Huub Buijssen, dessen Eltern selbst unter Demenz litten, ist Psychogerontologe und klinischer Psychologe und auf die Behandlung von Beschwerden nach traumatischen Erfahrungen in der Pflege spezialisiert. Als Autor zahlreicher erfolgreicher Bücher zu Demenz und Alzheimer weist er innovative Wege zu einer zugewandten, menschlichen und kreativen Pflege. Huub Buijssen lebt im niederländischen Tilburg.
Für meinen Vater und meine Mutter,
die mich so viel über Demenz gelehrt haben.
Vorwort
1. Kapitel
Was ist Demenz?
Symptome der Demenz
Missdeutungen
Ursachen von Demenzerscheinungen
Formen der Demenz
Die Krankheit des Jahrhunderts
Mehr Frauen als Männer
Demenz: Erblich oder nicht?
Kann man der Demenz vorbeugen?
Frühe Signale für Demenz
Warum eine frühzeitige Untersuchung?
Den Patienten informieren?
Die Untersuchung
Medikamente
2. Kapitel
Gestörte Einprägung
Einführung
Normale Einprägung
Das erste Demenzgesetz: Gestörte Einprägung
Indirekte Folgen der gestörten Einprägung
Normale Reaktionen auf einen extrem großen Verlust
3. Kapitel
Das Gedächtnis baut ab
Einführung
Das zweite Demenzgesetz: Gedächtnisabbau
Mehrere Erklärungen sind möglich
4. Kapitel
Was nicht verloren geht
Einführung
Die Bücher der Gefühle
Das erlebende Ich
Das Fähigkeitengedächtnis
Das rhythmische Gedächtnis
5. Kapitel
Das Erleben der Demenz
Einführung
Angst vor Demenz
Leichte kognitive Störung
Das bedrohte Ich
Das verirrte Ich
Das versunkene Ich
6. Kapitel
Kommunikation
Einführung
Normale Kommunikation
Kommunikationsverlauf bei Demenz
Kommunikation in der Phase des bedrohten Ichs
Kommunikation in der Phase des verirrten Ichs
Kommunikation in der Phase des versunkenen Ichs
Einige Ratschläge zur Kommunikation
7. Kapitel
Umgang mit Problemverhalten
Einführung
Ein Rat vorweg
Zwei spezielle Verhaltensprobleme
8. Kapitel
Allgemeine Tipps für den Umgang mit Demenzkranken
Einführung
Seien Sie realistisch in dem, was Sie von Ihrem demenzkranken Angehörigen erwarten
Gedächtnisstützen
Anpassen an das Tempo
Liebe ist die Antwort
Bedenken Sie: Genießen bleibt möglich
Sorgen Sie für Routine und Regelmäßigkeit
Nehmen Sie heftige Gefühlsäußerungen nicht persönlich
Die Stimmung steuern
Versuchen Sie es mit Humor
Nutzen Sie die Technik der Verkäufer: Schaffen Sie eine Ja-Stimmung
Versuchen Sie es später noch einmal
Vertiefen Sie sich in die Vergangenheit des Demenzkranken
Bieten Sie dem Demenzkranken Möglichkeiten, sich nützlich zu machen
Berücksichtigen Sie die stark verminderte Sehkraft
9. Kapitel
Die anderen Opfer der Demenz: Pflegende Angehörige
Einführung
Gefühle der Betreuer
Aufnahme in ein Pflegeheim
10. Kapitel
Wie Sie selbst bei Kräften bleiben
Einführung
Informieren Sie sich so genau wie möglich über Demenz und deren Folgen
Verzeihen Sie sich Ihre Fehler und Unzulänglichkeiten
Erwarten Sie kein Verständnis von anderen
Hüten Sie sich davor, in eine Isolation zu geraten
Bemühen Sie sich um eine positive Lebenseinstellung
Machen Sie sich entbehrlich
Leben Sie so weit wie möglich im Heute
Konzentrieren Sie sich auf jene Probleme, an denen Sie etwas ändern können
Versuchen Sie, Ihre Aufmerksamkeit auch auf die schönen Seiten des Pflegens zu richten
Nehmen Sie sich jeden Tag ein wenig Zeit, etwas Schönes für sich zu tun
Streben Sie nicht nach Perfektion
Berufen Sie eine Familienkonferenz ein
Klopfen Sie sich selbst regelmäßig auf die Schulter
Achten Sie auf Signale von Stress und nehmen Sie sie ernst
Versprechen Sie nie, bis zum Tod für Ihren Angehörigen zu sorgen
Respektieren Sie Unterschiede in der Art der Verarbeitung
Bedenken Sie, dass Betreuung auch zu Ihrem Glück beitragen kann
Literaturverzeichnis
Quellenhinweise
Zitierte Literatur
Benutzte Fachliteratur
Spottet meiner nicht! –
Ich bin ein schwacher, kind’scher, alter Mann,
Achtzig und drüber: keine Stunde mehr
Noch weniger, und grad’ heraus,
Ich fürchte fast, ich bin nicht recht bei Sinnen.
Mich dünkt, ich kenn’ Euch, kenn’ auch diesen Mann;
Doch zweifl’ ich noch, denn ich begreif’ es nicht,
An welchem Ort ich bin; all mein Verstand
Entsinnt sich dieser Kleider nicht, noch weiß ich,
Wo ich die Nacht schlief.
Shakespeare, König Lear, IV 7
»Sie erkennt jetzt, dass Gram über die Zerrüttung höchstpersönlicher Dinge wie Gesundheit oder Einklang mit sich selbst keineswegs mit zunehmendem Alter leichter erträglich wird. Ob man achtundzwanzig, achtundvierzig, achtundsechzig oder gar achtundachtzig Jahre alt ist – das Herz bleibt immer jung und kann immer bluten.«
Van Maanen Pieters 2002
Mitte 1999 erschien in den Niederlanden die erste Ausgabe meines Buches Alzheimer und Demenz verstehen. Ein Verleger erklärte mir damals, dass nur eines von sieben erscheinenden Büchern ein Erfolg werde, das heißt, wenigstens einen zweiten Druck erforderlich mache. »Nie lässt sich voraussagen, welches Buch es sein wird. Wenn ein Verleger das wüsste …«
Mit diesem Wissen im Hinterkopf bin ich sehr dankbar, dass Alzheimer und Demenz verstehen zur erlesenen Gruppe der erfolgreichen Bücher gehört, und zwar nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in deutscher, englischer und tschechischer Übersetzung.
Die Neuausgabe, die Sie nun in Händen halten, habe ich komplett überarbeitet und literarische Zeugnisse ergänzt. Außerdem enthält sie ein neues Kapitel über Fertigkeiten, Qualitäten, Bedürfnisse und Wünsche, die dem Demenzprozess nicht, viel weniger oder erst spät zum Opfer fallen. Sie kamen in den beiden vorigen deutschen Ausgaben von 2003 und 2008 zwar zur Sprache, jedoch eher beiläufig in einigen Sätzen. Dadurch wurde allem, was einem Menschen mit Demenz erhalten bleibt, nicht die ihm zustehende Aufmerksamkeit zuteil. Das neue Kapitel macht Hoffnung, eröffnet Perspektiven und bietet ein Gegengewicht zu allem, was einem Menschen mit Demenz tatsächlich verloren geht. Sicher ebenso wichtig ist, dass es einen Ansatzpunkt für einen besseren Umgang mit dem betroffenen Angehörigen aufzeigt.
Vergleichen Sie es mit der Kommunikation mit einem gehörlosen Menschen. Statt vergeblich immer lauter zu sprechen, wird man mithilfe anderer, noch funktionierender Sinne mit ihm kommunizieren – man wird zum Beispiel die Gebärdensprache benutzen oder einen Gehörlosendolmetscher einschalten, sich schriftlich mit ihm verständigen oder, wenn er das Lippenlesen beherrscht, deutlich artikulieren und immer in seinem Blickfeld bleiben.
Das neu geschriebene vierte Kapitel Was nicht verloren geht liegt mir sehr am Herzen. Um dies zu erklären, muss ich zunächst etwas über meine persönliche Erfahrung mit Demenz berichten.
Ich bin jetzt 65 Jahre alt. Gut zwei Drittel meines Lebens, das heißt rund vierzig Jahre lang, hatte ich in meiner unmittelbaren Umgebung mit Demenz zu tun. Als ich etwa fünfzehn Jahre alt war, erkrankte mein Großvater – der Vater meiner Mutter – an Demenz. Er wohnte damals bei seinem jüngsten Sohn, etwa hundert Meter von uns entfernt. Da er sich bei meinem Onkel jedoch nicht wohlfühlte, verbrachte er den größten Teil des Tages bei uns. Etwa sieben Jahre nachdem die Krankheit bei ihm diagnostiziert worden war, starb er. Zwei Jahre nach seinem Tod bekam mein Vater Parkinson, wiederum einige Jahre später auch Demenz, die sogenannte Parkinsondemenz. Es wurde für ihn ein langer Leidensweg, denn er starb mit 78 Jahren. (Oft sehe ich das Bild noch vor mir: mein Vater, im Bett liegend, gekrümmt wie ein Fötus als Folge der parkinsonbedingten Kontrakturen, das Gesicht verzerrt vor Schmerz, der von den wundgelegenen Stellen verursacht wurde.)
Wiederum zehn Jahre später entwickelten sich auch bei meiner Mutter erste Symptome der Alzheimerkrankheit. Sie starb acht Jahre später. Bereits zwei Jahre zuvor war auch ihre jüngste Schwester an Demenz erkrankt – unsere Lieblingstante, auch weil sie sowohl meinen Vater als auch meine Mutter während ihres Demenzprozesses fast täglich besucht hatte. Bei meiner Tante dauerte der Krankheitsverlauf fünf Jahre.
Und dann war – und ist – da auch noch die Frau meines besten Freundes. Bei ihr wurde vor zehn Jahren eine seltene (frühe) und sehr hilfsbedürftig machende Form der Demenz festgestellt.
Als mir vor Kurzem klar wurde, dass ich schon so lange mit Demenz zu tun habe und dies während eines Vortrags auch erwähnte, wurde ich von einem Zuhörer gefragt, was das Wichtigste sei, das ich aus diesen fünf direkten Konfrontationen mit Demenz gelernt hätte. Spontan fiel mir die Antwort ein: »Die ersten zwei Worte, die mir jetzt in den Sinn kommen, sind: zunehmende Isolierung. Mal um Mal fiel mir nämlich auf, dass – mit Ausnahme der genannten Tante – immer mehr Freunde, Bekannte und Familienmitglieder nach und nach wegblieben, bis schließlich niemand mehr zu Besuch kam.« – »Haben Sie dafür eine Erklärung?«, war dann die nächste Frage. »Genau weiß ich es nicht, aber ich denke, dass sie vor allem fortblieben, weil sie sich Menschen mit Demenz gegenüber so verlegen fühlten. Warum? Weil sie meinen, Menschen mit Demenz seien so anders als sie selbst, und darum nicht wissen, was sie sagen oder wie sie sich verhalten sollen.«
Durch meine Publikationen über Demenz wurde ich sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland häufig gebeten, Vorträge zu halten. In Deutschland beginne ich sie in den letzten Jahren immer mit der (verrückten) Frage: »Wissen Sie, welches Lied in Deutschland das Lieblingslied von Menschen mit Demenz ist?« Wenn niemand die Antwort weiß, führe ich ihnen den YouTube-Film mit folgendem Lied vor: Ich bin wie du. Es war Marianne Rosenbergs großer Schlagererfolg aus dem Jahr 1975.
Sie werden jetzt verstehen, warum mir dieses neue Kapitel so wichtig ist, ebenso die erweiterten allgemeinen Tipps zum Umgang mit Menschen mit Demenz. Es gibt Ihnen hoffentlich nicht nur einen brauchbaren Handlungsrahmen, um noch besser mit Ihrem demenzkranken Angehörigen umzugehen, sondern auch einige Möglichkeiten, um Freunden die Angst vor Kontakt mit ihnen zu nehmen.
Kein einziges Buch, wie umfangreich auch immer, wird alle Fragen behandeln können, die sich ergeben, wenn man für einen betroffenen Angehörigen sorgt oder mit ihm lebt, folglich auch dieses Buch nicht. Ich hoffe jedoch, dass es – vor allem durch das neue Kapitel – Ihre Kreativität anregt und Sie dazu inspiriert, Lösungen für Probleme zu finden, die sich in Ihrer persönlichen Situation ergeben, in diesem Buch jedoch nicht ausdrücklich zur Sprache kommen.
Da ein Mensch mehr ist als seine Demenz, spricht man seit einigen Jahren weniger von »Dementen« oder »dementen Angehörigen«, sondern wählt eher Bezeichnungen wie »Menschen mit Demenz« oder »jemand mit Demenz«. In diesem Buch benutze ich aus stilistischen Gründen abwechselnd sowohl die alten als auch die neuen Bezeichnungen und hoffe, dass Sie diese Wahl billigen werden.
Huub Buijssen
Tilburg, im September 2019
1. Kapitel
Ein Sohn sagt über seine Mutter:
In ihrem Gedächtnis breiteten sich schwarze Löcher aus. An schlechten Tagen schlurfte sie ziellos durch die Räume. Ihr Körper wollte nicht mehr gehorchen. Alles stolperte, drohte ganz zu stocken. Wollte sie in der Küche Kaffee- oder Teewasser aufsetzen, kam sie mit einer Apfelsine und einem Kartoffelschäler zurück. Ging sie zum Briefkasten, verschlug es sie zu ihrer eigenen Verwunderung auf den Dachboden, und sie erschrak vor den Kartons mit vergessenem Kinderspielzeug, dem Schaukelpferd, das sich plötzlich von allein bewegte, dem Bettgestell mit der verschlissenen Strohmatratze. Meinte sie, ins Wohnzimmer zu gehen, fand sie sich auf dem Hinterhof am Waldrand wieder. Läutete das Telefon, ging sie zur Haustür. Sagte sie ›Kinderwagen‹, meinte sie ›Zimmerpflanze‹.
Die Erlebnisse ihrer Sinne verwirrten sich in ihrem Geist. Die Hitze eines brennenden Streichholzes kommentierte sie mit den Worten »Kalt wie Eis, nicht?«. Wenn sie sprach, wählte sie falsche Worte.
Freriks 2001
Menschen mit Demenz sind alle in erheblichem Maß vergesslich. In der ersten Phase der Krankheit werden vor allem Ereignisse aus der nahen Vergangenheit vergessen. Ein Betroffener wird zum Beispiel, wie die Mutter in Kester Freriks’ Roman, oft seine Vorhaben vergessen, er wird vergessen, dass er vor einer Minute einen Topf auf den Herd gestellt hat, er wird nicht mehr wissen, was zehn Minuten zuvor gesagt wurde, oder sich nicht mehr daran erinnern, dass er noch am selben Vormittag einkaufen gegangen ist. Für Menschen mit Demenz verliert das Gedächtnis also immer mehr seinen Wert als Führer im Leben. Wenn die Krankheit fortschreitet und die Vergesslichkeit zunimmt, kann er auch vergessen, wo man seine Bedürfnisse befriedigt, oder er kann ein Spülmittel für Mundwasser halten.
Eine andere Erscheinung von Demenz ist, dass man manche Dinge nicht mehr ausführen kann. Eines Tages ist der Demenzkranke nicht mehr in der Lage, zu kochen, Kaffee zu bereiten, den Fernseher mit der Fernbedienung ein- oder auszuschalten, zu rechnen, und es wird ihm die größte Mühe bereiten, für einfache Probleme eine Lösung zu finden. Schlimm – sowohl für ihn selbst als auch für seine Umgebung – ist auch, dass immer häufiger Augenblicke kommen, in denen er seine eigenen Gefühle nicht mehr beherrschen kann und nicht mehr versteht, was andere sagen. Und schließlich kommt es sogar so weit, dass er die Fähigkeit verliert, sich in verständlicher Sprache auszudrücken, für sich selbst zu sorgen und seine Angehörigen zu erkennen.
Demenz ist ein Syndrom, das heißt: Es treten verschiedene Symptome auf, oft in einer ganz bestimmten Kombination. Neben den soeben genannten Symptomen kann bei jedem Betroffenen auch eine Reihe anderer Merkmale vorkommen, die gerade im Umgang mit ihm Probleme schaffen können: Veränderungen im Charakter, plötzliche Stimmungsschwankungen, Sammelwut, (nächtliche) Unruhe und so weiter.
Viele Menschen meinen, Personen mit Demenz litten alle an ein und derselben Krankheit. Das ist ein Irrtum. Ein allmählich voranschreitender geistiger Niedergang kann sich als Folge vieler Krankheiten entwickeln. In diesem Zusammenhang kann man Vergleiche mit dem Begriff »Fieber« anstellen. Verschiedene Krankheiten oder Leiden gehen mit Fieber einher: Grippe, Lungenentzündung, Masern, ein entzündeter Finger, ein Sonnenstich etwa. Es gibt also viele Ursachen der erhöhten Temperatur. Dasselbe gilt für die Demenz: Hinter auf den ersten Blick identisch wirkenden Symptomen können sich verschiedene Krankheitsursachen verbergen.
So wird leicht das Alter mit einem Prozess geistigen Verfalls gleichgesetzt. »Er ist schon alt, er wird kindisch« ist ein oft gehörter Seufzer. »Kindisch werden« wird dann als logische Folge der Alterung angesehen. Zum Glück ist auch das eine Missdeutung, denn die Mehrheit der Alten bleibt bis ins hohe Alter bei klarem Verstand. Von den Sechzig- bis Siebzigjährigen sind nur 1,5 Prozent dement. Wohl aber nimmt die Gefahr, dement zu werden, umso mehr zu, je weiter das Alter voranschreitet.
Eine andere unzutreffende Vorstellung ist, dass ein Mensch dement zu werden beginnt, sobald er vergesslich wird. Auch wenn Vergesslichkeit tatsächlich das Hauptmerkmal der Krankheit ist, würden wir doch vielen Menschen, die mit der Merkfähigkeit und dem Erinnern Schwierigkeiten haben, Unrecht tun, würden wir ihnen allesamt den Stempel »Demenz« aufdrücken. Viele ältere Leute leiden hin und wieder an Vergesslichkeit, ohne dass sie dement sind. Probleme mit dem Behalten von Namen etwa sind in höherem Alter ganz normal und nicht in jedem Fall ein Vorbote oder Zeichen von Demenz. Ein Unterschied zu jungen Leuten ist jedoch tatsächlich, dass Ältere länger brauchen, um Erfahrungen aus ihrem Gedächtnis zurückzuholen, und dass es ihnen mehr Mühe bereitet, verschiedene, schnell aufeinanderfolgende Eindrücke richtig zu verarbeiten. Die Ursache hierfür ist, dass im Alter alle Prozesse des Lebens, also auch das Behalten und Reproduzieren von Gedächtnismaterial, etwas langsamer verlaufen.
Es stimmt auch nicht, dass man nur in höherem Alter dement werden kann. Demenz kommt auch bei unter Sechzigjährigen vor, allerdings nicht sehr häufig.
Und schließlich ist da noch der Irrtum, dass alle Menschen mit Demenz in ihrem Tun und Lassen gleich sind. Tatsächlich sind die Unterschiede bei Demenzkranken ebenso groß wie bei »normalen« Menschen. Mit anderen Worten: Jeder Demenzkranke ist anders und folglich einzigartig.
Körperliche Krankheiten können, vor allem bei älteren Menschen, Anlass für Demenzerscheinungen sein. So können bei einem Grippekranken zeitweilig leichte Vergesslichkeit und Unruhe auftreten. Der Gebrauch gewisser Medikamente oder von zu viel Alkohol kann ebenfalls zu verwirrtem Verhalten führen. Auch bei einer schlechten Durchblutung des Gehirns tritt oft erhöhte Vergesslichkeit auf. Und so gibt es noch sehr viele weitere körperliche Ursachen, durch die, manchmal zeitlich begrenzt, Demenzerscheinungen hervorgerufen werden können (s. S. 28).
Auch psychosoziale Probleme führen bei älteren Menschen manchmal zu Demenzerscheinungen. Ein Umzug oder eine Krankenhausaufnahme bringen manche alten Leute so aus dem Gleichgewicht, dass eine zeitweilige Verwirrtheit folgt; die meisten Hausärzte haben in ihrer Praxis alte Menschen erlebt, die nach dem Tod des Partners sehr schnell geistig abbauten. Einsamkeit oder schwere Schicksalsschläge sind andere psychosoziale Faktoren, die Demenzerscheinungen begünstigen können.
Bei etwa fünfundsiebzig Prozent der Menschen, die Erscheinungen von Demenz aufweisen, liegt die Ursache im Gehirn. Da es nicht möglich ist, das Gehirn ohne nachteilige gesundheitliche Folgen bei einem lebenden Menschen diesbezüglich zu untersuchen, ist es immer erst nach dem Tod möglich, mit Sicherheit zu sagen, ob die Ursache der Demenz im Gehirn liegt oder nicht.
Wie erwähnt, ist Demenz ein Sammelbegriff für verschiedene Krankheiten. Im Folgenden werde ich die Varianten erläutern. Eine Bemerkung jedoch zuvor: Es gibt Hinweise darauf, dass die verschiedenen Unterarten der Krankheit nicht so scharf zu trennen sind, wie bisher angenommen wurde (Swart-Zuijderduijn 2004).
»Mein Mann hat zum Glück keine Demenz, sondern Alzheimer. Das hat der Hausarzt mir selbst gesagt.« Das hörte ich vor Kurzem eine telefonierende Frau im Zug sagen. Es lag mir auf der Zunge, sie nach ihrem Telefonat anzusprechen. Hätte ich den Mut gehabt, so hätte ich gesagt: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe gerade Ihr Telefongespräch gehört und muss Ihnen etwas Schmerzliches sagen: Alzheimer ist eine Form von Demenz, und zwar die am häufigsten vorkommende.« Denn so ist es tatsächlich. Von allen Menschen mit Demenz leiden sicher siebzig Prozent an der Alzheimer-Krankheit. Dabei handelt es sich in fünfundfünfzig Prozent der Fälle um Alzheimer in der ›reinen Form‹ und in den übrigen fünfzehn Prozent um eine Kombination mit einer anderen Form von Demenz, vor allem der vaskulären Demenz.
Daher wird mit dem Begriff »Demenz« in diesem Buch, wenn nicht anders angegeben, künftig diese Krankheit bezeichnet.
Angehörige, die erfahren haben oder vermuten, dass ihr Angehöriger an der Alzheimer-Krankheit leidet, wollen sämtlich viel über diese Krankheit wissen. Heutzutage ist das Internet dann häufig das erste Medium, das sie konsultieren.
So geht auch John vor, nachdem er erfahren hat, dass seine Frau an Alzheimer leidet:
John zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, schaltete den Computer ein, ging ins Internet und suchte nach »Erstes Stadium von Alzheimer«. Er fand eine Unzahl von Verweisen auf Alzheimer, von denen viele humoristischer Natur waren, und eine überraschend hohe Anzahl von Artikeln über den Kartoffelanbau, aber auch einen Volltreffer. Die ersten Stadien von Alzheimer – Bericht einer Ehepartnerin. Auf drei niederdrückenden Seiten schilderte eine Frau, wie ihr Mann kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag zerstreuter wurde. Die Vergesslichkeit verschlimmerte sich, bis es so weit kam, dass er jemanden anrief und vergaß, mit wem er verbunden war, oder gar, wer er selbst war. Auch litt er an schlimmen Depressionen, während deren er sich sprachlos zurückzog und die er in einem lichten Augenblick als Eintauchen in ein schwarzes Loch ohne die Gewissheit der Rückkehr beschrieb. Noch wesentlich verwirrter wurde er, als das Ehepaar sich nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes genötigt sah, in ein preisgünstigeres Stadtviertel umzuziehen, und die Probleme noch größer wurden, da er sich dort nicht zurechtfand.
Die Prognose ist nie optimistisch, fasste die Autorin zusammen. Je nachdem, wann die Diagnose erfolgt ist, bleiben dem Patienten (nicht dem Opfer – in diesem Fall sind beide Opfer) noch zehn bis fünfzehn Jahre. Der Abbau wird stetig voranschreiten, und da es eine Krankheit des Nervensystems ist, wird man auch noch mit doppelter Inkontinenz beglückt, gepaart mit irrationalen Ängsten, gewalttätigen Stimmungsschwankungen und dem Wissen, dass der geliebte Mensch auf dem Weg zu einem Ort ist, an den man ihm nicht folgen kann. Oder vielleicht kannst und darfst du ihm doch folgen. Das möge Gott verhüten, denn dann wäre es als Patient und nicht als Reisegefährte. Doch wenn Sie diese Zeilen lesen, sind Sie vielleicht noch jung und fühlen sich, als hätte man Ihnen den lange ersehnten Ruhestand gestohlen. Sie sind nicht der Einzige. Zum Beweis dafür, dass Sie nicht allein sind, können Sie mir eine E-Mail schicken – und ich verspreche, dass ich oder ein Kollege von mir antwortet.
Gale 2006
Der Verlauf der Alzheimer-Krankheit, den die Ehepartnerin auf der Website skizziert, weckt keine Hoffnungen und trifft zum Glück auch nicht auf jeden Fall zu.
So wird bei Weitem nicht jeder Erkrankte unter schrecklichen Depressionen zu leiden haben, und ebenso wenig wird jeder von gewalttätigen Stimmungsschwankungen geplagt sein. Wie wir noch sehen werden, kann Demenz einem Menschen auch eine gewisse Milde verleihen.
Bei der Alzheimerkrankheit werden die Ausläufer der Nervenzellen (die »langen Telefonleitungen«) zerstört und dabei die für die Kommunikation zwischen den Zellen notwendigen chemischen Prozesse beeinträchtigt. Die genaue Ursache dieses Vorgangs ist noch immer nicht bekannt. Allerdings wissen wir, dass die Krankheit mit einer außergewöhnlich hohen Anzahl von Eiweißablagerungen im Gehirn einhergeht, und zwar solchen von zweierlei Art: Amyloid-Ansammlungen (stärkeartige Ansammlungen), den sogenannten Plaques, und neurofibrillären Knäueln oder Tangles. Forscher gehen davon aus, dass diese Eiweißablagerungen bei der Vernichtung von Neuronen im Gehirn eine Rolle spielen, doch da diese Ablagerungen auch bei Menschen gefunden werden, die nicht an Alzheimer leiden, wenn auch in geringerem Maß, stellt sich den Wissenschaftlern die große Frage: Sind die Plaques und Tangles Ursache oder Folge der Krankheit? Fest steht, dass das Absterben der Nervenzellen im Hippocampus beginnt, jenem Teil des Gehirns, mit dem neue Informationen aufgenommen werden und in dem eine Selektion dessen stattfindet, was ins Langzeitgedächtnis aufgenommen wird. Dies erklärt, warum der Gedächtnisverlust zu den ersten Anzeichen der Alzheimer-Krankheit gehört. Vom Hippocampus aus verbreitet sich die Krankheit später über die anderen Teile des Gehirns.
Fachleute unterscheiden zwei Varianten von Alzheimer: die frühe und die späte Form. Das Alter von fünfundsechzig Jahren fungiert hierbei als Grenze. Die frühe Form, die oft auch einen schnelleren Verlauf aufweist als die späte, ist glücklicherweise sehr selten.
Nach der Alzheimer-Krankheit ist die vaskuläre Demenz die zweithäufigste Form. Sie ist für etwa fünfzehn Prozent der Demenzfälle verantwortlich. Es gibt mehrere Formen der vaskulären Demenz, die wichtigste ist die »Multi-Infarkt-Demenz« (MID): kleine, leise Infarkte oder etwas größere Gehirnschläge, die das Gehirngewebe an mehreren Stellen absterben lassen.
Während Alzheimer sich sehr langsam entwickelt, beginnt MID oft mit einer plötzlichen Periode der Verwirrung als Folge eines Infarktes. Bei einem größeren Infarkt ist die Verwirrung manchmal von einer zeitlich begrenzten oder bleibenden Lähmung, einem verminderten Sehvermögen oder von Schwierigkeiten beim Sprechen begleitet.
Nach dem Infarkt folgt eine gewisse Besserung, der Zustand des Patienten bleibt stabil bis zur nächsten Periode der Verwirrung. Während die Alzheimer-Krankheit in ihrem Verlauf eher einer Wanderung einen leicht abschüssigen Bergpfad hinab gleicht, zeigt der Verlauf von MID eher Ähnlichkeit mit einer Springprozession auf einem insgesamt abfallenden Weg: zwei Schritte hinab, einen zurück nach oben usw.
Da MID durch das Absterben vieler Teile des Gehirns verursacht wird, wobei das umliegende Gebiet noch recht gut funktioniert, sind sich diese Patienten häufig länger der Verschlechterung ihres Zustandes bewusst als Alzheimer-Patienten. Wird ein Alzheimer-Kranker auf einen Fehler hingewiesen, reagiert er häufig ehrlich erstaunt. Die nahe Vergangenheit ist für ihn ein schwarzes Loch. Bei einem Menschen mit MID leuchtet jedoch oft noch ein Licht auf: Er weiß jetzt plötzlich wieder oder erinnert sich zumindest vage dessen, was er eigentlich doch hätte wissen müssen. Er ist sich also länger seiner Krankheit bewusst.
Etwa fünf Prozent aller Demenzkrankheiten sind der Parkinson- und/oder der Lewy-Body-Demenz (DLB = Demenz mit Lewy-Bodies) zuzuschreiben. Treten vor oder innerhalb eines Jahres nach Beginn einer Parkinson-Erkrankung bei einem Betroffenen Demenzerscheinungen auf, so handelt es sich um Lewy-Body-Demenz. Treten Demenzsymptome im Verlauf der Parkinson-Krankheit erst später auf, spricht man von einer Parkinson-Demenz. Wir besprechen beide Formen hier gleichzeitig, da Fachleute sich in den letzten Jahren darüber einig geworden sind, dass es sich hier im Großen und Ganzen um dieselbe Krankheit handelt (Scheltens 2002). Um jedoch Missverständnisse zu vermeiden, soll hier erwähnt werden, dass die Parkinson-Krankheit nicht notwendig mit Demenz einhergeht: Sechzig bis siebzig Prozent der Betroffenen dieser »Zitterkrankheit« werden nicht dement.
Typisch für diese Form der Demenz sind die starken Schwankungen des geistigen Funktionierens: Schlechte Perioden wechseln sich mit lichten ab.
Während der Perioden von Verwirrtheit leiden die Betroffenen oft an visuellen (dreiundneunzig Prozent der Fälle) oder auditiven (fünfzig Prozent der Fälle) Halluzinationen: Sie sehen oder hören dann Dinge, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind – zum Beispiel Tiere, die ins Haus eingedrungen sind –, und können dann bis ins Detail darüber berichten. Außerdem können Störungen der Motorik auftreten wie Steifheit, eine gebeugte Haltung, Trägheit und ein schleppender Gang.
Parkinson-Kranke sind normalerweise erst nach etlichen Jahren von Demenz betroffen; bei DLB treten kognitive und Gedächtnisprobleme sehr schnell auf.
Ein Sohn erlebt seinen vergreisenden Vater folgendermaßen:
Als er einige Tage zuvor seinen Vater besucht hatte, war dieser benommener gewesen als sonst. Er sah müde aus, hing mit runden Schultern vornüber in seinem Sessel und sprach mit leiser, belegter Stimme. »Du musst dich mal räuspern, Pa«, hatte er gesagt, »so kann ich nichts verstehen – mach das doch mal!« Er kannte die Gewohnheit seines Vaters, beim geringsten Anlass immer matter zu sprechen, und ärgerte sich darüber. Manche Worte blieben dann völlig unverständlich; statt ihrer ertönte nur ein pfeifender, heiserer Laut hinten im Hals. Es war die Rolle des kranken, beklagenswerten alten Mannes, die er seinem Vater nicht zugestehen wollte und die dieser schlecht spielte, wenn er nicht wirklich krank war.
Dennoch war er durch diese Zeichen sich beschleunigenden Verfalls beunruhigt gewesen und hatte sich vorgenommen, fortan öfter hereinzuschauen. Jetzt, da er seinem Vater gegenüber auf einem Sessel am Fenster saß, sah er, dass er sich nicht geirrt hatte. Der Mann alterte schnell; das beängstigende Schütteln und Zittern des Kopfes, als sei er das Opfer einer ständig zunehmenden Erschütterung, das nervöse Spiel der Hände – all das sprach eine deutliche Sprache. Er würde diesen Mann verlieren, das war gewiss.
Brakman 1961
Bei der sogenannten frontotemporalen Demenz, von der etwa fünf Prozent der Demenzkranken betroffen sind, stehen anfangs nicht Gedächtnisstörungen im Vordergrund, sondern Symptome, die mit der frontalen Lokalisierung im Gehirn (den vorderen Hirnlappen) zu tun haben: Persönlichkeitsveränderungen, Verhaltensstörungen und Sprachschwierigkeiten. Derartige Erscheinungen äußern sich etwa durch Impulsivität, Aggressivität, sexuelle Enthemmung, Mangel an Takt im Umgang mit anderen – oder durch das Gegenteil: auffällige Gleichgültigkeit, fehlende Hygiene und den Verlust von Interessen. Oft erleben wir, dass der Patient wie ein Baby alles Essbare, aber auch Ungenießbares mit dem Mund »untersucht«. Ein anderes häufig auftretendes Symptom ist, dass der Patient unter dem Zwang leidet, Gegenstände fortwährend an einen anderen Platz zu räumen oder neu zu ordnen. Alle Symptome gleichen sich darin, dass der Betroffene offenbar nicht mehr adäquat auf Situationen reagieren kann. Er verhält sich nicht mehr so, wie es sich gehört, wie man ihn von früher kannte. Merkwürdigerweise – und anders als zum Beispiel bei der Alzheimer-Krankheit – kann der Patient oft noch gut rechnen.
Es gibt mehrere Formen der frontotemporalen Demenz. Die bekannteste ist die Picksche Krankheit.
In etwa fünf Prozent der Fälle liegen sehr seltene Ursachen vor, wie die Huntingtonsche Krankheit, die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit oder das Korsakov-Syndrom infolge langjährigen Alkoholmissbrauchs mit unzureichender Zufuhr bestimmter Vitamine aus der B-Gruppe.
A. Physiologische Ursachen demenziellen Verhaltens
Vergiftungen
Unzureichende Ernährung oder Flüssigkeitszufuhr
Fieber erregende Krankheiten
Krankheiten hormonbildender Organe
Krankheiten anderer Organe
Krankheiten der Sinnesorgane
Erkrankungen oder Störungen des Gehirns
B. Psychische Ursachen
C. Soziale Ursachen
Eine Alterskrankheit – so wird Demenz auch oft genannt. Zum großen Teil ist das auch richtig – folglich zu einem kleineren Teil nicht. Wie erwähnt, gibt es auch eine frühe, seltene Variante der Demenz, die vor dem fünfundsechzigsten Lebensjahr beginnt. So leidet im Alter zwischen vierzig und fünfundsechzig nur jeder Tausendste daran; in höherem Alter wächst die Zahl der Betroffenen schnell. Im Alter zwischen fünfundsechzig und siebzig Jahren ist es schon jeder Fünfzigste, danach verdoppelt sich die Anzahl alle fünf Jahre. Folglich tritt die Krankheit vor allem bei hochbetagten Menschen auf.
Oder – wie es der römische Dichter und Philosoph Lukrez etwa ein Dreivierteljahrhundert vor Christus ausdrückte:
Werfen uns der Jahre wucht’ge Schläge nieder
und erlahmen unter ihnen unsere Glieder,
dann erlahmt der Geist auch, wird verstört und wirr,
und die Zunge redet irr.
Zit. nach Montaigne 1998
Aufgrund epidemiologischer Untersuchungen kann festgestellt werden, dass etwa sechs Prozent der gesamten älteren Bevölkerung an einer mäßigen oder ernsten Form der Demenz leiden.
Durch die zunehmende Vergreisung ist die Zahl der Demenzkranken in den letzten Jahren deutlich gestiegen. 2016 war Demenz in den Niederlanden sogar schon die häufigste Todesursache. Vorläufig wird kein Ende dieser Zunahme eintreten. Im Gegenteil: In den kommenden zwanzig Jahren wird sich die Anzahl der Menschen mit Demenz sogar verdoppeln. Die Krankheit wird daher auch gelegentlich als »Krankheit des Jahrhunderts« bezeichnet.
Der durchschnittliche Krankheitsverlauf dauert etwa zehn, möglicherweise aber auch nur fünf Jahre – er kann sich andererseits jedoch über bis zu zwanzig Jahre hinziehen (Van den Broeckhoven 2006).
Zwei von drei Personen mit Demenz sind Frauen. Da Frauen im Durchschnitt fünf Jahre länger als Männer leben und ein hohes Alter der größte Risikofaktor für Demenz ist, bekommen sie schon dadurch öfter eine Demenz. Doch die längere Lebensdauer ist keine ausreichende Erklärung für die Tatsache, dass Frauen ein Risiko von eins zu sechs haben, dement zu werden – gegenüber Männern mit einem Risiko von eins zu elf. Das verminderte Östrogen nach der Menopause spielt möglicherweise eine Rolle. So schreibt die amerikanische Neurowissenschaftlerin Lisa Mosconi (2018): »Die letzten Untersuchungen, inklusive meiner eigenen, zeigen, dass Östrogen das weibliche Gehirn gegen Alterung schützt. Es stimuliert die neurale Aktivität und verhindert jene Formen von Plaques, die an die Entstehung von Demenz gekoppelt sind. Nimmt die Menge an Östrogen ab, wird das Gehirn verletzlicher.« Diese Hypothese wird durch Studien gestützt, aus denen hervorgeht, dass Frauen, deren Eierstöcke entfernt wurden (die ja das Östrogen produzieren), ein um hundertvierzig Prozent erhöhtes Risiko haben, eine Demenz zu entwickeln.
Wie ich später noch erläutern werde, teilen Herzversagen und Demenz einige wichtige Risikofaktoren. Eine zweite Erklärung ist, dass Männer mit einer schwachen Herzfunktion eher schon im mittleren Alter an einem Herzinfarkt versterben (die häufigste Todesursache bei Männern) und folglich nicht mehr das Alter erreichen, in dem die Demenz meist auftritt.
Der Leser möge aber beachten: Die gerade genannten Erklärungen sind Hypothesen und nicht mehr als das. Wir wissen also noch nicht genau, warum Frauen unverhältnismäßig oft die Last der Demenz tragen müssen. Ebenso wenig wissen wir, warum nach der Geburt von drei oder mehr Kindern das Risiko wieder abnimmt.
Die Frage, die mir bei Vorträgen am häufigsten gestellt wird, lautet: Ist Demenz erblich? Viele Angehörige Demenzkranker fürchten tatsächlich, früher oder später ebenfalls dement zu werden.
Um das Risiko, an Demenz zu erkranken, genauer zu bestimmen, unterscheiden Forscher zwischen der familiären und der sporadischen Form der Demenz. Mit »familiär« meinen sie, dass mehrere Mitglieder einer Familie an Demenz leiden (oder litten), mit »sporadisch«, dass nur eine Person daran leidet. Die familiäre Form ist selten, aber erblich (mit einem fünfzigprozentigen Risiko, das fatale Gen zu erben), und tritt vor allem bei der frühen Form der Demenz auf. Bei der sporadischen Form der Krankheit, die vor allem bei Demenz im hohen Alter auftritt, ist ein Erblichkeitsmuster nicht so deutlich zu erkennen. Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass auch bei der letztgenannten Form Verwandte ersten Grades ein etwas höheres Risiko haben, Demenz zu bekommen, und dass dieses Risiko zunimmt, wenn mehrere Angehörige davon betroffen sind.
Vorsicht ist angebracht, wenn man mit den genannten Fakten zu rechnen beginnt. Stammt man aus einer großen Familie, in der zwei Mitglieder jenseits des achtzigsten Lebensjahres an Demenz leiden, kann es so scheinen, als gehe es hier um eine familiäre Form; es ist jedoch auch möglich, dass es sich um die sporadische Form handelt. Und wenn es so scheint, als komme in der Familie die Krankheit nicht vor, kann es auch daran liegen, dass ihre Mitglieder bereits vor ihrem siebzigsten Jahr verstarben und die Krankheit daher keine Chance hatte, auszubrechen. Aber wie es auch sei: Lassen wir einmal die familiäre Form der Demenz außen vor, ist der größte Risikofaktor dieser Krankheit das Erreichen eines gesegneten Alters, denn das Risiko der Demenz steigt, wie oben erwähnt, mit dem Alter.
Vor kurzer Zeit noch dachte man, eine genetische Anlage für ein bestimmtes Leiden werde unweigerlich früher oder später zum Ausbruch kommen. Heute denken Fachleute anders darüber. Das neue Fachgebiet der Epigenetik, das hierfür verantwortlich ist, hat uns gelehrt, dass Gene mit Lichtschaltern vergleichbar sind, die erst dann Licht geben, wenn sie betätigt werden. Solange ein Schalter ausgestellt ist, geschieht nichts. Anders ausgedrückt: Nicht nur die Anlage zählt, sondern auch die Umgebung. Wir haben folglich mehr Einfluss auf die Äußerung der Gene, als wir bisher dachten.