschlafen hatte, aber der einzige, mit dem sie ein Kind gezeugt hatte. Warum? Brigid hatte laut der Lektüre die Gabe, selbst entscheiden zu können, wann und von wem sie schwanger wurde. Doch hatte der Autor recht? Wenn dem so war, warum hatte sie sich einen herzkranken Menschen ausgewählt? Sollte man sich nicht die besten Gene suchen, um sich fortzupflanzen? Was war mit Aron Hallendale, dass ihre Mutter ausgerechnet ihn als Vater ihres einzigen Kindes ausgewählt hatte?
Vielleicht war die Antwort ganz einfach und es war um Liebe gegangen.
Seufzend stellte sie fest, dass sie mitten in ihrem kleinen Wohnzimmer stand und das Buch anstarrte. Vielleicht sollte sie es verbrennen. Denn mit ihren Taten hatte sie längst das Erbe ihrer Mutter beschmutzt. Die Fähigkeit des Heilens hatte sie geerbt, aber Brigitte konnte auch noch andere Dinge. Da hatten erst Zeus und Thanatos kommen müssen, um diese Fähigkeiten zum Vorschein zu bringen – Brigitte war nicht nur eine Göttin des Lichts, sie war auch gleichzeitig die Dunkelheit.
Bevor sie wieder an die Ereignisse vor einem Jahr denken musste, schnappte sie sich ihre Handtasche. Heute hatte sie frei. Es war Sonntag. Morgen würden ihre Kollegen sie fragen, wie das Seminar gewesen war. Sie wollte sie nicht belügen, schließlich war es ein gut gemeintes Geburtstagsgeschenk gewesen. Also machte sie sich auf den Weg zum Seminar über die Weisheit der Druiden.
Passenderweise wurde es in einem kleinen Gemeindezentrum einer keltischen Gemeinschaft abgehalten. Hielt sich der Seminarleiter wirklich für einen Druiden? Glaubten manche Menschen immer noch an die keltischen Götter? O Mann, was hätte sie denen für Geschichten erzählen können! Es war erstaunlich, was für Völkchen sich in London herumtrieben. Nie hätte sie vermutet, dass es hier Menschen gab, die eine kleine Kapelle und einen Saal für einen alten Kult gebaut hatten.
Das war ein ziemlicher Kontrast zum festlich geschmückten London. In einer Woche war Weihnachten. Das große Fest für die Menschen, die dem christlichen Glauben angehörten. Mit der Religion konnte Brigitte nichts anfangen, aber mittlerweile mochte sie die Traditionen, die dazugehörten: Weihnachtsbäume, Plätzchen backen und vor allem den Weihnachtsmarkt, auf dem sie seit ihrem Geburtstag noch dreimal mit Ivy gewesen war. Ein großes Gesprächsthema im Krankenhaus war der Mann, der so übel zugerichtet eingeliefert worden war – das hatte selbst die schönen Abende im Hyde Park überschattet. Die Polizei hatte es geschafft, die Presse von der Sache fernzuhalten, was auch hieß, dass das Krankenhauspersonal, das mit dem Mann in Kontakt gekommen war, keine weiteren Informationen bekommen hatte. Natürlich wurde spekuliert. Zu gern hätte jeder von ihnen die Ergebnisse der Obduktion gesehen, denn sie alle wussten, dass das kein tollwütiger Fuchs gewesen war. Das musste schon was Größeres gewesen sein. Aber Wölfe oder Bären sollte es doch in London, mitten in der Stadt, nicht geben.
Brigitte setzte sich in die dritte Reihe. Es war erstaunlich, wie viele Menschen sich für die Heilkunst der Druiden interessierten. Um die zwanzig Personen befanden sich im Raum, Männer wie Frauen – sie war eindeutig die Jüngste, die meisten waren Ende vierzig, Anfang fünfzig. Sie sah sich um. Der Raum war recht groß, wie in der Schule standen die Tische und Stühle nebeneinander. Brigitte hatte es immer lieber gemocht, wenn man sie beim Unterricht u-förmig aufstellte, so war es zumindest auf Atlantis gewesen. Die einfachen Holzstühle waren ziemlich unbequem, ein paar Sitzkissen hätten sicher nicht geschadet. Auch ein paar Bilder an den Wänden hätten dem Raum etwas mehr Behaglichkeit gegeben, aber vielleicht legten die Verantwortlichen keinen Wert darauf und wollten, dass sich die Teilnehmer ausschließlich auf das Seminar konzentrierten. Die hintere Wand ließ ohnehin keinen Platz für Deko, denn dort stand ein riesiger, massiver Schrank.
Der heilkundige Druide, der das Seminar laut Broschüre leiten sollte, betrat den Raum. Eines musste Brigitte dem Mann lassen: Sein Auftritt war gut inszeniert. Hinter einem dicken Brokatvorhang, der den hinteren Teil des Raums abtrennte, trat er hervor, in einem Umhang, der die Farbe eines Kartoffelsacks hatte, die Kapuze tief in sein Gesicht gezogen.
Ob Druiden früher wirklich so rumgelaufen waren? Brigitte bezweifelte es. Das Ganze diente hier wohl den Special Effects, damit die Leute auch schön weitere Seminare buchten. Nicht einen Moment würde sie sich von so einem Mist täuschen lassen. Das war doch lächerlich. So wie der Kessel, der neben dem Pult fröhlich vor sich hin blubberte. Sie war wirklich gespannt, was da heute für eine Salbe hergestellt werden sollte.
Der Mann sah sich im Saal um. Insgesamt gab es dreißig Tische, je zehn in jeder Reihe. Die meisten hatten sich in die ersten beiden Reihen gesetzt, nur Brigitte und eine ältere Dame saßen in der dritten Reihe. Auf jedem Platz lagen Notizblock und Kugelschreiber und jeder hatte eine Flasche Wasser vor sich stehen – angeblich aus einer alten schottischen Quelle, die einst von den keltischen Druiden als Heilwasser genutzt wurde. Jetzt vermarkteten sie das Wasser in Plastikflaschen. In der modernen Welt musste halt jeder sehen, wo er blieb.
Brigitte hatte den Eindruck, dass der Mann dort vorn noch wartete. Hatten sich noch mehr Teilnehmer als die zwanzig angemeldet? Das Seminar hätte um zehn Uhr beginnen sollen, mittlerweile war es schon fast halb elf. Ein paar Leute hatten in der letzten halben Stunde auf ihren Blöcken herumgemalt. Brigitte hatte die meiste Zeit aus dem Fenster gestarrt und sich gelangweilt. Dass die Leute mittlerweile ungeduldig wurden, schien auch dem Mann vorn am Pult gerade klar zu werden. Mit einer schnellen Bewegung, die wohl dramatisch wirken sollte, schob er seine Kapuze nach hinten. Ein Glatzkopf kam zum Vorschein, mit stechenden hellgrauen Augen. Irgendwie wirkten diese Augen ziemlich gruselig. Sie leuchteten viel zu hell. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er diesen Effekt mit Kontaktlinsen erzielte. Erneut musterte er einzeln jeden Anwesenden und ging dann endlich zur Begrüßung über.
»Herzlich willkommen, meine Damen und Herren! Ich freue mich, Sie heute zu unserem Seminar …«
Bla, bla, bla … Schnell wurde deutlich, dass der Mann sich sehr gern reden hörte, und er schien es gewohnt zu sein, dass die Menschen seinen Befehlen folgten. Eine ältere Dame, die nicht sofort den Kugelschreiber in die Hand nahm, als er sie alle zum Mitschreiben aufforderte, wurde sofort in strengem Ton ermahnt. »Wenn Sie die Heilkunst der Druiden nicht ernst nehmen, sind Sie hier falsch. Sie müssen genauestens meinen Anweisungen folgen, denn sonst können Sie viel falsch machen und ernsthaften Schaden anrichten.«
Na klar, wenn dem so wäre, dann dürften wohl solche Seminare gar nicht stattfinden. Aber Brigitte sagte lieber nichts. Wenn ihr das Ganze zu blöd wurde, konnte sie in der Pause verschwinden.
Plötzlich öffnete sich die Tür zum Seminarraum leise. Der Nachkömmling erntete einen furchtbar bösen Blick vom Druidenmann. Brigitte schaute zur Seite, um zu sehen, wer denn da so spät kam, und erstarrte.
Es war Derryn. Der Junge aus der Notaufnahme.
Konnte einem heiß und kalt gleichzeitig werden?
Lautlos setzte er sich neben sie und lächelte kurz.
Ihre Gesichtsmuskeln schienen nicht mehr ihrer Kontrolle zu unterliegen, denn sie bemerkte, dass sie wesentlich breiter grinste als beabsichtigt. Wahrscheinlich sah sie ziemlich dämlich aus. Derryn hatte eine Baseballkappe auf, die er tief in die Stirn gezogen hatte und die Narben natürlich nicht wirklich verbergen konnte. Aber das war egal, denn seine warmen braunen Augen nahmen sie wie beim letzten Mal gefangen.
»Schreib lieber mit«, flüsterte er.
Wer dachte denn noch ans Schreiben? Sie bekam im Augenblick sowieso nicht mit, was der Typ da vorn redete.
Derryn griff nach der Flasche Wasser und Brigitte bemerkte, dass er nur ein T-Shirt trug. Seine Arme waren ziemlich muskulös. Es war zwar warm, denn der Raum war beheizt, aber im T-Shirt wäre es ihr trotzdem zu kalt. Ob der Rest seines Körpers auch so muskulös war?
Gott, was dachte sie denn da? Der Rest seines Körpers ging sie schließlich nichts an. Nachdem er einen Schluck Wasser genommen hatte, deutete er mit dem Kinn auf ihre Notizen. Ach ja, sie starrte ja immer noch.
Definitiv musste sie in der Pause verschwinden. Es konnte nicht angehen, dass ein Mann sie derart aus der Fassung brachte.
***
Derryn hätte nicht gedacht, dass er sie hier wiedersehen würde. Da hätte er sich das Herumlungern rund ums Krankenhaus auch sparen können. Was machte sie in diesem bescheuerten Seminar? Noch eine Sache, die er ergründen musste. Leider war er nicht gerade der Typ, der gut in sowas war, aber dem Befehl seines Onkels widersetzte man sich nicht. Hätte er doch bloß die Klappe gehalten. Aber nein, in seiner Aufregung hatte er natürlich Paul gegenüber das Mädchen erwähnen müssen. Sie war anders als andere. War sie wirklich das, was der Schamane ihres Clans und sein Onkel vermuteten? Sie hatte das Zeichen im Gesicht: eine Ansammlung von Sommersprossen, die auf der linken Wange den großen Wagen bildeten. Die Astronomen und Schamanen warteten seit tausenden von Jahren auf diese Frau. Sein Onkel war weit gereist, um die Prophezeiungen zu verifizieren. Kein Wunder, dass er von seinem Rednerpult aus immer wieder zu ihr sah.
Wenn Derryn sie wirklich gefunden hatte, dann würde das Leiden ein Ende haben. Nur deswegen hatte er geplaudert. Darauf hatte er immer gehofft und Ausschau gehalten. Warum nur fühlte es sich nicht richtig an, sie auszuspionieren? Doch es musste richtig sein, denn das Schicksal schien sie genau hierher in dieses Seminar geführt zu haben. Sie war es. Anders konnte es nicht sein. Paul hatte es sofort gesehen, als sie den Saal betreten hatte, und ihm schnell eine Nachricht geschickt, dass er herkommen solle.
Sein Onkel war kein ausgebildeter Schamane oder Druide. Er stammte aus einer nichtssagenden Familie ohne Chance auf eine hohe Position im Clan. Aber er machte seine Sache gut, das musste Derryn dem Mann lassen. Die echten Druiden ließen sich nicht dazu herab, Seminare zu geben. Aber der Clan musste Geld verdienen, indem sie dieses Wasser verkauften und Seminare abhielten.
Warum ausgerechnet ihm jetzt die Aufgabe zugeschustert wurde, das Mädchen zu überzeugen mit nach Schottland zu kommen, war Derryn ein Rätsel. Sie musste freiwillig mitkommen, alles andere wäre kontraproduktiv.
Kontraproduktiv. Was für ein Wort, wenn es um Menschenleben ging. Aber so hatte es der Schamane in Edinburgh bezeichnet, bevor er zurück nach Glasgow in sein Kloster gefahren war.
Wie ausgerechnet er sie überzeugen sollte, alles hinter sich zu lassen, war die große Frage. Sein Gesicht war entstellt und Erfahrung im Flirten hatte er nicht. Könnte er doch einfach die Wahrheit sagen. Das hatte der Schamane leider untersagt. Wahrscheinlich würde sie ihm sowieso nicht glauben.
Es entging ihm nicht, dass sie ihn immer wieder von der Seite anstarrte. War ja auch kein Wunder. Dummerweise saß er genau mit der Seite zu ihr, die vernarbt war. Zweimal hatte er bisher versucht sich wie ein normaler Teenager zu benehmen und auf ein Date zu gehen. Es hatte beide Male in einer Katastrophe geendet. Niemand wollte jemanden küssen, dessen Oberlippe zerfetzt war. Niemand wollte mit jemandem Händchen halten, der so aussah wie er, und der immer angestarrt wurde.
Aber es war ja auch nicht das Ziel, Brigitte als seine zukünftige Freundin zu gewinnen. Er musste sie nur dazu bringen, sich den Druiden anzuschließen und in Schottland das Ritual zu vollziehen. Das war auch schon alles.
Er musste es tun. Um seinetwillen, denn sonst würden diese Narben nicht die einzigen bleiben. Sonst würde er irgendwann sterben beim Versuch ihn aufzuhalten. Er musste es also auch um Aidans Willen tun.
Wenn sie ihn anstarren konnte, dann durfte er das ja wohl auch. Brigitte war echt hübsch. Rothaarig. Nicht dieses gefärbte Rot, das man sofort erkennen konnte, ein helles Rot mit leicht blondem Touch, passend dazu hellgrüne Augen. Die Sommersprossen waren echt süß. Abgesehen von der Wichtigkeit, die sie für sein Volk hatten, passten sie hervorragend in ihr rundes Gesicht. Ihr Körper war verdammt weiblich, das war ihm schon im Krankenhaus aufgefallen. Dieses Kittelhemdchen, das sie dort trug, hatte es nicht verbergen können. Ziemlich große Brüste hatte sie und etwas breitere Hüften mit einem kleinen Bauch. Er mochte das. Mit einem dieser Size-Zero-Mädchen hätte er sowieso nie was anfangen wollen.
Mist, fast hätte er laut aufgestöhnt, so toll fand er ihren Körper. Das war jetzt nicht gerade förderlich. Er musste dringend einen klaren Kopf bewahren. Irgendwie musste er an sie rankommen, ohne ihren Verdacht zu erregen, dass hinter seinem Interesse und seiner Freundlichkeit mehr steckte.
Derryn zwang sich seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Onkel zu richten. Allerdings erzählte er nichts für ihn Neues, was ihn immer wieder dazu brachte, zu Brigitte zu sehen. Letztendlich half nur eines: an Aidan und die Mission denken und an das, was sein Onkel mit ihm anstellen würde, wenn er versagte.
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Brigitte schrieb die Worte, die der Druide benutzte, einfach auf, doch sie ergaben nicht wirklich Sinn. Zumindest nicht solange sie darüber nachdenken musste, wie Derryn sich seine Narben zugezogen hatte, wie er wohl lebte, was er in seiner Freizeit machte, ob er studierte und wie er nackt aussah. Nein. Das nun wirklich nicht. Das interessierte sie überhaupt nicht, der Gedanke konnte nicht von ihr gekommen sein.
Er sah immer wieder zu ihr rüber, was ihr auch nur auffallen konnte, weil sie ständig zu ihm schaute. Das musste aufhören. Nicht, dass er noch dachte, sie starrte wegen seiner Narben. So war es nämlich ganz und gar nicht. Denn so furchtbar die auch aussahen – er gefiel ihr trotzdem. Seine Stimme war auch schön. Sie bemühte sich nicht mehr zu ihm zu schauen, stattdessen sah sie auf seinen Notizblock. Seine Schrift war ordentlich und mit leichten Schnörkeln hier und da. Wirklich schön. Seine Hände wirkten gepflegt.
Sie zwang sich jetzt endgültig wegzusehen. Erstaunt stellte Brigitte fest, dass es bereits Mittag war. Der Seminarleiter kündigte eine halbe Stunde Pause an. Die Zeit war im Nu verflogen. Es machte keinen Sinn, sich das alles weiter anzutun, sie musste abhauen.
»Du gehst?«
Brigitte war gerade dabei, ihre Jacke anzuziehen. Mehr als ein Nicken brachte sie nicht zu Stande.
»Echt schade, gleich werden wir schließlich in Partnerarbeit eine Salbe herstellen.«
Wollte Derryn ihr Partner sein? »Woher weißt du das?«
»Der Typ, der das Seminar abhält, ist mein Onkel. Ich bin eigentlich nur hier, um nachher beim Aufräumen zu helfen. Manchmal setze ich mich einfach dazu und nehme am Seminar teil.«
»Dann schreibst du mit, obwohl du schon alles weißt?«
»Mein Onkel besteht drauf. Warum auch immer, alle müssen mitschreiben. Er ist ein bisschen …«
»Eigenartig?«
»Ja, so ungefähr.« Er deutete auf ihre Jacke. »Gehst du, oder kann ich dich überreden zu bleiben?«
Brigitte wollte auf einmal nicht mehr gehen. Sie wollte bleiben. Nicht wegen der Salbe – wie so was gemacht wurde, wusste sie von Natur aus –, aber es wäre schön, weiter in Derryns Nähe zu sein. Ein bisschen was über ihn zu erfahren. »Okay, ich bleibe.«
»Cool.«
Sein strahlendes Lächeln ließ sie für einen Moment fast das Gleichgewicht verlieren. Was machte Derryn nur mit ihr? Das war gar nicht gut.
»Wir haben Zeit für einen Kaffee. Darf ich dir einen spendieren? Draußen steht ein Automat.«
»Ja, gerne.« Sie folgte ihm nach draußen in den Eingangsbereich. Derryn deutete auf eine Ecke, in der ein Zweisitzer stand. Brigitte ließ sich darauf nieder und wartete, dass er mit dem Kaffee zu ihr kam.
Die meisten Seminarteilnehmer waren nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. »Eigenartig, sie nehmen an so einem Naturheilkundeseminar teil und rauchen«, sagte sie, als Derryn sich zu ihr setzte. Seine Schulter streifte kurz ihre. Ein warmer angenehmer Schauder durchfuhr sie.
»Vielleicht ist rauchen gar nicht so ungesund, kommt wahrscheinlich auch drauf an, was man raucht.«
»Hast recht. Marihuana soll ja heilende Eigenschaften haben.«
Der Kaffee war nicht wirklich heiß, aber man konnte ihn trinken. Milch und Zucker standen auf den Tischen verteilt, Brigitte hätte gern etwas Zucker genommen, aber seit einigen Tagen hatte sie sich auf Diät gesetzt. Der kleine Bauch musste unbedingt weg.
Da war man eine Halbgöttin und hatte trotz allem menschliche Probleme! Man hätte doch erwarten können, dass Götter von Natur aus eine perfekte Figur hatten. Aber nein, die Bücher, in denen so was stand, logen alle.
»Warum besuchst du das Seminar?«
»Es war ein Geschenk von meinen Kollegen zum Geburtstag. Sie dachten, es wäre eine gute Idee, weil ich mich für Naturheilkunde interessiere.«
»Wann hattest du Geburtstag?«
»Vor zwei Wochen.«
»Herzlichen Glückwunsch nachträglich.«
Sie winkte ab – nach zwei Wochen musste er ihr doch nicht mehr gratulieren –, aber irgendwie gefiel es ihr.
»Verrätst du mir das genaue Datum, dann denke ich nächstes Jahr dran.« Er zwinkerte ihr zu.
Brigittes Herz hüpfte ein paarmal unregelmäßig in ihrer Brust. Sollte das etwa heißen, dass sich ihre Wege nach dem Seminar nicht trennen sollten?
»Am 3. Dezember.«
Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Ist notiert.«