«Man entgeht der Herrlichkeit des Lebens nicht.» Katherine Mansfield
Gute Tage, schlechte Tage, Augenblicke himmlischer Glückseligkeit oder solche tiefer Bestürzung – aus allem macht die Sprachkünstlerin Katherine Mansfield reinste Poesie. Ihre Tagebuchprosa, hier neu übersetzt und in exklusiver Auswahl vorgelegt, fasziniert durch Empfindungsreichtum und literarische Meisterschaft. Sich nicht auf Rollen und Erwartungen festlegen lassen, nicht als Künstlerin, nicht als Tochter, Schwester, Freundin, generell nicht als Frau – das war ihre genuine Leistung, die sie bis heute zur Ikone moderner Weiblichkeitmacht. «Fliegen, tanzen, wirbeln, beben» ist viel mehr als das Journal einer Künstlerin – es ist ein intimes Sehnsuchtsprotokoll und nicht zuletzt ein weltliterarisches Selbstporträt voller Lyrismen und berückend schöner Prosaminiaturen.
Katherine Mansfield (1888–1923), aufgewachsen in der Kolonialwelt Neuseelands zwischen Maori-Bräuchen und Cellospiel, beginnt schon im Mädchenalter zu schreiben, entflieht, kaum volljährig, ihrer Familie nach London, wird schwanger, erleidet in Bad Wörishofen eine Fehlgeburt, wird zum Star der jungen Literaturszene und stirbt mit nur 34 Jahren in Fontainebleau. Ihr schmales Werk zählt zur modernen Weltliteratur.
Katherine Mansfield
FLIEGEN, TANZEN,
WIRBELN, BEBEN
Vignetten eines Frauenlebens
1903–1922
Aus dem Englischen übersetzt
von Irma Wehrli
Nachwort von Dörte Hansen
Herausgegeben
von Horst Lauinger
MANESSE VERLAG
~ 1903 ~
Mein lieber Mr. Mason1,
ich schreibe, weil ich bitte um
Deutsche Sätze für die Konversation2
I Wo sind wir stehen geblieben? = when did we leave off?
II Ein junges Blut = a young thing.
III Auf dem Boden schlafen = to sleep on the floor.
IV Der Flug macht einen Bogen = the river makes a bend.
V Er war sehr böse auf mich = he was very angry with me.
VI Er meinte es nicht böse = he meant no harm.
VII Man brauchte es nicht = it was not needed.
VIII Thränen brachen aus ihren augen = tears flowed from her eyes.
IX Es brennt die Stadt! = there is a fire in the town!
X Er ist hoch ambretto! = he is at the top of the tree!
ich unterschweide nicht = I do not know.
nicht von Bedeutung = nothing to speak of.
ich sah ihn, konnte ihn aber nicht sprechten = I saw him but could not speak to him.
Es thut mir leid = I am sorry.
das Violoncell = the ’cello.
27. Dezember 1903
Ich bin doch sehr altmodisch, fürchte ich. Dabei hatte ich mir etwas darauf eingebildet, eine einigermaßen moderne Frau zu sein, aber in der vergangenen Woche hatte ich ein böses Erwachen. Letzten Samstagnachmittag, als mein Liebster nach Hause gekommen war und wir die Vorhänge zugezogen, das Feuer geschürt und uns zu einem wunderbar ruhigen Moment nur für uns niedergelassen hatten, klingelte es laut an der Tür. Kurz darauf erschien das Hausmädchen mit einem verdächtig aussehenden Umschlag, auf dem stand: «Mit Mr. Johnsons Empfehlungen». «Vergiss Mr. Johnson», sagte ich schnell. «Es sind bestimmt bloß Karten für eine Pferde- oder Blumenschau oder sonst etwas Grässliches, Liebster.» Doch nein, da hatte ich mich getäuscht. Die Karten kamen pompös und aufwendig daher, und nur mit viel Ausdauer entdeckten wir zwischen all den Blumenranken und trompetenden Engeln den Hinweis: «Vortrag über Körperkultur von Miss Mickle in den Assembly Rooms um 15 Uhr.»
Zu meinem unendlichen Bedauern hatte mein Liebster urplötzlich den Wunsch hinzugehen, und so verließen wir unser geliebtes, gemütliches kleines Wohnzimmer und fanden uns bald darauf in einem furchtbar zugigen Saal auf sehr harten Stühlen wieder, umgeben von höchst körperkultivierten Männern und Frauen. Die Frauen schauderten mich. Beeindruckend große, hagere und kantige Wesen. Sie litten anscheinend an der Manie, maskulin wirken zu wollen. Männerstiefel, Männerhandschuhe, Männerhüte und -mäntel. Sie machten ausladende Schritte und sprachen mit tiefer Stimme. Arme unbedarfte Gemüter!
Zwei Vorhaltungen mit einer Moral
Finis.
Finis. 1903
1 Ein Deutschlehrer.
2 Im Folgenden originalgetreu – in zum Teil fehlerhaftem Deutsch – wiedergegeben.
~ 1904 ~
Silvester. Es ist halb eins. Alle Glocken der Dorfkirchen läuten. Ein neues Jahr ist angebrochen. Bei seinem Einzug, mein Liebster, nehme ich mir vor, mit meinem Buch zu beginnen. Es wird nichts Großes oder Dramatisches sein, nur von all dem handeln, was mich beschäftigt hat. Du bist so weit weg von mir und weißt so wenig von dem, was mir begegnet, und es wäre egoistisch, dir nicht mehr zu erzählen. Ich bin soeben von einem Mitternachtsgottesdienst zurück. Es war wunderschön und feierlich. Die Luft draußen war kalt und erfrischend und die Nacht zauberhaft. Über die Wälder und Wiesen hatte die Natur einen gnädigen Schleier gegen den Frost geworfen, aber die Bäume hoben sich dunkel und schön gegen den klaren Sternenhimmel ab. Die Kirche machte heute Nacht ihrem Namen Gotteshaus alle Ehre. Sie sah so stark, trutzig und gastfreundlich aus.
Erst während des stillen Gebets entschloss ich mich, dies zu schreiben. Ich will in diesem Jahr versuchen, ein anderer Mensch zu werden, und möchte bei Jahresende sehen, wie es um meine Schwüre dieser Nacht steht. So viel ereignet sich in einem Jahr. Man kann sich so viel Gutes vornehmen und so wenig davon tun. Ich schreibe dies bei einem zarten Gasflämmchen und habe nur meinen Morgenrock an – mit tiefem Dekolleté. Ich bin so müde, ich glaube, ich muss jetzt ins Bett. Morgen ist Neujahrstag. Wie ist die Welt doch so herrlich und schön. Ich danke Gott heute Nacht dafür, dass ich bin.
Was, glaubst du, ist mir die wahrste Freude
Was, glaubst du, ist mir die wahrste Freude
Unten am Meer – der wilde, heftige Sturm der Wellen
Das schäumende Wüten der ineinander strudelnden Wasser
Die grausame salzige Gischt, die mir ins Gesicht bläst und schlägt.
Nassgrauer Sand auf geraden Wegen, die in die Ferne und Weite führen
Und mit keiner Spur verraten, wo eines Menschen Fuß auftrat
Bis nur der Himmel droben sich im Spiegel beäugt
Und die fliegenden Wolken stumm schreiend sich schaudernd betrachten …
Das Lied des Winds, wenn ich meine Arme ausbreite, ihn zu empfangen
Ja, das ist mir wahre Freude.
~ 1905 ~
Aus der Ferne jenseits der dunklen Häuserzeile ruft es wie das Meer nach einem Sturm – leidenschaftlich, feierlich und stark. Ich lehne mich in der warmen, reglosen Nachtluft weit, weit aus dem Fenster. Drunten in den Mews1 singt ein Lämpchen sein stilles Lied – als einsames Licht glüht es im Dunkel.
Eimerweise Wasser, das über die Kutschen klatscht, und die plötzlichen scharfen Zurufe, die heiseren Schreie der Männer, das leise, dünne Wimmern eines Babys und der Viertelstundenschlag der nahe gelegenen Kirche, das sind die einzigen Laute – unpersönlich, unbestimmt, tief bewegend.
Zu dieser Stunde, in dieser Einsamkeit streckt London seine begierigen Hände nach mir aus, und seine Augen leuchten wissend.
«Oh, in meinen Straßen», flüstert die Stadt, «gehen zahllose Füße vorbei, flammende Lichter leuchten, die Cafés sind voller Männer und Frauen, betörende Nachtmusik berauscht die Köpfe – o großartiger Glanz der Finsternis, eine gespannte Erwartung und über allem ein halb freudiges, halb ängstliches Lachen, das in einem seltsam befriedigten Schauder erstirbt, um von Neuem anzuschwellen. Die Männer und Frauen in den Cafés hören es – sie werfen einander auf einmal schnelle, forschende Blicke zu –, dann scheinen die Lichter greller, und die Musik der Nacht pocht noch lauter.
Aus den Theatern strömt eine Menschenmenge auf die Straße. Das durchdringende Räderrollen der Droschken ertönt. Die Biederkeit ist längst schon zu Bett gegangen – bei heruntergelassenen Jalousien und zugezogenen Vorhängen schläft sie und träumt. Hörst du meinen schnellen Herzschlag nicht? Fühlst du nicht, wie mir das Blut heiß in den Adern pocht? Deine Hände können den dünnen Schleier lüften und deine Augen sich an meiner schamlosen Schönheit weiden. In meinen Straßen liegt die Antwort auf all dein Suchen und Sehnen. Beweise dich. Besprühe deine Sinne mit dem berauschenden Duft der Nacht. Lass nichts im Verborgenen bleiben. Wer weiß, ob du nicht im Aufspüren meiner Geheimnisse die Antwort auf deine Fragen findest.
Ich lehne mich aus dem Fenster – die dunklen Häuser starren mich an und über ihnen ein weiter Himmel. Wo er auf die Häuser trifft, da ist eine seltsame Leichtigkeit – eine Anmutung – ein Versprechen.
Stille. Jetzt verstummt das Kinderwimmern in den Mews, und die Uhr scheint seltener zu schlagen, doch in der Ferne hinter der dunklen Häuserzeile ruft es wie das Meer nach einem Sturm. Maßlos und schrecklich schwillt es an – und kommt näher und näher – ein wildes, unbezähmbares Tosen, das bewusst oder unbewusst in jeder Menschenseele erwacht. Und doch ist es ein und dasselbe wie das leise, dünne Wimmern des Babys – der große Choral des Lebens.
Das Seufzen nach dem Mond. Es ist das uralte Heulen zum Mond, das ewiglich zur großen Weite emporsteigt.
1 Stallungen (ursprünglich die Königlichen Stallungen in Charing Cross, London) auf der Rückseite von Stadthäusern, mit darüberliegenden Wohnungen.
~ 1906 ~
Wege des Lebens1
«Den Keim der Furcht in sich tragen heißt Misserfolg gebären.» K. M.
«Glückliche Menschen sind niemals brillant. Dazu braucht es Reibung.» K. M.2
O lass mich etwas wirklich Gutes schreiben, lass mich eine Idee skizzieren und sie ausarbeiten. Hier ist Ruhe und Friede und Pracht, Buschland und Vögel. Von einem Haus in weiter Ferne höre ich Baulärm, und der Ginster macht mich halb verrückt. Lass es ein Gedicht sein. Also los. Ich brenne auf Ideen. Viel Glück, beste Kathie. Das braucht es, und es wird mir gelingen.
Die Sonne blinzelt inzwischen – freut mich, es wird ein schöner Nachmittag werden. Doch ich bitte dich, lass mich schreiben.
[November: auf der S. S. Corinthic3] Rasch kam die Nacht. Wie ein großer weißer Vogel flog das Schiff voran – voran ins Unbekannte. Durch die Dunkelheit glommen die Sterne, doch der Himmel war ein Garten voll goldener Blumen, farbenschwer. Ich lag auf dem Schiffsdeck, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und betrachtete sie mit seltsam zwiespältigem Gefühl – der raschen Einsicht, dass sie sich stetig und immer machtvoller zutiefst in meine Seele brannten. Ich fühlte, wie ihr stilles Licht bis in die Tiefen drang, war wie gelähmt vor Angst und Wonne – und schauderte. Es liegt eine Zaubermacht in ihrem Glanz, dachte ich. Wie eine Flamme in der Sonne blass wird und erlischt, so löscht dieses Sterneleuchten meine Lebensflamme aus. Ich sah sie wie eine ganz, ganz kleine Kerze wild und furchtbar flackern und dachte, bald wird sie erlöschen, und während ich es noch dachte, sah ich, dass dort, wo sie geschienen hatte, nichts als Dunkel blieb. Und ich trieb, trieb dahin – wo, woher, wohin? Ich trieb in einem großen, grenzenlosen Purpurmeer. Hin und her warf mich die Macht der Wellen, und das schwache Murmeln vieler Stimmen drang an mein Ohr. Ein Gefühl unaussprechlicher Einsamkeit durchdrang mein Gemüt. Ich wusste, dieses Meer war ewig. Ich war ewig. Und ewig war dieses Rufen.
1 Im Original dt.
2 Zwischen Fremdzitate von Oscar Wilde, Montaigne, Ibsen, Maeterlinck, John Stuart Mill, George Eliot, Marie Corelli etc. eingestreute eigene Aphorismen KMs.
3 Auf der Überfahrt nach Neuseeland.